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Wer führen will, muss fühlen können Alle Welt redet von der Wertschöpfungskette und vergisst dabei die Wertschätzungskette. Dabei sind Mitarbeitende, die sich gesehen und wohlfühlen, nachweisbar leistungsfähiger, gesünder, loyaler und motivierter. In der Leitungsebene braucht es deshalb Menschen, die sich für ihre Mitarbeitenden und das, was ihnen wichtig ist, interessieren. Führungskräfte sollten Verbindlichkeit, Glaubwürdigkeit und Fühlbarkeit mitbringen – denn diese zwischenmenschlichen Kompetenzen zahlen auf die Wertschätzungskette ein. Sven Korndörffer, seit 2005 Vorsitzender der Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung in Deutschland, zeigt an vielen Beispielen, welche teuren Folgen eine schlechte Unternehmenskultur haben kann und wie Wertschätzung auf der Führungsebene sich bei den Mitarbeitenden spiegelt. Seine Radikale Forderung lautet: Führungskräfte müssen in erster Linie Mensch und erst in zweiter Linie Manager sein.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Die Wertschätzungskette
Sven H. Korndörffer blickt auf fast drei Jahrzehnte in der Bankenbranche zurück. Zuletzt war er Bereichsvorstand für die Konzernkommunikation bei der Commerzbank. In seinen vorherigen beruflichen Stationen verantwortete er die Kommunikation der Aareal Bank Gruppe und war Leiter des Vorstandsstabs der Norddeutschen Landesbank. Außerdem ist Korndörffer seit 2005 Vorsitzender des Vorstands der Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung in Deutschland.
Was erwarten Menschen von ihrer Führung? Die Antwort ist im Management dieselbe wie in der Politik und überall sonst, wo es heute Vorbildrollen auszufüllen gilt: Sie wollen von den Führenden wahrgenommen werden.Sven H. Korndörffer bekennt sich in diesem Buch zu einer Führungslogik, die in der zahlengetriebenen Welt des Top-Managements oft noch immer Skepsis hervorruft: Wertschätzung bildet für ihn die Grundlage jeglicher Wertschöpfung. Menschen wollen von Menschen geführt werden! Als Vorsitzender der Wertekommission – Initiative Wertebewusste Führung weiß der Autor, dass die meisten Führenden über durchaus solide Kernwerte verfügen. Sie wollen wertebewusst entscheiden. Das Problem liegt in der Kluft zwischen Anspruch und gelebtem Handeln: Sie wird größer, je höher der Erfolgsdruck steigt. Doch genau an dieser Sollbruchstelle verdient Führung sich ihre Glaubwürdigkeit – oder verliert sie.
Sven H. Korndörffer
Warum wir uns Chefs ohne Empathie nicht leisten können
Ullstein
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© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten, insbesondere und ausdrücklich die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG.Lektorat: Dr. Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: Brian BarthAutorenfoto: © DanielE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-3158-4
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog: Das offene Haus
Kapitel 1: Führen mit Gänsehautfaktor – FÜHLBARKEIT
Die Dementoren von Absurdistan
Das Frösteln der Mittelmäßigkeit
Versteckspiele
Begegnungsqualität in der Führung
Was Barkeeper und Führungskräfte gemeinsam haben (sollten)
Sehen und gesehen werden
Anerkennung statt Asymmetrie
Die Digitalisierung als Chance für mehr Gefühl in der Führung
Wer nicht fühlen will, muss hören
Kapitel 2: Wer einmal lügt – GLAUBWÜRDIGKEIT
Ohne Rücksicht auf Verluste
Managermarken
Ist der Ruf erst ruiniert …
Hingabe macht Führende glaubwürdig
Einer von uns
Für eine neue G&V in der Führung
Führung als Gesellschaftsvertrag
Geschmackvoll im Abgang
Das Versprechen des Wachstums halten
Kapitel 3: Sehend folgen – TRANSPARENZ
Kultur des Misstrauens
Die zwei Ebenen der Transparenz im Unternehmen
Das Narrativ steuern
Angstgesteuert
Digitale Heckenschützen
Digital ist nicht genug
Compliance und Vertrauen: Feinde oder Partner?
Leben auf Messers Schneide: Warum ich meine Ziele offenlege
Transparenz als Geste der Wertschätzung
Kapitel 4: Vorbilder gesucht – KOMPETENZ
Die Imperfektion der Führung
Der Mut zu führen
Der Mathematiker am Strick
Der rote Knopf im Fahrstuhl
Empathische Kontaktfähigkeit
Das gallische Dorf in der Bankenlandschaft
Ein starkes Bild abgeben
Mit offenem Visier
Der Mythos von der unpolitischen Führung
Kapitel 5: Die Sehnsucht nach Orientierung – AUTORITÄT
Der Autoritätskomplex
Kontextbewusstsein schafft Autorität
Größe folgt aus Wachstum
Positive Autorität
Warum Kontrollfreaks keine Autoritätspersonen sind
Ohne Hierarchien kein Kontrollwahn?
Neue Autoritäten braucht das Land
Autorität wagen!
Kapitel 6: Tun, was man sagt – VERBINDLICHKEIT
Die große Unverbindlichkeit
Die missverstandene Verbindlichkeit
Redebedarf
Jenseits der Worte
Profil braucht keinen Weichzeichner
Verbindlichkeit federt Veränderung ab
Verbindlichkeit fördern – aber wie?
