Die Wiederentdeckung der Zuversicht - Roland Heinzel - E-Book

Die Wiederentdeckung der Zuversicht E-Book

Roland Heinzel

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Damit das Leben wieder leichter wird

Verunsicherung: Für immer mehr Menschen ein zentrales Lebensgefühl. Wo liegen die individuellen, wo die gesellschaftlichen Ursachen? Wie gelingt es, in unsicheren Zeiten wieder Zuversicht zu entwickeln?
Der Jung’sche Analytiker und Gruppentherapeut Roland Heinzel nimmt Sie mit auf einen höchst spannenden Streifzug: Tiefenpsychologie und Chaosforschung rücken dabei ebenso in den Fokus wie gesellschaftspolitische Zusammenhänge, Partnerschaftsthemen und Sinnfragen. Ein Buch, das Brücken baut, durch die wieder Vertrauen ins Leben wachsen kann.

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Seitenzahl: 358

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Prolog
Vorwort
 
Teil 1 - Annäh Annäherungen
Gedanken über das Vertrauen
Die Schwierigkeit des Brückenbauens
 
Teil 2 - Fort-Sc Fort-Schritt?
Wenn der Deckel nicht mehr hält
Ur-Vertrauen ist wie ein »Trieb«
 
Copyright
Wer sich zur Bejahung bekennt und nichts von der Verneinung weiß, wer sich zur Ordnung bekennt und nichts von der Verwirrung weiß, der hat noch nicht die Gesetze des Himmels und der Erde und die Verhältnisse der Welt durchschaut.
Chuang Tzu
Für Erika, Stephan, Oliverund meine Mutter
Prolog
Als ich den Rohentwurf dieses Buches abgeschlossen hatte, berichtete mir eine Analyse-Patientin, selbst Psychologin, im zweiten Jahr der Therapie folgende Begebenheit:
»Ich bekam im Alter von 24 Jahren nach einer überstandenen lebensbedrohlichen Erkrankung eine akute Leukämie. Nach Stammzellentransplantation und Hochdosis-Chemotherapie war ich sehr infektanfällig und bekam eine Bauchfellentzündung mit furchtbaren Schmerzen, gegen die selbst starke, morphinhaltige Infusionen wenig ausrichteten.
Als der Dienstarzt eines Abends keinerlei Darmgeräusche hörte, ließ er mich in die Chirurgische Klinik bringen, wo ich von Assistenzärzten untersucht wurde. Als sie laut über eine Not-OP sprachen, bekam ich Angst und spürte die Gewissheit, dass ich eine solche OP nicht überleben würde. Ich hoffte inständig, dass sie sich dagegen entscheiden würden. Dann blieb ich mit dieser schrecklichen Angst allein. Stunde um Stunde verging, niemand kümmerte sich um mich. Meine Schmerzen waren kaum auszuhalten - ich versuchte zu rufen - niemand reagierte. Als ich so allein und verzweifelt dalag, tauchten plötzlich an der Zimmerdecke große Buchstaben auf. Ich war nicht sicher, ob sie nur vor meinem inneren Auge waren, aber dann las ich langsam ein Wort: Vertrauen.
Im gleichen Moment hatte ich das Gefühl, als verstünde ich dies mit jeder Zelle meines Körpers. Meine Schmerzen und meine Angst verschwanden völlig, ich wusste, dass ich wirklich darauf vertrauen durfte, dass alles einen Sinn hat. Ich weinte lange, fühlte mich demütig und klein, aber aufgehoben. Am nächsten Tag wurden alle Medikamente abgesetzt, ich brauchte nur noch ein einfaches Kopfschmerzmittel.
Als ich am Nachmittag meiner Mutter unter Tränen berichtete, was geschehen war, sagte sie mir, dass dies eine tiefe spirituelle Erfahrung gewesen sei.«
Vorwort
Der wahre Zweck eines Buches ist, uns hinterrücks zum eigenen Denken zu verleiten.
Marie von Ebner-Eschenbach
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Viele Fragen:
Warum leiden immer mehr Menschen an Depressionen und Ängsten?
Warum streben so viele nach Sozialprestige und nach Reichtum?
Warum laufen sie jeder Mode nach und suchen ihr Glück bloß noch im Konsum?
