Die wichtigste Insel der Welt - Klaus Bardenhagen - E-Book

Die wichtigste Insel der Welt E-Book

Klaus Bardenhagen

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Beschreibung

Mit einem ergriffenen "Ilha Formosa!" – "schöne Insel!" – soll ein portugiesischer Seemann einst Taiwan bezeichnet haben. Schön ist Taiwan mit seinen atemberaubenden Bergen, Schluchten und Küsten zweifelsohne. Aber der Inselstaat ist noch vieles mehr: eine Demokratie, die sich die Bewohner hart erkämpft haben. Ein Ort kultureller und sprachlicher Vielfalt. Ein Ort der Gegensätze zwischen dicht besiedelten Städten und unberührten Gebirgen. Ein Ort, der uralte Traditionen zelebriert und sich zum weltweit führenden Technologiehub entwickelt hat. Ein einzigartiger Ort, über den wir viel zu wenig wissen – dabei kann sich am Schicksal Taiwans die Zukunft der bestehenden Weltordnung entscheiden. Klaus Bardenhagen, der als deutscher Journalist seit über 15 Jahren in Taiwan lebt und viel über die Insel zu berichten weiß, führt in Geschichte und Gegenwart seiner Wahlheimat ein und lässt uns diesen außergewöhnlichen und weltpolitisch bedeutsamen Ort endlich besser verstehen.

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Seitenzahl: 336

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buchvorderseite

Inhaltsverzeichnis

Buchvorderseite

Titelseite

Impressum

Inhalt

Einleitung

1. Wie erst Pelosi und die Ukraine den Taiwan-Konflikt zum Riesenthema machten

2. Wie die Coronakrise für Taiwan zur Chance wurde

3. Warum Taiwan nicht immer zu China gehörte und wie die Europäer es besetzten und verloren

4. Wie Chinas Kaiserreich Taiwans Wert zu spät erkannte und es abtreten musste

5. Warum Taiwan und Japan sich trotz der Kolonialzeit so gut verstehen

6. Wieso Taiwan nicht offiziell Taiwan heißt, sondern Republik China

7. Warum die USA Taiwan mehrmals fast aufgegeben hätten

8. Wie China die Realität verdreht – die fünf gängigsten Propaganda-Tricks

9. Wie sich die Taiwaner ihre Demokratie erstritten

10. Wie China Taiwan auf internationaler Bühne kleinhalten will

11. Warum Taiwan heute Halbleiter statt Dosenspargel verkauft

12. Warum Chinas Versprechen wirkungslos blieben und die Taiwaner ihre eigene Identität entdeckten

13. Wo westliche Medien zu kurz greifen und wie sie sich instrumentalisieren lassen

14. Wie Deutschland zu Taiwan steht und warum sich die Bundesregierung besonders schwertut

15. Warum Taiwan nicht perfekt und China nicht an allen Problemen schuld ist

16. Was jetzt nicht passieren darf

Fazit

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Glossar

Schreibweisen

Mehr über Taiwan – Empfehlungen des Autors

Karten

Über den Autor

Guide

Buchvorderseite

Titelseite

Klaus Bardenhagen

Die wichtigste Insel der Welt

Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen

Impressum

Mit zwei Karten von Peter Palm, Berlin.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, RohrdorfUmschlagmotiv: © siraphol / AdobeStock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print: 978-3-451-39921-3ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83292-5ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83291-8

Für meine Eltern, meine Frau und alle, denen Taiwan am Herzen liegt.

Mit Dank an Günter Whittome, den ich als ersten Deutschen in Taiwan kennenlernte und der als Erster einen prüfenden Blick auf dieses Buch warf.

Taiwan-Neuigkeiten vom Autor direkt ins Postfach: intaiwan.net/newsletter

Inhalt

Einleitung

1.Wie erst Pelosi und die Ukraine den Taiwan-Konflikt zum Riesenthema machten

2.Wie die Coronakrise für Taiwan zur Chance wurde

3.Warum Taiwan nicht immer zu China gehörte und wie die Europäer es besetzten und verloren

4.Wie Chinas Kaiserreich Taiwans Wert zu spät erkannte und es abtreten musste

5.Warum Taiwan und Japan sich trotz der Kolonialzeit so gut verstehen

6.Wieso Taiwan nicht offiziell Taiwan heißt, sondern Republik China

7.Warum die USA Taiwan mehrmals fast aufgegeben hätten

8.Wie China die Realität verdreht – die fünf gängigsten Propaganda-Tricks

9.Wie sich die Taiwaner ihre Demokratie erstritten

10.Wie China Taiwan auf internationaler Bühne kleinhalten will

11.Warum Taiwan heute Halbleiter statt Dosenspargel verkauft

12.Warum Chinas Versprechen wirkungslos blieben und die Taiwaner ihre eigene Identität entdeckten

13.Wo westliche Medien zu kurz greifen und wie sie sich instrumentalisieren lassen

14.Wie Deutschland zu Taiwan steht und warum sich die Bundesregierung besonders schwertut