Verbindlichkeit statt Verträge
Kapitel 7: Der Letzte an Bord – KONTINUITÄT
Der Fels in der Veränderung
Digitale Lederhosen: Tradition versus Innovation
Kernwerte als Gravitationszentrum
Mittendrin statt außen vor
Zeige mir, wie du führst, und ich sage dir, wer du bist
Was bleibt einmal von der Führung?
Kapitel 8: Alle sind besser als ich – REFLEKTIERTHEIT
Die andere Hälfte der Führung
Halbe Vorbilder
Die scheinreflektierte Welt der runden Tische
Auch Intuition lässt sich schulen
Warum wir mehr Frauen in der Führung brauchen
Reflexion ist (k)eine Kunst
Der aufgeklärte Karrierist
Kapitel 9: Der Glaube an sich selbst – MACHTBEWUSSTSEIN
Das Macht(miss)verständnis unserer Zeit
G&V: Soziale Marktwirtschaft als Mitmachprojekt
Die Renaissance des Leistungsprinzips
Jeder Führende ist ein Machtmensch
Der Wille zur Macht
Machtbewusstsein als Kommunikationsleistung
Die Ränder des Bewusstseins
Kapitel 10: Ich flieg aus Überzeugung raus – KONSEQUENZ
Frechheit siegt
Professionelle Störer
Warum wir einen neuen Führungsboom brauchen
Bezahlt, um zu entscheiden
Epilog: Recht-Hasen
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog: Das offene Haus
Ich bin in einem Haus der offenen Tür aufgewachsen. Während meiner Jugendzeit war ich bei meinen Eltern regelmäßig von den unterschiedlichsten Typen von Menschen umgeben: Politiker, Prominente, Journalisten, Diplomaten, Akademiker, Mäzene, Schauspieler, Künstler sowie Lebenskünstler. Das gesamte Potpourri an interessanten Köpfen, das die damalige Bonner Republik zu bieten hatte, ging bei uns ein und aus.
Meine Eltern, insbesondere meine Mutter, legten großen Wert auf diese Kultur der Offenheit. Mein Vater war einer der prominentesten Gastronomen der alten Bundeshauptstadt Bonn; ein Vollblut-Gastgeber alten Schlages, mit einem echten Unternehmer-Gen wie heutige Entrepreneure. Meine Mutter war »die Salonière aus der Südstadt« – so jedenfalls hat der Bonner General-Anzeiger sie einmal in einem Beitrag genannt.1 Heute würde man sie wohl als »geborene Networkerin« bezeichnen. »Ich liebe Menschen«, wurde sie damals zitiert, »und ich liebe es, Leute zusammenzubringen.« Mit diesem Satz und dieser Haltung hat meine Mutter definiert, was gute Führung ausmacht – und vorgelebt hat sie es mir und vielen anderen auch.
Seit den frühen Achtzigerjahren zelebrierte die »Salonière« alle paar Wochen, was auch den Rest des Jahres über Grundprinzip in unserem Hause war: die offene Tür. Sie veranstaltete eine Zusammenkunft, bei der die unterschiedlichsten Menschen willkommen waren. Sie alle fanden sich in der elegant gestalteten ersten Etage unseres Gründerzeithauses ein, um ins Gespräch zu kommen und Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Den kulturellen Hintergrund bildeten meist junge Musiker oder Vortragende, die auf diese Weise Kontakte knüpfen konnten, denn so war einst die Idee zu den Salons zwischen Paris und Berlin entstanden. Bekanntheit erlangt hatte sie vor allem durch ihre monatlichen Jours fixes im Bonner Presseclub bei dessen Gastgeber Karlchen Rosenzweig, der bereits zu Lebzeiten eine Legende war. Zu Bonner Hauptstadtzeiten versammelten sich dort die Politiker und Medienschaffenden, Botschafter und Lobbyisten der Stunde. Auch Benefizveranstaltungen und Ausstellungen im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg und im sagenumwobenen Künstlerkeller »Zur Kerze« gehörten zu ihrem Repertoire. Als die große Politik weitgehend aus Bonn verschwand, verlagerte sie ihre Leidenschaft, Menschen zusammenzubringen, auf ihren privaten Salon in der Königstraße in Bonn. In unserer auch für damalige Zeiten sensationell ausgestatteten Küche wurden auch die ersten TV-Kochshows mit Eckart Witzigmann und Harald Wohlfahrt sowie vielen spannenden Gästen gedreht.
Für mich als Kind und Heranwachsenden wurde es bei uns nie langweilig. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Salons meiner Mutter konnte ich den 150 ausgesuchten Gästen als Laudator begeistert zurufen: »Irgendwie seid ihr alle ein Stück weit meine Eltern!«
Zum Weihnachtsfest nahmen wir oft Menschen aus der großen Gästeschar bei uns auf, die einen Schicksalsschlag erlitten hatten oder an den Festtagen allein waren. Meine Mutter und ihr zweiter Mann, der für mich ebenfalls ein Vater geworden ist, nahmen ihre Patentochter nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters bei sich auf und begleiteten sie durch Schule und Ausbildung. Als eine ältere Dame und Patientin ihres Mannes überfallen und schwer verletzt wurde, übernahm meine Mutter wie selbstverständlich deren Betreuung. Auf die Frage, warum sie sich so uneigennützig verhalte, hat meine Mutter immer dieselbe Antwort gegeben: »Weil wir Menschen sind.«
So einfach kann die Antwort auf die Frage nach dem großen »Warum« sein, an der sich seit Jahren die Geister scheiden und die Gemüter erhitzen. Viele der Antworten, die wir darauf gefunden haben, lenken uns eher vom Wesentlichen ab, als dass sie uns näher zu unserem Kern führen würden – insbesondere, wenn es um Führung geht.