Warum lassen sie sich laufend durch Medien und Unterhaltungselektronik berieseln?
Warum haben so wenig Menschen Mut zu einem echten Nonkonformismus?
Warum haben sie so wenig Geduld, z. B. bei der Partnersuche und in Partnerschaften? Und warum bekommen sie so wenig Kinder?
Warum wird die Liebe mit Erlösungssehnsucht überladen - und oft enttäuscht?
Warum streben die meisten nach Sicherheit und Macht?
Warum haben viele Menschen so wenig Vertrauen in das Unvorhersehbare?
Warum haben »Wellness« und »Fitness« eine solche Konjunktur?
Warum fällt es arbeitslos gewordenen Menschen so schwer, sich zu solidarisieren?
Warum können viele Menschen immer weniger Spannungen aushalten?
Warum halten wir heutzutage fast alles für machbar und wollen es auch umsetzen?
Wir stehen zu Beginn dieses Jahrtausends vor etlichen schweren Problemen: der einsetzende Klimawandel, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich innerhalb der Nationen und zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre, die (meist der Globalisierung angelasteten) Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die die Zahl sicherer Arbeitsplätze schrumpfen lassen und bei den (noch) Arbeitenden die Arbeitsüberlastung und die Angst um den Arbeitsplatz steigern, die Verschuldung von Staaten und Haushalten und vieles mehr. Wenn man dies alles betrachtet, möchte man fast resigniert aufgeben - oder auf eine gute Fee hoffen, die alles richtet. Aber die Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, sind ja vorbei, oder? Menschen, die etwas hinter die Kulissen des oberflächlichen Wachstums-Fetischismus, des Medien-, Konsum- und Polit-Spektakels sehen, erkennen mehr und mehr, dass es sich dabei weniger um einzelne ökologische, soziale oder wirtschaftliche Krisen handelt, sondern um eine einzige Krise, ja wahrscheinlich Sackgasse des abendländischen Geistes, in der viele Aspekte, Lebensbereiche und Dimensionen miteinander verwoben sind.
Aus meiner Sicht ist es vor allem eine Krise des Vertrauens - in Staat, Wirtschaft, in uns selbst, in unsere Fähigkeiten, unsere Kreativität, unsere sinnstiftenden Institutionen und Werte - unseres Vertrauens auf Werte, die nicht auf unserem Besitz, unserer Leistung und der Anerkennung durch andere beruhen.
Bei der Annäherung an existentielle Themen wie Liebe, Glaube und Vertrauen stellt man fest, wie sehr individuelle und kollektive bzw. gesellschaftliche Faktoren ineinandergreifen. Wenn man nicht an der Oberfläche bleiben will, kann man deshalb Verständnis für Hintergründe und Zusammenhänge sicher nicht gewinnen, ohne das komplexe Wechselspiel zwischen »innen« und »außen« im Blick zu haben - aber das ist eine große Herausforderung für Autor und Leser. Deshalb muss ich - auch als Psychoanalytiker, der immer mehr mit Depressionen und Ängsten seiner Patienten konfrontiert ist - in diesem Buch neben den individuellen auch etwas auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge eingehen.
Wie wir also - notfalls auch gegen den Strom des »Zeitgeistes« - wieder ein Stück Boden gewinnen und uns, wie Picasso sagt, »im Ungeborgenen geborgen fühlen« könnten, wie wir mit Gegensätzen, Spannungen und Enttäuschungen leben und gleichzeitig etwas von dem wiederfinden können, was wir im Zuge von Aufklärung, Technisierung und Globalisierung verloren haben, wie wir wieder mehr Zuversicht und Vertrauen in die Selbstheilungskräfte in uns, in die Natur und vielleicht auch in eine tiefere, uns alle tragende Dimension wiedergewinnen könnten, davon soll dieses Buch handeln.
1
Annäh Annäherungen
Vertrauensbildende Maßnahmen und Brückenbau
Vertraue auf Allah und binde dein Kamel an.
Arabisches Sprichwort

