Die Welt ist immer noch schön - Eugene McCabe - E-Book

Die Welt ist immer noch schön E-Book

Eugene McCabe

4,8

Beschreibung

Ein lauer Sommerabend, ein idyllischer Landsitz, eine blutige Geiselnahme. Die Täter: heldenhafte Freiheitskämpfer für die einen, skrupellose Terroristen für die anderen. Angeführt von Martin Leonard, dem wortkargen Strategen, dringen sie in das vornehme Haus ein – die schöne Isabel Lynam, die Gewalt predigt und nun kalte Füße bekommt, die tiefgläubigen Brüder McAleer, die so gut Bomben bauen, wie sie Uhren reparieren, und der fanatische Killer Jack Gallagher. Die Opfer: die alteingesessene Gutsbesitzerfamilie Armstrong und ihre Gäste, unschuldige Zivilisten für die einen, Vertreter einer brutalen Besatzungsmacht für die anderen. Das Ziel: Aus dem berüchtigtsten Gefängnis des Landes sollen drei hochrangige Mitglieder der IRA freigepresst werden. Das Ultimatum: Freilassung der Gefangenen und Bereitstellung eines Hubschraubers biszum Mittag des nächsten Tages, andernfalls Hinrichtung der ersten Geisel. Während draußen die Staatsmacht in gepanzerten Fahrzeugen vorfährt, entspinnt sich drinnen ein gespenstisches Drama um Leben und Tod. Die Stunden verstreichen, und in der klaustrophobischen Abgeschlossenheit des herrschaftlichen Salons werden alte Gewissheiten auf den Prüfstein gestellt und neue Allianzen geknüpft. Eugene McCabes Roman führt die grausame Logik des Terrors hautnah vor Augen.

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Eugene McCabe Die Welt ist immer noch schön

Roman

Aus dem Englischen

Martin Leonard lehnte an der Absperrung des Springplatzes und beobachtete den Eingang. Seit seiner Ankunft war aus den Lautsprechern Musik erklungen - Land of Hope and Glory[1] -, und jetzt wetteiferte sie mit dem Stakkato der galoppierenden und springenden Pferde, dem Gebrüll des Schauviehs, den megaphonverstärkten Anweisungen der Ordner, dem Quieken der Schweine, plötzlich aufbrandenden Beifallsstürmen und dem unaufhörlichen Stimmengewirr innerhalb und außerhalb des Festzelts, wo Alkohol ausgeschenkt wurde.

An einer Fahnenstange über dem Festzelt flatterte im Südwind ein Union Jack. Die gesamte Anlage war von einer Schnur mit rot-weiß-blauen Wimpeln umspannt, die auch das Podium der Preisrichter und ein kleines Komiteezelt einbezog. Ein besticktes Tuch über dem Eingang von der Straße trug die Aufschrift:

Willkommen bei der Inver Show

Gott segne unsere Königin

Farmer in dunklen Anzügen, mit Hüten, Mützen und Stiefeln, und ihre Frauen in weiten Sommerkleidern und festen Schuhen nahmen Pferche mit Schafen, Schweinen und Geflügel in Augenschein, inspizierten und kritisierten preisgekrönte, glänzend gestriegelte Schaurinder, schlenderten zwischen überdachten Ständen mit Produkten aus Haus und Garten umher, stritten sich mit Händlern über Vorzüge und Mängel funkelnder neuer Traktormodelle und landwirtschaftlicher Geräte oder saßen mit ihren Familienangehörigen in der Augustsonne und kauten Sandwiches, schleckten Softeis oder tranken Bier.

Hier und da deuteten Reithose, Tweedstoff und eine laute Stimme auf die Anwesenheit der Oberschicht und ihrer Gäste hin, legere städtische Kleidung in Kombination mit einem Yorkshire-Akzent hingegen auf britische Soldaten aus den Kasernen in Lisnaskea oder Roslea, die unauffällig einen Tagesurlaub genossen.