Meine Mutter hat ihre Freude an Menschen an mich weitergegeben; dafür bin ich ihr sehr dankbar. Das farbenfrohe Panorama, in dem ich sozialisiert wurde, hat mich als Menschen und als Führenden geprägt wie nichts anderes in meinem Leben. Ich wurde dazu erzogen, bewusst und proaktiv auf Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören, mich für ihre Gedanken zu öffnen, verbindliche Beziehungen zu knüpfen und Verantwortung zu übernehmen. Empathische Kommunikation als Grundlage eines wertschätzenden Miteinanders – das war das Fundament des offenen Hauses, in dem ich groß geworden bin. Eine Prägung, die ich immer mehr zu schätzen weiß, je älter ich werde.
Für viele Menschen fühlt sich Führung an, als ob sie nichts mit ihnen als Mensch zu tun habe. Keine Einladung zum Essen, keine Mentalität der offenen Tür, kein aufrichtiges Interesse. Ich weiß das, weil sie sich auch für mich mehr als einmal so angefühlt hat.
Inzwischen bin ich vor allem Führender, doch wir alle sind immer auch in irgendeiner Weise Geführte. Selbst ein CEO berichtet noch an einen Aufsichtsrat, und der berichtet an die Aktionäre. Sogar ein Regierungschef dient, nämlich dem Volk. Doch solange die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte nicht ausüben, lässt Machtmissbrauch sich nicht ausschließen. Jeder Führende ist in gewisser Weise auch Geführter und Ansprüchen verpflichtet – doch die müssen auch artikuliert und eingefordert werden. Wenn die Dinge schieflaufen, muss jemand opponieren, sonst folgt Macht ihrer eigenen Dynamik. Wenn sie über die Stränge schlägt, ist dann meist von entfesselter, entgrenzter oder entrückter Macht die Rede. Das Muster ist stets dasselbe: Immer geht es in diesen Horrorgeschichten um Führende, die ihr Verantwortungsgefühl gegenüber den Menschen verloren haben. Man könnte sagen, sie »über-führen« sich selbst.
Einige sind sich dieser Gefahr bewusst, andere nicht mehr. Manche Führende schätzen die Opposition, suchen sie sogar; andere bevorzugen unreflektierte Gefolgschaft. Führung ist nicht gleich Führung; Führung ist eine Rolle, die es mit Motiven zu füllen gilt, letztlich also eine Frage der Überzeugung.
Führung darf nicht nur in der Hochglanz-Imagebroschüre ein Wertethema sein; Führung ist im Kern ein Wertethema. Das Problem ist, dass viele Führende das nicht einsehen wollen. Führung in Deutschland ist oft eine technokratische Stellenbeschreibung – ein Verwaltungsakt statt einer persönlichen Mission. Führungsentscheidungen werden als Gleichungen betrachtet, die es zu lösen gilt; mathematische Probleme, auf die man nur den richtigen Satz von Regeln anwenden muss, um zur Lösung zu kommen. Führungsaufgaben aber haben keine Aktenzeichen, die man einfach archivieren könnte, wenn der Ordner voll ist.
Führung ist eine langfristige Vermittlungsleistung zwischen einer Vielzahl von Einzelinteressen, die sich in aller Regel nicht regelhaft auflösen lassen, ohne dass auf einer Seite der Gleichung ein Rest stehen bleibt: ein Rest von Schuld, ein Rest von Enttäuschung, ein Rest von Misstrauen zum Beispiel, aber auch: ein Rest von Dankbarkeit, von Euphorie, von Leidenschaft. All diese Emotionen lassen sich nicht recyceln, wegräumen oder steuerlich absetzen. Sie landen als Übertrag in der nächsten Herausforderung, die es gemeinsam zu meistern gilt. Führung ist keine exakte Wissenschaft; Führung ist Leben.
Um den Unterschied zu verstehen, muss man sie von beiden Seiten betrachten: aus der Perspektive der Geführten wie aus der Perspektive als Führender. Die Eigenschaft, die diesen Perspektivenwechsel ermöglicht, heißt Empathie. Die Methode, die daraus eine Umsetzungskompetenz macht, heißt Wertschätzung. Führungskräfte zu ermutigen, diesen Zweischritt auf die gesamte Spannbreite der Führung anzuwenden und in ihrem Verantwortungsbereich eine belastbare Wertschätzungskette zu knüpfen, ist das erklärte Ziel dieses Buches. Nichts könnte wichtiger sein, wenn man seine Führungsaufgabe ernst nimmt. Und nichts, daran glaube ich fest, hat größeren Einfluss auf die Wertschöpfungskette, die Führung ebenfalls verantwortet.
Die Herausforderungen unserer Zeit erlauben keine Führung der geschlossenen Tür.
Gedanken machen groß,Gefühle reich.
