Die Wiedergutmacher - Raymond Unger - E-Book

Die Wiedergutmacher E-Book

Raymond Unger

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Beschreibung

Angela Merkels historische Entscheidung vom Sommer 2015 setzte die deutsche Gesellschaft unter Strom, politisierte und polarisierte das Land wie seit den Zeiten der Weimarer Republik nicht mehr. Über eine Million Zuwanderer teilten Deutschland in zwei geistige Bürgerkriegsparteien, deren Fronten sich zusehends verschärfen. Hat die Bundeskanzlerin mit ihrer historischen Willkommensgeste endgültig bewiesen, dass Deutschland seine dunkle Vergangenheit bewältigt hat? Oder handeln sie und viele andere der deutschen Eliten im Traumaschatten der Geschichte? In seinem Buch widmet sich Raymond Unger – selbst vom transgenerationalen Trauma betroffen – erneut den Auswirkungen nicht verarbeiteter Kriegstraumata auf die nachfolgenden Generationen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Babyboomer-Eliten, die aufgrund fehlender persönlicher Reife und nicht verarbeiteter Schuld-und Sühne-Komplexe mit ihren Entscheidungen die Gesellschaft polarisieren und den sozialen Frieden gefährden. Außerdem spürt er den Ursachen für den dramatischen Rückbau mühsam errungener Freiheiten in Kunst, Kultur und Medienlandschaften und für das Wiedererstarken von überwunden geglaubten, religiös fundamentalen Orientierungen nach, die zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen.

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Raymond Unger

DieWiedergutmacher

Das Nachkriegstraumaund die Flüchtlingsdebatte

1. eBook-Ausgabe 2018

© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG,

Berlin · München · Zürich · Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich

Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-252-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Prolog

Psychologische Grundlagen

Regierungskrise 2018

Die Causa

Eliten im Traumaschatten

Babyboomer

Generation Waschlappen

Misslungene Triangulierung

Parentifizierung

Doppelbindung

Strukturmodell der Psyche

Polarisierte Gesellschaft

Irgendwie gut sein

Refugees welcome!

Mauerbau 2.0

Abgehängt und besorgt

Die rote Pille

Kontrollverlust

Push oder Pull?

Freiheit der Medien

Freiheit der Kunst

Alles Nazis! Außer Mutti

Der mündige Bürger

Sublimierung und Abwehr

Konformität: Das Luzifer-Prinzip

Negierung des Schattens: Antifaschismus

Projektion: Hexenjagd und Volkserziehung

Ausagieren: Eiferer

Dichotomes Denken: Schwarz-Weiß-Malerei

Magisches Denken: Ablasshandel

Intellektualisierung: Materialismus

Altruistische Abtretung: Strukturelle Gewalt

Blinder Fleck: Populismus

Idealisierung: Political Correctness

Verleugnung: Gesinnungsethik und Kulturrelativismus

Weltanschauungen

Hypermoral

Frankfurter Schule

Holarchie

Identität

Faschismus

Kriegstrauma und Religion

Die Heimat der Wölfe

Depression und Diesseitsverachtung

Religion und Reformfähigkeit

Realitätsverleugnung

Der Islam und die Linke

Das neue Berlin

No Border – No Nation

Demografie-Gewinner

Youth Bulge – Kriegsindex

Kriminalitätsstatistik

Fluchtursachen

Globale Strategien

Lösungsansätze

Waschlappen und Helden

Angst erkennen

Schuld und Sühne

Kunst und Individuation

Epilog

Bibliografie

Anmerkungen

Prolog

Wer meine beiden vorangegangenen Bücher kennt, wird sich über dieses politische Werk vielleicht ein wenig wundern.

In meinem ersten Buch Die Heldenreise des Künstlers beschrieb ich persönliche Reifeprozesse, die durch selbstkonfrontative Kreativität gefördert werden. Zudem schilderte ich die Schwierigkeiten, denen sich Quereinsteiger gegenübersehen, wenn sie im hermetischen, etablierten Kunstmarkt Fuß fassen möchten. Mit meinem zweiten, in Romanform geschriebenen Buch Die Heimat der Wölfe verfasste ich die Chronik meiner Kernfamilie. Bezug nehmend auf das Thema »Kriegsenkel«, skizziere ich die Schicksale von neun Familienmitgliedern, beginnend vom Ersten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre. Obgleich beide Werke bereits latent politisch sind, liegt ihr Schwerpunkt auf dem psychologischen Bereich, zudem bedingen sie sich gegenseitig. Ohne die historischen Verwerfungen durch zwei Weltkriege wäre aus mir vermutlich kein Autor und bildender Künstler geworden. Meine Mutter war ein Flüchtlingskind aus dem Osten, mein Vater überlebte den Hamburger Feuersturm. Das nie aufgearbeitete Kriegstrauma meiner Eltern prägte meine Kindheit sehr. Doch zu den familiären Hintergründen »Flucht« und »Bombenkrieg« gesellte sich noch eine weitere Besonderheit. Meine Familie gehörte einer fundamentalistischen christlichen Freikirche an, die kurioserweise viele islamische und jüdische Kernelemente enthielt. Seit 2015 erlebt unsere Gesellschaft dramatische Umbrüche, die direkt oder indirekt alle Problemfelder meiner eigenen Herkunftsfamilie widerspiegeln: Bombenkrieg, Flüchtlingskrise und Fundamental-Religion.

Deshalb wird mein drittes Buch im Wesentlichen von drei Motivationen getragen:

–dem Versuch, meine persönliche politische Neuorientierung und Zerrissenheit fassbar zu machen und die Gründe für die Polarisierung der Gesellschaft zu untersuchen

–der Kritik am dramatischen Rückbau mühsam errungener Freiheiten in Kunst-, Kultur- und Medienlandschaften

–der Sorge über das Wiedererstarken von überwunden geglaubten, religiös fundamentalen Orientierungen und falschen Rücksichtnahmen, die zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen

Zunächst gehe ich auf Spurensuche, was meine eigene politische Neuorientierung in jüngster Zeit betrifft. Ich möchte verstehen und einordnen, was mit mir selbst, aber auch was mit der Gesellschaft insgesamt geschehen ist. Denn ganz gleich, ob man die aktuelle Entwicklung für gut oder schlecht hält, Deutschland ist de facto nicht mehr dasselbe Land wie noch vor wenigen Jahren – und ich bin nicht mehr derselbe Mensch. Solange ich politisch denken kann und wählen darf, also seit einigen Jahrzehnten, bewegte sich meine politische Heimat im Dreieck zwischen SPD, Linken und Grünen – Parteien, die ich in allen erdenklichen Kombinationen gewählt habe. Doch zu meiner eigenen Verwunderung und Irritation entdecke ich seit geraumer Zeit heimliche Sympathien für Positionen von ehemaligen politischen Gegnern – das heißt aus einem Spektrum nahe der CSU, FDP und bisweilen sogar der AfD. Eine Zeit lang habe ich mich schon aus Prinzip gegen eine Zustimmung aus diesem Lager gewehrt, doch je ehrlicher ich mich geprüft und je länger ich dem geradezu beängstigenden Gleichklang der etablierten Medien gelauscht habe, desto mehr musste ich den kritischen, alterativen Stimmen recht geben. Ein wenig erinnert mich meine Lage an eine Aussage von Henryk M. Broder, der sich ebenfalls als klassisch »links« sieht: »Ich bin ein Linker. […] Ich bin für alles, was irgendwann linke Tugenden waren – und die sind [heute] weg.«1 Als Kritiker der »Willkommenskultur« und des Islam wird Broder inzwischen in der »rechten Ecke« zwangsverortet. Nach eigenem Bekunden hat sich Broder jedoch nicht maßgeblich verändert, vielmehr habe sich die politische Landschaft Deutschlands gedreht, der Grund sei die mittlerweile »komplette Degeneration der Linken«. Doch von Irritation und politischer Neupositionierung sind offenbar immer mehr Menschen betroffen, viele Intellektuelle sind beunruhigt über ihre neue Zwangsverortung. So schreibt die preisgekrönte Schriftstellerin Monika Maron: »Wer so denkt wie ich, ist rechts, behaupten sie. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ich eines Tages rechts sein könnte. In meiner Jugend war ich links. So hatte man mich erzogen, und außerdem waren fast alle, die ich kannte, irgendwie links, schon wegen der deutschen Geschichte, wegen Sartre, Böll, Brecht, Heiner Müller. Sogar Wolf Biermann war links. […] Und nun zermartere ich mir den Kopf, wie das passieren konnte. Ich bilde mir ein, ähnlich vernünftig zu sein wie früher, als ich nicht mehr links, aber noch nicht rechts war. Welche Achse hat sich gedreht, dass ich mich auf einer anderen Seite wiederfinde, ohne die Seite gewechselt zu haben?«2

Ein weiterer Grund für dieses Buch ist mein Erschrecken als etablierter Berliner Künstler und Autor über eine neue, sich selbst zensierende Kunst- und Medienwelt, die von thematischer Einseitigkeit und Rücknahmen vieler liberaler Errungenschaften geprägt ist. Wer sich als Künstler und Autor kritisch mit Inhalten zum Thema Islam oder Zuwanderung auseinandersetzt, kann große Probleme bekommen; in der Regel wird er ausgegrenzt. Was vor 15 Jahren undenkbar erschien, ist heute Realität: Berliner Galeristen aus Stadtteilen mit hohem Migrationsanteil äußern Sorge, meine Bilder auszustellen – aus Angst um ihre Schaufenster. Insgesamt trifft man im kulturellen Bereich immer häufiger auf Bedenkenträger. Viele Intendanten, Kuratoren, Galeristen oder Messeleiter entscheiden sich für vorauseilende Selbstzensur, aus »Rücksicht auf andere Kulturen«. In Wirklichkeit haben Veranstalter schlichtweg Angst davor, eine Zielscheibe für islamistische- oder Antifa-Aktionen abzugeben. Doch nicht nur die Freiheit der Kunst hat gelitten, auch mit der Meinungsfreiheit ist es nicht mehr allzu weit her. Ungeachtet der Warnungen der UN-Sonderberichterstatter, das »Netzwerkdurchsetzungsgesetz« verstoße womöglich gegen das Grundgesetz und die Menschenrechte, trat das umstrittene Gesetz von Heiko Maas in Kraft. Wer sich heute auf Meinungsfreiheit im Internet beruft, riskiert bei falscher oder unbedachter Wortwahl schnell eine Sperre wegen sogenannter »Hate Speech«.

Das dritte, starke Motiv für dieses Buch ist, dass ich in einem großen Teil der Zuwanderer etwas wiedererkannt habe, von dem ich glaubte, es sei persönlich wie gesellschaftlich überwunden. Doch dem ist nicht so. Es kommen Menschen zu uns, die fast ausnahmslos einer restriktiven Religion angehören. Aus meiner Perspektive kann ich sagen, dass ich den Islam keineswegs exotisch finde, denn die zugrunde liegenden patriarchalen Prinzipen sind mir wohlvertraut. Ebenso wenig exotisch finde ich deshalb auch die gesellschaftlichen Folgen, wenn man versucht, dem Wertesystem einer fundamentalen Religion gerecht zu werden. Als ich den Islam und die Religion meiner Kindheit verglich, war ich über die Gemeinsamkeiten mehr als verblüfft. In meiner Familienchronik habe ich bereits ausgeführt, dass ich die Verbindung von Kriegstrauma und Religion für keine besonders gedeihliche Mischung halte, insbesondere nicht in Hinblick auf die Integration in eine neue Heimat. In Die Heimat der Wölfebeschreibe ich einen diesbezüglichen Pathomechanismus: Traumatisierte Menschen, insbesondere jene, die ihre Heimat verloren haben, neigen dazu, innerpsychischen Schmerz mithilfe ideologischer Identifikationen zu lindern. Ähnlich wie die Aufklärer Hamed Abdel-Samad oder Ahmad Mansour, die beide aus fundamentalen muslimischen Familien kommen, kann auch ich aus eigener Erfahrung sagen: Als Angehöriger und Nachfahre kriegstraumatisierter, heimatloser, fundamental-religiöser Menschen habe ich Jahrzehnte gebraucht, um mein transgenerationales Kriegstrauma zu erkennen und zu verarbeiten und mich von den Fesseln einer fundamentalen Religion zu lösen. Dies gelang mir nur über nachträgliche Bildung, therapeutische Aufarbeitung, künstlerischen Ausdruck und das Verfassen mehrerer Bücher – wobei ich im Nachhinein alle meine Anstrengungen als überaus notwendig erachte, denn ohne diese Anstrengungen haben es viele aus meiner Kernfamilie überhaupt nicht geschafft. Die toxische Mischung aus Kriegstrauma und fundamentaler Religion führte im Anpassungsprozess an die Gesellschaft zu so großen Spannungen, dass von den neun Bezugspersonen meiner Kernfamilie sechs ein Suchtproblem entwickelten. Vier starben verfrüht an den Folgen ihrer Sucht oder begingen unbewussten oder bewussten Suizid. Wenigstens mündete Wut und Verzweiflung innerhalb meiner Familie damit »nur« in die Selbstzerstörung – bekanntermaßen ist dies bei den aktuellen Zuwanderern nicht immer der Fall.

Mir ist wohl bewusst, dass man derartige Komplexitäten und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der gewünschten gesellschaftlichen Erzählung von der Willkommenskultur nicht allzu gern hört. Doch als liberaler, humanistischer Freidenker und freier, bildender Künstler habe ich mich nach langem Abwägen dazu durchgerungen, dieses schwierige Debattenbuch dennoch zu schreiben. Meine Freiheit im Denken und im Leben habe ich mir mühsam erkämpft. Ich möchte nicht passiv dabei zusehen, wie viele meiner Ideale von unreifen Eliten in Politik und Medien aufgrund von falscher Toleranz wieder zurückgenommen werden. Zu uns kommen nicht nur Familien, die vor einem Krieg fliehen, sondern vor allem viele junge Männer, die in Gewalträumen archaisch und fundamentalreligiös geprägt wurden. Die Weigerung, die Folgen einer übermäßigen Zuwanderung dieser Gruppe in unsere fragile, liberale, säkulare Gesellschaft zu bedenken, zeugt von Unreife und ideologischer Einseitigkeit prägender Teile der deutschen Gesellschaft.