Gedanken über das Vertrauen

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Manche meinen, Lenin habe es umgekehrt gesagt. Fest steht: Je weniger Vertrauen, desto mehr Kontrolle. Und wir ahnen alle, dass Kontrolle kein gleichwertiger Ersatz für Vertrauen ist. Wenn zwei heiraten, sagt man, »sie trauen sich« - ein Begriff, der in diesem Zusammenhang einen dreifachen Sinn hat: Neben der »Trauung« als Synonym für Hochzeit heißt das auch, »sie vertrauen einander« und »sie haben den Mut dazu«.
Zum Ver-Trauen, zum »Sich-etwas-Trauen« braucht man also Mut, denn ebenso wie »De-Mut« (»Mut zu dienen«), An-Mut und Weh-Mut hat auch Vertrauen etwas mit Unsicherheit zu tun. Wenn alles sicher ist, brauchen wir kein Vertrauen. Ver trauen hängt also nur zum Teil von äußeren Bedingungen ab, von anderen Menschen, Partnern, Gruppen oder Institutionen. Der andere Teil besteht aus einer inneren Haltung, die kein Gegenüber braucht, ähnlich wie die Dankbarkeit.
Vielleicht haben Sie auch gelegentlich solche Momente: Manchmal schaue ich aus meinem Gaupen-Fenster und lasse den Tag oder die letzten Jahre an mir vorüberziehen. Dabei überkommt mich oft ein Gefühl der Dankbarkeit - einfach so, ohne konkreten Adressaten. Und so wie sich die Dankbarkeit aufs Vergangene richtet und keine Begründung braucht, richtet sich das Vertrauen in die Zukunft - es schließt die Ungewissheit mit ein. So erging es mir auch, als ich mit dem Schreiben an diesem Buch anfing: Parallel dazu stellte sich heraus, dass ich mich einer größeren Operation unterziehen musste - und schon war ich mitten im Thema »Vertrauen«. Wenngleich mir als Jung’schem Therapeuten solche »sinnvollen Zufälle« vertraut sind, so hat es mich doch berührt, wie auch hier Schreiben und (Er-)Leben ineinandergreifen - wie bei der Erzählung meiner Patientin im Prolog.
Fast alle Patienten, die zu mir in Therapie kommen, haben zu wenig Vertrauen: in ihren Partner, ihren Arbeitsplatz, ihren Chef - und vor allem in sich selbst und in ihre Zukunft. Und hinter vielen ihrer Symptome, vor allem natürlich hinter Angststörungen und Depressionen, aber auch hinter Zwängen und körperlichen Beschwerden, lauert ein Mangel an Selbstsicherheit. Und wenn sie Opfer widriger Umstände und Schicksalsschläge sind, ist ihr Misstrauen ja verständlich.
Auch in meinen Therapiegruppen sammeln sich viele gebrannte Kinder. Und alle haben, oft in vielen Jahren, Strategien entwickelt, wie sie ihre Unsicherheiten und Ängste überdecken, »kompensieren«. Sie haben oft schon als Kinder Abwehrmechanismen entwickelt, um in einer unfreundlichen Umgebung, bei abwesenden oder abweisenden Eltern, gewalttätigen Vätern oder überforderten Müttern körperlich und seelisch zu überleben. Viele haben die »Flucht nach vorn« angetreten, in Anpassung, in beruflichen Ehrgeiz - und viele suchen ihr Heil in der Liebe, das heißt: Der Partner soll ihnen die Geborgenheit geben, an denen es ihnen selbst mangelt. Doch in diesem blinden »Vertrauen« ist die Ent-Täuschung schon vorprogrammiert - und dann fühlen sie ihr heimliches Misstrauen in sich und die Menschen wieder bestätigt. Und es fällt ihnen von Mal zu Mal schwerer, wieder neu das notwendige Vertrauen in einen Partner zu finden.
Vielleicht haben Sie Lust, hier innezuhalten und sich an derartige Enttäuschungen in Ihrem Leben zu erinnern. Kennen Sie das grimmige Gefühl, wieder einmal ausgenutzt worden zu sein, wieder einmal den Kürzeren gezogen zu haben? Und passiert es Ihnen auch hin und wieder, dass sie denken: »Ja - wieder typisch, dass das mir passiert!«, und gleichzeitig ahnen Sie, dass Sie so das Pech vielleicht selbst heraufbeschwören?