Quintilian
»Der Dementor ist ein seelenloses Wesen und zählt zu den schlimmsten dunklen Kreaturen der magischen Welt. Dementoren […] entstehen in einer Atmosphäre der Angst. […] In Anwesenheit von Dementoren wird die Atmosphäre düster und kalt. […] Dementoren können nicht zwischen ihren Opfern unterscheiden.«2
Diese Charakterisierung stammt aus einem Harry-Potter-Wiki, in dem die verschiedenen Kreaturen beschrieben werden, die in der magischen Welt um den Zauberlehrling und dessen Freunde herumspuken. Diese Furcht einflößenden Kreaturen, die in den Romanen das Zauberergefängnis Askaban bewachen und sich später auf die Seite des bösen Magiers Voldemort schlagen, sind eigenen Angaben zufolge der Fantasie der Autorin J. K. Rowling nach einer depressiven Phase entsprungen.
Vielleicht liegt es daran, dass die Wirkung der Dementoren auf ihre Opfer so viel mit der Wirkung mancher Führungskräfte auf ihre Mitarbeitenden gemeinsam hat: Die meisten von ihnen, so das Wiki weiter, werden aufgrund der Dementoren depressiv und verrückt. Ähnliches lässt sich, wenn man den Statistiken glaubt, auch über die Arbeitsbedingungen in manchen deutschen Unternehmen sagen. Dass Stress bei der Arbeit krank macht, ist von Wissenschaftlern längst anerkannt. Die erschreckenden Meldungen über die steigenden Zahlen von Fehltagen durch psychische Erkrankungen und sogar dauerhafte Ausfälle kennt jeder. Sogar 37 Prozent der Fälle von Berufsunfähigkeit gehen inzwischen auf psychische Erkrankungen zurück, Tendenz steigend.3
Waren die kausalen Zusammenhänge zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Problemen lange Zeit diffus, gibt es inzwischen auch konkrete Daten über die auslösenden Faktoren. Die Untersuchung einer Krankenkasse etwa hat gezeigt, dass »schlechtes Arbeitsklima« auf Platz zwei der größten Belastungsfaktoren liegt – noch dazu mit nur einem Prozentpunkt Unterschied nahezu gleichauf mit dem größten Faktor (»ständiger Termindruck«).4 Gleich dahinter – und wieder nur einen Prozentpunkt zurück – liegt »emotionaler Stress«. Auf Platz sechs der Rangliste liegt »hoher Erfolgsdruck«, auf Platz acht »monotone Aufgaben«.5
Laut einer anderen Untersuchung der Universität Stanford gehören hoher Leistungsdruck, das Gefühl der Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz, das Gefühl des Kontrollverlusts im Job und ein geringer sozialer Rückhalt am Arbeitsplatz zu den Top zehn der größten Stressoren mit Folgeschäden auf psychischer Ebene.6 In der Liste der größten Stressoren mit körperlichen Gesundheitsfolgen sieht die Platzierung fast identisch aus – mit dem Unterschied, dass das Gefühl der Ungerechtigkeit sogar auf Platz zwei der Auslöser landet. Darüber rangiert in diesem Ranking nur noch der Stressor »fehlende Krankenversicherung« – ein Faktor, der hierzulande praktisch zu vernachlässigen ist.7
Welche Untersuchung man auch betrachtet, die größten Stressfaktoren für berufstätige Menschen sind fast ausnahmslos solche, die auf den Führungsstil oder auf soziale Versäumnisse der Führung zurückzuführen sind. Viel zu viele Menschen fühlen sich bei der Arbeit in pathologischem Ausmaß unwohl oder sogar stark belastet. Bei immer mehr von ihnen führt dieses Unbehagen auf Dauer zu gesundheitlichen Problemen.
J. K. Rowlings Dementoren saugen den Menschen ihre Empfindungen aus. Jeder ist schon Führungskräften begegnet, auf die diese Beschreibung zutrifft: Sobald sie den Raum betreten, wird die Atmosphäre merklich kühler, und eine unangenehme Stille greift um sich. Die Angst, die sie verbreiten, scheint sie nur noch stärker zu machen: Je mehr die Mitarbeitenden sich vor ihnen fürchten, desto mächtiger werden sie. Wer man ist und was man leistet, scheint für sie keinen Unterschied zu machen – ihr Führungsstil ist so persönlich wie die vorgedruckte Weihnachtskarte von der Geschäftsleitung mit der selten lesbaren Kurzwidmung. Lautlos gleiten sie durch ihre Unternehmen – immer muss man damit rechnen, dass sie plötzlich hinter einem stehen. Und wer lange genug unter ihrem Einfluss stand, ist irgendwann entweder genauso freudlos, dauerhaft krankgeschrieben – oder hat längst das Weite gesucht.
Das Frappierende daran ist aber noch nicht einmal, dass diese Führungskräfte es mit sich selbst aushalten. Viel beängstigender ist, dass viele von ihnen ganz andere Menschen sind, wenn sie das Büro verlassen und das Jackett ablegen. Wenn man ihrer versehentlich einmal außerhalb ihres natürlichen Lebensraums gewahr wird, etwa im Kaufhaus mit ihrer Familie oder mit Kumpels beim Bier in der Kneipe, stellt man fast immer fest, dass diese gefürchteten Wesen außerhalb ihres Arbeitsplatzes gar nicht so beängstigend wirken wie hinter ihrem Schreibtisch.