»Überall in Europa außer in Schweden sagt man: ›Die Deutschen spinnen.‹ Das Unreife der deutschen Politik kommt in der Maxime zum Ausdruck, bei Flüchtlingen dürfe man keine Grenzen setzen. Da wird etwas nicht zu Ende gedacht. Denn gemäß heutiger Praxis wären, gemessen an den hiesigen demokratischen und ökonomischen Standards, zwei Drittel der Weltbevölkerung in Deutschland asylberechtigt. Dass unsere Flüchtlingspolitik einem Denkfehler unterliegt, müsste einem spätestens da auffallen.«3 Wer jedoch auf diesen Denkfehler hinweist, läuft Gefahr, als Rassist und Fremdenfeind diffamiert und gebrandmarkt zu werden. Der mediale und öffentliche Umgang mit Zuwanderungskritikern offenbart die klassische psychologische Abwehrtrias aus Verleugnung, Projektion und Verdrängung. Die Suche nach den Gründen für diese »moralistische Infantilisierung«4 der Eliten wird der rote Faden dieses Buches sein.

Psychologische Grundlagen

»Man erwartet von Politikern, dass sie wenigstens oberflächliche Kenntnisse von Geschichte und Wirtschaft haben. Es wird höchste Zeit, dass man sie auch veranlasst, sich zumindest mit den Grundkenntnissen der Psychologie vertraut zu machen und die seltsamen geistigen Kräfte zu studieren, die die Menschen veranlassen, mit solcher Verbissenheit gegen ihr eigenes Wohl zu handeln.«

ARTHUR KOESTLER

Regierungskrise 2018

Die Regierungskrise vom Hochsommer 2018 veranschaulicht das Thema dieses Buches auf besondere Weise. Wie in jeder Krise verdichteten sich auch hier alle verschleppten und geleugneten Probleme, bis sie eine solche Klarheit entwickelt hatten, dass man gezwungen wurde, sie anzusehen. Gleichsam als Vorwegnahme und Kaleidoskop für die kommenden 400 Seiten beginne ich mein Buch deshalb mit einer kurzen Chronologie der Ereignisse der letzten beiden Juniwochen 2018, bevor ich zur Causa von 2015 zurückkomme.

Rund um das beinahe Ende der Kanzlerschaft Merkels, einer Ikone der Wiedergutmacher, läuft im Sommer 2018 ein ganz bestimmter Babyboomer-Typus noch einmal zur Hochform auf. In der Zeit des »Ultimatums der CSU« offenbaren die etablierten Strukturen in Medien, Parteien und Kulturwelt, wer in Deutschland die Deutungshoheit zur Wahrheit besitzt. Als Angela Merkel im Streit mit ihrem Innenminister Horst Seehofer nach 13 Jahren Kanzlerschaft ernsthaft ins Wanken geriet, führen ihre Anhänger einen bemerkenswerten Verteidigungskampf. Hierbei tritt die Einseitigkeit der Leitprinzipien der Wiedergutmacher mit großer Klarheit hervor: Moral vor Recht, Legende vor Wahrheit, Feminismus vor Maskulinität, Konformität vor Charakter, Gesinnung vor Verantwortung, Bekenntnis vor Handlung, Selbstverleugnung vor Selbstbehauptung, Gefühl vor Ratio, Feigheit vor Mut. Spätestens in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2018, als ein völlig derangierter Innenminister Horst Seehofer vor die Presse tritt und seinen Rücktritt kolportiert, ist klar – die Zeit der »alten, weißen Männer« ist vorbei. Und mit ihnen endet auch das Zeitalter der alten weisen Männer. Die Konterfeis der politischen Charakterköpfe meiner Jugend hängen im Museum des Deutschen Doms am Gendarmenmarkt: Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker, Willy Brandt, Herbert Wehner, Hans-Dietrich Genscher. Längst wurde der Staffelstab übernommen von den verletzten Söhnen und Töchtern der Republik. Kriegsenkelinnen und Kriegsenkel wie Claudia Roth, Andrea Nahles, Annalena Baerbock, Katja Kipping, Katrin Göring-Eckardt, Anton Hofreiter, Robert Habeck, Heiko Maas und Peter Altmaier bestimmen die Geschicke Deutschlands. Politik und Medien sind heute fest in den Händen der sogenannten »Nebelkinder«5, deren einzige Gewissheit ein nebulöses und doch stetig präsentes Gefühl ist: Schuld. Seit ihrer Kindheit bewegt Nebelkinder eine einzige Frage: Wie mache ich alles, alles wieder gut?

Es war der vielleicht größte strategische Fehler des letzten alten weißen Mannes, die notwendigen Maßnahmen zur Verantwortungsübernahme für kommende Generationen nicht einfach still und konsequent umzusetzen. Die Kanzlerin wäre in Zugzwang geraten. Vermutlich hätte sie reagiert, wie sie immer reagiert hat. Ihrem Machterhalt zuliebe hätte sie die Koalition schlussendlich nicht platzen lassen. Doch mit einem Zeitfenster von zwei Wochen, das Seehofer ihr einräumte, war Merkel in der Lage, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die kritischste Phase hatte die Kanzlerin zweifellos zu Beginn der Krise. Erst Seehofers Pläne machten auch den Merkel-Getreuen klar, dass die Kanzlerin um jeden Preis die Ausnahmeregelung der offenen Grenzpolitik von 2015 zum Dauerzustand erklären wollte. Selbst in der CDU-Fraktion gerieten viele darüber ins Grübeln. War es wirklich alternativlos, dass die Grenzen dauerhaft unkontrolliert bleiben mussten, weil sonst ein unbeherrschbarer Domino-Effekt droht? Doch wie schrecklich könnte dieser Effekt schon sein, wenn es anderseits hieß, die Flüchtlingskrise hätte sich so gut wie erledigt? Gerade im Zusammenhang mit der Sommerkrise 2018 geistert eine wichtige Meldung durch die Medien: Der Flüchtlingsstrom habe um sensationelle 95 Prozent abgenommen, eine Zahl, die ich gegen Ende dieses Buches noch genauer untersuchen werde. Die Argumentation lautet demnach: Betroffen von Seehofers Plänen zur Zurückweisung an den Grenzen sei allenfalls ein unbedeutendes Häuflein, um das man nicht so viel Aufhebens machen sollte. Die Unlogik ist natürlich mit Händen zu greifen, denn der Umkehrschluss gilt ja ebenfalls. Wenn die Krise nahezu vorbei ist, warum sollte man dann nicht zur bewährten Rechtspraxis von 2015 zurückkehren? Warum riskiert Merkel wegen einer Belanglosigkeit ihre Kanzlerschaft? Merkels ausgesprochen dünne und widersprüchliche Argumentation, »keine nationalen Alleingänge«, hätte sie fast den Rückhalt ihrer eigenen Fraktion gekostet. Aber die Meisterin der Taktik wusste, was sie am dringendsten brauchte: Zeit. Den Rest würde ein Netzwerk von Wiedergutmachern erledigen, auf das sich Merkel seit Beginn ihrer Amtszeit verlassen konnte. Und so kam es auch. Obwohl im Sommer 2018 die Medienfront pro Merkel bereits erkennbar erodiert war, konnten die wichtigsten Meinungsmacher die Stimmung zugunsten der Kanzlerin drehen. Die Diskreditierungskampagne, mit der man gegen Merkels Widersacher zu Felde ziehen konnte, war schnell ersonnen:

1.Der CSU ging es nie um die eigentliche Frage der Kontrolle an den Grenzen, denn dort habe sich die Lage ja weitgehend beruhigt. In Wirklichkeit handelt es sich um populistisches Fischen am rechten Rand, die schäbige Wahltaktik einer im Prinzip europafeindlichen Partei mit dem Ziel, die AfD kleinzuhalten.

