Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939 - Charles Kindleberger - E-Book

Die Weltwirtschaftskrise 1929-1939 E-Book

Charles Kindleberger

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Beschreibung

90 Jahre Weltwirtschaftskrise: Die unübertroffene Gesamtdarstellung Durchgesehene, neu gesetzte Ausgabe. Mit einem Vorwort von Georg von Wallwitz. »Das beste Buch zu diesem Thema.« John Kenneth Galbraith Ein Jahrzehnt der Krise zwischen Börsencrash und Kriegsausbruch. Die unübertroffene Gesamtdarstellung Der Börsencrash in den USA 1929 war das Ergebnis einer typischen Spekulationsblase. Doch in jener speziellen Situation setzte der Crash eine Abwärtsspirale in anderen Wirtschaftssektoren und Ländern in Gang: es folgten Bankenkrisen, Nachfrageschwächen, Arbeitslosigkeit und eine protektionistische Zollpolitik. Der Protektionismus galt den Staaten als Ausweg und so handelten sie nach dem Grundsatz »Ruiniere deinen Nächsten wie dich selbst«. Diese Katastrophe wäre Charles Kindleberger zufolge vermeidbar gewesen. Der Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker war einer der Architekten des Marshallplans. Er wusste nicht nur, wie eine Volkswirtschaft in der Theorie funktionierte, er kannte auch die Realität. Seine intellektuelle Brillanz und praktische Erfahrung prägen dieses Standardwerk, das uns viel über die Vergangenheit und einiges über die Gegenwart zu sagen hat. Aus der Einleitung: »Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf Oktober 1929 und Mai/Juni 1931. Das verwirrende zweite Vierteljahr 1930 und Juni/Juli 1933, die Zeit der Weltwirtschaftskonferenz, sind jedoch wichtig für die Erklärung, warum es so tief in die Krise ging, warum sie so lange anhielt und warum die Genesung so unvollständig war.« Charles Kindleberger Ein Standardwerk, das uns viel über die Vergangenheit und einiges über die Gegenwart zu sagen hat. »Kindleberger hat den besten analytischen Bericht über den Verlauf der Weltwirtschaftskrise, die in einen Weltkrieg mündete, geschrieben.« Times Literary Supplement

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Über das Buch

Dem ›Economist‹ zufolge erinnern sich Finanzleute gerne gegenseitig daran, »ihren Kindleberger zu lesen«. In ›Die Weltwirtschaftskrise‹ untersucht Charles Kindleberger den vorhergehenden Boom und die Agrarkrise, erläutert den Börsencrash und die darauffolgende Talfahrt der Weltwirtschaft: vor allem die Faktoren Deflation, Abwärtsspirale der Währungen und protektionistische Entscheidungen verstärken die Krise, bis dieses Zusammenspiel in die Katastrophe mündet.

»Er hat einen theoretischen Hintergrund, aber auch viel Lebensweisheit in die internationale Ökonomie eingebracht. Er hatte ein sehr gut entwickeltes, schnelles und einfallsreiches Gespür für die realen Probleme der realen Welt«, so Robert A. Mundell, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Student von Charles Kindleberger.

»In der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts könnten die Lehren aus dem Buch über die Weltwirtschaftskrise 1929–1939 wieder unschöne Aktualität erlangen.« Georg von Wallwitz

Charles Kindleberger und sein Werk ›Die Weltwirtschaftskrise‹: eine Einführung

Für jedes Land sehen die Phasen wirtschaftlichen Glücks ganz ähnlich aus. In der Rückschau erinnern wir uns gerne an ein »goldenes Zeitalter«, an den allgemeinen Wohlstand und an die künstlerische Blüte, in welche sich dieser schließlich verwandelt hat. Wir erinnern uns an Stabilität, an geordnete und gerechte Verhältnisse, an eine Regierung, deren Interesse das Gemeinwohl war, an eine fleißige Bevölkerung, in welcher es kein Murren gab.

Ökonomisches Unglück hat hingegen viele Gesichter, weil es die verschiedensten Gründe dafür geben kann. Für die Deutschen gilt als das größte Unglück die Inflation, die das Land 1923 nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg noch einmal ruinierte. Die Chinesen fürchten die Wiederholung des Desasters, in das die Planwirtschaft das Land in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestürzt hat. Und für die Amerikaner ist keine Narbe so schmerzhaft wie die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren, in der das eben noch prosperierende Land sich plötzlich mit allgemeinem Elend, bis hin zur Hungersnot, konfrontiert sah.

Die Erinnerung an den größten Schmerz vergeht nur langsam und bestimmt die öffentliche Meinung und die Handlungen der Institutionen auf Jahrzehnte hinaus. So, wie die Deutsche Bundesbank und ihr legitimer Erbe, die Europäische Zentralbank, bis heute nur die Preisstabilität als Ziel kennen, haben die Amerikaner ihrer Federal Reserve neben der Geldwertstabilität als ebenso wichtiges Ziel die Vermeidung von Arbeitslosigkeit vorgegeben. Aus der historischen Erfahrung ist es auch zu erklären, dass die USA sehr viel entschiedener und effektiver reagiert haben, als sich 2008 eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise anbahnte. Das Trauma des Zusammenbruchs von 1929 wirkt nirgendwo so stark fort wie in dem Land, in welchem die Krise mit dem großen Börsenkrach am 24. Oktober 1929 begann – auch wenn die Ereignisse rasend schnell eine globale Dimension angenommen haben.

Während es zur Hyperinflation in Deutschland kein gut lesbares Standardwerk gibt, wird das kollektive Gedächtnis zur Weltwirtschaftskrise maßgeblich von Charles Kindlebergers hier vorliegendem Buch geprägt. Seit seinem Erscheinen vor bald 50 Jahren ist es der wesentliche Bezugspunkt für alle – Ökonomen, Publizisten, Fondsmanager, Politiker –, die sich ernsthaft mit Wirtschaftskrisen befassen. Es ist damit ein Klassiker im besten Sinne: Frühere Arbeiten zu einem großen Thema werden sortiert und zu einem tragfähigen Fundament verdichtet, welches zum Bezugspunkt für alle späteren Autoren wird.

Klassiker zu schreiben war Kindleberger nicht in die Wiege gelegt. Seine prägenden Jahre fielen genau in die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Er schloss sein Studium der Wirtschaftswissenschaften 1932 ab und wurde 1937 an der Columbia University in seiner Heimatstadt New York promoviert. Wohl aus einer gewissen Neigung, sich in die konkrete Arbeit zu stürzen, trat er in den Staatsdienst ein, anstatt eine Karriere an der Universität zu verfolgen. Schon während der Arbeit an seiner Doktorarbeit fand er bei der Regierung in Washington Beschäftigung und pendelte bald zwischen Positionen im Finanzministerium, bei der amerikanischen Zentralbank und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er für das Office of Strategic Services (OSS), den Vorgänger der CIA.

Die Zeit im Weltkrieg schilderte Kindleberger mit offensichtlicher Freude in seiner Autobiografie. Beim OSS waren die Ökonomen mit der Frage betraut, welche Ziele in Europa durch die Air Force vorrangig zu bekämpfen wären. War es beispielsweise lohnender, Bahnhöfe, Gleise oder Eisenbahnbrücken zu bombardieren? Aus dieser Frage entwickelte er das (ironisch so genannte) Kindleberger’sche Alternativen-Gesetz: Wenn lange und scharf über Alternativen diskutiert wird, werden in der Regel am Ende beide verwirklicht. (Kindleberger, ›The Life of an Economist‹, S. 87) Besonders stolz war Kindleberger aber auf seine Umsicht und seinen Fleiß im Umgang mit den Details, aus denen er sich, wie ein Mosaikleger, sein eigenes Bild der Lage machte. So berichtet er von einer gewissen Faulheit, die sich bei den Briten eingeschlichen hatte, seit sie die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma geknackt hatten. Während die Briten sich darauf verließen, dass ihre eine, unglaublich ergiebige Quelle alle wesentlichen Informationen bereitstellen werde, mussten die Amerikaner aus Fotos, aus Trümmern abgeschossener deutscher Flugzeuge, aus Truppenbewegungen, aus Befragungen von Kriegsgefangenen etc. ihre Schlüsse ziehen – und umso größer war die Genugtuung, wenn ihr Fleiß gelegentlich mit Informationen belohnt wurde, die noch besser waren als die der englischen Kollegen (ebd., S. 77). Von 1945 bis 1947 war Kindleberger im Außenministerium als Chef der Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten in Deutschland und Österreich zuständig. Er war damit einer der wesentlichen Architekten des Marshall-Plans, für dessen Ausarbeitung er wohl der erste Ökonom war, der einen Computer benutzte (er durfte nachts den Rechner des Verteidigungsministeriums nutzen). In Deutschlands Stunde null zeichnete ein 35-jähriger Beamter ohne nennenswerte akademische Meriten, der sich deutlich länger mit dem Aussuchen von Zielen für Bomben beschäftigt hatte als mit dem Kaltstart einer Volkswirtschaft, für wesentliche Teile des bis heute größten wirtschaftlichen Hilfsprogramms der Geschichte verantwortlich. Vielleicht war es aber auch Kindlebergers großer Vorteil, ohne zu großen theoretischen Ballast Gestalter zu sein in einer Zeit ohne Vorbild. Der gewaltige Erfolg des Plans spricht für sich.

Erst nach 1948 wurde er ein Akademiker, als Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, wo er bis zu seiner Emeritierung 1976 unterrichtete. Kindleberger wusste nicht nur – das spürt man in all seinen Schriften –, wie eine Volkswirtschaft funktionieren sollte, sondern auch, wie es sich anfühlt, wenn man tatsächlich dafür verantwortlich ist. Diese seltene Kombination aus intellektueller Brillanz und praktischer Erfahrung prägt Kindlebergers Bücher, gibt ihnen eine einzigartige Tiefe und Breite.