Es scheint also nicht nur geborene Dementoren zu geben, sondern auch gemachte – Rekruten der dunklen Seite, die sich der schwarzen Magie am Arbeitsplatz aus irgendeinem Grund nicht erwehren können. Scheinbar wird auch ihnen jede angenehme Empfindung von einer höheren Macht ausgesaugt.
Die Frage ist: Wie kommt es dazu, dass so viele Menschen ihren Arbeitsplatz offenbar als Vakuum der Lebensfreude empfinden, obwohl Statistiken zufolge mit 68 Prozent mehr als zwei Drittel der Deutschen zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind? Vor der Corona-Pandemie waren es sogar fast drei Viertel (72 Prozent).8
Die Antwort ist klar und kann niemanden überraschen: Voldemort, der Herr der Finsternis.
Leider ist das nicht so ironisch gemeint, wie es klingen mag. Wenn Führungskräfte sich systematisch benehmen wie Dementoren, die ihrem Verantwortungsbereich alle Gefühle aussaugen, dann haben sie sich das meist ganz oben abgeschaut. Schwache Unternehmenslenker, die über Asymmetrien führen, kultivieren gezielt eine emotionsfreie Zone um sich herum. Sie wähnen sich angreifbar, wenn sie als fühlende Wesen auftreten. Deshalb lassen sie sich Enttäuschung und Schmerz genauso wenig anmerken wie Freude und Zuneigung. Wer regelmäßig mit ihnen zu tun hat, lernt, seine Gefühle zu unterdrücken – und gibt fortan seine Lebensfreude an der Pforte ab, bevor er das Büro betritt.
Dieses Klima wird von einer Hierarchieebene zur nächsten nach unten durchgereicht, bis der kalte Hauch der Freudlosigkeit jeden Mitarbeitenden umfangen hat. Und diese Gefühlskälte bleibt so lange im System, bis ein Zauberlehrling, pardon: ein werteorientierter Anführer heißen Herzens durch die Kälte schneidet und der Eiszeit mit seiner Leidenschaft ein Ende setzt.
Natürlich, und jetzt scheint wieder Licht über Hogwarts, gibt es auch den entgegengesetzten Fall. Es gibt Leitfiguren an der Spitze von Unternehmen, die Gefühle nicht nur zulassen, sondern zeigen und aktiv vorleben – und zwar durch Nähe. Starke Führungsfiguren haben keine Angst vor ihren eigenen Emotionen. Schon gar nicht befürchten sie, dass ihre Gefühle ihnen als Schwäche ausgelegt werden könnten. Sie bauen im Gegenteil bewusst auf ihre emotionale Ausstrahlung – weil sie wissen, dass nur Emotionen Menschen mitreißen können.
Der emotionale Anteil von Führung ist unermesslich. Im Alltag aber beschränkt Führung sich meist auf das Messbare: Benchmarks, Prozesse, Meeting-Protokolle. Nichts davon trägt der emotionalen Wirkung Rechnung, die Führung immer entfaltet – beglückend oder bedrückend.
Es braucht nur eines, damit Führung fühlbar wird und die Menschen mit positiven, motivierenden Emotionen erfüllt: Nähe. So einfach wäre es, wenn es in Wahrheit nicht so schwierig wäre. Denn nichts braucht in der Führung mehr Mut als Nähe. An die Frage nach dem ›Was‹ schließt sich immer die Frage nach dem ›Wie‹ an: Wie viel Nähe braucht die Führung, und wie nahe ist zu nah? Es ist diese Frage, die dazu führt, dass viele Führende lieber abstumpfen, als Gefühle zuzulassen. Emotionale Führung ist viel wirkungsvoller – aber auch viel anspruchsvoller.
Distanz ist einfach, Nähe ist schwer.
»Mittelmäßigkeit fördern, damit die eigene Mittelmäßigkeit nicht so auffällt, ist hierzulande ein bewährtes Führungsprinzip.« Mit diesem Tweet traf der Autor Wolf Lotter bei vielen Menschen einen Nerv – mich selbst eingeschlossen. Dass viele Führende sich bei der Einstellung eher für Zweitklassigkeit entscheiden, als sich mit Erstklassigkeit selbst unter Druck zu bringen, wird vielen ambitionierten Lesern ein schulterzuckendes Nicken abringen: Diese Einstellungs- und Entwicklungspolitik aus unbewusstem Selbstschutz kennt jeder, der sich schon einmal zu weit aus dem Fenster gelehnt hat.
Es gibt drei Unarten, die Mittelmäßigkeit zu fördern: Einmal kann man gezielt die Einstellungspolitik darauf einrichten und Führungskräfte rekrutieren, die keinen Eigenantrieb oder nicht die Kompetenzen haben, um in der vorgesehenen Rolle herauszuragen. Oder man kann hochkompetente Menschen einstellen, ihre Effektivität dann aber durch das zermürbende Spiel mit der Informationsasymmetrie künstlich unterdrücken. Oder man kann ihnen einen sogenannten Stil als alternativlos aufdrücken, der in Wahrheit nur in der Ausübung willkürlich aufgestellter Regeln besteht, und sie auf diese Weise zu »Amtsvasallen« erziehen – bis auch der letzte Rest an Kreativität schwindet.