2.Männer wie Horst Seehofer, Alexander Dobrindt und Markus Söder seien aus der Zeit gefallen. Im Prinzip wären die CSUAmbitionen die letzten Zuckungen der zum Glück aussterbenden Spezies testosterongesteuerter Männer: »Was ist da nur los mit diesen ganzen testosterongesteuerten Männern in Bayern?« (Katrin Göring-Eckardt), »Bei der CSU regieren Ego und Testosteron« (Anton Hofreiter), »Politik nach persönlichem Hormonhaushalt« (Kai Gniffke). Nebenbei bemerkt: Selbstverständlich ist die Strategie, politische Entscheidungen einzig auf das zwangsläufig alle Männer regulierende Sexualhormon zu reduzieren, blanker Sexismus. Der eigentliche Skandal ist die Einseitigkeit, mit der dieser Sexismus erlaubt ist. Man stelle sich nur den umgekehrten Fall vor: Ein Journalist oder Politiker würde Frauen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen oder Andrea Nahles als »östrogengesteuert« titulieren – das vorzeitige Karriereende wäre so gut wie sicher.

3.Letztlich sind die Streitlinien zwischen CDU und CSU uralte Machtfehden zwischen Preußen und Bayern, die von Altvorderen wie Franz Josef Strauß begründet worden waren. Kurzum: Wahltaktik, persönliche Racheakte und überkommene, patriarchale Machtfantasien würden die CSU leiten, aber keineswegs Sachargumente. Nur aus diesen Egoismen heraus würde eine »unbedeutende 6-Prozent-Lokalpartei« ein »ganzes Land in Geiselhaft« nehmen, ja mehr noch, »ganz Europa vorführen«. Besonders die Grünen waren sich sicher, die CSU würde einen Popanz aufbauen. Jedermann wisse, wie sehr sich die Lage an den Grenzen beruhigt habe, dennoch schüre die CSU niedere Instinkte und Ängste bei den Bürgern, indem sie so tue, als würde sich die Krise von 2015 wiederholen.

Doch zu Beginn der Krise, Mitte Juni 2018, sahen die einfachen Bürger all dies offenbar ganz anders. Zum Entsetzen der Merkel-Getreuen zeigte der Blick in die Statistik: »Im Streit zwischen Merkel und Seehofer stehen die meisten Deutschen hinter dem Innenminister.«6 Und dies nicht nur ein bisschen, sondern überdeutlich. Je nach Umfrageinstitut und Fragestellung zwischen 60 und 80 Prozent. Der weitaus größte Teil der Deutschen sprach sich glasklar für Seehofers Pläne der Grenzkontrollen aus, bezüglich der geplanten Umsetzung von Abschiebungen ist das Ergebnis sogar noch krasser. Mitte Juni stellt die Zeit fest: »Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend ist eine breite Mehrheit der Bundesbürger für eine harte Linie in der Asylpolitik. In der Umfrage sprachen sich 86 Prozent der Befragten für eine konsequente Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern aus.«7 Hätte Merkel auf dem Hoch dieser Stimmungsumfragen ihren Plagegeist einfach entlassen, es hätte sie vermutlich mitgerissen. Deshalb gaben merkelfreundliche Journalisten und TV-Moderatoren auf dem Höhepunkt der Regierungskrise 2018 ihr Bestes, um diese Pro-Seehofer-Anti-Merkel-Stimmung zu drehen, doch tagelang zeigten die Meinungsumfragen, dass es für einen Stimmungsumschwung weiterer Ingredienzien bedurfte. Drei Jahre nach Merkels Grenzöffnung hatten viele Bürger ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Vor allem aber konnte niemand verstehen, warum man nach dem angeblichen Ende der Flüchtlingskrise nicht zur bewährten Rechtspraxis von 2015 zurückkehren sollte. Was war daran falsch gewesen? Auch der einfache Bürger hatte die Unlogik der Argumentation begriffen: Entweder die Krise ist quasi vorbei, dann spricht nichts dagegen, wieder nach klassischen Dublin-Regeln zu verfahren. Oder sie ist eben nicht vorbei, dann hätte Deutschland nach wie vor eine dramatische Ausnahmesituation zu bewältigen. Auf jeden Fall waren die Themen »Sicherheit« und »Grenzöffnung« zu sensibel, als dass eine Diskreditierung Seehofers und das Herunterspielen der tatsächlichen Lage an den Grenzen ausgereicht hätten. Ein weiteres argumentatives Standbein war nötig. Genialerweise fanden die Meinungsmacher eines, das sich Seehofer selbst gestellt hatte. Seehofer stimmte dem Aufschub zur Umsetzung seiner Grenzregelung zu, indem er selbst die Parole ausgab, Merkel müsse mit »wirkungsgleichen« Maßnahmen vom EU-Gipfel zurückkommen – dann würden seine Regelungen obsolet. Natürlich war sich Seehofer wie jeder vernunftbegabte Mensch sicher, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war. Immerhin war die EU in der Flüchtlingsfrage seit Jahren hoffnungslos zerstritten. Doch das Stichwort »wirkungsgleich« war für die Medienprofis ein Stöckchen, in das man sich durchaus verbeißen konnte. Kurz vor dem EU-Gipfel holte sich Merkel zunächst jedoch Rückendeckung vom letzten verbliebenen Verbündeten in Europa: Emmanuel Macron. Dieser war durchaus bereit, Merkel in ihrem Kurs zu unterstützen. Warum auch nicht? Es kostete wenig und brachte viel. Ein Rücknahmeabkommen, das Merkel als großen Erfolg preisen konnte, war für Frankreich zu verschmerzen, die wenigsten Flüchtlinge wandern von Frankreich nach Deutschland. Dafür bezahlte Merkel jedoch umso mehr. Spontan und ohne die Koalitionspartner oder das Parlament zu fragen, gestand sie Macron Gelder in Milliardenhöhe zu. Die FAZ kommentierte:

»Man muss das langsam lesen, um es zu begreifen: Der Innenminister will geltendes deutsches Recht anwenden, weshalb ihm die Bundeskanzlerin mit Entlassung droht (Richtlinienkompetenz). Und dann stellt Merkel auch noch Milliarden für Macrons Eurozonenpläne in Aussicht, damit ihr Paris dabei hilft, Seehofer niederzuringen.«8