In seiner Zeit als Professor schrieb er eine Reihe von Büchern, von denen neben dem vorliegenden zwei weitere besonders herauszuheben sind. Erstens verfasste er 1958 ›International Economics‹, ein Werk, das für etwa 20 Jahre als das Standardlehrbuch über die Grundlagen des Welthandels gelten konnte. In diesem Werk handelte er die ganze Breite der internationalen Wirtschaftsbeziehungen ab, also außer dem Außenhandel auch Kapitalbewegungen, Währungsfragen und sogar das Thema Migration. Dabei zeigte er sich als undogmatischer Anhänger von John Maynard Keynes und dessen 1936 erschienener ›General Theory‹. Mit Keynes verbindet ihn nicht nur eine gewisse biografische Parallele (im Frieden Akademiker, im Krieg Staatsdiener), sondern auch der Grundimpuls, dass es die vornehmste Aufgabe eines Ökonomen ist, eine pragmatische Lösung zu finden angesichts chaotischer, unvorhersehbarer Umstände. Kindleberger überträgt Keynes’ Einsicht, wonach Märkte sich in einem Gleichgewicht weit unterhalb des Potenzials einer Volkswirtschaft einpendeln können und nur mit Hilfe staatlicher Eingriffe auf ihr optimales Niveau gehoben werden können, auf die internationale Ebene. Für die Weltwirtschaft gilt ceteris paribus, was Keynes für die nationale Ökonomie formuliert hatte: Es reicht in Krisenzeiten nicht, die Märkte sich selbst zu überlassen. In solchen Situationen muss aus Adam Smiths unsichtbarer Hand eine sicht- und spürbare werden, welche die Ordnung bewahrt und den Wohlstand der Nationen verteidigt.

Sein bekanntestes Buch veröffentlichte Kindleberger erst kurz vor seiner Emeritierung: ›Manias, Panics, and Crashes: A History of Financial Crises‹. Darin beschreibt er die psychologischen Faktoren hinter vielen finanziellen Extremereignissen. Bis heute bleibt dieses Buch die beste Deutung des sich periodisch einstellenden Geschehens, wenn die Märkte verrücktspielen, wenn Spekulanten sich ruinieren, staatliche Institutionen verzweifeln, Glücksritter furchtbar schnell arm und wieder reich werden und auch sonst keine vernünftige finanzielle Ordnung erkennbar ist.

Kindleberger war, wie Keynes, ein skeptischer Pragmatiker. Die Wirtschaft muss funktionieren – auf welche Prinzipien dabei zurückgegriffen wird, ist für ihn zweitrangig. Solange der Mensch es sich nicht abgewöhnt, gelegentlich gegen alle wirtschaftliche Vernunft zu handeln, bleiben die Märkte ein fehleranfälliges, oft irrationales System, das sich nicht mit einer Theorie begreifen oder gar steuern lässt. Ein Beispiel für Kindlebergers pragmatischen Ansatz ist etwa seine Empfehlung, es müsse die Zentralbank als Kreditgeber letzter Instanz in Krisenzeiten zwar geben, aber diese Rolle müsse stets in Zweifel stehen. Nur, wenn es unsicher ist, ob und wann und in welchem Umfang die Zentralbank tatsächlich in das Marktgeschehen eingreift, sind die Marktteilnehmer vorsichtig und diszipliniert genug, dass dieser Eingriff unnötig bleibt.

Doktrinäre der Ökonomie sind, wenn sie im Angesicht widersprechender Daten und Fakten auf der Richtigkeit ihrer Theorie beharren, in Kindlebergers Augen nicht weniger irrational als irgendein Rohwarenhändler, der in Panik seine Bestände absichern will. Seine Methode hat er beim OSS gelernt: Nicht aus der Höhe eines vermeintlich gesicherten Wissens denkt er, sondern von den Kleinigkeiten am Boden her spürt er Muster und Regeln auf, ohne dabei eine systematische Agenda zu verfolgen. Wenn es ein Lebensthema bei Kindleberger gibt, ist es der Versuch, die Wirtschaftswissenschaft vor dem zu bewahren, was Immanuel Kant den »Dogmatischen Schlummer« nennt: die Tendenz vieler Akademiker, bezüglich der eigenen Theorie nicht hinreichend skeptisch zu sein.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Kindlebergers Buch über die Weltwirtschaftskrise im Grunde aus drei Büchern besteht. Erstens ist es ein Geschichtsbuch. Er zeichnet die wesentlichen Entwicklungen vor und während der Krise nach, ordnet die Ereignisse ein, beschreibt die Motivationen für bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen und erklärt die Konsequenzen. Dabei hat er stets die ganze Welt im Blick, verengt seine Darstellung nicht auf Europa und Nordamerika. Er beschreibt die tatsächlichen oder vermeintlichen Zwänge, in welchen sich die handelnden Personen und Institutionen befinden und die zu jenen Fehlern führen, welche schließlich in die Katastrophe münden. Kindleberger weiß besser als viele andere Ökonomen, dass die Ausprägung von Rezessionen und Kapitalmarktkrisen ganz wesentlich von den Theorien und Personen abhängt, welche in den Finanzministerien und Zentralbanken die Richtung vorgeben.

Zweitens ist es ein Wirtschaftstheorie-Buch. Die Debatte um die Ursachen der Weltwirtschaftskrise hält er für weitgehend fehlgeleitet. Weder möchte er mit Milton Friedman die Erklärung allein auf die Fehler bei der Regulierung der Geldmenge verengen. Noch möchte er sich mit Paul Samuelson fatalistisch damit zufriedengeben, sie als »Resultat einer Serie historischer Zufälle« (S. 26) zu begreifen. Er sieht in ihr ein Ereignis, welches viele Ursachen hat, die durchaus vermeidbar gewesen wären, die sich aber allenfalls in Muster bringen, nicht aber in einer einheitlichen Theorie erfassen lassen. Es mag als Bestätigung für Kindlebergers skeptisch-pragmatischen Ansatz gelten, dass sich zur Erklärung der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09, für die unvergleichlich viel mehr Daten vorliegen als für die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, ebenso wenig ein einheitliches Erklärungsmodell durchgesetzt hat.

Drittens handelt es sich um ein politisches Buch. Kindleberger sieht die wesentliche Ursache für die Weltwirtschaftskrise in der historischen Konstellation, in welcher ein nach dem Ersten Weltkrieg »kraftloses« Großbritannien keine Ordnungsmacht mehr sein konnte und in welcher die »pflichtvergessenen« (S. 350) USA, der natürliche Nachfolger, die Rolle des »wohlwollenden Hegemons« noch nicht übernehmen wollten. Es muss, damit die Weltwirtschaft stabil bleibt, ein Land geben, welches als letztinstanzlicher Kreditgeber auftritt, der seine Märkte auch in Krisenzeiten offen hält, der antizyklisch zu handeln bereit ist, der für die Koordination der Wirtschaftspolitik in den einzelnen Ländern und für einen Währungsanker sorgt. Dazu bedarf es eines politischen Willens, der das Eigeninteresse eines mächtigen Landes dem globalen Gemeinwohl in schweren Zeiten unterordnet. In dem amerikanischen Mangel an politischem Pflichtbewusstsein gegenüber der Welt sieht Kindleberger die tiefste Ursache für eine Weltwirtschaftskrise, welche die USA am Ende mit in den Abgrund zog.

Es zeichnet einen Klassiker aus, dass seine Durchsicht auf die tieferen und tiefsten Ursachen zeitlos bleibt. Er erfasst die grundlegenden Sachverhalte, die sich durch den Wandel der Umstände nicht ändern. So war man zu jeder Zeit versucht, aus Kindlebergers Buch Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Für die EU deutete er selbst noch auf den letzten Seiten seines Buches an, was nötig war: Wollte sie als Hegemon bereitstehen für den Fall, dass die USA sich zurückzogen, müsste sie sich eine einheitliche wirtschaftliche Entscheidungsstruktur geben, müsste eine Zentralbank haben und ihre Märkte bedingungslos offen halten. Es ist typisch für Kindlebergers Weitsicht, dass er die isolationistischen Tendenzen in den USA immer im Auge behalten hat, obwohl die Amerikaner prädestiniert sind für die Rolle des Eckpfeilers des internationalen Währungssystems (denn sie können sich in der eigenen Währung verschulden, die gleichzeitig auch international Transaktions- und Reservewährung ist). Seit den Siebzigerjahren ist in der Eurozone einiges in der von Kindleberger skizzierten Richtung geschehen, aber gerade das Fehlen einer einheitlichen Wirtschaftsregierung für die Eurozone macht diese ungeeignet für die Rolle des Hegemons. Diese institutionellen Defizite im Unterbau der Gemeinschaftswährung sind jedem Studenten Kindlebergers klar. Es war das große Glück der Eurozone, dass Mario Draghi, EZB-Präsident in den Krisenjahren 2011–2019, der wie kaum ein anderer Praktiker die Anforderungen an die Institutionen und Regulierungsbehörden angesichts kollabierender Märkte verstand, bei Kindleberger in den 1970er-Jahren am MIT Vorlesungen gehört hatte.

Als Ideal für die Weltwirtschaft sieht Kindleberger eine Wirtschaftsregierung durch internationale Institutionen an. Da die Realisierung dieser Vorstellung in einer Welt der Nationalstaaten kaum zu erwarten ist, muss ein Land die Aufgabe des wirtschaftlichen Hegemons übernehmen. Dabei ist es egal, welches Land diese Rolle einnimmt. Einer muss es nur machen. Denn der schlimmste Zustand ist nach Kindleberger derjenige, in welchem ein »Tauziehen … um die Führung in der Weltwirtschaft« (S. 356) stattfindet oder sich überhaupt niemand für das globale Gemeinwohl zuständig fühlt. Wo Protektionismus als ein probates Mittel zur Mehrung des Wohlstands gilt, wo Institutionen so weit geschwächt werden, dass sie im Krisenfall weder Halt noch Richtung geben können, werden sich die von Kindleberger beschriebenen Muster der Verschlechterung aller Dinge wiederholen.

In der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts waren die Zentralbanken mitunter die einzig handlungsfähigen Institutionen. Doch zum Hegemon taugen sie nicht, und sie fühlen sich auch nicht dazu berufen. Die einzig denkbare Führungsinstanz ist nach wie vor die Regierung der USA, zumal ihr Pendant in China es oft an der Freundlichkeit fehlen lässt, die das Vertrauen begründen könnte, das einer Führungsrolle zugrunde liegt. Je mehr die USA sich von ihrer natürlichen Rolle abwenden, je weniger sie eine internationale Perspektive einzunehmen gewillt sind, desto mehr wird die Weltwirtschaft zu einem gefährlichen Ort. In der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts könnten die Lehren aus dem Buch über die Weltwirtschaftskrise 1929–1939 wieder unschöne Aktualität erlangen. Nach Kindleberger kann aber niemand mehr sagen, es hätte keine Warnung gegeben.