15.Warum Taiwan nicht perfekt und China nicht an allen Problemen schuld ist

16.Was jetzt nicht passieren darf

Fazit

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Glossar

Schreibweisen

Mehr über Taiwan – Empfehlungen des Autors

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Über den Autor

Einleitung

Seit 15 Jahren lebe ich in Taipeh. An schönen Tagen trete ich aus dem Haus, der Himmel ist blau, die Luft mild, und ich gratuliere mir zu meiner Entscheidung. An anderen durchnässt mich ein Wolkenbruch, oder ich schmelze in der Hitze. Taifune und hohe Luftfeuchtigkeit haben die Fliesen, die auf allen Außenwänden meiner 40 Jahre alten Wohnanlage kleben, schon recht unansehnlich gemacht. Immerhin ist sie an drei Seiten von sattgrün bewucherten Hügeln umgeben. Versteckt in einer Felsenhöhle, befindet sich dort oben ein Tempel. Im Tempel steht eine Karaokemaschine. Immer wenn ich vorbeikomme, singen gerade einige alte Leute Liebeslieder. Hühner laufen dort frei herum. Einmal hatte ein prachtvoller Hahn sich in unsere Gassen verirrt. Er krähte uns jeden Morgen um fünf Uhr aus dem Schlaf und ließ sich nicht fangen. Erst nach ein paar Tagen konnten wir die Tortur beenden. Zusammen mit Nachbarskindern und einigen Wasserpistolen trieben wir den Hahn in die Enge. Der Bezirksvorsteher, der ihn dann abholte, hat sein Büro an der nächsten Hauptstraße. Ganz am Ende dieser Straße sehe ich dort den bambusförmigen Wolkenkratzer Taipei 101 mehr als 500 Meter im Geschäftsviertel Taipehs in die Höhe ragen.

Als ich herzog, war der Bezirksvorsteher noch nicht in die Politik gegangen. In den Räumen war das alte Farbengeschäft seiner Familie. Nach seiner Wahl sah ich im Vorbeigehen oft, wie in dem neu eingerichteten Bürgerbüro sein weißhaariger Vater saß und alte Kung-Fu-Filme schaute. Bis er eines Tages nicht mehr da war. Als wir in eine andere Wohnung zogen, saßen wir hier im Bürgerbüro mit dem Makler zur Vertragsunterschrift zusammen. Wir hätten uns auch nebenan in einen Convenience Store setzen können. Sie haben sich dort so an mich gewöhnt, dass es ihnen auffällt, wenn ich ein paar Wochen in Deutschland bin. Aber da schlafen manchmal erschöpfte Gäste mit dem Kopf auf der Tischplatte, die will man nicht stören.

Taiwaner können überall schlafen. Schläft die Welt, wenn es um Taiwan geht?

Willkommen in meinem Taiwan.

Kommt es Ihnen ein bisschen eigenartig vor, schwer auf einen Nenner zu bringen, aber durchaus sympathisch? So geht es mir jedenfalls. Aber das sind nur meine Eindrücke. Taiwan ist auf kleinem Raum so vielfältig, so widersprüchlich, dass jeder es völlig anders erlebt.

Sie sehen sicher ab und zu Nachrichten über Taiwan. Da ist es ein Brennpunkt der Weltpolitik, ein Stützpfeiler der Weltwirtschaft, ein möglicher Krisenherd. Vor allem aber ist es das Zuhause von mehr als 23 Millionen Menschen.1 Ich bin gerne einer von ihnen. Die Freiheit und Selbstbestimmung, die diese ganze bunte Widersprüchlichkeit erst möglich machen, haben sich die Taiwaner erstritten und erarbeitet. Das war kein leichter Weg. Und noch immer wird diese dicht besiedelte, direkt vor China liegende Insel, unser gemeinsames Zuhause, bedroht. Die Volksrepublik China will hier das Sagen haben.

Oft fragen mich Deutsche, wie denn die Lage in Taiwan sei und warum sie so sei, wie sie ist. Meine Gegenfrage: Reicht die Zeit für eine ausführliche Antwort? Falls ja, beginne ich mit dem 17. Jahrhundert, und wenn ich mich beeile, bin ich nach einer halben Stunde vielleicht in der Gegenwart angekommen. Kurze Antworten reichen nicht aus, um Taiwan zu erklären und zu verstehen. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.

Als Journalist habe ich mir im Lauf der Jahre viel wichtiges Hintergrundwissen angeeignet. Wenn ich über Taiwan berichte, muss ich es im Hinterkopf haben, doch selten reicht die Zeit, es wirklich einzubringen. In diesem Buch möchte ich es nun endlich gebündelt und ausführlich mit Ihnen teilen.

Wenn Sie vor allem eine Antwort auf die Frage erwarten, ob und wann es Krieg um Taiwan gibt, muss ich Sie enttäuschen. Das weiß niemand, außer vielleicht Xi Jinping in Peking, und der sagt es nicht. Ich möchte Ihnen das Rüstzeug geben, mit dem Sie sich an Diskussionen um Taiwan beteiligen und künftige Entwicklungen besser einordnen können.