Es geschah nicht viel. Ein Pferd hatte sich das Bein gebrochen. Leonard hatte gehört, wie der Tierarzt leise zum Besitzer sagte: „Es muss eingeschläfert werden.“

Als das letzte Pferd über die Hindernisse setzte, war Leonards gutes Auge noch immer auf den Eingang gerichtet. Hinter dem Ausstellungsgelände wichen die ansteigenden Grummetwiesen dem grau-braun brütenden Hochland von Fermanagh. Aus der Ferne wirkten die Einzelheiten verschwommen. Der frische Löwenzahn, von dem der grüne Rasen des Springplatzes übersät war, leuchtete mit so greller Gewalt, dass Leonard wegsehen musste. Mit der vernarbten Hand bedeckte er sein Auge, holte mit der anderen einen Zettel hervor, las mit ausdrucksloser Miene die verschlüsselte Botschaft, hielt ein Streichholz daran und ließ den verkohlten Rest fallen.

Als er aufsah, stand sie bereits wartend am Eingang, eine eher kleine Madonna, beherrscht, mit kühlen, alles erfassenden Augen, das Gesicht von geradezu mittelalterlicher Anmutung. Er wartete, bis sie sich in Bewegung setzte, dann löste er sich von der Absperrung und ging auf sie zu. Ohne zu lächeln, beobachtete Lynam, wie er sich näherte. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, der die aggressiv vorspringende Unterlippe verbarg. Sie reichten einander nicht die Hand, als sie sagte: „Du bist’s.“

„Ja.“

„So viel hat man mir verraten.“

Ein Stadtmädchen, für sommerliche Straßen gekleidet, lederne Schultertasche und Sandalen. Durch ein batteriebetriebenes Megaphon verkündete ein Ordner gleich zwei Mal: „Alle Sieger im Rinderwettbwerb zur Richtertribüne.“

Leonard geleitete sie durch die Menge, vorbei an Farmern, die versuchten, einen nervösen friesischen Stier die Laderampe eines Anhängers hinaufzubugsieren, durch eine grasbewachsene Gasse mit Agrarerzeugnissen und Prospektständern zu einer offenen Fläche an der Absperrung des Springplatzes genau gegenüber dem Richterpodium. Er griff in die Tasche seiner Jeansjacke und holte Zigaretten hervor. Als ihre Zigaretten brannten, zwang sein Schweigen sie zum Sprechen.

„Für einen Freund redest du nicht viel.“

„Du auch nicht.“

„Ich weiß nichts, außer …“

Sie verstummte, als die Megaphonstimme bekannt gab: „Armstrong Memorial Award für den besten Fleischstier: Samuel Foster aus Mullinahone.“

Als der dünne Applaus nachließ, sagte sie: „Um vier kam ein Auto, eine Mitteilung des Armeerats [2], ich solle dorthin gehen, wohin ich gebracht würde, sie haben nicht gesagt, wohin … unter deinem Kommando … Burkes Handschrift … Und von Dublin bis hierher hat der Fahrer keinen Ton gesagt. Mehr weiß ich nicht.“

Nach einer weiteren Durchsage fügte sie hinzu: „Ich hatte große Angst … habe ich immer noch.“

„Wovor?“

„Vor einer letzten Reise.“

„Nichts dergleichen.“

„Du bist unterrichtet, vorgewarnt, irgendetwas.“

„Ich glaube nicht alles, was ich höre.“

„Du empfängst Befehle.“

„Du nicht?“

Sie zögerte, bevor sie fragte: „Was für Befehle?“

Eine weitere Durchsage wurde mit Schulterklopfen und Gelächter aufgenommen, ein populärer Sieger.

„Ein Landgut“, sagte Leonard. „Wir setzen ein paar Herrschaften gefangen, bis man uns Quinn, McIntyre und Fanin aus Long Kesh übergibt.“

„Was für ein Landgut?“

„Inver Hall, drei Kilometer von hier. Da ist er“, sagte Leonard mit einem Kopfnicken zum Richterpodium hin. „Ich will nicht auf ihn zeigen, der Große mit der Reithose und der Stoffmütze.“

„Wer ist das?“

„Niemand. Der Jüngere ist sein Schwiegersohn. Staatssekretär, Außenministerium.“

Lynam zuckte die Achseln, und Leonard setzte hinzu: „Und ein englischer Lord.“

Lynam blickte über den Springplatz. „Wann?“

„Heute Abend.“

Es folgten drei weitere Durchsagen, bevor sie sprach. „Sie werden sie nicht freilassen.“

„Sie werden zumindest darüber nachdenken.“

„Und wenn nicht?“

„Dann halten wir unser Wort.“

„Wie?“

„Ist das wichtig?“

„Werde ich mit hineingezogen?“

„Du wirst dabei sein.“

In dem goldenen Licht wirkten die spitzen Grashalme zu ihren Füßen bedrohlich. Sie spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken rann.