Weniger als über den oft haarsträubenden Umgang mit motivierten Talenten wird darüber gesprochen, wie diese kultivierte Mittelmäßigkeit sich auf die Menschen auswirkt, die in diesem muffigen Tümpel mitschwimmen müssen.
Führung fühlt sich deshalb manchmal kalt an, weil Führende Angst haben, zu viel zu sagen. Um sich selbst nicht ins Obligo zu bringen, sagen sie nur das Unverfängliche, tun nur das Konsensfähige und wagen nur das Opportune. Diese Führungstaktik ist das Rezept der Mittelmäßigkeit: Wenn man sich nach allen Seiten absichert und Barrieren errichtet, bleibt am Ende nur eine ausgemittelte Zone übrig, in der Führung überhaupt noch stattfinden kann. In dieser Zone der Mittelmäßigkeit werden ausschließlich unstrittige, risikofreie, innovationslose Gewissheiten verhandelt, die alle Beteiligten widerstandslos teilen können.
Solange das System nicht unter Druck gerät – durch innovativere Akteure –, hält dieses organisatorische Perpetuum mobile sich wunderbar selbst am Laufen. Nur eines ist auf diese Weise nicht zu haben: emotionales Engagement über das Nötige hinaus. Unstrittig, risikofrei und innovationslos mag funktionieren – Emotionen erzeugt es nicht. Mitarbeitende schwimmen in diesem kalten, muffigen Tümpel aus Gewohnheit fröstelnd mit im Kreis, um nicht unterzugehen. Dem Führenden aus Überzeugung aufs offene Meer folgen werden sie nicht: Was versteht der Frosch schon vom Ozean?
Menschen folgen Führenden, die ihnen Orientierung bieten. Diese Orientierung ist in hohem Maße emotionaler Natur: Bei einer Führungskraft, die einen klaren Weg entlang erklärter Werte aufzeigen kann, fühlen Mitarbeitende sich sicher. Fehlt diese fühlbare Komponente von Führung, weil der Führende klare Ansagen über konkrete Ziele bewusst vermeidet, mangelt es automatisch an der Orientierung.
Wenn ich Menschen mit authentischer Emotion vortrage, wovon ich selbst überzeugt bin, können sie dank ihrer naturgegebenen Begeisterungsfähigkeit bei mir andocken. Warum? Weil sie eine emotionale Nähe spüren und weil sie sich ernst genommen fühlen. Emotionalität in einem rational geprägten Umfeld fühlt sich wertschätzend an. Jede Botschaft hat Follower-Potenzial, wenn sie aus Überzeugung kommt und auf Augenhöhe vorgetragen wird. Doch was von politisch motivierten, heuchlerisch argumentierten Ausweichmanövern und abstraktem Managementsprech zu den Menschen hinüberschwappt, ist ungeachtet des Inhalts immer dieselbe Botschaft: Der Chef geht auf Distanz!
Von einer Führungskraft wurde mir ein zugleich erschreckendes und erfreuliches Beispiel dafür zugetragen, wie Führende die Maschine der Mittelmäßigkeit mit ihrem Verhalten am Laufen halten. Die Geschichte zeigt, wie sehr Mitarbeitende unter der emotionalen Distanz leiden, die mancher Führende gezielt aufbaut.
Minutenlang, so der Manager, hatte der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens in schönstem PR-VWL (politisch respektables Verwaltungslatein) seine Haltung zu einer aktuellen Herausforderung erläutert. In der dritten Ableitung der fünften Kurve zur zwölften Hypothese und den dazugehörigen Disclaimern – damit es nur ja nicht verbindlich werde – hatte er dargelegt, was alle Anwesenden kraft ihres Amtes in diesem Unternehmen schon vorher gewusst hätten, wenn sie dem Vortrag nur hätten folgen können.
Die Luft im Raum war schon nach wenigen Sätzen knapp geworden. Unwillkürliche Zuckungen in der Runde ließen auf kollektiven Aufmerksamkeitsmangel schließen, der in Sekundenschlaf ausartete. Kein Wunder, wenn so viel heiße Luft zirkuliert.
Als der Firmenchef endlich aufhörte zu reden, ohne etwas zu sagen, herrschte für einen Moment Totenstille. Und dann geschah das Unvorstellbare. Die plötzliche Wortmeldung eines Mitarbeitenden schnitt durch die dicke Luft wie eine Machete durchs Unterholz: »Ich habe absolut keine Ahnung, was Sie uns da gerade erzählt haben. Sie haben mich komplett abgehängt. Was heißt das alles denn im Klartext?«
An dieser Stelle der Geschichte fragte ich mich: Könnte man nicht auf die Tagesordnung jeder Vorstandssitzung die Wahl eines MVP setzen? Beim Basketball ist dieser »Most Valuable Player« der Spielende mit dem größten Einfluss auf den Spielverlauf.
Nach dieser Wortmeldung aber, so der Erzähler weiter, geschah etwas beinahe noch Überraschenderes: Die Hälfte der Anwesenden begann zu applaudieren. Und die andere Hälfte der Teilnehmenden klatschte stillschweigend in Gedanken mit.
Wer hatte in diesem Meeting, in diesem Moment, in diesem Unternehmen dagegen wohl Applaus oder überhaupt irgendein Gefühl für den Unternehmenslenker übrig? Niemand, da können wir ziemlich sicher sein. So sieht es aus, wenn Führung nicht fühlbar ist, weil der Vorgesetzte auf maximale Distanz geht: Die Mitarbeitenden tun es auch. Und spätestens ab diesem Punkt wird Führung zu einer sehr, sehr zähen Angelegenheit.