Eine Woche später kam Merkels großer EU-Flüchtlingsgipfel, der hinter vorgehaltener Hand von vielen Diplomaten als »Merkel-Rettungsgipfel« verspottet wurde. Als Merkel schließlich vom Gipfel zurückkehrte, hatten die deutschen Leitmedien die Schlüsse aus Seehofers Stöckchen »wirkungsgleich« gezogen. Frech vermeldete man: Das Wunder ist vollbracht! In Wirklichkeit geschah dieses Wunder natürlich weniger in Brüssel als vielmehr im deutschen Blätterwald. Hier jazzte man ein belangloses EU-Wischiwaschi-Papier, eine Ansammlung von Schlussfolgerungen und freiwilligen Absichtserklärungen, kurzerhand zum größten EU-Durchbruch zur Flüchtlingsfrage hoch. Einmal mehr war man sich sicher – kaum jemand würde das Originalpapier der EU lesen. Und so erklärten die Medien dem verblüfften Bürger, dass Merkel in wenigen Stunden schaffte, was drei Jahre lang nicht gelingen wollte. Die Einigung Europas sei derart weitreichend, dass Seehofer keinerlei Grund mehr für Grenzkontrollen habe; das Ergebnis sei sogar »mehr als wirkungsgleich«. Nur wer das EU-Papier tatsächlich las, erkannte sofort – es war reine Augenwischerei. Während der überwiegende Teil der deutschen Presse Merkels großen Coup feierte, scherzte die ausländische Presse: »Ein Gigant hat ein Mäuschen geboren« (Il Giornale), »Gipfel der Beschlüsslein« (Baseler Zeitung). In Wirklichkeit bestand Merkels angeblicher Durchbruch aus gut gemeinten Absichtserklärungen auf vollkommen freiwilliger Basis. So heißt es beispielsweise in Punkt 6:

»Im Gebiet der EU sollten die geretteten Personen entsprechend dem Völkerrecht auf der Grundlage gemeinsamer Anstrengungen im Wege der Beförderung zu – in den Mitgliedstaaten auf rein freiwilliger Basis eingerichteten – kontrollierten Zentren übernommen werden, in denen eine rasche und gesicherte Abfertigung es mit vollständiger Unterstützung durch die EU ermöglichen würde, zwischen irregulären Migranten, die rückgeführt werden, und Personen, die internationalen Schutz benötigen und für die der Grundsatz der Solidarität gelten würde, zu unterscheiden. Alle Maßnahmen im Zusammenhang mit diesen kontrollierten Zentren, einschließlich der Umsiedlung und der Neuansiedlung, erfolgen auf freiwilliger Basis, unbeschadet der Dublin-Reform.«9

Nachdem sich die Presse derart vor Lob überschlagen hatte, blieb es bei der CSU auffallend lange still. Das Dilemma war klar: Entweder die CSU hätte darüber aufklären müssen, dass die Leitmedien bezüglich der Ergebnisse des EU-Gipfels dreist überzogen hatten, ja eigentlich, dass sie die Bürger angelogen hatten. Die Rolle als Aufklärer ist aber nicht sonderlich sympathisch, die Argumentation klingt verdächtig nach »Lügenpresse«, ein Vokabular von PEGIDA, AfD und Co. Oder es blieb der CSU nichts anderes übrig, als die angebliche Wirkungsgleichheit anzuerkennen – damit hätte Seehofer sämtliche Pläne beerdigen können. So meldete sich die CSU zwei Tage lang gar nicht, bis schließlich immer mehr Details der Erklärung durchsickerten und sich das Phrasenpapier selbst entlarvte. Jetzt ruderte vorsichtshalber sogar die Kanzlerin zurück. Der Cicero kommentierte: »Momentan hat Merkel ein unverbindliches Absichtspapier ›rausgehandelt‹ und bilaterale Zusagen, von denen sich bereits vier Staaten distanziert haben: ein Missverständnis, eine Lüge? Merkel gestand im ZDF-Sommerinterview am Sonntag ein, dass sie die Backen zu voll genommen hatte: ›Abgeschlossen haben wir überhaupt keine Vereinbarung, sondern nur politisch darüber Einverständnis erzielt.‹ Man bleibe ›weiter im Gespräch‹.«10

Das Zurückrudern war höchste Zeit, denn wie inzwischen bekannt wurde, wimmelt die belanglose Erklärung von »sollte«, »würde« und »könnte«; es wird ausdrücklich betont, dass nichts verabschiedet wurde und dass alle »Schlussfolgerungen« nur auf freiwilliger Basis erfolgen können. Die Leitidee des Gipfels waren sogenannte Ankerzentren, in denen Zuwanderer die Möglichkeit bekommen sollen, Asylanträge zu stellen – um danach auf andere EU-Staaten verteilt zu werden. Wie ein neuer Verteilungsschlüssel aussehen könnte und was damit speziell auf Deutschland zukäme, sagte Merkel vorsichtshalber nicht. Im Kapitel »No Border – No Nation« erläutere ich die Ideen zu diesem Verteilungsschlüssel genauer.

Jedenfalls war Merkels Hauptargument gegen Seehofer, es dürfe keine »nationalen Alleingänge« geben, sie wolle eine »europäische Lösung«. Der Subtext: Nationale Alleingänge seien nicht rechtskonform, nur europäische Lösungen seien legitim. Doch in Wahrheit gab es eine rechtskonforme Lösung längst, sie heißt EU-Verordnung Nr. 604/2013 oder schlichtweg Dublin III. Mehr noch, im Grunde ist eher Merkels Ausnahmeregelung juristisch problematisch, da nicht wirklich grundgesetzkonform. In Artikel 16a heißt es unmissverständlich: »(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.« Seehofers Lösung anzuwenden wäre gerade kein »nationaler Alleingang«, wie die Kanzlerin behauptete, sondern das geltende Recht vor 2015. Dieses wurde von Merkel beziehungsweise durch ihren damaligen Innenminister Thomas de Maizière kurzfristig und nur durch eine mündliche Ministeranweisung ausgesetzt. Begründung war damals eine einmalige Notstandssituation, die, da sind sich wirklich alle einig, schon lange nicht mehr gegeben ist. Andere Länder, wie Frankreich, Italien oder Dänemark, handeln längst nach bewährten EU-Regelungen bzw. nach ihren Grundgesetzen. Seehofer ging es explizit darum, den nationalen Alleingang Merkels zu beenden und zur Rechtspraxis von 2015 zurückzukehren. Tatsächlich hätte er damit sogar den Wünschen vieler europäischer Nachbarn entsprochen. Denn hinter vorgehaltener Hand warten viele europäische Nachbarn auf ein klares Signal, das die Sogwirkung beendet, die von Deutschland seit 2015 ausgeht. Der Missbrauch des deutschen Asylrechtes ist der »Türöffner für illegale Einwanderung«11 nach ganz Europa, resümieren Experten, allen voran ehemalige Verfassungsrechtler wie Hans-Jürgen Papier, Rupert Scholz und Udo Di Fabio. Das Kuriose daran: Selbst grüne Politiker bestätigten während der Krise, dass Seehofer im Recht war.