Oft sprechen die Fakten für sich. Dafür muss man sie kennen. Zu Taiwan aber geistern viele Halbwahrheiten und falsche Vorstellungen herum. Das liegt an Chinas Strategie, Taiwan aus der internationalen Gemeinschaft herauszuhalten. An Politikern in Ländern wie Deutschland, denen die »Taiwan-Frage« die längste Zeit eher lästig schien. Und an Medien und Mediennutzern, die sich meist erst für Krisen interessieren, wenn sie nicht mehr zu verhindern sind.

Manchmal werde ich abschweifen, denn viele teils absurde Facetten machen Taiwan und seine Geschichte so faszinierend, dass es schade wäre, sich zu kurz zu fassen. »Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten«, hat der Politiker August Bebel gesagt. Auch ich finde es wichtig, die Relevanz historischer Ereignisse herauszuarbeiten. Und ich stimme der Literaturkritikerin Insa Wilke voll zu, die bei der Rezension eines Romans über Taiwan anmerkt:

»Man fragt sich, wieso im Westen so wenig Interesse da ist für historische Zusammenhänge anderswo, ohne die man gegenwärtige Konflikte schlicht nicht verstehen kann. Woher die Arroganz zu glauben, man verstünde aufgrund einiger Schlagzeilen komplexe soziale, kulturelle und politische Entwicklungen?«2

Taiwans Situation ist einerseits kompliziert – und andererseits ganz einfach. Im Kern geht es darum, ob eine friedliche Gesellschaft von 23 Millionen Menschen, die gegen alle Widerstände viel erreicht hat, ihren Weg weitergehen kann. Oder ob das, was Taiwan lebenswert macht, unterdrückt und zerstört wird – und die Welt dabei zusieht. Niemand kann behaupten, er sei nicht vorgewarnt gewesen.

1Auch wenn die Fläche des Inselstaats nur ein wenig größer ist als die Baden-Württembergs, ist Taiwan, gemessen an der Bevölkerung, kein kleines Land. Es hat mehr Einwohner als 22 der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Es gibt mehr Taiwaner als Niederländer.

2Insa Wilke, Wieder keine Befreier. Stephan Thome: Pflaumenregen, in: Süddeutsche Zeitung, 9.11.2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/stephan-thome-pflaumenregen-taiwan-gebrauchsanweisung-1.5459765 (abgerufen am 27.2.2024).

1. Wie erst Pelosi und die Ukraine den Taiwan-Konflikt zum Riesenthema machten

Der Moment, in dem eine breite Öffentlichkeit zum ersten Mal auf Taiwan aufmerksam wurde, folgte gleich auf Gong, Fanfare und »Guten Abend, meine Damen und Herren«. Es war die Tagesschau am 2. August 2022 um 20 Uhr – und an diesem Abend ging es gleich zur Sache: »Die politischen Spannungen zwischen China und den USA verschärfen sich«, verlas Jens Riewa mit verlässlich erster Miene. »Trotz aller Warnungen aus Peking ist die US-Spitzenpolitikerin ­Pelosi heute nach Taiwan gereist.«

2008 habe ich zum ersten Mal aus Taiwan als Reporter berichtet, seit 2009 lebe ich hier. Wie deutsche Medien auf meine zweite Heimat blicken, beobachte ich ziemlich aufmerksam. Taiwan als Aufmacher der »20 Uhr«, wie meine alten ARD-Kollegen die Hauptausgabe der Tagesschau nennen – das hatte es bis dahin in meiner Erinnerung noch nie gegeben. Und am nächsten Tag passierte es gleich noch einmal. Seit mehr als zehn Jahren hatte ich in meinen Berichten oft von einem latenten Konflikt gesprochen, der jederzeit ausbrechen könne. Mit der Latenz war es nun vorbei. Nancy Pelosis Besuch und Chinas Reaktion darauf katapultierten das lange vernachlässigte Taiwan ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der nicht ganz ernst gemeinte Titel, den ich 2008 meinem damals neuen Blog gegeben hatte, beschrieb nun die aktuelle und sehr ernste Lage: »Brennpunkt Taipeh«.1

Es gibt direkt neben Taipehs Innenstadtflughafen Songshan eine Gasse, die nur ein Zaun vom Beginn der Rollbahn trennt. Nirgendwo sonst haben Planespotter einen so guten Blick auf einfliegende Maschinen. An diesem Abend donnerte ein US-Regierungsflieger dicht über die Köpfe jubelnder Taiwaner hinweg. Sie freuten sich über die Landung von Nancy Pelosi, damals Sprecherin (speaker) des US-Repräsentantenhauses und die Nummer drei in der politischen Rangordnung des mächtigsten Landes der Welt. An der Glasfassade von Taiwans modernem Wahrzeichen, dem Wolkenkratzer Taipei 101, leuchteten mehrere Etagen hohe Buchstaben: »Speaker Pelosi, Welcome to Taiwan«. Und dann noch: »TW ♥ US«.