„Und wenn sie sie übergeben?“

„Dann machen wir uns davon.“

„Mitsamt den Herrschaften?“

„Bis wir in Sicherheit sind.“

„Wohin?“

„Das ist festgelegt.“

„Und wenn sie sich weigern?“

„Hab ich bereits gesagt.“

Sie zögerte einen Moment, bevor sie sagte: „Wir bringen sie um?“

„Wir richten sie hin.“

„Und dann?“

„Kämpfen wir.“

„Das ist Selbstmord.“

„Ist einfach und funktioniert überall.“

Sie schwieg einen Augenblick, um sicherzugehen, dass ihre Stimme nicht ihre Gefühle verriet.

„Ich habe mich nicht für den aktiven Dienst gemeldet, warum also ich?“

Leonard zuckte mit den Schultern.

„Aus Prinzip?“

„Er, sie … jemand will mich loswerden … Du … hast du schon mal daran gedacht?“

„Wer?“

„Burke.“

Leonard dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf.

Lynam fragte: „Und wenn ich mich jetzt noch weigere?“

Leonard ließ seine Zigarette ins Gras fallen, zertrat sie mit der Schuhsohle und fragte: „Kannst du das denn?“

Als Lynam nicht antwortete, fragte Leonard: „Drink?“

„Nein.“

„Sandwich?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Tee?“

„Nein. Danke.“

„Eiscreme?“

Um seine dauernden Fragen zu unterbinden, um das Schreckliche, das er ihr soeben anvertraut hatte, zu verarbeiten und ihr rasendes Herz zu beruhigen, nickte sie schließlich.

Sie folgte ihm, als er sich einen Weg zur Softeismaschine bahnte. Die Verkäuferin machte sich gerade hinten im Wagen zu schaffen.

„Zwei bitte“, sagte Leonard.

„Komme sofort“, antwortete die Frau.

Leonard nickte und entfernte sich ein paar Meter. Während sie warteten, musterte Lynam ihn zum ersten Mal eingehend.

„Was ist mit deinem Auge passiert?“

„Unfall.“

„Bei einem Auftrag?“

„Ja.“

„Kannst du auf dem Auge sehen?“

„Nein.“

„Tut mir leid.“

Er nickte und sagte: „Und mir … tut dein Verlust leid.“

Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts.

„Es gibt nicht viel, wovon man nichts hört.“

Als er eine Geste machte, sagte sie: „Man nennt es Abtreibung.“

Ihr Verstand, dachte er wieder, eine geballte Faust gegen Mitleid, Jungfräulichkeit, Mutterschaft und alles, was auf weibliche Schwäche hindeutete. In einer von machtgierigen Männern dominierten Bewegung war sie rasch und hoch aufgestiegen, fürchtete sich nicht vor Gewalt, war sich ihrer Beweggründe jetzt aber nicht mehr sicher. Einige hatten das Gefühl, sie verachte sie und die Sache insgeheim. Einmal, als sie betrunken in einer Wohnung in Rathmines saßen, hatte Burke ihm erzählt: „Sie kennt zu viele unzuverlässige Jungs von der Presse und Politiker … berechnend wie eine Katze … Sex nur mit offenen Augen … Weiß Gott, was sie denkt oder woran sie glaubt … nicht an mich … nicht an Gott … Ich hab mich sogar schon gefragt, ob der Staatsschutz sie geschickt hat, aber ich glaub’s nicht.“

Damals hatte sich Leonard darüber amüsiert, dass Burke sich mit Gott in eine Reihe stellte, aber doch das Gefühl gehabt, dass er Lynam recht zutreffend einschätzte. Jetzt war er versucht, etwas Unfreundliches zu sagen. Er sagte: „Ein düsteres Wort.“

Einen Moment sah sie ihn unverwandt an. Er war wie andere Nordiren, die sie getroffen hatte: verschlossen, sparsam mit Worten.

„Fast so gescheit wie ich“, hatte Burke gesagt.