Was die obige Episode über ein befremdliches Meeting verdeutlicht, ist leider nichts weniger als ein konstituierendes Merkmal vieler komplexer Organisationen: Je mehr Hierarchiestufen es in einem Unternehmen gibt, desto weiter entfernt sind die alltäglichen Erlebniswelten von den Mitarbeitenden und den Führenden in der obersten Etage. Selbst zwischen der ersten und der zweiten Führungsebene klafft oft ein riesiger Spalt. Dem wird in der hierarchischen Konstruktion des »Zusammenlebens« im selben Bürokomplex auch Rechnung getragen: Die privilegiertesten unter den Bewohnern fahren mit dem eigenen Lift ganz nach oben, um möglichst wenig in Kontakt mit den anderen Bewohnern zu kommen.
In den meisten Unternehmen gibt es diesen Fahrstuhl nur im übertragenen Sinne, in manchen existiert er tatsächlich. Das Prinzip jedoch ist universell: Kontakte werden gezielt vermieden und auf möglichst wenige, klar abgegrenzte Anlässe reduziert, die für die Führung optimal kontrollierbar sind – Vollversammlungen, Grußworte und unverbindliche Einzeiler in Social Media zum Beispiel. Auf diese Weise kommt es zu einer Verkapselung der Lebensentwürfe und der Weltsicht unter ein und demselben Dach: Wo kein Austausch stattfindet, können Informationen und Argumente nicht zirkulieren.
Für dieses dissoziale Versteckspiel, das den Alltag in vielen Unternehmen charakterisiert, gibt es ein Wort: Silodenken. Im Arbeitsalltag sieht das so aus, dass die Führung sich hinter hierarchischen Strukturen und den dazugehörigen Prozessen versteckt, anstatt einen vertrauensvollen Informationsaustausch im gesamten System zu fördern. Je mehr Eskalationsstufen zwischen einem Problem und der Chefetage liegen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Thema auf den flauschigen Sofas auf dieser Gebäudeebene je besprochen werden wird. Noch verstärkt wird das Silo- beziehungsweise Sicherheitsdenken bei vielen Führungskräften durch die Sorge, sich aufgrund eigener Unvollkommenheiten oder Defizite angreifbar zu machen. Je weniger man über den Führenden als Person weiß, desto weniger Angriffsfläche bietet er – vermeintlich.
Im Unternehmensalltag wird die physische Architektur der Entfremdung von einer weitaus komplexeren, virtuellen Architektur unterstützt: der Verantwortungsdistribution. Die Verantwortung wird von oben so weit wie möglich nach unten verteilt, während die Informationen in genau die entgegengesetzte Richtung fließen. Die Folge ist, dass die Menschen in den oberen Etagen nach und nach das Gefühl für die Verantwortung verlieren, die ihre Position gerade auszeichnet. Alles, was sie ins Handeln bringen oder gar in die Reflexion zwingen könnte, fließt nach unten ab, bevor es ihre Schuhsohle erreichen könnte.
In vielen Unternehmen erleben die Mitarbeitenden den Vorstand nur als schattenhaften Akteur hinter einer weitgehend undurchsichtigen Wand. Als Unternehmenssprecher und Kommunikationsverantwortlicher habe ich mich auf allen Ebenen bewegt und einen starken Draht zu den Menschen gepflegt. Als Sprachrohr einer Marke bin ich ja auf einen funktionierenden Informationsfluss angewiesen, um meine Arbeit richtig zu machen und belastbar nach außen kommunizieren zu können. Dadurch war ich immer wieder in der Position, die virtuelle und doch sehr reale Wand zwischen Vorstand und allen anderen Menschen im Unternehmen von beiden Seiten betrachten zu können. Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden: Die Menschen im obersten Stockwerk laufen Gefahr, mit der Zeit zu vergessen, dass es eine Welt außerhalb ihres Lebensentwurfs gibt. Sie verlieren das Interesse am Rest des Gebäudes, der zu ihren Füßen liegt. Die Menschen unterhalb ihrer Etage dagegen nicht. Sie schauen immer wieder zu den Menschen über ihren Köpfen auf und fragen sich, was dort wohl vorgeht. Sie wollen verstehen, sie suchen den Kontakt, sie verlangen nach Orientierung. Diese Asymmetrie erhält die Systemdynamik aufrecht – und erstickt jedes Vertrauen zuverlässig im Keim.
Das Silodenken wäre schon schlimm genug, wenn die Verkapselung sich auf die Führenden beschränken würde, während in den Etagen weiter unten an einem Strang gezogen wird. Leider neigen die Menschen in starken Hierarchien – also in den meisten größeren Unternehmen – jedoch dazu, das Verhalten ihrer Führenden zu kopieren, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen. Schließlich wird ihnen vorgelebt, dass der Aufstieg so gut funktioniert. Wir erinnern uns: Mitarbeitende suchen Orientierung. Sie ahmen das Verhalten ihrer Führung nach, ob das von einer von beiden Seiten nun wirklich beabsichtigt ist oder nicht.