Für die einen war es ein Liebesbeweis, als die Maschine, deren Ziel Washington bis zur Landung geheim gehalten hatte, in Taipeh landete. Pelosi hätte es gern als Selbstverständlichkeit dargestellt. 1997 hatte mit Newt Gingrich schon einmal ein amtierender Sprecher des Repräsentantenhauses Taiwan besucht. Gruppen amerikanischer Abgeordneter reisen gefühlt alle paar Wochen an, ab und zu auch Minister. Kein Grund zur Aufregung also. Oder doch – wenn man in Peking sitzt und glaubt, Taiwan stehe einem zu.

Sobald Pelosi nach nicht einmal 24 Stunden wieder abgeflogen war, begann Chinas Militär groß angelegte Manöver. Sperrzonen im Meer rund um Taiwan markierten, wo Geschosse einschlagen konnten. Kriegsschiffe gingen in Position, noch mehr Kampfflugzeuge als sonst üblich stiegen auf. Fünf Tage lang herrschte rund um Taiwan Ausnahmezustand. Containerschiffe zögerten, Häfen anzulaufen, oder machten auf ihrem Weg zu anderen Zielen einen großen Bogen um die Insel. China feuerte ballistische Raketen ins Meer ab. Mehrere flogen sogar in hohem Bogen über Taiwan hinweg und landeten auf der Ostseite in pazifischen Gewässern, die schon zu Japans ausschließlicher Wirtschaftszone gehören.2 Es waren aggressive Drohgebärden, wie man sie seit der Taiwanstraßenkrise 1995/96 nicht mehr gesehen hatte. Damals hatte China Raketen abgefeuert, um gegen einen US-Besuch von Taiwans Präsident zu demonstrieren und um die Menschen vor den ersten freien Präsidentenwahlen einzuschüchtern. Nicht wenige verließen damals sogar das Land. Das passierte 2022 nicht. In Taiwan ging für uns das Leben ganz normal weiter, niemand geriet in Panik.

Chinas Generalprobe einer Blockade – denn um nichts anderes handelte es sich – versetzte allerdings die Medien weltweit in Alarmbereitschaft. Kein halbes Jahr nachdem Russlands Invasion der Ukraine sie kalt erwischt hatte, wollten sie sich nicht schon wieder überrumpeln lassen. »So etwas habe ich noch nicht erlebt«, sagte mir ein öffentlich-rechtlicher Korrespondent über den Bedarf deutscher Redaktionen an ständigem Informationsnachschub. Und ich auch nicht. Zum ersten Mal war ich im Krisenberichterstattungsmodus. Dreharbeiten fürs Fernsehen, Onlineartikel und Podcastgespräche füllten meine Tage.3

Es war ein krasser Unterschied zu meinen Erfahrungen in den Jahren zuvor. Dass sich in Taiwan eher als irgendwo sonst der große geostrategische Konflikt zwischen China und den USA entzünden könnte und dass Peking diese Demokratie zerstören will, das war ja schon früher klar – wenn man sich dafür interessierte. Das taten die meisten Medien aber kaum.

Ich realisierte bald nach meinem Umzug 2009, wie es um die Aufmerksamkeit für Taiwan bestellt war. Anfang Juni jährte sich Chinas Niederschlagung der Tian’anmen-Studentenproteste zum 20. Mal. Der Jahrestag war eine prima Gelegenheit, auf Taiwan zu blicken, dachte ich mir. Schließlich fanden in Taipeh Gedenkveranstaltungen statt, ehemalige Regimegegner lebten hier im Exil, und viele Taiwaner sahen die Ereignisse von 1989 als Menetekel für ihre Freiheit, sollte Peking hier jemals das Sagen haben.

Doch mein Vorschlag stieß in keiner Redaktion auf Interesse. Neben kurzen Berichten aus China war kein Platz, nach Taiwan zu blicken. Für mich war das ein Aha-Erlebnis: Taiwan war journalistisch kein Selbstläufer. Im folgenden Jahrzehnt stand es medial fast permanent im Schatten der Volksrepublik und kam so selten vor, dass Verwandte in Deutschland mir jeden noch so kleinen Schnipsel über Taiwan aus der Zeitung ausschnitten.