Die Antwort in ihrem Kopf drang nicht bis zu ihrem Mund vor. Sie blickte zu der Frau, die die Waffeln füllte, und sagte: „Dein Eis ist fertig.“

Ein hellblonder Mann, fast ein Albino, und ein hochgewachsener, geschmeidiger Schwarzer, beide in bunten Hemden und Jeans, näherten sich dem Eisstand, ohne Leonard zu bemerken. Der Schwarze sprach: „Sind die beiden für uns, meine Schöne?“

Die Frau nickte in Richtung Lynam und Leonard und sagte: „Die waren zuerst hier.“

Der Schwarze wandte sich um. „Tschuldigung, Kumpel.“

„Schon in Ordnung“, sagte Leonard.

Als sie davongingen, stellte Lynam mit den Augen die naheliegende Frage. Leonard nickte.

„Was der wohl über die Zustände hier denkt?“

„Wer?“

„Der Schwarze.“

„Der denkt nicht, der liest die Boulevardpresse.“

Eine Kesselflickerfrau, die einen in eine Decke gewickelten Säugling im Arm hielt, verstellte ihnen den Weg. Sie hatte rötliches Haar, schlechte Zähne, glasige Augen und sah aus, als wäre sie schon seit Jahren aus dem gebärfähigen Alter heraus.

„Gott segne Sie, Sir, Miss, könnten Sie eine Kupfermünze für ein armes Baby erübrigen?“

Das Kind sah blass und krank aus, dachte Lynam. Während Leonard nach einer Münze kramte, fragte sie: „Wie alt ist Ihr Baby?“

„Fast drei Monate, Miss.“

Von rechts näherte sich der Colonel und sagte zu der Frau: „Meine Liebe, Sie sind willkommen, aber ich hab’s Ihnen schon zwei Mal gesagt. Sie dürfen die Leute nicht anbetteln.“

„Jawohl, Euer Ehren.“

Als sie sich entfernte, sagte der Colonel zu Leonard: „Es ist keine Wohltätigkeit, ihr Geld zu geben, wenn sie da drinnen alles versäuft.“

Er deutete auf das Festzelt. Der Colonel sah erst Leonard, dann Lynam direkt ins Gesicht. Als er davonging, sagte er: „Herrlicher Tag.“

„So ist es“, erwiderte Leonard.

Als sie ihm nachblickten, fragte Lynam: „Willst du ihn umbringen?“

„Du weißt die Antwort, warum fragst du?“

Schweigend gingen sie zum Springplatz, wo Lynam fragte: „Wie lautet das Ultimatum?“

„Morgen Mittag.“

„Und wenn sie sich weigern - was …?“

Sie verstummte, außerstande, die Frage zu Ende zu formulieren. Leonard antwortete: „Der Erste nach einer Stunde. Danach alle sechs Stunden einer.“

Lynam starrte auf ihr Softeis. Ein Spritzer Himbeersauce war an der Waffel herab auf ihre Finger gelaufen. Sie hatte von dem Eis noch nicht gekostet und betrachtete es jetzt voller Widerwillen.

„Wie viele?“

„Meistens sechs oder acht zum Abendessen.“

„Ich will das nicht.“

Leonard nahm ihr das Softeis ab. Überall luden die Farmer ihre Nutztiere auf Anhänger und Transporter. Die Leistungsschau war zu Ende, doch die Verleihung der Rosetten auf dem Richterpodium, unterbrochen von Durchsagen und vereinzeltem Beifall, dauerte noch an. Plötzlich wurde die Melodie des Eton Boating Song[3], die aus dem Lautsprecher erklang, von einem Strahl Pferdepisse übertönt - etwa zehn Meter von ihnen entfernt spreizte ein brauner Wallach behaglich die Beine. Lynam fragte: „Müssen wir das ertragen?“

„Wir können jederzeit gehen.“

Auf dem Weg zum Ausgang kamen sie an den Ständen mit Produkten aus Haus und Garten vorbei, die an das Festzelt angrenzten. Eine von Bäuerinnen umringte hochgewachsene Frau mit feingeschnittenem Gesicht und schönen Proportionen sagte mit sorgfältiger Aussprache: „Meine Mutter hat dem Holzapfelgelee immer Zitronenverbene hinzugefügt; das ergibt einen wunderbar raffinierten Geschmack.“

„Seine Frau“, sagte Leonard leise.