So kommt es, dass das Silodenken in die unteren Etagen durchsickert und seine zerstörerische Wirkung entfaltet wie der Schimmel nach einem verborgenen Wasserschaden. Nicht der Wunsch nach Gemeinschaft oder die gemeinsamen Unternehmensziele werden zum Richtwert für den Umgang miteinander unter demselben Dach, sondern der Wunsch nach einem Leben mit eigenem Fahrstuhl.
Dieser Lebensentwurf ist das Gegenteil einer Vertrauenskultur: einer Form der Zusammenarbeit, in der Informationen, Meinungen und Menschen frei zirkulieren können. In einer solchen Kultur existiert keine Notwendigkeit für Abkapselung, weil Effektivität nicht durch taktisches Informationsdefizit erzielt wird, sondern durch gewollte Verantwortungskaskaden.
Ein solches System ist um Längen effektiver und effizienter – allerdings auch weitaus risikoreicher für Führende. Denn innerhalb einer solchen Systemarchitektur wird man an der Deckungsgleichheit zwischen Worten und Taten gemessen. Eine Vertrauenskultur unterstützt nicht den Statuserhalt, sondern fördert Veränderung und Innovation. Und vor allem verlangt sie nach Sichtbarkeit: nach einer Führung, die sich nicht abkapselt, sondern sich zeigt, sich erklärt und sich ins Verhältnis setzt.
Ich kann niemandem vertrauen, den ich nicht sehe. Wie kann ich also jemandem vertrauen, der wortlos an mir vorübergeht und in seinen eigenen Fahrstuhl steigt?
Dem Wunsch nach Unsichtbarkeit der Führung steht die Realität ihrer Sichtbarkeit entgegen. Eine Führungskraft kann sich entziehen; von der Bildfläche verschwinden kann sie nicht, sosehr sie es auch versucht. Letztlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihre Defizite anzunehmen und sich mit ihren Unvollkommenheiten zu zeigen. Möglich ist das in der Tat nur durch eine Vertrauenskultur. Denn Führende, die um ihre Defizite wissen, müssen ihre Machtsysteme öffnen, um sie durch andere ausgleichen zu lassen: durch Menschen mit komplementären Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmalen, durch offene Kommunikation und durch Selbstentwicklung. All das funktioniert nicht im Verborgenen. Es funktioniert sehr wohl aber in einer Vertrauenskultur, in der offen über Veränderungen, Notwendigkeiten und Entwicklungspotenziale kommuniziert wird – und damit auch über Unsicherheiten.
Wenn Werte von der obersten Ebene sichtbar gelebt werden, zirkuliert das Vertrauen ganz von selbst, abteilungsübergreifend durch die Gänge, Treppenhäuser, Fahrstühle und Küchen. Hat die Führung den Mut, sich an ihren Überzeugungen messen zu lassen, entwickeln auch die Mitarbeitenden den Mut, über den eigenen Silorand hinauszudenken, anstatt es sich in dessen Sicherheit gemütlich zu machen und die Tür vor Eindringlingen zu bewachen wie ein futterneidischer Rottweiler.
Erleben Mitarbeitende und Führungskräfte einen Vorstand, der die Verantwortung für ein Problem an den Vorstandskollegen aus einem anderen Bereich abschiebt und weder Budget noch Manpower für eine notwendige Veränderung hergeben will, halten sie es auf ihrer Verantwortungsebene genauso: Probleme werden möglichst weiträumig umverteilt, Veränderungen werden um jeden Preis vermieden, und persönliches Engagement wird prinzipiell unterdrückt. Sehen sie dagegen einen Vorstand, der Verantwortung fürs große Ganze übernimmt, Verantwortung bündelt und mutige Entscheidungen mit Signalwirkung trifft, statt nur sein Silo zu verteidigen, skaliert die Vorbildwirkung diesen Mut aufs gesamte System hoch.
Führende müssen entscheidungsfähig sein, und sie müssen Menschen bei ihren Entscheidungen mitnehmen können, damit sich Vertrauen aufbauen kann.
Das setzt natürlich voraus, dass die oberste Ebene überhaupt erst einmal sichtbar ist. Leider ist die dem Prinzip Vertrauen immanente Entscheidungsfähigkeit aber gleichzeitig auch der Grund, warum sie es oft nicht ist. Führende entscheiden sich gegen die Sichtbarkeit und für das Versteckspiel, weil es so weitaus leichter ist, oben zu bleiben. In einem Gebäude mit bissigen Rottweilern auf jeder Etage schafft es so schnell keiner nach oben, der dem Rudelführer gefährlich werden könnte. Distanz und Entfremdung sind Werkzeuge des hierarchischen Führungsstils, weil sie die eigene Position in der Hierarchie zu erhalten helfen. Zugleich fördern sie den Aufwärtsdrang innerhalb dieser Hierarchie, der sich naturgemäß derselben Mittel bedient, um einen Anreiz zur Erhaltung des Systems zu setzen.
Wie jede schlechte Angewohnheit lässt das verinnerlichte Versteckspiel sich nur durch eine Verhaltensänderung therapieren. Vertrauen vorleben und im Gegenzug Vertrauen erleben kann nur, wer sich aus der Komfortzone heraus- und unter die Leute traut.
Die neudeutsche Vokabel »Hospitality« umfasst alles, was traditionell unter den spröden Begriff »Gastgewerbe« fällt. Im Wesentlichen meint diese Branchenbezeichnung also die Hotellerie und Gastronomie.