Vorwort

Als Wolfram Fischer mich einlud, über die Geschichte der Weltwirtschaft in den Dreißigerjahren zu schreiben, sagte ich begeistert zu; einerseits wegen des lebhaften theoretischen Interesses an der Weltwirtschaftskrise, dem man allerorten bei Wissenschaftlern begegnet, andererseits, weil sich mir dadurch die Gelegenheit bot, das Geflecht der Ereignisse aus der Zeit meiner Jugend und meiner ersten Berufsjahre zu durchleuchten, Ereignisse, die mich und viele andere zur Nationalökonomie brachten.

Der Börsenkrach vom Oktober 1929 rührt in meiner Erinnerung keine Saite. Wie alle Welt wusste auch ich davon, aber einem Studenten im zweiten Universitätsjahr sagte das alles wenig. Die wenigen Aktien der Familie waren bezahlt und nicht auf Kredit gekauft. Mit Hilfe eines Onkels im Reedereigeschäft bekam ich trotz des Konjunkturrückgangs einen Job auf einem Frachter, der im folgenden Sommer Großanlagen von Kopenhagen nach Leningrad brachte und als Rückfracht Holzschliff aus Kotka, Raumo und Kemi in Finnland mitnahm. Ich glaube nicht, dass das ein gewöhnliches Dumping war, aber ich bin mir dessen nicht sicher. Es war jedenfalls kein Währungsdumping, wie es sich nach 1932 ereignete und im 7. Kapitel behandelt ist. Die Reise ist hauptsächlich deswegen erinnerungswert, weil man nach der Ankunft in Kopenhagen seine Heuer für Bier und Schnaps ausgeben konnte. (Mein Lohn als Schiffsjunge betrug 20 Dollar monatlich.) Die Fahrt weckte mein Interesse am internationalen Handel und den Geschmack an Tuborg-Bier, die beide bis heute anhalten. (Einer meiner Freunde fand 1940 durch seinen Onkel Arbeit auf einem Schiff. Der Onkel, der mir half, war Vorstandsmitglied einer Reederei, seiner war Vorstandsmitglied einer Seemanns-Gewerkschaft. Die Vetternwirtschaft hatte sich über die Dreißigerjahre hin erhalten, aber sie hatte einen anderen Hort gefunden.)

Das abnehmende Familieneinkommen reichte noch aus, sowohl mein Studium wie die Fahrt nach Europa im Sommer 1931 zu finanzieren, wo ich von einem Sommer-Stipendium der Students’ International Union Gebrauch machte. Salvador Madariaga, der üblicherweise das Seminar leitete, war gerade zum spanischen Gesandten in den Vereinigten Staaten ernannt worden, und so wurden wir Studenten aus den Vereinigten Staaten und Europa unter die Graduierten an der Genfer Schule für Internationale Studien verteilt, die Professor (später Sir) Alfred Zimmern leitete. Es war eine aufregende Zeit, angefangen von den Gastvorlesungen bis zur Verabschiedung von Patrick Sloan, der sich am Ende des Sommers, ausgerüstet mit Pyramiden von Toilettenpapier und Bündeln von Nadeln, auf den Weg machte, um ein Jahr in der Sowjetunion zu verbringen.

Ich kann jedoch nicht behaupten, dass ich mir ein wirklich klares Bild von den Ereignissen machte, die im 6. Kapitel beschrieben sind. Ich habe mein Tagebuch durchgesehen, das ich in jenem Sommer führte und das Aufzeichnungen enthält über Vorlesungen von Paul Douglas und E. M. Patterson aus den USA, von Moritz Bonn, Henri Hauser, Douglas Copland und vielen anderen. Sogar der Entwurf eines Referats findet sich da, das ich selbst in der Gruppe Volkswirtschaft zum Thema »Die Wirtschaftslage in den USA« hielt. Nichts von diesem Gekritzel war mir jetzt von Nutzen. Von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich nahm ich hauptsächlich deswegen Kenntnis, weil einer ihrer jungen Angestellten dort häufig von Basel herüberkam, um einem der reizenden Mädchen des Smith-College in der amerikanischen Kolonie von Genf den Hof zu machen.

Nach meinem Examen im Februar 1932 hatte ich das erhebende Erlebnis der Arbeitslosigkeit, wenn auch nur für acht oder zehn Wochen. Wiederum durch Beziehungen bekam ich einen Posten als Laufjunge (versehen mit dem B. A. mit Prädikat und einem Phi-Beta-Kappa-Abzeichen), und zwar – was ich jetzt als Keynesianer nur ungern bekenne – bei der National Economy League, einer von Archibald Roosevelt und anderen Konservativen gegründeten Interessengruppe, die für den Ausgleich des Bundeshaushalts eintrat. Im Juli 1932 erhielt ich, wieder durch Beziehungen, eine andere Stelle als Bote bei den Seeversicherungsmaklern Johnson & Higgins. Zu den beiden erinnerungswerten Ereignissen des nächsten Jahres während dieser Tätigkeit gehört die Erhöhung des Briefportos von 2 auf 3 Cent, was die Firma veranlasste, ihr Kommunikationssystem im Zentrum von Manhattan von der US-Post auf ihre eigenen Mitarbeiter zu übertragen (meine erste schmerzliche Bekanntschaft mit einer elastischen Nachfragefunktion), außerdem ein Zettel des Büroleiters, der besagte, dass mein Lohn wegen der NRA (National Recovery Administration) und – so konnte ich zwischen den Zeilen lesen – aus keinem anderen Grund von 12 auf 15 Dollar pro Woche erhöht würde.

Im Februar 1933 hatte ich mich an der Columbia University für ein Graduierten-Studium der Volkswirtschaft eingeschrieben. Zur Vorbereitung nahm ich an einem Abendkursus über Geld- und Bankwesen teil, den Ralph W. Robey, der Wirtschaftsredakteur der New York Evening Post abhielt. Von Anfang Februar bis März 1933 ergötzte er seine Hörer mit täglichen Berichten über den Zusammenbruch des amerikanischen Bankensystems, was die Volkswirtschaftslehre so aufregend machte wie die damals beliebte Filmserie Paulines gefährliche Abenteuer.

Durch irgendeinen intellektuellen Prozess, den ich nicht rekonstruieren kann, fing ich bei einer Hausaufgabe während des Wintersemesters 1933/34 Feuer am Thema des Abwertungswettlaufs zwischen Dänemark und Neuseeland. Professor Benjamin H. Beckhart ermunterte mich, den Aufsatz für die Veröffentlichung zu überarbeiten; eine Verweisung auf diesen meinen Einstand in der Wissenschaft kann man dem 7. Kapitel entnehmen. Das frühzeitige Vorurteil gegen flexible Wechselkurse habe ich behalten.

Nachdem ich das Studium beendet und im Juni 1936 mit der Dissertation begonnen hatte, arbeitete ich unter Harry D. White und Frank V. Coe in der International Research Division des US-Schatzamtes, wo ich Kaufkraft-Paritäten der verschiedenen Währungen berechnete, insbesondere der des Goldblocks. Dies war nur vorübergehend, eine Dauerstellung fand sich am 1. Oktober 1936 bei der Federal Reserve Bank in New York. Ich bekam auf beiden Posten monatlich 200 Dollar bzw. 2400 Dollar im Jahr. Mr White fragte mich, ob ich daran dächte, im Schatzamt zu bleiben. Ich erwiderte, dass mich ein Angebot bei Einstufung in die Gruppe P 2 interessieren würde – Akademiker wurden nach den Gehaltsstufen P 1 bis P 6 bezahlt –, wonach ich jährlich 2600 Dollar erhalten würde. Er hielt das für übertrieben, und ich ging, um ab 1. Oktober 1936 in New York zu beginnen, vier Tage nach dem Dreimächte-Währungsabkommen vom 26. September.

Bei der Federal Reserve Bank von New York untersuchte ich Vorgänge in der europäischen Wirtschaft und am New Yorker Devisenmarkt, verfolgte die Goldpanik vom April 1937 und die Dollarkrise im Herbst des gleichen Jahres. Im Februar 1939, kurz vor Hitlers Einmarsch in Prag, nahm ich das Angebot an, im Sommer zur Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zu gehen. Mit Hilfe von Freunden beim Board of Governors des Federal Reserve System wurde ich nach dem deutschen Einmarsch in Paris im Juni 1940 zurückgeholt.

All dies interessiert mich viel mehr als den Leser, aber es erklärt, wie ich zur Nationalökonomie kam, und zeigt, wie sehr dieses Buch eine Recherche du temps perdu ist. Vielleicht spiegelt es mehr noch als die Voreingenommenheiten durch Erfahrungen meiner Jugend die intellektuellen Eigenheiten wider, die sich in der Nachkriegszeit während einer Reihe von Jahren als Hochschullehrer entwickelt haben. Der Leser sei deshalb gebührend gewarnt vor beiden Quellen der Einseitigkeit.

Mit dem Auftrag, die Dreißigerjahre zu behandeln, beschreibt das Buch die Weltwirtschaft in der Depression. Es ist, soweit dies unumgänglich war, vom amerikanischen Standpunkt aus geschrieben; ich habe aber, wo nur möglich, Material aus Europa benutzt. Der Herausgeber ist etwas unglücklich darüber, dass es nicht mehr über die Sowjetunion und Asien enthält. In dieser Hinsicht ist das Bild verzerrt, aber man sollte nicht Kenntnisse vortäuschen, die man nicht besitzt.

Ebenso bin ich mir im Klaren, dass es wenig von den sozialen, politischen und persönlichen Dramen enthält, welche die Krise unablässig hervorbrachte und die in kürzlich erschienenen Arbeiten von Studs Terkel, John Brooks oder Kenneth Galbraith zum Ausdruck kommen. In der Besprechung eines ökonometrisch orientierten Buches über Wirtschaftsgeschichte schrieb ich einmal, dass darin der Schweiß der Baumwollpflücker und die Shanties der Matrosen fehlten. Dieses Buch enthält kaum farbige Anekdoten über Börsenmakler oder Apfelhändler, abgesehen von den obigen autobiografischen Bemerkungen. Auch ist es nicht ökonometrisch nach Art der neuen Wirtschaftsgeschichte, die ihre Hypothesen mit multiplen Regressionen von verzögerten Variablen unumstößlich zu beweisen sucht. Es ist erzählte Geschichte anstelle von Tabellen mit Korrelationskoeffizienten und Ähnlichem. Umso schlimmer für das Buch.