„Wessen?“

„Die des Colonels.“

„Sie wird heute Abend da sein?“

Leonard nickte, und Lynam sagte: „Sie erinnert mich an jemanden.“

Sie verließen das Ausstellungsgelände, stiegen in einen schwarzen VW Käfer und fuhren nach Süden zur Grenze.

Der Colonel hatte viele Hände geschüttelt, Rosetten, Zertifikate, Trophäen, „ewige“ Pokale und Verdienstmedaillen verteilt. Als er sich Alex Boyd-Crawford näherte, trat George Hawthorne, Hufschmied und Kleinbauer, auf ihn zu.

„George?“

„Auf ein Wort, Sir.“

George war ernst. Der Colonel wusste, dass er in Zusammenhang mit einem Doppelmord fünf Kilometer von Inver von der Royal Ulster Constabulary [4] verhört worden war. Sein Neffe Eric O’Neill, ein dreiundzwanzigjähriger Teilzeitsoldat im Ulster Defence Regiment [5], war an einem Armeekontrollpunkt durch einen Schuss zu Tode gekommen; es hielten sich Gerüchte über Selbstmord.

Die von Trauer und Whiskey glasigen Augen, die aus dem ambossgrauen Gesicht starrten, wirkten blind. Der Colonel war bereit, kurz zuzuhören.

„Ich möchte, dass Sie sich etwas anschauen“, sagte George und setzte sich in Bewegung.

„Ja?“

Er zeigte mit seinem schwieligen Finger auf die Latrine links neben dem Eingang, über deren Tür „Herren“ stand.

Der Colonel unterbrach ihn.

„Kannst du’s mir nicht sagen, George … irgendeine Schweinerei?“

„Ich sag’s gradheraus, Sir. Einer unserer ‚Kunden‘ hat auf den Boden geschissen und darüber geschrieben: ‚Das halten wir von den Briten und ihrer Armee. Es lebe die IRA[6].‘“

Der Colonel verzog keine Miene.

„Worte.“

„Tiere sind das. Da dreht sich einem der Magen um.“

„Worte, George.“

Der Colonel blickte zu einem Hubschrauber, der über den Feldern und Wäldern des Hochlands von Roslea schwebte.

„Jeden Tag werden Menschen umgebracht.“

„Das sagen Sie mir, Sir? Dann will ich Ihnen sagen …“

Harriets nervöses Gelächter hallte über den Springplatz. Sie hatte das Festzelt schon vor Mittag aufgesucht. Beim Abendessen würde es wieder peinlich zugehen. Er verpasste, was George sagte, dann aber hörte er: „O’Donnell vom Ausstellungskomitee … das ist einer von ihnen … Und sie sind alle so …“ Er ballte die Faust. „Gegen uns.“

Der Colonel blickte George in die Augen. Die erhobene Faust war lächerlich und bedrohlich zugleich. Aiden O’Donnell, der einzige Katholik im Komitee der Inver Show, war ein in England erzogener Wochenendfarmer, im Hauptberuf Anwalt. Sein Bruder, ein Jesuit, gehörte dem Lehrkörper von Stonyhurst an, ein weiterer Bruder war Direktor einer Belfaster Handelsbank. O’Donnell hatte einmal gesagt: „In einem System, das ich für unrecht halte, muss ich für das Recht eintreten. Die meiste Zeit komme ich mir vor wie ein Heuchler.“ Eine illoyale Äußerung? Von einem nordirischen Katholiken, erhitzt von freigebig ausgeschenktem Wein, eine vorhersehbare. Der Colonel konnte beides nachvollziehen, Georges unausgesprochene Forderung und O’Donnells Dilemma.

„George, du musst verstehen …“

„O’Donnell geht, oder ich trete zurück … und Sie können sich einen anderen suchen, der Ihnen die Pferde beschlägt.“