Für meine eigenen Berichte fand ich immer wieder passende Nischenthemen, aber die Rolle Taiwans im weltpolitischen Kräftemessen spielte in Deutschland nur selten eine Rolle. Der Blick auf die Volksrepublik fiel bis weit in Xi Jinpings erste Amtszeit (2013–2018) hinein eher oberflächlich als analytisch-kritisch aus. Es waren die Jahre, in denen Chinas Wachstumsraten nach der Finanzkrise und Projekte wie die »Neue Seidenstraße« wichtiger schienen als die Unterdrückung von Dissidenten und der Zivilgesellschaft. Renommierte US-Medien waren anders sensibilisiert. Ihre Berichte bestätigten mir, dass es wichtig war, was in Sachen Taiwan und China unter der Oberfläche brodelte. Vor Ort nahmen wir es die ganze Zeit wahr wie tektonische Verschiebungen, deren Spannungen sich irgendwann entladen mussten.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 veränderte dann alles – auch die Berichte über China und Taiwan. Dem Westen wurde bewusst, dass aus dem Säbelrasseln eines autoritären Staates tatsächlich ein Krieg gegen einen kleineren, demokratischen Nachbarn werden kann. Hunde, die bellen, können eben doch beißen. Wladimir Putins Invasion hatte den Westen – mit Ausnahme der US-Geheimdienste, die gewarnt hatten – überrascht. Sofort geriet auch Taiwan ins Blickfeld. Putin und Xi hatten schließlich erst wenige Wochen zuvor, am Vorabend der Olympischen Winterspiele in Peking, ihre Einigkeit gegen die US-geführte Weltordnung demonstriert – und auch in Sachen Taiwan stellte sich Putin damals hinter seinen einflussreichen Freund.4 Durch seinen Krieg war nun der Westen abgelenkt. Würde China die Gelegenheit nutzen, auch in Taiwan kurzerhand militärisch Fakten zu schaffen? Stand der nächste Krieg vor der Tür? Plötzlich schien alles möglich.

Analytische Berichte über Taiwan blieben jedoch rar, viele kratzten nur an der Oberfläche und stellten immer wieder dieselbe Frage: Haben die Taiwaner Angst, und wenn ja, wie viel? Emotionen statt Erklärungen – mit diesem Fokus verbauten sich viele Medien selbst die Chance, ihrem Publikum wirklichen Erkenntnisgewinn zu vermitteln. Besonders im Fernsehen – meiner eigenen Domäne – geht es bei solchen Gelegenheiten leider oft eher plakativ und unterkomplex zu.

Fernsehen funktioniert nun mal am besten über Menschen, Emotionen und starke Bilder – am besten gleich in den ersten Sekunden, damit die Zuschauer nicht umschalten. 2022 und 2023 begannen viele Berichte standardmäßig mit Schießübungen (mit Softairwaffen, weil Taiwan den privaten Waffenbesitz verbietet), Katastrophenschutz­trainings oder Erste-Hilfe-Kursen. Nie fehlen dürfen die Gefühle und Sorgen von Zivilisten – zur Not auch in einer Straßenumfrage mit willkürlich herausgegriffenen Passanten.

So groß ist die Begeisterung ausländischer Sender – nicht nur deutscher – über Taiwans Zivilschutzkurse, dass die beiden wichtigsten Veranstalter schon längst ein standardisiertes Medienmanagement eingeführt haben und Journalisten strikte Vorgaben machen, wann und was genau sie drehen dürfen.

Ich habe selbst an mehreren solcher Beiträge mitgearbeitet. Sie funktionieren und berichten nichts Falsches. Aber sie konzentrieren sich auf Ausschnitte und erwecken Eindrücke, die nicht repräsentativ für Taiwan sind. Sollten Zuschauer aus solchen Stücken mitnehmen, Taiwans Alltag werde von Kriegsvorbereitungen bestimmt, wäre das ein Trugschluss.

Mediennutzern kann leicht entgehen, dass die meisten Taiwaner Peking eben nicht den Gefallen tun, Angst zu haben. Ihr Alltag verläuft nach 2022 so normal wie zuvor – aber das lässt sich schwieriger darstellen. Unbeirrt weiterzuleben und sich nicht verrückt machen zu lassen, das ist eigentlich schon ein kollektiver Akt des Widerstands gegen Pekings Einschüchterungskampagnen. Kriegsdrohungen aus Peking gehören für Taiwaner zum Hintergrundrauschen ihres Lebens. 1995/96 flogen Raketen, 2005 verbriefte Peking mit dem Anti-Abspaltungsgesetz sein »Recht« auf ein militärisches Vorgehen unter bestimmten Bedingungen – darunter, dass es keine Aussicht auf eine friedliche Vereinigung mehr gebe. Schon als ich nach Taiwan zog, waren Tausende Raketen ständig auf die Insel gerichtet, und seit Peking massiv aufrüstet, feilt es auch an Plänen für eine Invasion.

Der Krieg in der Ukraine war also die Initialzündung für das neue Interesse an unserer Insel. Viele Taiwaner, die sich an ihre neue Position im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit gewöhnen mussten, dachten sich wohl auch: Endlich kapiert ihr, womit wir hier schon ewig zurechtkommen müssen.

Der Trubel um den Pelosi-Besuch und Chinas anschließende Manöver erreichte dann noch einmal eine neue Stufe. Dabei kam in der atemlosen Berichterstattung zu kurz, dass die chinesischen Blockadeübungen natürlich keine spontane Reaktion waren. Sie waren von langer Hand geplant und vorbereitet, und die Reise lieferte nur einen willkommenen Vorwand zur Rechtfertigung der Aggression. Hätte Nancy Pelosi aus Rücksicht auf Chinas »Verärgerung« auf ihren »provokanten« Besuch verzichtet, hätte Peking einfach einen anderen Anlass gewählt.