Die Schwierigkeit des Brückenbauens

Viele Gründe, warum den Menschen heute das Vertrauen ins Leben abhanden kommt, liegen tatsächlich auch in vorgegebenen Bedingungen: Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes, die zunehmende Auflösung von Bindungen, die Schwierigkeit, langfristige Beziehungen zu pflegen, die ökologische Bedrohung, die »Schatten der Globalisierung« (Stiglitz) und viele weitere Außenfaktoren tragen zu dieser Verunsicherung bei. Und hier steht man vor einem riesigen »Knäuel« an Einflüssen, an sichtbaren und unsichtbaren Kräften, die alle ineinandergreifen und miteinander in Wechselwirkung stehen. Leider können wir - wie auch in der Medizin und Ökologie - fast nie einen einzelnen »Schuldigen« finden, weder ein Bakterium noch einen Politiker. In einem Netzwerk kann man jeden Knoten hochheben und rufen: »Seht, von diesem Knoten hängt alles ab!« Wenn man sich aber mit Hintergründen befasst, wird man feststellen, dass nicht nur viele verschiedene Ursachen und Bedingungen, sondern auch viele Blickwinkel bzw. Dimensionen beteiligt sind - und man wird in und zwischen diesen Dimensionen Ungereimtheiten und Widersprüche erkennen. So wird ein Ökonom das übertriebene Kaufverhalten einer Hausfrau vielleicht eher mit einem Überangebot erklären, ein Tiefenpsychologe eher mit ungestillten kindlichen Bedürfnissen.
Wir sehen also schon jetzt, dass bei der Frage nach dem Vertrauensverlust mit einfachen Antworten und Lösungsstrategien nicht zu rechnen ist, auch wenn Heilsbringer aller Schattierungen, ob Politiker, Wirtschaftsbosse oder Gewerkschafter, immer noch den Eindruck erwecken, es könne schon eine gute Lösung geben, man müsse sie nur finden (wie z. B. beim Jahrtausendwerk der Gesundheitsreform oder beim Mindestlohn). Das Problem ist, dass man mit der Darstellung von komplexen Zusammenhängen keine Wählerstimmen gewinnen kann.
Dass uns kaum jemand auf die Widersprüche, auf die Vernetztheit unserer weltweiten ökonomisch-ökologisch-soziopsychologischen Sackgasse hinweist, liegt natürlich nicht nur am kurzfristigen Denken vieler Politiker und deren Sucht nach Machterhalt, sondern an dem grundsätzlichen Dilemma, dass man dazu Informationen aus mehreren Sachgebieten, zwischen denen man Brücken bauen will, dem Wähler, Leser oder Zuhörer erst einmal nahe bringen muss. Wenn wir uns also auf der Suche nach »vertrauensbildenden Maßnahmen« auf eine Rundreise begeben, müssen wir behutsam mit den Begriffen umgehen - und vorher einige Verständnis-Brückenpfeiler aufstellen.
Dieses Einleitungskapitel vermittelt schon eine erste Ahnung davon, dass das Problem, warum immer mehr Menschen heutzutage Zukunftsängste haben, nach äußeren Sicherheiten suchen, dabei aber weder einander noch sich selbst genug ver- trauen können, äußerst vielschichtig ist. Ich werde also im Folgenden immer wieder einmal zwischen der individuellen und der kollektiven Sichtweise hin und her pendeln müssen. Der Leser möge das Ganze wie einen Stoff im Webrahmen sehen: Der Faden der Sprache ist zwar linear, aber das, was daraus entsteht bzw. dargestellt wird, ist ein mehrdimensionales »Gewebe«. Deshalb erscheint es manchmal so, als würde ich mich wiederholen. Das geschieht immer dann, wenn wir an einer bekannten Stelle wieder vorbeikommen - jetzt allerdings auf einem anderen »Kettfaden«.
 