Wenigstens Zuwanderer mit Einreiseverbot, Kriminelle, abgelehnte Asylbewerber und jene mit offenen Asylverfahren in anderen EU-Ländern wollte Seehofer zurückweisen dürfen. Was anderes als diese Selbstverständlichkeiten hätte man sonst mit dieser Gruppe von Zuwanderern machen sollen? Erneut einem Verfahren im völlig überlasteten BAMF zuführen? Um einen bereits abgelehnten Antrag ein zweites Mal durchzuarbeiten? Doch zum Entsetzten der Bürger erfuhr man im Sommer 2018, dass dies seit Jahren die gängige Praxis war. Erst jetzt wurde klar, dass der gesamte Apparat des BAMF, alle Asylurteile, alle Abschiebungsversuche und alle Zurückweisungsversuche an den Grenzen, ohne Probleme unterlaufen werden konnten. Die spezielle Formulierung der Ausnahmeregelung macht es möglich: Nach der mündlichen Anweisung muss jeder, der das Wort »Asyl« benutzt, aufgenommen werden. Egal mit welchem Status, egal ob mit Einreisesperre, egal ob kriminell, egal ob bereits registriert – folgt man Seehofers Analyse zur Abstellung der Probleme, wurde seit 2015 offenbar niemand an den deutschen Grenzen zurückgewiesen, und jeder konnte nach Belieben neue Asylanträge stellen. Damit ging das ganze Prozedere von vorn los. Lächerlicher kann sich ein Staat kaum machen. Dabei hatte es erst wenige Wochen vor der Sommerkrise einen heftigen BAMF-Skandal gegeben. Tausende Asylanträge wurden unrechtmäßig bewilligt, doch damals konnte die Erschütterung noch halbwegs von der Kanzlerin ferngehalten werden, als Bauernopfer wurde die BAMF-Chefin entlassen. Doch die Junikrise war etwas anderes. Seehofers Vorschläge zur Abstellung der Missstände machten klar – die Lage ist weitaus dramatischer als der BAMF-Skandal. In den entscheidenden zwei Wochen des Sommers 2018 kämpft Merkel deshalb ernsthaft um ihr politisches Überleben. Es werden harte Wochen für die Kanzlerin, ARD und ZDF leisten Schützenhilfe. Merkel hetzt von einer Sendung zur nächsten, »Anne Will«, »Das Sommerinterview, »Farbe bekennen«, dazu kommen mehrere Regierungserklärungen. Nach zwei Wochen Medientour kann jeder deutsche Fernsehzuschauer Merkels Vorstellungen zur Rolle Deutschlands mitsprechen: »Niemals unilateral – immer multilateral. Niemals national – immer europäisch. Niemals zulasten Dritter – immer im Konsens.« Viele Bürger haben den Eindruck, dass es für Deutschland nicht legitim ist, eigene Interessen zu vertreten. Die Kernaufträge einer Kanzlerin, zum Wohle des Volkes, Nutzen mehren, Schaden abwenden, Gesetze achten, scheinen schön und gut, aber hört man Merkel zu, »nie zulasten Dritter«. Zudem rutscht der Kanzlerin in der Generaldebatte im Deutschen Bundestag ein Satz heraus, der viele Journalisten beunruhigt: »Es muss mehr Ordnung in alle Formen von Migration kommen, damit Menschen den Eindruck haben, Recht und Ordnung werden durchgesetzt.« Ist dieser Satz womöglich ungewollt ehrlich? Kann es Merkel denn reichen, wenn Menschen nur den Eindruck haben, Recht und Ordnung würden durchgesetzt? Immer mehr Bürger sind von Merkels Hybris dermaßen irritiert, dass sie nach politischen Alternativen für Deutschland suchen, denn Globalität hin und gute Nachbarschaft her, auf viele Menschen wirkt Merkels Staatspolitik devot. Ein Eindruck, der sich im europäischen Vergleich nur noch verschärft, denn hier vertreten mittlerweile alle Nachbarn mit Nachdruck ihre eigenen Interessen. Dass eine Partei, die sich »Germany first« auf die Fahnen geschrieben hat, dramatisch schrumpfen würde, wenn diese Kanzlerin ginge, ist daher sehr wahrscheinlich. Viele Politologen glauben, der größte Gefallen, den die CDU der AfD derzeit tut, ist, an dieser Kanzlerin festzuhalten. Dabei hat Merkel den Kern der Kritik gegen sie durchaus verstanden: ihren Alleingang 2015, ohne die Abstimmung mit den europäischen Nachbarn. Doch 2018 gibt es einen bösen Widerspruch zu ihrer eigenen Losung. Ihrem eigenen Mantra der Multilateralität folgend, baut Merkel in den diversen TV-Sendungen und in der Regierungserklärung vom 28.6.2018 deshalb die Legende auf, bereits ihre damalige Entscheidung sei in Abstimmung und multilateral getroffen worden. Der Hauptstadtjournalist Robin Alexander, der die Vorgänge von 2015 minutiös beschrieben hat, kommentiert ihren Versuch mit den Worten: »Man kann jede einzelne oder auch alle ihrer Entscheidungen für richtig halten und auch die gesamte Flüchtlingspolitik Merkels für vernünftig. Aber die Geschichte von der europäisch abgestimmten Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ist eine Heiligenlegende, die man sich unter Demokraten nicht zumuten sollte.«12

Auf jeden Fall wird die Kanzlerin in ihrem Beharren, die Grenzen auf der Basis einer höchst umstrittenen Ausnahmeregelung offen zu halten, im Sommer 2018 am besten von den Grünen und der SPD verstanden. Dabei gestehen die Grünen überraschend offen zu, dass Seehofer juristisch gesehen im Recht gewesen wäre. So schreibt der Stuttgarter Oberbürgermeister Boris Palmer: »Es gibt keinen Paragraphen eines Gesetz und keinen Artikel des Grundgesetzes, den Horst Seehofer verletzt. […] Es ist eher so, dass man in Erklärungsnöte gerät, wenn man juristisch begründen soll, warum Asylbewerber, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, also fast alle, überhaupt einreisen dürfen. Im Grundgesetz steht eindeutig, dass diese Personen keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland haben, sondern einen Antrag im Einreiseland der EU stellen müssen. Und im Aufenthaltsgesetz steht im Indikativ, dass Personen, die unerlaubt einreisen, zurückgewiesen werden.«13 Und selbst der Grünen-Chef Robert Habeck twittert am 19.6.2018: »Mit Verlaub, die @CSU schlägt geltendes Recht vor. Siehe Screenshot [vom Einreise- und Aufenthaltsgesetz]. Der Effekt solcher Aktionen ist aber, Verunsicherung, Angst und zerstörtes Vertrauen. Eigentlich unter dem Niveau eines Innenministers. #Unionsstreit.« Die Kommentare des grünen Führungspersonals zeigen zweifellos, dass die Grünen das geltende Recht sehr wohl verstanden haben. Trotzdem ist die Partei offensichtlich der Meinung, man kann und sollte es moralisch übergehen. Wer heutzutage auf das geltende EU-Recht und das Grundgesetz verweist, wie diverse Politiker, Innenminister Seehofer und etliche Verfassungsrechtler, ist ein reaktionärer Spießer und würde nur »Vertrauen zerstören und Ängste fördern«. Nach Ansicht der Grünen sollte man zur Beruhigung der Bürger beim Rechtsbruch und damit bei der unkontrollierten Zuwanderung bleiben.

Mit dieser Haltung zeigt die Krise vom Sommer 2018 exemplarisch die Kernproblematik der Wiedergutmacher. Den einzelnen Facetten dieses Problems werden wir in diesem Buch immer wieder begegnen: Erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte werden verbindliche Rechtsnormen und ausgehandelte Ordnungsprinzipien, die Basis jeder Demokratie, von Eliten in Politik und Medien moralisch überschrieben. Wiedergutmacher sind in der Regel sehr intelligent, natürlich kennen sie das Recht, dennoch haben sie die Hybris und den Glauben, es übergehen zu können, besser, übergehen zu müssen. Hierbei nehmen Eliten das natürliche Rechts- und Wahrheitsempfinden der einfachen Bürger nicht wirklich ernst, was zur massiven Spaltung der Gesellschaft führt.