Am ersten Tag der Manöver telefonierte ich für einen Artikel mit einem Anwalt aus Taipeh, der mit seiner Familie gerade Urlaub auf der Insel Xiao Liuqiu machte, 13 Kilometer vor Taiwans Südwestküste. Sie gilt als Ausflugsziel, wo wenig Aufregendes passiert. Doch in der anderen Richtung lag das tropische Koralleneiland weniger als zehn Kilometer von einer der chinesischen Manöverzonen entfernt – so nah wie kein anderer bewohnter Ort, der zu Taiwan gehört. Die Stimmung auf der Insel sei ruhig, sagte der Anwalt. Wenn überhaupt, sorge man sich vor Auswirkungen auf den Tourismus. Von seinem Hotelbalkon aus zählte er ein Dutzend Schiffe am Horizont. Wahrscheinlich hatte Taiwans Marine oder Küstenwache Position bezogen.

»Kann man Chinas Raketen oder Schiffe sehen?«, fragten mich Redakteure in diesen Tagen. Zum Glück lautete die Antwort Nein –, denn sonst wären die Probleme ganz andere gewesen. Die Mittelstreckenraketen flogen in etwa 100 Kilometer Höhe über Taiwan hinweg. Und weder chinesische Schiffe noch Flugzeuge verletzten Taiwans Territorialgewässer oder seinen eigentlichen Luftraum. Beide erstrecken sich zwölf Seemeilen (etwa 22 Kilometer) von den Küsten. Ein Eindringen in diesen Bereich wäre mit einem Angriff gleichzusetzen.

Dennoch markierten der Pelosi-Besuch und die Manöver einen Kipppunkt in Chinas Aggressionen gegen Taiwan – einen Moment, der die Grenzen des Normalen verschob. Etwa 130 Kilometer breit ist die Taiwanstraße, die beide Seiten trennt, an ihrer schmalsten Stelle. Mitten in der Meerenge markiert die imaginäre Medianlinie eine inoffizielle Grenze. Jahrzehntelang respektierten beide Seiten im Großen und Ganzen diesen Puffer, der Zusammenstöße und Missverständnisse vermeiden sollte. 2019 überflogen erstmals seit 1999 wieder chinesische Kampfjets die Medianlinie. Aber erst seit den Militärübungen von August 2022 gehört es zur Tagesordnung, dass chinesische Soldaten den Taiwanern auf den Pelz rücken. Immer und immer wieder kreuzen Flugzeuge und Kriegsschiffe die Linie oder dringen aus anderen Richtungen in Taiwans Luftraumüberwachungszone (air defense identification zone, kurz ADIZ) ein – einen selbst erklärten Sicherheitsbereich rund um die Insel, der über die territorialen Grenzen hinausgeht.5 Auch wenn sie dann meist schnell wieder umdrehen oder nur über eine Ecke der ADIZ hinwegschneiden, versetzen sie Taiwans Militär jedes Mal in Alarmbereitschaft. Solche »Grauzonentaktiken« sollen unterhalb der Konfliktschwelle für Unruhe sorgen.

Am 17. Juni 2023 zählte das Verteidigungsministerium 40 chinesische Militärflugzeuge, die über die Medianlinie in Taiwans ADIZ flogen

Eine Folge davon ist Normalisierung. Was zuvor als Provokation galt, ist nun kaum noch eine Meldung wert. Die Gefahr ist, dass dieses »neue Normal« zur Abstumpfung führt – in Taiwan und in der Weltöffentlichkeit. Je mehr wir uns daran gewöhnen, dass China die Grenzen des Akzeptablen Stück für Stück verschiebt, desto weiter nähern wir uns der Möglichkeit eines Überraschungsangriffs oder einer Blockade. Beides hätte globale Folgen, die die Erschütterungen durch den Ukrainekrieg in den Schatten stellen würden.6

Dies ist die neue Realität, in der wir seit 2022 leben. Für die Menschen in Taiwan ginge es bei einem Konflikt nicht nur um wirtschaftliche Schäden, sondern ganz konkret um ihre Freiheit und für viele von ihnen um ihr Leben.

Warum es wichtig ist

Erst Chinas unverhohlene Bedrohung verschaffte Taiwan die Aufmerksamkeit, die es schon längst verdient hätte. Andere Demokratien erkennen seinen Wert. Seit Nancy Pelosis Besuch geben sich ausländische Delegationen hier in manchen Wochen die Klinke in die Hand: Abgeordnete, Parlamentspräsidenten, ehemalige Regierungschefs und natürlich auch Wirtschaftsvertreter demonstrieren Verbundenheit. Aus Deutschland fand 2023 erstmals nach Jahrzehnten wieder eine Bundesministerin den Weg nach Taipeh.7

Auch wenn es im Alltag kein ständiges Thema ist, haben Taiwans Politik und Militär auf die veränderte Lage reagiert. Auf offener Bühne werden Fragen der nationalen Sicherheit stärker diskutiert, und hinter den Kulissen passiert noch viel mehr. Eine Verkürzung des Wehrdienstes wurde rückgängig gemacht, die Reservistenausbildung gestärkt. Der Verteidigungshaushalt stieg nach dem Regierungswechsel 2016 jährlich um 7,7 Prozent. 2024 soll er 2,5 Prozent des BIP ausmachen – Deutschlands Verteidigungshaushalt liegt in diesem Jahr erstmals seit mehr als drei Jahrzehnten wieder knapp über der Zwei-Prozent-Marke.