Und schließlich muss ich mich auch noch dafür entschuldigen, dass ich den Schlüssel zu all den Fragen – warum die Depression so umfassend, so tief, so ausdauernd war – in meinem Spezialgebiet, dem internationalen Währungsmechanismus, finde. Dies dürfte niemanden überraschen.

Als Nichthistoriker stehe ich in großer Schuld bei Vertretern der Geschichtswissenschaft und bei jenen, die gleich mir an deren Randgebieten tätig sind. Ich bin tief beeindruckt von dem Entgegenkommen der Historiker gegenüber Außenseitern, denen sie Hilfe anbieten, statt Schranken der Zuständigkeit zu errichten. Zuerst und vor allem möchte ich D. E. Moggridge vom Clare College in Cambridge danken, dann Peter Temin, meinem Kollegen am MIT. Beide haben das Manuskript sorgfältig gelesen, und jeder hat von seinem Fach aus bei dessen Verbesserung geholfen. Temin stellte die großen grundsätzlichen Fragen zu Beweisführung und Demonstration. Moggridge wies mich auf weiteres Material hin und stellte Interpretationen infrage, forschte vor allem im Staatsarchiv in London nach, um zusätzliches Material zu einer Anzahl von Punkten zu beschaffen, die nicht hinreichend belegt waren; all dies war entschieden mehr, als er hätte tun müssen.

Die Liste derer, denen ich außerdem wissenschaftlich verpflichtet bin, ist nach dem Alphabet geordnet, um unerwünschte und gar nicht mögliche Hervorhebungen zu vermeiden. Professor Lester V. Chandler von den Universitäten Princeton und Atlanta setzte das Ganze in Gang mit einem Berg von Durchschlägen seiner Exzerpte aus dem Archiv der Federal Reserve Bank von New York und half durch Widerspruch und Anregungen in vielen Diskussionen weiter. Stephen V. O. Clarke von der Federal Reserve Bank las das Manuskript und lieferte viele nützliche Anmerkungen; darüber hinaus hat er das Archiv der Bank zu verschiedenen Punkten durchforscht. Professor Heywood Fleisig von der Cornell University, der ebenfalls über die Depression arbeitet, ließ mir seine Dissertation vor der Veröffentlichung sowie den Entwurf einer anderen wichtigen Arbeit zukommen und korrigierte einen schwerwiegenden Fehler in meinem Manuskript. George Garvey, Vizepräsident der Federal Reserve Bank von New York, lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Arbeit von W. S. Woytinsky, der 1931 und 1932 in Deutschland für öffentliche Arbeiten eingetreten war, und lieh mir das Exemplar der Bank von Wilhelm Grotkopps Die große Krise, bis ich ein eigenes erhielt. Im engsten Zusammenhang damit wies mich Professor Alexander Gerschenkron von der Harvard University auf die Bedeutung der Expansionsideen von Wilhelm Lautenbach hin, eines Oberregierungsrats im Reichswirtschaftsministerium in den Jahren 1930 und 1931.

Dr. Helen Hughes, jetzt bei der Weltbank, war so liebenswürdig, mir zwei Kapitel ihrer noch unveröffentlichten Wirtschaftsgeschichte von Australien zu überlassen. Professor Ryutaro Komiya forschte auf meine Bitte hin in japanischen Quellen nach der Lösung des Rätsels, wieso man in Japan bereits 1932 ohne einen Keynes auf eine keynesianische Politik kam. Professor Peter H. Lindert von der University of Wisconsin begutachtete den ersten Entwurf aufs Gründlichste. James R. Moore, graduierter Student an der State University of New York in Stony Brook, der an einer Dissertation über die Weltwirtschaftskonferenz 1933 arbeitet, war so freundlich, mir eine Bibliografie von Quellen zu überlassen, wie sie von richtigen Historikern verwendet werden. Professor Adolph Sturmthal, University of Illinois, steuerte faszinierendes Material zur Abneigung der deutschen Marxisten gegen eine Abwertung bei.

Zum Produktionsprozess eines solchen Buches gehört auch, dass die verschiedenen Ideen in Seminaren und Vorlesungen getestet werden. Dies tat ich an der University of Alabama, bei der Cambridge Economic History Group, an der Columbia University und der Cornell University, als Diskussionsteilnehmer im Council on Foreign Relations, am Institute of World Affairs in Salisbury, Conn. (dem Nachfolger der Student International Union von 1931) sowie bei der New York Metropolitan Economists Group. An den höchst anregenden und ideenreichen Diskussionen bei diesen Gelegenheiten nahmen auch einige der oben Genannten teil.

Die Harvard University ist so großzügig, den benachbarten Wissenschaftlern während eines Monats in jedem Jahr kostenlosen Zugang zu den überquellenden Regalen der Widener Library zu gewähren. Ich habe dieses wertvolle Privileg zweimal in Anspruch genommen und bin der Universität und dem Bibliothekar zu Dank verpflichtet. Wenn ich auch gelegentlich einen Seitensprung zu der reichhaltigen Bibliothek oben an der Straße machte, bedeutet dies nicht, dass ich der Dewey Library des MIT nicht treu geblieben wäre. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ihrer Mitarbeiter lassen einen die Lücken in der Sammlung fast vergessen, und ich bin Barbara Klingenhagen, William Presson und deren Kollegen wie immer dankbar.

Mary Ann Reardon, jetzt Mrs Bailey, half mir Anfang Sommer 1970 durch mühsames Heraussuchen von Stößen von Statistiken, die ich gar nicht alle verwenden konnte. Anne Pope machte sich verdient, indem sie in das Ganze Ordnung brachte und auch den ersten Entwurf weitgehend abschrieb. Das endgültige Manuskript verfertigte Mrs Inez Crandall; sie gehört ebenso wie Miss Klingenhagen und ich zur »Alten Garde« des MIT, wo sie über zwanzig Jahre als Abteilungssekretärin tätig war – jetzt lebt sie im Ruhestand.

Einleitung

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 wirft eine Reihe von Fragen der Wirtschaftsanalyse und der historischen Methodologie auf, die vielleicht am prägnantesten in den unterschiedlichen Meinungen ersichtlich werden, die von den beiden amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern Milton Friedman und Paul Samuelson in einer Fernsehdiskussion im Mai 1969 vorgebracht wurden.

Friedman vertrat damals, wie auch bei anderen Gelegenheiten vor einer breiten Öffentlichkeit1 und im Kreis von Fachleuten, den Standpunkt, dass die Depression eine einzige Ursache gehabt habe, nämlich eine fehlerhafte Durchführung der Geldpolitik der Vereinigten Staaten.

Samuelson behauptete, sie sei das Resultat einer Serie historischer Zufälle gewesen. Nimmt man Friedmans Standpunkt ein, so erledigen sich einige weniger bedeutende Punkte von selbst, die auftauchen, wenn die Antwort auf die prinzipielle Frage, ob es ein systembedingtes oder ein zufälliges Ereignis war, im System gesucht wird. Er findet den Ursprung in den USA eher als in Europa oder an der Peripherie der Weltwirtschaft, in monetären eher als in realen Faktoren, in der Wirtschaftspolitik eher als in der Struktur von Institutionen oder in den von ihnen wahrgenommenen Aufgaben; er sieht den Ursprung in einer einzelnen Volkswirtschaft eher als im Wirken des internationalen Wirtschafts- und Währungssystems. Noch dazu sieht er bei seiner Beschränkung auf die amerikanische Geldpolitik, wodurch er bereits auf den Buhmann manch anderer Darstellungen verzichtet – nämlich die strukturellen Verlagerungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, die fehlende Bereitschaft der USA, als Gläubigernation aufzutreten, insbesondere aber die Belastung durch das Smoot-Hawley-Zollgesetz von 1930 –, von der Börsenspekulation und von der verspäteten Verabschiedung des Glass-Steagall-Gesetzes von 1932 ab. Dieses Gesetz überwand die interne Knappheit an monetärem Gold dadurch, dass es dem Federal Reserve System erlaubte, statt Gold Staatspapiere an die Stelle des fehlenden zentralbankfähigen Wechselmaterials zu setzen, das als Deckung für die Verbindlichkeiten der Zentralbank gebraucht wurde. Zweifellos hätte es eine Rezession oder Depression auch bei einer perfekten Geldpolitik gegeben oder bei einer in den USA irgendwie optimal wachsenden Geldmenge. Aber Friedmans Erklärung der weltweiten Depression von 1929 ist binnenwirtschaftlich, monetär, bezogen auf eine geldpolitische Entscheidung. Sie ist monokausal. Meiner Meinung nach ist sie falsch.

Es gibt eine Menge ähnlicher Erklärungen, die hauptsächlich auf eine einzige Wurzel der Depression, auf eine einzige Ursache zurückgehen. Präsident Hoover war während seiner Amtszeit im Weißen Haus wie auch zwanzig Jahre später in seinen Memoiren über die Depression überzeugt, dass die Ursache der Übel in Europa lag, beginnend mit den Schwierigkeiten, die Folgen des Weltkriegs zu überwinden, und verschärft durch eine Finanzkrise im Jahre 1931.2 In Europa ist hingegen die Ansicht am weitesten verbreitet, die Ursache der Depression sei in den Vereinigten Staaten zu suchen, prinzipiell in dem Unwillen des Landes, die Kriegsschulden zu streichen, genauer im Börsenkrach von 1929 oder in der verrückten Kreditexpansion von 1927 und 1928. Spitzfindigere Analytiker legen den Finger auf die falsche Handhabung des Goldstandards, die nach einigen Darstellungen in dessen Umwandlung in den Gold-Devisen-Standard zu suchen ist, nach anderen in den über Gebühr niedrigen Zinssätzen der USA im Jahre 1927.