Auf jeden Fall blieben die Anstrengungen der Pro-Merkel-Leitmedien nicht ohne Wirkung. Die Grundbotschaften, Seehofer agiere vollkommen verantwortungslos und nur Merkel handele vernünftig, wurden schließlich doch noch gelernt. Nach 14 Tagen Medienmarathon zeigt die Meinungslage ein Remis. Wenige Tage nach der Krise stürzt Seehofer sogar in der Beliebtheitsskala um ganze 16 Punkte ab, ein Erdrutsch. Die CSU ist geschwächt, die Kanzlerin konnte sich noch einmal retten. Murrend rafft man sich zu einem faulen Formelkompromiss auf, den jede Seite natürlich als großen Erfolg ausgibt. Doch auf eines beharrte die Kanzlerin während der gesamten Krise: Flüchtlinge verlassen dieses Land nur im Konsens mit all unseren Nachbarn, nie zulasten Dritter und nur nach bilateralen Verhandlungen. Also so gut wie nie. Christian Lindner von der FDP kommentiert den Kompromiss: »Ich glaube, im Bundeskanzleramt biegen die sich vor Lachen, Herr Seehofer«, dann weist er auf obige Tatsache hin, Rücknahmen nur in Absprache mit den Nachbarn. Die Pointe: Der Schwarze Peter, die Verantwortung für das Gelingen der bilateralen Absprachen, landet nun bei Seehofer. Er allein soll zukünftig für diese Absprachen verantwortlich sein. Wenige Tage später hat die Realität Seehofer wieder. Sämtliche seiner Vorstellungen zur Zurückweisung an der österreichischen Grenze waren sturznaiv. In einer Pressekonferenz mit Kanzler Kurz klingt der Bayerische Löwe inzwischen wie ein Lämmchen: »Nicht zulasten Österreichs.« Darauf twittert der Merkel-Getreue Armin Laschet am 5.7.2018 entnervt: »Exakt für diese Haltung – ›Nicht einseitig zurückweisen, nichts zulasten der Nachbarn‹ wurde die @CDU und die Bundeskanzlerin über 4 Wochen massiv kritisiert. Wir hätten uns viel Streit ersparen können.« Trotzdem gesteht die Einigung Seehofer offenbar etwas mehr Handlungsspielraum an der bayerisch-österreichischen Grenze zu. Eigentlich fast komisch. Obwohl Seehofer ein Bundesminister ist, darf er die Geschicke auf Landesebene in besonderer Weise regeln, für die eigentlich sein Kollege Joachim Herrmann zuständig wäre. Viel deutlicher kann man einen Bundesminister kaum an die Leine legen.

Derweil hat sich ein neuer Trend entwickelt: Aus Dänemark und Schweden kommen immer mehr Flüchtende zurück nach Deutschland. Einigen gefällt es im hohen Norden nicht mehr, weil die Nordländer die Bedingungen für den Aufenthalt geändert haben. Bei anderen wurde der Asylantrag inzwischen abgelehnt, doch solange sich Seehofer nicht durchsetzt, kann man ja kurzerhand einen neuen Antrag in Deutschland stellen. Über ebendiesen Effekt haben sich Polen und Tschechen schon länger amüsiert. Aus diesem Grund haben östliche Länder vor etwaigen EU-Verteilungsquoten, Merkels Lieblingsthema, auch nur bedingt Respekt. Im Osten ist man sich sicher, sofern man zwangsverteilte Zuwanderer nicht in gefängnisähnlichen Einrichtungen unterbringen würde, was keiner will, wären sie keine 24 Stunden später ohnehin wieder in Deutschland. Denn in der Hochburg der Wiedergutmacher will man von den Erkenntnissen der Schweden und Dänen – mehr Sachleistungen, weniger Geld – bislang noch nichts wissen. Auf jeden Fall bleiben zukünftige Spannungen zwischen Merkel und Seehofer nicht aus, die Berliner Koalitionsfamilie konstatiert: Die Ehe ist zerrüttet, aber den Kindern zuliebe bleibt man trotzdem zusammen. Wie lange noch, kann keiner sagen. Das kurze Zwischenspiel mit der SPD hat dann keiner mehr so richtig ernst genommen; Andrea Nahles gibt zwar vorsorglich noch ein Mini-Veto zu den Vereinbarungen ab, doch nach drei Tagen ist das Geziere vorbei. Zwischenzeitlich sahen die Grünen natürlich noch den unausweichlichen Rechtsruck kommen. Sie waren vermutlich die Einzigen, die auf die Finte hereingefallen waren, es würde knallharte Ankerzentren geben, und Seehofer hätte sich durchgesetzt. Am 2. Juli twittert eine erboste Annalena Baerbock: »Einen Innenminister zu halten, der sein Amt für CSU-Rechtsruck missbraucht, ist kaum zu ertragen. Wer als Schmiermittel dafür Internierungslager einrichtet, verabschiedet sich vom Wertekompass unseres Landes. […]« In den Tagen nach der Krise echauffiert sich dann noch ein erkennbar enttäuschter Grünen-Chef Robert Habeck bei Sandra Maischberger und im Sommerinterview. Er hatte offenbar auf einen großen Befreiungsschlag gehofft, der finale Knall zwischen CDU und CSU hätte den Grünen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Nun wettert Habeck, über kurz oder lang müsse sich die CDU so oder so von ihrer fürchterlichen, rechten und europafeindlichen Schwester trennen. Natürlich sehnen die Grünen diesen Tag herbei. In einer von allem Übel gereinigten Traumkoalition aus CDU, Grünen und SPD wäre der Weg in die multikulturelle Gesellschaft endgültig frei.

Doch so, nach Einigung zwischen CDU/CSU, bleiben die Grünen außen vor, und nach wenigen Tagen ist auch das letzte Gezänk mit der SPD vorbei; die Koalition einigt sich auf eine gemeinsame Asylpolitik. Am 5.7.2018 kommt die erlösende Meldung der Tagesschau: »Asylstreit beendet – keine ›Transitzentren‹, keine Lager, keine Zurückweisungen, keine nationalen Alleingänge – die Spitzen von CDU, CSU und SPD haben sich auf ein neues Asylpaket geeinigt.« Aber – geeinigt? Man könnte auch einfach sagen, Angela Merkel hat sich durchgesetzt. Sie bleibt Kanzlerin, und das Sommermärchen von 2015 geht in die Verlängerung. Vorerst. In einer bemerkenswerten Operation hat Merkels Spezialteam aus Wiedergutmachern den Kunstgriff noch einmal hinbekommen. Die komplizierte Doppel-OP dauerte gut zwei Wochen. Auf einem OP-Tisch konnte Angela Merkel erfolgreich geliftet werden. Auf dem anderen Tisch wurde Seehofers Zahn, die Rückkehr zu mehr Kontrolle an den deutschen Grenzen, unter Schmerzen extrahiert. Während der Vollnarkose hat das OP-Team präventiv auch Seehofers Testikel entfernt, doch die Komplikationen könnten immer noch zum Kreislaufkollaps des Ministers führen.