Deshalb vorab ein kurzer »Reiseführer« durch dieses Buch:
Im 2. Kapitel beleuchte ich einige Aspekte der Entstehungsgeschichte von Vertrauen, v. a. evolutionär, biologisch, psychologisch. Die Fehlentwicklungen, also die Ersatz-Konstruktionen für Vertrauensverlust, die individuell und kollektiv gebildet werden, stelle ich unter den Oberbegriff »Fort-Schritt«.
Im 3. Kapitel sind meine Wegweiser langjährige Erfahrungen mit Analyse-Patienten in Einzel- und Gruppentherapie, die das Vertrauen in sich und die Welt verloren haben oder glauben, es nie gehabt zu haben. Da dies für mich »täglich Brot« ist, werden die Beschreibungen und Bilder von meinem tiefenpsychologischen Hintergrund geprägt und etwas ausführlicher sein.
Das 4. Kapitel soll vorwiegend der kollektiven Dimension, der Gesellschaft und Wirtschaft gewidmet sein - aber auch den psychologischen Mechanismen, die aus meiner Sicht hier vor allem am Werke sind und zum Teil so eng ineinandergreifen, dass die dadurch ausgelösten Prozesse (Wachstum, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Zunahme von Angstsyndromen etc.) eskalieren.
Dann, im 5. Kapitel, sind wir hoffentlich »reif« für den Versuch einer ganzheitlichen Sichtweise. Hier bemühe ich mich, dem Leser kurze Einblicke in die Komplexitäts- und Chaosforschung zu geben, die aus meiner Sicht einen übergeordneten Bezugsrahmen ermöglichen. Wem hier manches tatsächlich zu »komplex« werden sollte, derjenige kann getrost etwas überspringen - im Vertrauen darauf, das Wichtigste auch im späteren Verlauf noch verstehen zu können (oder dann nochmals zurückzublättern).
So gerüstet können wir uns in den Kapiteln 6 und 7 an die beiden wichtigsten Erfahrungsbereiche des Menschen wagen und sehen, wie sie mit unserem Thema des Vertrauens in Zusammenhang stehen: Im Kapitel 6 geht es um die Liebe und Partnerschaft, die »Bühne«, auf der viele Dramen des Vertrauensverlustes und der neuen Hoffnungen gespielt werden. Und im 7. Kapitel nähern wir uns den Tiefendimensionen, d. h. emotionalen und spirituellen Werten und Sinnerleben - Fähigkeiten und Sehnsüchten, die wir besonders heute angesichts der rasanten kulturellen und technologischen Entwicklungen in unserer beschleunigten, »flexiblen« Gesellschaft aus den Augen zu verlieren drohen: Da die Narkotisierung durch die Medien nicht mehr lückenlos funktioniert, meldet sich das geistig-emotionale Defizit in Form von Körpersymptomen, Depressionen, Ängsten, Drogen, Gewaltdurchbrüchen und Scheidungsraten. Es geht also um die Suche nach Inhalten und nach einem tragenden Bezugsrahmen, also letztlich um Sinn und Spiritualität - was auch immer sich der Einzelne bewusst darunter vorstellt.
2
Fort-Sc Fort-Schritt?
Der Vertrauens-Trieb und seine Gegenspieler
Wenn ihr aufhören könntet zu siegen...
Christa Wolf, »Kassandra«