Putin und Pelosi lenkten 2022 den Blick der Welt auf Taiwan. Seitdem geht es immer auch um Xi Jinpings Volksrepublik: Was will sie, was könnte sie noch tun und wann? Chinas Machtanspruch und Drohungen haben Taiwans Eigenständigkeit zumindest in der Berichterstattung schon beendet.

Dabei hatte in den zwei Jahren zuvor eine ganz andere Krise für positive Taiwan-Schlagzeilen gesorgt, die nicht direkt mit China zu tun hatten. Die Coronapandemie stellte die Widerstands- und Reaktionsfähigkeit der Taiwaner auf die Probe – und über die Ergebnisse staunte die Welt.

1Es ist noch immer der Untertitel meiner Website intaiwan.net.

2Ausschließliche Wirtschaftszonen erstrecken sich bis zu 200 Seemeilen (370 Kilometer) vor der Küste eines Landes und geben diesem vor allem das alleinige Recht zur wirtschaftlichen Ausbeutung. Auch wenn sie nicht als Territorialgewässer gelten, beobachten Staaten ganz genau, was andere dort treiben.

3Eine Übersicht meiner Berichte: Klaus Bardenhagen, Pelosi und der völlig ­überraschende Krisenherd, den niemand ahnen konnte, 14.8.2022, https://intaiwan.net/2022/08/14/nancy-pelosi-besuch-militarmanover-medien (abgerufen am 29.2.2024).

4William Gallo, At Beijing Olympics, Xi and Putin Announce Plan to Counter US, in: ­Voice of America, 4.2.2022, https://www.voanews.com/a/at-beijing-olympics-xi-and-putin-strive-for-unity-against-us/6426270.html (abgerufen am 1.3.2024).

5Auch China, Japan und Südkorea haben eigene ADIZ erklärt, die sich zum Teil überlappen. Durchquerende Flugzeuge sollen sich hier identifizieren und regelmäßig ihre Koordinaten durchgeben, damit ein Eindringen in den eigentlichen Luftraum frühzeitig erkannt wird.

6Siehe Kapitel 16.

7Mehr zu diesem Besuch steht in Kapitel 13.

2. Wie die Coronakrise für Taiwan zur Chance wurde

»Wie niedlich«, war mein erster Gedanke, als ich den Aufkleber in die Hand nahm, um ihn näher zu betrachten. Und der zweite: Er sollte eines Tages in Geschichtsbüchern zu finden sein. Im Juli 2021 hatten meine Frau und ich in der Uniklinik der Nationalen Taiwan-Universität gerade unsere zweite Coronaimpfung erhalten. Als Dankeschön zum Mitnehmen lagen in einer Schachtel am Ausgang Aufkleber, die aussehen, als stammten sie aus einem liebevoll illustrierten Kinderbuch.

Eine Impfstoffampulle schwebt darauf an einem Fallschirm herab, ein Flugzeug hat sie gerade abgeworfen. Unten erwartet sie mit ausgebreiteten Armen ein strahlender Taiwanischer Schwarzbär. Neben ihm stehen drei weitere possierliche Tiere: ein Weißkopfseeadler, ein Shiba Inu (der plüschige Hund, der an einen Fuchs erinnert) und ein Storch. Kleine Flaggen markieren sie als Allegorien der USA, Japans und Litauens. Der Adler schaut besonders streng und entschlossen drein. Über den vier Tieren prangen groß und stolz die Worte: »Danke, meine Freunde.«

Dieser Aufkleber brachte die Stimmung im Land auf den Punkt. Wir in Taiwan erlebten die Coronapandemie ganz anders als die Menschen in den meisten anderen Ländern der Welt: nicht nur als Krise und Belastung, sondern als bestandene Bewährungsprobe. Mehr als jedes andere Ereignis, mehr noch als gelegentliche olympische Goldmedaillen, eröffnete ausgerechnet das Virus eine seltene Gelegenheit, auf internationaler Bühne stolz und selbstbewusst aufzutreten. Taiwan erhielt Aufmerksamkeit, konnte engere Bande mit Freunden schmieden – großen wie den USA und kleinen wie Litauen – und sich von China absetzen, dessen internationaler Ruf sich als Ursprungsort des Virus im freien Fall befand.

Taiwans Schwarzbär bedankt sich für Impfstoffspenden. Der Formosa-Schwarzbär, die einzige in Taiwan heimische Bärenart, ist ein Symbol für die einzigartige Tierwelt der Insel und ein inoffizielles Nationalmaskottchen.

Dabei markierte der Aufkleber einen kritischen Moment für Taiwan: Impfstoffe waren gerade Mangelware. Wenige Wochen zuvor hatte die Alpha-Variante für den ersten größeren Coronaausbruch gesorgt, der sich nicht rasch wieder eindämmen ließ. Taiwan steckte in seinem ersten Lockdown. Nach deutschen Maßstäben war es eher ein »Lockdown light«, weil zum Beispiel Restaurants schließen mussten, nicht aber der Einzelhandel. Doch für uns in Taiwan war es eine ganz neue Situation.