Aber Samuelsons Erklärung von »einer Reihe von historischen Zufällen« ist vielleicht genauso unbefriedigend. Große Krisen wiederholen sich. Die Große Depression von 1873 bis 1896, die manchmal von Wirtschaftshistorikern als die wirklich große Depression bezeichnet wird, war vielleicht nach Ursache, Eigenart und Auswirkungen so verschieden, dass man in dieser Beziehung die Periode von 1929 bis 1939 als einmalig betrachten kann.3 Geht man weiter zurück, ergeben sich jedoch die vom Sozialwissenschaftler gesuchten Parallelitäten. Wie auf den Ersten Weltkrieg, folgte auch 1816 auf den Napoleonischen Krieg eine kurze, heftige Deflation, vergleichbar mit der von 1920/21, dann eine Periode der monetären Anpassung, die in der Wiederherstellung der Parität des Pfundes in den Jahren 1819 und 1821 ihren Höhepunkt fand. Dann kam von 1821 bis 1825 eine Beschleunigung des Kapitalexports, gefolgt 1826 von einem Börsenkrach und einer Depression. Geht man von den wichtigen wirtschaftlichen Ereignissen der Zwanziger- und Dreißigerjahre 103 bis 105 Jahre zurück, so entstehen interessante Parallelen. Die Depression von 1826 war vielleicht nicht so schwerwiegend und so umfassend wie jene von 1929 oder wie die späteren von 1837 und 1848, der gleiche zeitliche Ablauf jedoch stimmt nachdenklich.4

Überdies wirft die europäische Depression der 1840er-Jahre, die kaum auf die übrige Welt ausstrahlte, die gleichen Fragen auf wie die von 1930, was die eigentliche Ursache und die Rolle zufälliger Faktoren anbelangt. Britische Historiker sehen in der »Commercial Crisis« von 1847/48 weitgehend ein Resultat der Eisenbahn-Manie, zusammen mit einer Finanzpanik und den Konkursen einer Reihe von Weizenhändlern. Auf dem Kontinent gab es sehr unterschiedliche Meinungen darüber. Cameron nennt sie »in erster Linie eine Finanz- und Bankkrise«,5 während andere Wirtschaftshistoriker die Aufmerksamkeit auf güterwirtschaftliche Ursachen lenken, insbesondere auf die Getreidemissernte von 1846, die kleinste in fünfzig Jahren, welcher 1847 die größte Ernte seit fünfzig Jahren folgte. Fohlen, der mehr oder weniger die finanziellen Aspekte beiseitelässt, bezeichnet »die Krise von 1848 … letzten Endes (als) eine Reihe von wirtschaftlichen und politischen Zufällen«.6 Bei einer gründlichen Betrachtung mag man vielleicht auch eine Parallele zwischen der kontinentaleuropäischen Krise von 1848 und der Depression von 1929 entdecken; in beiden kamen nämlich Anpassungsschwierigkeiten des Systems beim Übergang zu neuen Institutionen und Wirtschaftsformen zum Ausdruck. Aber wir greifen hier schon vor.

Eine andere Form des »historischen Zufalls« könnte in dem ganz willkürlichen Zusammentreffen der Depressionsphasen von drei regelmäßigen Zyklen unterschiedlicher Periodizität bestehen. Die Depression aufgrund eines langen Kondratieff-Zyklus, mit einer Periode von 50 Jahren, wäre danach gleichzeitig mit den Depressionen eines mittelfristigen Juglar-Zyklus von neun Jahren und eines kurzfristigen Kitchin-Zyklus in der Lagerhaltung aufgetreten. Grob vereinfacht, ist dies Schumpeters Ansicht.7 Es fällt jedoch den meisten Volkswirtschaftlern schwer, diese verschiedenen Zyklen als voneinander unabhängig zu betrachten, so wie die Bahnen der Himmelskörper, und in der Großen Depression ein zwar zufälliges, aber voraussagbares Ereignis wie eine Sonnenfinsternis zu sehen.

Wenn wir die Erklärung der großen Krise durch eine einzige oder dominante Ursache wie auch durch eine Reihe historischer Zufälle ablehnen, stehen wir vor einem Bündel von Problemen. Wir könnten eine Frage nach der anderen stellen: wie und wo die Depression begann, weshalb sie sich derart ausbreitete, sich so vertiefte und so lange dauerte. Fragen nach dem Wie und Wo ihres Ursprungs sind offensichtlich von Interesse, abgesehen von der politischen Gegenbeschuldigung, geben uns aber ihrerseits neue Rätsel auf bezüglich der causa proxima, der causa remota und der causa causans. Angenommen, die Antwort auf die Frage nach dem Ursprungsland der Depression ist beschränkt auf die Vereinigten Staaten, Europa oder die Peripherie der Weltwirtschaft oder auf die Beziehungen zweier oder dreier dieser Gebiete zueinander – dann müssten wir erstens wissen, worauf die Störung zurückzuführen ist, und zweitens, warum das Wirtschaftssystem damit nicht fertigwurde, weder automatisch durch den mikroökonomischen Anpassungsmechanismus von Angebot und Nachfrage oder, makroökonomisch, durch das Währungs- und Fiskalsystem, noch durch wirtschaftspolitische Maßnahmen, die das automatisch ablaufende ökonomische Kräftespiel umgelenkt und, soweit es stabilisierend wirkte, gefördert hätten. Man nehme zum Beispiel die Ansicht, die Depression komme aus der Wiederbelebung der europäischen Produktion von Nahrungsmitteln, Rohstoffen, Textilien usw., deren Produktion in Übersee während des Ersten Weltkriegs erheblich erweitert worden war. Dies wäre eine reale Erklärung anstelle einer monetären, aber sie ist nicht vollständig, solange man nicht erklärt, warum Überexpansion in einer oder mehreren Branchen nicht Preisrückgänge zur Folge hatte, welche die Produktion vermindert und die Produktionsfaktoren umgelenkt hätten. Wenn man aber dem Stopp des amerikanischen Kapitalexports nach Deutschland und in die Randstaaten im Jahre 1928 die Schuld gibt – ausgelöst vielleicht durch die Attraktivität des Marktes für täglich fälliges Geld, der die Hausse an der New Yorker Börse nährte –, dann muss nicht nur erklärt werden, wie durch das Ausbleiben der Kredite die Weltwirtschaft auf Rückwärtsgang geschaltet wurde; man muss auch zeigen, weshalb nicht andere Kräfte, entweder Kreditaufnahme an anderer Stelle oder in anderer Form, durch den automatischen Marktmechanismus dieser Störung entgegenwirkten oder weshalb keine geld- oder finanzpolitischen Entscheidungen zur gezielten Gegensteuerung getroffen wurden. Der ursprüngliche Anstoß hätte auf zwei Arten aufgefangen werden können – automatisch oder durch wirtschaftspolitische Entscheidung –, und um seine Folgen zu erklären, muss man sowohl das Versagen der selbstregulierenden Wirtschaftskräfte wie auch das Versagen des politischen Entscheidungsmechanismus berücksichtigen.

Zum Versagen der Wirtschaftspolitik kommt es leicht. Vom Anfang bis zum Ende der folgenden chronologischen Schilderung der Depression werden wir ein Beispiel ums andere für das finden, was im Nachhinein als wirtschaftliches Analphabetentum erscheint. Niemand hat jedoch ein Monopol darauf. Überall findet man Deflationisten, zum Beispiel Hoover, Brüning, Snowden und Laval. Es gibt zahllose Beispiele falscher Lagebeurteilung, so etwa den britischen Entschluss, 1925 zum Goldstandard zu pari zurückzukehren, und die ähnliche japanische Entscheidung vom Juli 1929, die im Januar 1930 vollzogen wurde; es gibt Beispiele für wenig durchdachte Patentlösungen, so der Versuch von Roosevelt, Morgenthau und Warren, die Güterpreise anzuheben durch einen höheren Ankaufspreis der Reconstruction Finance Corporation für die Produktion der US-Goldminen, oder das Blum’sche Experiment mit der 40-Stundenwoche in Frankreich im Jahre 1936; da sind Beispiele für halbherziges und verspätetes Handeln, wie die 50-Millionen-Schilling-Anleihe (7 Millionen Dollar) für Österreich am 16. Juni 1931, welche die Bank von England für eine Woche gab (und laufend verlängern musste). Oftmals hatte keiner der Verantwortlichen eine brauchbare Idee, was man tun müsse, und die Reaktion auf das Unheil bestand nur in den wirtschaftspolitischen Klischeevorstellungen eines ausgeglichenen Budgets, der Wiederherstellung des Goldstandards und der Senkung der Zölle. Hobsbawm drückt dies vielleicht etwas zu pointiert aus:

»Niemals gab es einen Schiffbruch, bei dem Kapitän und Mannschaft die Ursachen für das Unglück weniger begriffen hätten und bei dem sie unfähiger gewesen wären, etwas dagegen zu unternehmen.«8 Es gab viele Nationalökonomen und einige bekannte Persönlichkeiten in England (Keynes, H. D. Henderson, Mosley), in Frankreich (Reynaud), Deutschland (Lautenbach, Woytinsky) und vielleicht in den Vereinigten Staaten, die binnenwirtschaftliche Maßnahmen vorschlugen, welche nach modernen Vorstellungen sinnvoll waren; und eine Anzahl von Vorschlägen, welche der Weltwirtschaftskonferenz von 1933 unterbreitet wurden, nahm die Beschlüsse von Bretton Woods vorweg, die zeitlich nur ein Jahrzehnt später kamen, doch intellektuell ein Lichtjahr entfernt waren. Roosevelt gab offen seine Unwissenheit zu, war aber glücklicherweise nicht doktrinär veranlagt und, was besonders wichtig war, er bestand darauf, eines nach dem anderen auszuprobieren, bis er etwas gefunden hatte, das helfen würde.9

Die Betonung des doktrinären Elements im politischen Entscheidungsprozess mag zu einseitig sein. In vielen Fällen wurde die Politik nicht durch das offizielle Verständnis wirtschaftlicher Grundfragen geprägt, sondern durch die öffentliche Meinung. Das klassische Beispiel hierfür waren wohl die Kriegsschulden. Die amerikanische Öffentlichkeit war sich »in dieser speziellen Frage der Außenpolitik einiger als in irgendeiner anderen«:10 sie wünschte ihre Eintreibung; wenn Hoover und Roosevelt sie hätten streichen wollen – was nicht der Fall war –, hätten sie dabei wohl keinen leichten Stand gehabt. Hoovers Verständnislosigkeit kommt zum Ausdruck in seinem beharrlichen Hinweis darauf, dass die Franzosen zahlungsfähig wären, weil sie Guthaben in New York besaßen, die den im Dezember 1932 fälligen Betrag übertrafen. Dabei übersah er völlig den Unterschied zwischen Vermögen und Einkommen und das Problem, wie das französische Finanzministerium es anstellen sollte, die Verfügung über die Dollars oder das Gold von der Bank von Frankreich zu erlangen, ohne deren Vorschriften oder das Budgetverfahren zu verletzen.11 Ebenso entschlossen, im Dezember 1932 nicht zu zahlen, war die französische Kammer, wie sich deutlich beim Sturz Herriots am 14. Dezember 1932 herausstellte, als er die Bezahlung der am nächsten Tage fälligen Rate vorschlug.12