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Nachdem gegen Ende des 21. Jahrhunderts die Nationen Mitteleuropas wegen der Klimakatastrophe verwüstet und wegen des Bevölkerungsschwundes vergreist waren, hatten sie ihr zivilisatorisches Niveau verloren. Nur Finnland und Ungarn hatten Bevölkerungsstruktur und Kultur noch mühsam aufrechterhalten. Kurz vor der Wende zum 22. Jahrhundert startete ein Team von Anthropologen, Historikern, Philosophen und Soziologen der Universitäten Helsinki und Budapest ein Projekt mit dem Titel »Europäischer Zeitgeist zu Beginn des 21. Jahrhunderts«. Sie gaben sich große Mühe, sich aus den noch vorhandenen Zeit-Dokumenten ein Bild zu machen über Lebensgefühl, wichtige Themen, Wertvorstellungen und Visionen der damaligen Bevölkerung, der Intellektuellen, Wissenschaftler und Politiker der zugrunde gegangenen Kulturen Europas. Hier einige ihrer Fundstücke:
»Europaweite wochenlange Trauer und Verzweiflung über den Unfalltod der ehemaligen Frau eines britischen Thronfolgers.
»Jahrelange hitzige Debatten über eine sogenannte (oder »so genannte«?) Rechtschreib-Reform, deren verwirrender Ausgang nicht mehr zu rekonstruieren ist, und über ein »Dosenpfand«, das den Forschern Rätsel aufgab.
»Versuche, in der Bevölkerung das Bedürfnis nach kleinen audiovisuellen »Entertainment-Happen« in ihren Funktelefonen zu wecken.
»Einerseits zeugen Dokumente vom damaligen Ruf nach mehr Arbeitsplätzen, auf der anderen Seite schien man sich ebenso hartnäckig bemüht zu haben, durch Abbau von Arbeitsplätzen Geld zu sparen.
Wenn der Deckel nicht mehr hält
Dass wir in unserem näheren oder weiteren Umfeld von dem Umsichgreifen von Depressionen und Ängsten zunächst nicht viel wahrnehmen, liegt vor allem an den so genannten »Abwehrmechanismen« (Anna Freud 1980). Der wichtigste ist die hervorragend eintrainierte Fähigkeit des Homo sapiens, die er zusammen mit dem Bewusstsein ebenfalls entwickeln musste: die Verdrängung, die eine Erfahrung bzw. ein Gefühl vom Bewusstsein wieder ins Unbewusste schiebt. Ein weiterer ist die Verleugnung, die einen Inhalt gar nicht ins Bewusstsein gelangen lässt, so dass er gar nicht erst »wahr-genommen« werden kann. Manchmal muss ein unerträgliches Gefühl auch in den Körper verschoben werden, wo es Symptome oder Krankheiten hervorruft (z. B. die »Depressive Somatisierung«).
Ohne diese Strategien hätten wir - angesichts früherer oder aktueller Traumata, Verluste, Beeinträchtigungen und Bedrohungen - kaum eine Chance, ein normales Leben zu führen. Die Abwehrmechanismen sind also zunächst keine krankhaften Vorgänge - es geht um die Dosis und um den Preis, den man dafür bezahlt. Damit meine ich einerseits die Lebensenergien, die man dafür aufwendet, den »Deckel« über diesen Schattenseiten zuzuhalten, andererseits geht es mir um die Schäden, die solche destruktiven Energien anrichten, die man nicht ganz unterdrücken kann - vor allem, wenn sie sich andere Wege suchen: Dies sind die erwähnten Körpersymptome, »Missgeschicke« oder - aber das ist ein heikles Thema - die Projektion auf andere, insbesondere mit Feindbildern.