Die Impfkampagne war bis dahin schleppend verlaufen – monatelang hatte es kaum jemand für nötig erachtet, es war ja alles unter Kontrolle. Nun musste es schnell gehen, doch es fehlten Vakzine. Im Sommer 2021 waren sie weltweit knapp und begehrt. Nun schlug die Stunde der internationalen Unterstützer. Japan und die USA spendeten Millionen Impfdosen, Litauen mit seiner fast neunmal kleineren Bevölkerung als Taiwan schickte Hunderttausende. Es war kein Zufall, dass gerade diese drei Länder als Erste in die Bresche sprangen und sich einen Platz auf dem Aufkleber und in den Herzen der Taiwaner sicherten. Wir werden ihnen in anderen Kapiteln wieder begegnen und ihr Verhältnis zu Taiwan und zu China näher kennenlernen.

Taiwans erster Corona-Lockdown begann also erst im Mai 2021. Die Pandemie liegt gefühlt schon so weit zurück, dass Daten verblassen. Im Januar 2020 hatte China die Metropole Wuhan abgeriegelt, im März desselben Jahres war Deutschlands erster Lockdown in Kraft getreten – Taiwan hingegen hatte anderthalb Jahre lang Corona vorbildlich im Griff gehabt, sodass unser Leben so normal weiterlief wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Taiwanstämmige Amerikaner aus dem Silicon Valley brachten sich in der Heimat ihrer Eltern in Sicherheit, Taiwans Fallkurve war so flach, dass sie sich auf vergleichenden Diagrammen mit der X-Achse deckte. Und weil kaum jemand einreisen durfte, auch keine Reporter, war ich gut beschäftigt. Für das deutsche Fernsehen drehte ich Berichte über unerhörte Dinge wie Baseballspiele mit Zuschauern im Stadion oder Heimquarantäne, die konsequent durchgesetzt wurde.

Während im kollektiven Gedächtnis »Corona« und »2020« zusammengehören, begann Taiwans Kampf gegen die Pandemie tatsächlich schon 2019 – weil Experten gut aufpassten. Am 31. Dezember 2019 befand sich das Land mitten im Wahlkampf, in weniger als zwei Wochen standen Präsidenten- und Parlamentswahlen an. Gegen drei Uhr morgens stieß ein Arzt vom Zentrum für Seuchenbekämpfung, quasi Taiwans Robert Koch-Institut, auf eine Nachricht in einer Chatgruppe und alarmierte seine Vorgesetzten. Es ging um Erkrankungen in Wuhan, belegt durch Nachrichten des Arztes Li Wenliang, der daraufhin zunächst von Chinas Behörden zum Schweigen verdonnert wurde und später selbst dem Virus erlag. Noch am selben Tag begann Taiwan damit, Einreisende aus der chinesischen Stadt nach der Landung auf Fieber und andere Symptome zu untersuchen.

Die vorbildliche Reaktion in der Frühphase der Pandemie hatte vor allem zwei Gründe: schlechte Erfahrungen mit übertragbaren Lungenkrankheiten und schlechte Erfahrungen mit China. 2003 hatte sich das erste SARS-Virus in Ostasien ausgebreitet, ebenfalls von der Volksrepublik aus. Taiwan war damals etwa so planlos und wenig vorbereitet wie Deutschland 2020. Ohne WHO-Mitgliedschaft auf sich allein gestellt, verzeichnete es 73 Todesfälle. Doch man lernte daraus. Die Taiwaner gewöhnten sich an Schutzmasken gegen Infektionen, die Behörden waren vorgewarnt und arbeiteten detaillierte Pläne für die nächste Pandemie aus. Die mussten sie jetzt nur noch aus der Schublade holen.

Auch das Misstrauen gegen chinesische Verlautbarungen ist tief verwurzelt. Je eher Informationen für das Regime in Peking peinlich oder schädlich sein könnten, desto weniger trauen Taiwans Behörden und Bevölkerung dessen offiziellen Angaben. Viele im Westen waren damals erst dabei, das langsam zu begreifen.

Erste Meldungen gingen allerdings im Wahlkampf unter, der von den eskalierenden Pro-Demokratie-Protesten in Hongkong und ihrer Niederschlagung geprägt war. Was die Seuchenbekämpfer umtrieb, war mir am Abend des 11. Januar 2020 genauso wenig bewusst wie fast allen Taiwanern. Mit einem ARD-Team stand ich in der Menschenmenge, die vor dem Hauptquartier der Regierungspartei die deutlich wiedergewählte Präsidentin Tsai Ing-wen bejubelte. Welch enormen Herausforderungen – zunächst durch Corona, dann durch Xi Jinping und sein Militär – Tsai sich in ihrer zweiten Amtszeit würde stellen müssen, war an diesem Abend nicht abzusehen.