Die Tatsache, dass keine automatisch wirkenden Kräfte die Impulse ausglichen, die das System in Richtung einer Krise bewegten, hat im Hinblick auf den Goldstandard einige Aufmerksamkeit gefunden, weniger aber in anderer Hinsicht. Die Meinung, dass nicht der Goldstandard versagte, sondern dass er falsch gehandhabt wurde, ist weit verbreitet.13 Länder, die Gold verloren, deflationierten nicht immer, und jene, denen es zufloss, besonders Frankreich und die Vereinigten Staaten, expandierten übermäßig oder zu wenig. Nicht so allgemein berücksichtigt wird die Tatsache, dass das internationale Währungssystem auch in anderer Beziehung symmetrisch arbeiten müsste; wenn z. B. der Kapitalzufluss stoppt, mag dies in den bisher Kapital importierenden Ländern deflationär wirken, dagegen müsste es in den Kapital exportierenden Ländern expansiv wirken. Ebenso müssten Zollerhöhungen im importierenden Land expansiv wirken, wenn sie kontraktiv wirken in Ländern, die Exportmärkte verlieren. Wenn die Preise gewisser international gehandelter Güter fallen, gehen offensichtlich auch Einkommen und Nachfrage in den auf diese Güter spezialisierten Ländern zurück, aber in den Verbrauchsländern müssten sie steigen. Eine Aufwertung schließlich ist deflationär, aber die ihr entsprechende Abwertung in den anderen Ländern wirkt in entgegengesetzter Richtung. Es genügt deshalb nicht, die Weltwirtschaftskrise mit Hinweisen auf Verluste von Gold oder Märkten, mit Preisverfall oder Aufwertung zu erklären, ohne zu spezifizieren, warum die expansive Kraft, welche das Gegenstück zu dem jeweiligen depressiven Faktor ist, nicht richtig funktionierte. Es gibt eine Reihe von Faktoren, auf die man hier hinweisen kann; sie werden an geeigneter Stelle erklärt werden:

Akzeleratoren, Geldillusion, elastische Erwartungen, Übergreifen der Deflation auf das Bankensystem und Ähnliches. Ohne ein gewisses Maß an solcher Asymmetrie und eine starke Rückkoppelung ist indes keine Depression größeren Umfangs möglich.

Ein symmetrisches System mit Regeln für einen Kräfteausgleich, wie sie der Goldstandard angeblich vorsieht, mag übergehen in ein System, bei dem jeder Teilnehmer versucht, kurzfristig den Gewinn zu maximieren. Dies ist das Konkurrenzsystem, wie es Adam Smith sich vorstellte, wo jedermann (oder jedes Land), indem er seinen eigenen Nutzen maximiert, auch den der Gesamtheit fördert, vorausgesetzt, es gibt keine Wechselwirkungen oder sie führen zu externen Ersparnissen. Aber ein Weltsystem mit nur ein paar Akteuren ist eben nicht so, und hinzu kommt die Tatsache, dass das Ganze sich oft anders verhält als die Summe der Teile. Ein Land, das sein eigenes wirtschaftliches Wohlergehen durch Zollmaßnahmen, eine Abwertung oder Devisenkontrolle fördert, kann unter Umständen den Wohlstand seiner Partner um mehr vermindern, als es selbst gewinnt. Solche Taktiken können zu Vergeltungsmaßnahmen führen, sodass schließlich jedes Land in einer schlechteren Lage endet, weil es nur nach eigenem Vorteil gestrebt hat.14 Die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Länder sind manchmal komplementär, manchmal konträr, wobei nicht nur einige Länder das Ergebnis in der Hand haben, weil es von den Aktionen aller abhängt.15

Dies ist ein typisches Nicht-Nullsummenspiel, bei dem jeder Spieler, der sich anschickt, eine langfristige Lösung zu wählen, erleben wird, dass andere Länder daraus ihren Nutzen ziehen. Eine Übereinkunft, dass alle eine langfristige Strategie verfolgen sollten, mag der Idee nach befriedigend sein, wird aber wahrscheinlich für die einzelnen Mitspieler in einem bestimmten Zeitpunkt unterschiedliche Belastungen zur Folge haben.

England will die Währungen bei einem Kurs von 3,40 Dollar für ein Pfund stabilisieren, während die Vereinigten Staaten an dieser Frage nicht interessiert sind, solange der Kurs nicht in der Nähe von 4,68 Dollar je Pfund liegt. Oder stellen wir uns ein Netz von Reparationen, Kriegsschulden und kommerziellen Krediten vor, in dem Deutschland den Engländern und Franzosen Reparationen und den Vereinigten Staaten Wirtschaftskredite schuldet; England schuldet den Vereinigten Staaten ungefähr das, was es von Deutschland bekommt, und hat Außenstände an französischen Kriegsschulden; Frankreich soll den Löwenanteil der Reparationen erhalten, bedeutend mehr als seine Kriegsschulden gegenüber England und den Vereinigten Staaten. Unter diesen Umständen ist Deutschland eher geneigt, die Reparationen einzustellen, als seinen kommerziellen Verbindlichkeiten nicht nachzukommen, da es einige Vermögenswerte im Ausland besitzt und daran interessiert ist, kreditwürdig zu bleiben. Großbritannien ist zur Streichung der Reparationen aber nur bereit, wenn ihm seine Kriegsschulden erlassen werden. Frankreich hält an seinen Reparationsforderungen fest, wünscht aber Annullierung der Kriegsschulden und ist hinsichtlich der kommerziellen Anleihen verhältnismäßig indifferent. Die Vereinigten Staaten vermögen zwischen Kriegsschulden und Reparationen keinen Zusammenhang zu sehen, sind aber in extremis zu einem Moratorium bezüglich Reparationen und Kriegsschulden bereit, möchten jedoch die Unantastbarkeit der kommerziellen Schulden garantiert wissen und wünschen die Wiederaufnahme der Kriegsschuldenzahlungen, sobald das Moratoriumsjahr vorüber ist. Eine gerechte Lösung gibt es nicht. Unvermeidlich läuft das Ganze darauf hinaus, Reparationen, Schulden und den kommerziellen Schuldendienst von der Tafel zu wischen. Auf genau dieselbe Weise läuft der Versuch einer Gruppe von Ländern mit gegenseitigem multilateralen Handel, Exportüberschüsse zu erzielen, darauf hinaus, jeden Handel zu beseitigen, da ein Handelspartner nach dem anderen die Importe aus dem nächsten Land einschränkt.

Unter diesen Umständen braucht das internationale Wirtschafts- und Währungssystem eine führende Nation, die nach einem System von Regeln, das sie sich bewusst oder unbewusst zu eigen gemacht hat, bereit ist, ein Verhaltensmuster anzubieten, die anderen Länder dafür zu gewinnen und einen unverhältnismäßig großen Teil der Bürden des Systems auf sich zu nehmen, im Besonderen auch in schwierigen Zeiten es zu unterstützen, indem sie eine Überproduktion an Waren abnimmt, den Strom des Investitionskapitals nicht abreißen lässt und die Wechsel der anderen diskontiert. Großbritannien hat diese Rolle in unserem Jahrhundert bis 1913 gespielt, die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg bis etwa zur Zinsausgleichssteuer, 1963. Es ist der Tenor dieses Buches, dass sich die Dauer der Weltwirtschaftskrise teilweise und ihre Heftigkeit weitgehend dadurch erklären lassen, dass die Briten nicht in der Lage waren, ihre Rolle als Garant des Systems fortzusetzen, und die Vereinigten Staaten bis 1936 nicht bereit waren, diese Rolle zu übernehmen.

Diese spieltheoretische Interpretation des internationalen Wirtschafts- und Währungssystems sowie die Betonung der Asymmetrie im Verhalten des Systems unterstützen die allgemeine Schlussfolgerung, dass die damals üblichen Lehrmeinungen, bei denen es hauptsächlich um die Gefahren der Spekulation, die Notwendigkeit von Preiserhöhungen, wünschenswerte Zollsenkungen und die notwendige Stabilisierung der Wechselkurse ging, nicht so falsch waren, wie die meisten Volkswirtschaftler heutzutage glauben. Es stimmt natürlich, dass die Börsenspekulation nach 1929 kein Problem mehr war und dass niemand ein Rezept wusste, die Weltmarktpreise anzuheben oder auch nur das interne Preisniveau durch Abwertung zu steigern, was vielleicht nur die Exportpreise in Gold gesenkt hätte. Pläne für ein Einfrieren der Zölle oder einen Stillstand des Abwertungswettlaufs waren ausschließlich negative Maßnahmen, geeignet, die Kräfte zu bremsen, die die Weltwirtschaft immer weiter nach unten bewegten, jedoch nicht geeignet, die Umkehrung des Rückkoppelungs-Mechanismus herbeizuführen. Es ist klar, dass die führenden Theoretiker und Praktiker der Dreißigerjahre sich in manchem, wie in der Frage des Budgetausgleichs, irrten und dass sie dürftige Therapeuten waren, aber ihre Diagnose war nicht so schief, wie heute meistens angenommen wird.

Bei der unvermeidlichen Wahl zwischen chronologischem und sachlichem Aufbau hält sich die Darstellung hauptsächlich an das erste Prinzip, verbindet aber die Jahre einzeln oder paarweise mit besonderen Problemkomplexen oder Ereignissen. Das 1. Kapitel eröffnet das Ganze mit einer Diskussion des Wiederaufbaus nach dem Ersten Weltkrieg bis gegen 1926 und des Standes der Kriegsschulden, Reparationen, Stabilisierung der Wechselkurse und Auslandskredite. Das 2. Kapitel konzentriert sich auf das Jahr 1927 und die beginnenden Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit der Zentralbanken, den internationalen Kapitalmarkt, die steigenden Aktienkurse an der New Yorker Börse. Das 3. Kapitel untersucht die Lage bei den wichtigeren Nahrungsmitteln und Rohstoffen, von der man sagen kann, dass sie sich zwischen 1925 und 1928 völlig verändert hatte. 1929 ist natürlich das Jahr des Börsenkrachs, und dies ist auch der Titel des 4. Kapitels.