Als Psychoanalytiker habe ich naturgemäß vor allem mit denen zu tun, bei denen Abwehrstrategien wie Anpassung und Karriere oder potentielle »Drogen« wie Konsum, Alkohol, Medien und »Events« nicht mehr erfolgreich genug sind. Diese Menschen haben deshalb in irgendeiner Form einen »Leidensdruck« entwickelt und sich zu einer Therapie entschlossen. Schicksalsschläge wie Krankheiten, Trennungen, Unfälle oder Arbeitsplatzverlust haben sie auf sich selbst zurückgeworfen. Beim Betrachten ihrer brüchigen Überlebensstrategien werden die bisherigen »Fortschritte« demaskiert als »Schritte fort«. Aber fort wovon? Vielleicht von der eigenen Natur?
Es lohnt sich also, sich zunächst etwas genauer mit dieser »Natur« zu beschäftigen, also mit dem Boden, in dem - wenn überhaupt - Vertrauen entsteht.
Ur-Vertrauen ist wie ein »Trieb«
Wir von der Gattung Homo sapiens haben, wie unsere tierischen Verwandten, alle nicht nur die angeborene Fähigkeit zu vertrauen, sondern so etwas Ähnliches wie einen »Trieb«, jemandem, unserer Umgebung, der »Welt« zu vertrauen. Dies kann man mittlerweile recht gut begründen, u. a. durch Evolutionsbiologie, Tiefenpsychologie, Gynäkologie, Soziologie und Säuglingsforschung.1
Die Schutzbedürftigkeit des kleinen Menschen hatte nachhaltige Folgen: Es war schon bei den Jägern für das Überleben günstiger, wenn es um das Neugeborene herum außer der Mutter noch andere Bezugspersonen gab, am besten eine ganze Sippe, einen Clan, später einen Stamm. Für alle war das Wichtigste Zusammenhalt und Solidarität, vor allem mit den Kleinen.
Tilmann Moser weist in seinem Lehr-Videofilm Vaterkörper darauf hin, dass unser Gefühl für den »Boden«, auf dem wir stehen, seinen Ursprung nicht im Fußboden hat, sondern in unserem Stand auf dem Bauch und den Oberschenkeln von Mutter oder Vater. Wenn man einen Säugling beobachtet, der auf den Beinen eines Elternteils steht, fest an den Händen gefasst, dann kann man sehen, wie lust- und vertrauensvoll er immer wieder in die Knie geht, sich hochdrückt und die Festigkeit des Bodens unter sich testet. So entsteht das Körpergefühl des Vertrauens in den Boden, auf dem wir stehen - unser »Standpunkt« und unsere »Standfestigkeit«.
Nun kann man sich leicht vorstellen, dass dies alles einen großen Einfluss auf die unbewussten Seelenstrukturen des Kindes hat: Aufgrund des genetischen Programms des Vertrauens »weiß« es, dass es in eine sichere Umgebung hineingeboren wird. Natürlich bauen sich im Lauf der Zeit auf diesem Grundprogramm dann die verschiedensten Erfahrungen und Gefühle auf, je nach der Grund-Sicherheit, die die Eltern dem Kind vermittelt haben, und je nach der konkreten Ausgestaltung der Familie, Sippe und Umgebung, in die das Kind aktiv eingreift (siehe Dornes 1994). Aber generell gilt: Wer bis jetzt am Leben geblieben ist, hat das überlebensnotwendige Maß dieses Urvertrauens, gleichsam in allen Organen seines Körpers.
Es muss also in der heutigen Zeit in einer kollektiven Dimension etwas geschehen sein, das immer mehr Menschen diesen natürlichen Schutz- und Haltemechanismen entfremdet hat, so dass weder ihr Körpergefühl noch ihre emotionale Hintergrundstimmung ausreichen, sich im Leben zu Hause zu fühlen. Dadurch laufen sie Gefahr, immer mehr den äußeren Schein-Helfern und Schein-Stabilisatoren zu vertrauen, die uns der Fortschritt in jeder Form verheißt.
 