Der Colonel schüttelte den Kopf. Während er noch versuchte, eine angemessene Antwort zu finden, drehte George sich um und ging davon. Der Colonel sah ihm nach. Im Vergleich zu derartigen Verwicklungen war Krieg ein einfaches Geschäft, keine schwachen Glieder in der Befehlskette, Deserteure wurden erschossen, der Feind vernichtet, keine widerstreitenden Loyalitäten, keine Verweise auf zugrunde liegende Ursachen, keine Gewissensbisse. Auf seine plumpe Art hatte George recht. O’Donnell hatte die Richterbank verschmäht. Auf Gewalt würde er sich niemals einlassen, aber seine Ambivalenz war ebenso gefährlich wie Georges sture Verbohrtheit, die früher schon bei Tischgesprächen der Oberschicht thematisiert worden war. „Sollen sie ruhig feindselig sein“, hatte ein Nachbar, ein einflussreicher Grundbesitzer, mit fast bellendem Gelächter gesagt, „aber nicht zu feindselig.“ Nun, da die Feindseligkeit sich in offenen Hass und tägliche Mordtaten verwandelt hatte, war eine derartige Verbohrtheit nicht länger amüsant. Eine Lösung schien es nicht zu geben. Der Colonel hielt auf die Richtertribüne zu. Alex saß, eine Zigarre im Mund, auf der untersten Stufe des Podiums und las im Belfast News Letter[7]; ein alternder, faltiger Primat mit ausgebeultem Anzug, kariertem Hemd und Hornbrille. An seinem Jackett klemmte ein Hörgerät. Harriets früherer Liebhaber.

„Probleme, Nobby?“

„Nicht der Rede wert, wo ist Stuart?“

Alex zeigte Richtung Springplatz. Kanonikus Plumm, von rundlicher Gravität, unterhielt sich mit Professor Stuart Caldwell. Der Kanonikus gestikulierte, Caldwell hörte zu, eine fast jungenhaft schlanke Gestalt, schmal und glatt wie ein Schwert. Auf seiner Stahlbrille glänzte hell die Sonne. Alex faltete den News Letter zusammen und steckte ihn in sein Jackett.

„Das ist das Ende, Nobby, mit der ganzen Schau geht’s bald zu Ende … eine Frage von Monaten, nicht einmal Monaten.“

„Das sagst du schon dein ganzes Leben, Alex.“

„Diesmal ist es wirklich so, ich habe natürlich nichts zu verlieren, du eine ganze Menge.“

„Ziemlich wenig Zuschauer dieses Jahr, aber nicht schlecht, wenn man bedenkt.“

„Früher hab ich mit Basil nachts immer in den Bäumen gehockt und nach Feniern [8] oder Deutschen Ausschau gehalten … Die sind nie gekommen … Einmal hab ich ein Kaninchen geschossen.“

Alex verstummte. Der Colonel hörte ihm nicht zu, sondern suchte mit den Augen das Ausstellungsgelände ab. Da fragte Alex: „Wer ist heute der Feind, kannst du mir das verraten, Nobby?“

„Harriet“, sagte der Colonel leise. „Sie trinkt zu viel.“

Ein Mann mit einer Silbertrophäe kam vorbei, er führte einen Charolais-Bullen mit einer Rosette auf der Stirn. Er salutierte vor dem Colonel, und dieser sagte: „Schönes Tier, Sam, gut gemacht.“

„Ausländische Rasse, Sir, die alten Zuchten sterben aus.“

„Wohl wahr.“

Sie sahen zu, wie der große goldene Bulle auf eine Laderampe zutrottete.

„Vom Viehgeschäft hab ich nie was verstanden“, sagte Alex. „Hab ein ganzes Vermögen dabei verloren.“

Wieder sagte der Colonel: „Harriet, sie trinkt zu viel, Alex.“

Alex zögerte, bevor er sagte: „Sie mag den Amerikaner nicht.“

„Hat sie das gesagt?“

„Merkst du das nicht?“

Alex stand auf und bürstete und blies die Zigarrenasche von seinem Jackett. „Stell dir vor, du müsstest mit dem alten Plumm die Ewigkeit verbringen!“

„Mit wem immer … Kannst du nicht mit ihr reden?“

Alex schüttelte den Kopf. „Sie lässt nicht mit sich reden. Und warum nüchtern sterben, wenn man es sich leisten kann, betrunken zu sterben?“

„Sie bringt sich um, und du reißt Witze!“

„Die Menschen betrinken sich, um zu vergessen, dass sie am Leben sind, Nobby; das Glück liegt unter der Erde.“

Der Colonel dachte einen Augenblick darüber nach, dann sagte er in scharfem Ton: „Das ist herzlos und ziemlich dumm.“

Als der Colonel Anstalten machte, sich zu Caldwell und dem Kanonikus zu gesellen, murmelte Alex in sich hinein: „Mag sein … aber ich bin auch in jeder anderen Hinsicht ruiniert.“