Den Jahren 1930 bis 1933 sind jeweils eigene Kapitel folgenden Inhalts gewidmet: das Abgleiten in den Abgrund (5. Kapitel), die Finanzkrise (6. Kapitel), die zunehmende Deflation in Deutschland und in den Vereinigten Staaten (7. Kapitel) und die Weltwirtschaftskonferenz (8. Kapitel). Danach dreht sich das Rad der Zeit schneller. Das 9. Kapitel befasst sich mit den Jahren 1934 und 1935 und trägt die Überschrift Beginnende Genesung. Im Jahr 1936 und im 10. Kapitel bricht der Goldblock auseinander, und das 11. Kapitel befasst sich mit 1937 und der Rezession. Die Wiederbewaffnung in einer desintegrierten Weltwirtschaft erfasst die letzte Periode von 1938/39 (12. Kapitel). Das abschließende 13. Kapitel führt die einzelnen Fäden der Untersuchung zu Schlussfolgerungen zusammen.

Soweit das Buch eher thematisch als chronologisch aufgebaut ist, ist es schwierig, einzelne Probleme in den Jahren vor und nach ihrem Hauptauftreten zu verfolgen. Die unterentwickelten Länder werden z. B. hauptsächlich im 3. Kapitel im Zusammenhang mit den Rohstoffpreisen behandelt, doch dürfen diese weder im Tiefpunkt der Depression von 1932 bis 1934 noch später während des Aufschwungs vergessen werden.

In dieser chronologischen Darstellung verdient eine Anzahl kritischer Momente Betonung:

1929, 1930, 1931 und 1933 – der Börsenkrach, die Finanzkrise, das Ausbleiben des Aufschwungs im Frühjahr 1930 und die verpasste Gelegenheit der Weltwirtschaftskonferenz, gemeinsam den Aufschwung in Gang zu bringen. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf Oktober 1929 und Mai/Juni 1931.16

1

Erholung vom Ersten Weltkrieg

Das Jahr 1925 kennzeichnet den Übergang von der Nachkriegserholung zu dem kurzen und begrenzten Boom vor der Depression. Es war das Jahr der Stabilisierung des Pfundes und der anderen Währungen, die mit dem Pfund zum Goldstandard zurückkehrten. In den Vereinigten Staaten kennzeichnet es auch den Gipfel des Booms unter mehreren wichtigen Gesichtspunkten:

Die Bodenspekulation in Florida bricht zusammen, das Hoch im Nachkriegswohnungsbau beginnt, und die höchsten Weizenpreise werden erzielt. Aber genauso gut könnte man 1924 nehmen, das Jahr der Stabilisierung der Mark und des Dawes-Plans, oder 1926, als die endgültige Bereinigung der Kriegsschuldenfrage mit den Vereinigten Staaten erzielt und der französische Franc de facto stabilisiert wurde.

Die Erholung vom Ersten Weltkrieg wurde in mehreren wichtigen Punkten niemals erreicht, so etwa, was den Verlust der Elite junger Männer in den europäischen Ländern betrifft, oder das relative Zurückfallen Europas aufgrund der Stimulierung des Wirtschaftswachstums in den Dominions, in Japan und den USA. Ab 1925 oder 1926 indessen blickte Europa nicht länger auf 1914 zurück, sondern begann, vertrauensvoller in die Zukunft zu schauen. Das erreichte Niveau der Erholung enthielt jedoch bereits die Keime künftiger Schwierigkeiten, aus denen sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickeln sollte. Dazu gehörten insbesondere der etwa seit 1921 zunehmende Widerstand der Arbeitnehmer gegen Lohnsenkungen, wodurch Lohn- und Preiserhöhungen irreversibel wurden;1 Reparationen und Kriegsschulden, welche sich als destabilisierend herausstellen sollten, wenn sie auch durch den Dawes-Plan und die interalliierten Schuldenabkommen weitgehend geklärt schienen; das System der Wechselkurse, mit dem überbewerteten Pfund und dem unterbewerteten Franc, das zu einer beträchtlichen Ansammlung französischer Forderungen gegen Großbritannien führte; und der Eintritt der USA – teilweise anstelle von Großbritannien – in das internationale Kreditgeschäft, mit viel Enthusiasmus, ohne Erfahrung und mit zu wenig Leitvorstellungen.

1920–1921: Boom und Rückschlag

1919 und 1920 gab es einen kurzen, heftigen, weltweiten Boom, hauptsächlich Ausdruck einer Jagd nach Waren zur Auffüllung der Lagerbestände, die in fünf Kriegsjahren zusammengeschmolzen waren. Er war besonders ausgeprägt in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten.2

Zurückgestaute Finanzmassen wurden losgelassen auf die begrenzten Gütervorräte, und die Preise sausten in die Höhe. Frankreich, Deutschland und der Rest des europäischen Kontinents beteiligten sich kaum, da ihnen die finanziellen Mittel fehlten, um beim Bieten mitzuhalten. Nach einem scharfen Preisanstieg folgte jedoch ein scharfer Preisverfall, als die Produktion anlief und das Angebot auf den Markt strömte. Das rasche Auf und Ab ließ die Preis-Indizes einer Haarnadelkurve folgen. In allen Fällen jedoch blieben die Preise trotz des Fallens im Sommer 1920 und besonders im Frühling 1921 beträchtlich über denen von 1914.

Es war das letzte Mal, dass die Löhne so schnell so stark gedrückt werden konnten. In Großbritannien fielen vom Januar 1921 bis Dezember 1922 die Wochenlöhne um 38 Prozent (und die Lebenshaltungskosten um 50 Prozent). Die Lohnsenkung war zu einem großen Teil die Folge von Lohngleitklauseln.3 Diese wurden rasch unbeliebt. Als die Reallöhne in einigen Branchen das Vorkriegsniveau erreichten, gaben die Gewerkschaften dieses Verfahren auf, das während der Preissteigerungen in den Kriegsjahren eingeführt worden war. Zum ersten Mal entwickelte sich im Wirtschaftssystem eine Asymmetrie von größerer Bedeutung: Bei einer Expansion aus der Vollbeschäftigung heraus kam es zu Preis- und Lohnerhöhungen in der Industrie; bei einer Schrumpfung sah man sich hartnäckigem Festhalten an Preisen und Löhnen und Arbeitslosigkeit gegenüber. Das britische Beispiel war das ausgeprägteste. Aber auch in Deutschland wurde festgestellt, dass ein neues Phänomen, die Arbeitslosigkeit, nach dem Krieg auftrat.4

Es geht aber nicht nur um die mangelnde Flexibilität der Löhne. Der Boom von 1919 bis 1920 führte zu einem Anstieg der Preise von Kapitalgütern, was die festen Kosten erhöhte. Gebäude, Schiffe und vor allem Aktien wurden zu Fantasiepreisen gekauft in einer Hektik von Fusionen, Konzernbildungen und staatlichen Hilfsmaßnahmen für private Unternehmensgründungen, die für die Zukunft schwer belastet waren, sowohl durch Schuldendienst an Obligationsgläubiger und vor allem Banken als auch durch die üblichen Dividenden. In Großbritannien wurde der Boom durch die Aussicht auf Zerstörung der deutschen Konkurrenz bei Kohle, Stahl, im Schiffsbau und bei Textilien genährt. Die britische Vorherrschaft auf diesen Gebieten stellte sich als gefährlich kurzlebig heraus. Hoffnungen auf das Kohlegeschäft wurden durch den katastrophalen Streik vom April bis Juni 1921 zunichtegemacht. Der Schiffsbau war vom technischen Fortschritt in anderen Ländern betroffen, besonders in Skandinavien, und durch die spätere Überbewertung des Pfunds. Bei Baumwolle erschienen bald Japan und Indien auf den einträglichen Kolonialmärkten.5

In Deutschland verleitete die Inflation von 1922 bis 1923 eine Reihe von Unternehmern, besonders Hugo Stinnes, riesige Konzerne ohne Eigenkapital aufzubauen, welche in Schwierigkeiten gerieten, als die Mark stabilisiert wurde.6 Das Stinnes-Reich brach zusammen. Anderen Firmen, denen es gelungen war, während der Inflation Kredite zu tilgen, fehlte es an Betriebskapital, und sie mussten nach der Stabilisierung beträchtliche Beträge zu hohen Zinsen borgen. Die Hauptklage der deutschen Unternehmerschaft galt der Kapitalknappheit.7

Reparationen

Von 1970 aus beurteilt, war der Versuch der Alliierten, von Deutschland Reparationen einzutreiben, wenig sinnvoll. Die Vorstellung, dass Deutschland die Kosten des Krieges und die des Aufbaus aufgeladen werden könnten, war noch unsinniger. Zur damaligen Zeit gab es jedoch genügend Präzedenzfälle, nach denen man eine erhebliche Anstrengung erwarten konnte. So hatte Deutschland 1871 fünf Milliarden Mark an Reparationen erhalten,8 ohne dass Frankreich in große Schwierigkeiten geraten wäre. Großbritannien hatte nach 1815 die Sieger von Waterloo beim Eintreiben der 700 Millionen Franc von Frankreich angeführt. Jetzt war Frankreich an der Reihe. Nachdem es zweimal gezahlt hatte, war es nun zu kassieren gewillt.