Bevor ich diesem Entfremdungsprozess weiter nachgehe, muss ich auch einmal eine Lanze für den Fortschritt brechen: Es ist unbestritten, dass uns die technische und kulturelle Weiterentwicklung viele Vorteile verschafft hat. Niemand, auch nicht ein »fundamentalistischer« Naturschützer, wird kritisieren, dass wir heute besser auf Hygiene achten und für menschenunwürdige Arbeit Maschinen haben oder mehr medizinisches Wissen. Ich selbst stehe der so genannten »Schulmedizin« aus persönlichen Gründen durchaus positiv gegenüber, u. a. seit ich in der Studentenzeit in den Genuss einer lebensverlängernden Herz-Operation kam.
Es geht also - auch individuell - wieder einmal um die rechte Balance: Für den einen ist es wichtig, aus einer Erstarrung endlich in Neuland voranzuschreiten, für einen anderen, die ewige Flucht nach vorn zu beenden und innezuhalten, um mal bei einer Sache, einem Entschluss zu bleiben. Statt »hektischer Stagnation« also »flexible Festigkeit«. Leicht gesagt, aber als Zielvorstellung sicher hilfreich.
Immer wieder sage ich zu meinen Patienten, wenn sie mich fragen, ob sie dies oder das tun oder unterlassen sollten: Es kommt weniger darauf an, was man tut, sondern warum man es tut - und was man damit vermeidet!
Schauen Sie an dieser Stelle einmal in Ihrem Leben zurück, wenn Sie mögen, und überprüfen Sie bisherige Ent scheidungen danach, was Ihre Motivationen waren: Warum haben Sie Ihren Beruf gewählt? War das Ihre eigene Entscheidung oder eine von den Eltern vorgebahnte? Wollten Sie es ihnen recht machen oder eher mit Ihrem Beruf Abstand von »daheim« gewinnen - also vom Elternhaus fort-schreiten? Was motivierte Sie bei der Suche nach einem Partner? Und wenn Sie einen gefunden haben: War es auch, damit Sie nicht allein waren - also als ein »Schritt fort« aus der Einsamkeit?
Nach diesem Exkurs wieder zurück zum kollektiven Fort schritt:
Wenn also der technische Fortschritt dazu dient, den Mangel an Vertrauen in die Natur, das verlorene Wissen um ihre Abläufe und Selbstheilungspotentiale einfach zu überdecken, wenn die Maschinen lediglich Prothesen sind - dann besteht die Gefahr, dass wir den Zugang zu unseren natürlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Bedürfnissen mit der Zeit verlieren und von Ersatzobjekten und Ersatzbefriedigungen, von künstlichen Leit-Bildern und Helfern abhängig werden. Die hektische Beschleunigung der »Innovationen« in Wirtschaft und Gesellschaft überdeckt die zugrunde liegenden Ängste ja bei vielen immer weniger. Äußerlich Amok, innerlich Koma - ein tiefsinniges Buchstabenspiel!
Leider kann man aus der »Fortschritts-Falle« nur schwer aussteigen, denn, wie Ronald Wright in seinem Buch Eine kurze Geschichte des Fortschritts betont: Sie hält sich selbst in Gang. So haben die Industrienationen z. B. durch die Entwicklungshilfe versucht, einen Teil der Schäden, die sie in der Kolonialzeit verursacht haben, auszugleichen - aber dabei haben sie oft in diesen Ländern den Fortschritt so beschleunigt, dass deren Völker zerrissen sind zwischen dem schwindenden Vertrauen in ihre eigenen Stammestraditionen und dem noch nicht etablierten Vertrauen in Technik, Wissenschaft und Demokratie. Aber es gibt keinen Weg zurück mehr - nur nach vorn, gemeinsam.
Um aber eine Umgestaltung der Entwicklungshilfe und der Politik von WTO, IWF und Weltbank in Gang zu setzen, wäre nicht nur ein Umdenken und ein Verzicht auf einige Vorteile der Reichen auf dem Globus nötig, sondern Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte dieser Länder und deren Menschen. Wegweisend dafür sind aus meiner Sicht die Vergabe von Kleinkrediten durch den philippinischen Sozialreformer Nicanor Perlas (2000) und die von Muhammad Yunus (Friedensnobelpreisträger des Jahres 2006), gegründete Bank. Besonders wirkungsvoll ist hier die »Global Marshall Plan Initiative« für eine ökosoziale Marktwirtschaft, die inzwischen vom Club of Rome, zahlreichen Nichtregierungs-Organisationen und vielen Politikern und Institutionen unterstützt wird (s. Radermacher 2007).
 
 
Copyright © 2008 Kösel-Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlag: Kaselow Design, München Umschlagmotiv: Maik Zessin Illustrationen: Wolfgang Pfau
eISBN : 978-3-641-03343-9
 
www.koesel.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de