Es ist wohl nicht nötig, hier die bekannte ärgerliche Geschichte des erfolglosen Versuchs der Alliierten, besonders der Franzosen, wiederzugeben, Reparationen von Deutschland einzuziehen. Sie zerfällt in drei Perioden: die erste dauerte von Versailles (1919) bis zum Dawes-Plan im September 1924, die zweite vom Dawes-Plan bis zum Young-Plan (1923–1930) und die dritte gut 14 Monate, vom Beginn des Young-Plans im April 1930 bis zum Hoover-Moratorium im Juni 1931. Anders als die Kriegsschulden, für die Großbritannien im Dezember 1932 und im Juni 1933 noch Raten an die USA zahlte, waren die Reparationen im Juni 1931 im Sterben begriffen, obgleich sie erst bei der Lausanner Konferenz im Juli 1932 endgültig für tot erklärt wurden. Sicherlich gab ihnen die Depression den Rest. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Etienne Mantoux, der verspätet, aber umso heftiger auf Keynes’ Economic Consequences of the Peace reagierte, behauptet, die Reparationsabmachungen von Versailles seien in keiner Weise direkte Ursache der Weltwirtschaftskrise gewesen. Vielleicht ist dem so; die Geschichte der Reparationen hat aber so viele indirekte Bezüge zu den Ursprüngen der Depression, dass ihre Hauptlinien nicht außer Acht gelassen werden dürfen.9

Im Versailler Vertrag war es nicht gelungen, einen Betrag für die deutschen Reparationen festzusetzen. Jede angegebene Summe wäre den Deutschen (und den Amerikanern und möglicherweise den Engländern) zu hoch erschienen, den Franzosen zu niedrig. Der Vertrag gab sich damit zufrieden, allgemeine Regeln für die Zahlungen festzulegen, und zwar in Form von Sachwerten, also Exporten, und von Devisen, wobei eine eigene Reparationskommission genaue Beträge erarbeiten sollte. Dieses Gremium kam im April 1921 auf eine Summe von 132 Milliarden Goldmark. Die alliierten Kommissionsmitglieder schätzten, dass bisher 7,9 Milliarden gezahlt worden waren – in Form von Auslandsvermögen, Schiffen und Warenlieferungen –, während die Deutschen behaupteten, bereits 20 Milliarden bezahlt zu haben. Die damalige Differenz von reichlich 12 Milliarden wollten die Deutschen als Gegenwert für öffentliche Investitionen in den abgetretenen Gebieten angerechnet haben.10 Die Franzosen lehnten einen Vorschlag ab, deutsche Arbeitskräfte beim Wiederaufbau des Nordens einzusetzen; dieser Vorschlag von Loucheur, der mit dem Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete beauftragt war und den Plan zusammen mit Walther Rathenau ausgearbeitet hatte, traf auf Ressentiments in der französischen Öffentlichkeit und auf den Widerstand der Bauwirtschaft, welche die Aufträge haben wollte.11 Andererseits fanden die Deutschen es schwierig, Reparationen in natura zu leisten, besonders in Kohle, obgleich ihre Kohlenexporte stark anstiegen, als 1926 der britische Kohlenstreik ausbrach. Zahlungen in Devisen und Warenlieferungen an Frankreich nahmen 1922 so stark ab, dass französische und belgische Truppen im Januar 1923 in das Ruhrgebiet einmarschierten.

Die Ruhrbesetzung nützte nichts. In einer mächtigen Bekundung von passivem Widerstand und gewaltlosem Kampf sabotierten die deutschen Unternehmer und Arbeiter Produktion und Vertrieb. Es kam auch zu Gewalttätigkeiten: Am Ostersamstag, dem 31. März 1923, wurde ein Zug französischer Soldaten, der die Krupp-Werke durchsuchte, von einer Arbeitermenge »bedroht« und eröffnete das Feuer; er erschoss 13 Personen, darunter fünf Jugendliche, und verwundete 52. Das Begräbnis löste höchste Erregung aus. Es heißt, während der ganzen Besatzungszeit seien die französischen Truppen größeren Belastungen ausgesetzt gewesen als die deutsche Bevölkerung.12

Die deutsche Regierung zahlte an die Industrie Subventionen und gewährte Diskont an Banken, damit die Löhne weitergezahlt werden konnten. Die 1922 begonnene Inflation entwickelte sich zur Hyperinflation. Im Juni stand der Dollarkurs bei 100 000 Mark; im November bei 4 000 000 000. Grigg sah in der Besetzung der Ruhr »die hauptsächliche und unmittelbarste Ursache für Hitler, ohne die es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte«.13 Die meisten Beobachter machen eher die Inflation und die Verarmung der Mittelklasse dafür verantwortlich als die Besetzung der Ruhr selbst.14 Ob eines das andere unvermeidlich zur Folge hatte, ist wohl eine offene Frage. Aber die Hyperinflation hatte eine Spätfolge insofern, als es nach 1930 inmitten der Depression schwierig war, die Deflation zu bekämpfen. Da sie deutlich machte, welche verheerenden Folgen eine Inflation haben konnte, lieferte sie all jenen einen unerschöpflichen Vorrat an Munition – selbst gegen die bescheidensten monetären oder fiskalpolitischen Expansionsprogramme –, die glaubten, die Wirtschaft im Feuer der Deflation läutern zu müssen.15

Während der Ruhrbesetzung nahmen die Franzosen in den ersten vier Monaten des Jahres 1923 netto 128 000 Pfund ein, verglichen mit 10,5 Millionen Pfund im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Ein im Mai begonnener britischer Vermittlungsversuch brachte zunächst wenig unmittelbare Resultate. Die Hyperinflation jagte weiter. Ihre Folgen kamen fast niemandem gelegen.

Schließlich einigten sich die Briten, Franzosen und Deutschen im Dezember, zwei Kommissionen einzusetzen. Die eine unter Reginald McKenna, die nur wegen Frankreichs amour propre wichtig war, sollte feststellen, wie viel Kapital die deutschen Bürger unter den Augen der Alliierten ins Ausland verschoben hatten und wie die Chancen standen, es zurückzubekommen. Die zweite sollte Möglichkeiten für den Ausgleich des Reichshaushalts, für die Stabilisierung der Währung und für eine realistische Neufestlegung der jährlichen Reparationszahlungen ausfindig machen. Diese Kommission wurde von Charles G. Dawes geleitet, dem ersten Direktor des US-Budgetamtes. Die Vereinigten Staaten hatten weder den Versailler Vertrag unterzeichnet, noch waren sie dem Völkerbund beigetreten, da sie sich in einem plötzlichen Sinneswandel von den europäischen Intrigen der Nachkriegszeit distanzieren wollten. Außenminister Charles E. Hughes jedoch war bereit, inoffiziell bei dem Versuch mitzuhelfen, das Reparationsproblem zu lösen, wobei er daran festhielt, dass solche Reparationen nichts mit den Kriegsschulden der Alliierten bei den USA zu tun hatten. Dawes wurde von dem amerikanischen Finanzmann Owen D. Young sowie von einigen Hilfskräften der Firma J. P. Morgan & Co. begleitet. Die Hauptarbeit aber wurde von den Engländern, wie Sir Josiah Stamp und Sir Robert Kindersley, getan.

Der Dawes-Plan enthielt eine Aufstellung von jährlichen Zahlungen, die mit 1 Milliarde Goldmark im ersten Jahr begannen und bis auf 2,5 Milliarden im fünften Jahr anstiegen, danach in gewissem Umfang entsprechend der internationalen Prosperität variierten (wenn der Goldpreis sich nach oben oder unten um mehr als 10 Prozent veränderte). In Berlin sollte ein Reparationsamt eingerichtet werden, das die Aufbringung der nötigen Beträge in Mark beaufsichtigen und intervenieren sollte, um Zahlungen zurückzustellen, falls ernstliche Transferschwierigkeiten auftreten würden. Eine Anleihe von 800 Millionen Mark sollte an verschiedenen Finanzzentren aufgelegt werden, gesichert durch eine hypothekarische Belastung der Reichsbahn. Diese letzte Bestimmung sollte Poincaré zufriedenstellen, der fortgesetzt »gages productifs« (produktive Pfänder) in Form von Bergwerken, Wäldern, Fabriken und Ähnlichem gefordert hatte.

Die Dawes-Anleihe spielte eine entscheidende Rolle. 110 Millionen Dollar davon, die von der Firma Morgan übernommen worden waren, wurden in New York verkauft. Die Anleihe wurde zehnfach überzeichnet. Mehr als alles andere war dies der Anstoß, der die New Yorker Anleihen an das Ausland, zuerst an Deutschland und kurz darauf an Lateinamerika und fast sämtliche europäischen Länder, in Gang brachte.16 Auch bei früheren Gelegenheiten hatte sich eine plötzliche Zunahme der Auslandskredite ergeben, wenn eine Anleihe, die aus politischen Gründen im Zusammenhang mit Reparationen aufgelegt worden war, erfolgreich war. Nach Waterloo wurden die französischen Reparationen finanziert, indem Baring Brothers & Company in London französische Staatspapiere ankauften. Der Erfolg dieser Transaktion regte die britischen Auslandsanleihen in den 1820er-Jahren an. Auch die französische Entschädigung an Deutschland nach dem Deutsch-Französischen Krieg wurde in Höhe von 3,5 Milliarden Franc durch die berühmte »Thiers-Rente« aufgebracht, die mit einem beträchtlichen Disagio verkauft wurde. Dabei machten die französischen Geschäftsbanken, die »banques d’affaires« und Privatpersonen große Profite, und während der ganzen Zeit bis zum Ausbruch des Krieges richtete sich in der Folge das Hauptinteresse der Anleger mehr auf die Spekulation mit Anleihen, auch ausländischen, als auf die direkte Investition in der Industrie.

Die Reparationen mögen nicht direkt verantwortlich für die Depression gewesen sein, wie Mantoux meint, aber zusammen mit den Kriegsschulden komplizierten und korrumpierten sie die internationalen Wirtschaftsbeziehungen während jedes Abschnittes der Zwanzigerjahre und der gesamten Depression bis zum 15. Juni 1933, drei Tage nach Eröffnung der Weltwirtschaftskonferenz.

Keynes’ brillante Polemik Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages mag in vieler Hinsicht verzerrt gewesen sein, sich selbst bekräftigend in der Behauptung, dass die Deutschen, wenn sie ein vernünftiges Argument hörten, warum sie nicht zahlen könnten, es nicht tun würden; zudem war sie eine verheerende Ermunterung der amerikanischen Isolationisten durch die Angriffe gegen Wilson, den Keynes einen inkompetenten Invaliden nannte. Keynes’ Gedanke war aber sicherlich richtig, dass es am vernünftigsten wäre, die Kriegsschulden zu annullieren, einen kleinen Betrag an Reparationen, z. B. 10 Milliarden Dollar, festzusetzen und die Streitfrage von der internationalen Tagesordnung zu streichen.17

Kriegsschulden