Dabei war die Regierungskrise vom Sommer 2018 vor allem eines: eine beeindruckende Demonstration der realen medialen Kräfteverhältnisse. Waren zu Beginn der Krise 80 Prozent der Bürger klar für Seehofer, plädierten danach 80 Prozent für seinen Rücktritt. Den Pro-Merkel-Meinungsmachern ist es in nur zwei Wochen gelungen, die Volksmeinung in einer so zentralen Frage wie der Zuwanderung um 180 Grad zu drehen. Doch das OP-Team gibt keineswegs Ruhe, nach diversen kleinen Nachoperationen erinnert Horst Seehofer inzwischen an Frankensteins Monster. Mit Nähten und Narben am Kopf taumelt der Riese noch eine Weile als »unchristlich, ohne Anstand und untragbar« durch die Leitmedien. Natürlich hat Seehofer recht, wenn er nach der Krise feststellt: »Jeder, der es sehen will, sieht, dass eine Kampagne gefahren wird.«14 Nützen wird ihm diese Erkenntnis wenig. Meinungsmacher gleichen einer Meute, die erst Ruhe gibt, wenn der Fuchs tot ist. Trotz alledem sind derartig mediale Operationen hochgradig ausgepreist, denn leider bekommt das Spezialistenteam inzwischen kaum noch mit, was außerhalb des Operationsraums geschieht. Wenige Tage nach der Krise macht die AfD einen sensationellen Sprung von 13 auf 17 Prozent, während die SPD auf 17 Prozent fällt. Eine alte Volkspartei geht, eine neue kommt. Alice Weidel twittert am 8.7.2018 höhnisch: »Rekordwerte für die AfD, Emnid 17 Prozent. Danke Angela! Sei auch Du wie Angela: Engagiere Dich für die AfD! […]« Noch ein oder zwei Not-OPs dieser Art, und es könnte sein, dass die Wiedergutmacher ihre Königin vom OP-Tisch auf die Totenbahre legen müssen. Bereits in diesem Konflikt war das mögliche Ende der Kanzlerschaft Merkels überaus nah. Ursula von der Leyen wird später kommentieren: »Wir haben in den Abgrund geschaut.« So ist es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Angela Merkel bereits Geschichte ist, wenn Sie dieses Buch lesen. Doch damit hätten sich die folgenden Seiten keineswegs überholt. Dies ist kein Buch über Angela Merkel, es geht um Wichtigeres. Die »mächtigste Frau der Welt« hat ihre Macht nur, weil sie ihr von einem ganz bestimmten Babyboomer-Typus in Medien, Politik und Kultur verliehen wird. Und dieser Typus wird unsere Gesellschaft auch lange Zeit nach der Ära Merkel prägen.

Die Causa

Angela Merkels historische Entscheidung vom Sommer 2015 setzte die deutsche Gesellschaft unter Strom. Die Elektrisierung führte zu einer gnadenlosen Elektrolyse der Bevölkerung, zunächst in Deutschland und wenig später in ganz Europa. Bei solch einem elektrochemischen Prozess wandern alle geladenen Teilchen – in diesem Fall Meinungen – fein säuberlich an ihre Pole. Deutschland ist seither politisiert und polarisiert wie seit der Weimarer Republik nicht mehr.

»Es ist eine umstrittene Entscheidung, die das Land spalten wird und noch immer spaltet, der Riss geht durch Familien, Vereine, Betriebe, Redaktionen: Wie viel Zuwanderung halten wir aus? Woher kommen die Menschen, die wir aufnehmen? Sind potenzielle Attentäter darunter? Wie steht es um unsere Sicherheit? Vor allem aber: Hat Angela Merkel die Menschen dazu ermuntert, zu uns zu kommen – oder wären sie ohnehin gekommen? Es ist eine historische Entscheidung, weil sie die Geschichte teilt, in ein Vorher und ein Nachher. Jene drei Tage Anfang September 2015, die man schon kurze Zeit später als ›Merkels Grenzöffnung‹ bezeichnen wird und als ›zweiten Mauerfall‹.«15

Wie einst Mose das Meer, teilten über eine Million Zuwanderer Deutschland in zwei geistige Bürgerkriegsparteien. Und während die einen den kleinen Waffenschein beantragten, verteilten die anderen Teddys und alte Jogginghosen. Mittlerweile macht man auf beiden Seiten keine Gefangenen mehr. Wer anmahnt, dass eine weitere unkontrollierte Zuwanderung die deutsche Gesellschaft ökonomisch, sozial, kulturell und sicherheitspolitisch überfordern könnte, wird von den Kämpfern für Multikulturalität als Neurechter, Fremdenfeind oder Rassist geächtet. Im Gegenzug verunglimpfen konservative Mahner jede auch noch so achtenswerte Leistung der Helfer für tatsächliche Kriegsflüchtlinge als naives, unrealistisches Gutmenschentum. Für die einen hat die Bundeskanzlerin mit einer historischen Willkommensgeste endgültig bewiesen, dass Deutschland seine dunkle Vergangenheit bewältigt hat. Eine Großtat, die den Friedensnobelpreis verdient. Für andere hat Angela Merkel ohne Not die Stabilität der deutschen Gesellschaft zerstört und damit eklatant gegen ihren Amtseid verstoßen. Ein Verrat, der verfassungsrechtliche Konsequenzen erfordert. Dass die schlichteren Gemüter beider Seiten in den Gassen entweder Merkel-Galgenmännchen in die Luft halten oder im Gegenzug Autos mit AfD-Aufkleber anzünden, ist dramatisch und schlimm. Parteilichkeit und gnadenlosen Populismus in Politik, Medien und Kultur empfinde ich jedoch als das weitaus größere Problem. Dieses Buch fragt nach der persönlichen Reife und Bewusstheit deutscher Eliten. Für immer mehr Autoren des psychologisch-politischen Spektrums mehren sich die Anzeichen, dass sich viele Akteure in Politik und Medien in einem unbewussten Traumaschatten der Geschichte bewegen, in dem sie historisch bedingte Muster von Schuld und Sühne ausagieren. Insbesondere die prägende Generation der Babyboomer fällt durch Übereifer und Aktivismus auf, was nahelegt, dass hier sehr wirkmächtige, innere Affekte berührt werden.

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der größte Teil deutscher Eliten das vorherrschende Narrativ einer globalen, multikulturellen, pazifistischen, ökologischen und weiblichen Gesellschaft bedient und befördert. Dies gilt für weite Teile der Printmedien, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, alle Parteien links der CSU, aber auch für den Kulturbereich wie Theater, bildende Kunst und Literatur. Es gibt viele Bezeichnungen für diese politische Richtung, allen voran »links-progressiv« oder »links-liberal«. Da ich inzwischen beide Zusätze für euphemistisch halte, bevorzuge ich die neutralere Bezeichnung »linksgrün«. Linksgrüne Ideale entwickelten sich in den ideologischen Echokammern deutscher Universitäten und Hochschulen im Nachklang der 68er-Bewegung, befördert durch vergleichbare Entwicklungen in den USA. Amerikanische Studenten protestierten gegen ihren Unterrichtsstoff der philosophischen Aufklärung, mit einem nach ihrer Auffassung Übermaß von Werken »toter, weißer europäischer Männer« (»dead white European males«). Stattdessen verlangten sie eine Erweiterung der Lehrinhalte auf weiblichere, außereuropäische Autoren und schufen Sprachformeln, die auf Minderheiten Rücksicht nahmen. Diese Entwicklung war zugleich die Geburtsstunde der »politisch korrekten Sprache«, auf deren Missbrauch ich später noch zurückkomme. Inzwischen hat die 68er-Generation ihren Marsch durch die Institutionen schon lange erfolgreich absolviert. Als Lehrer, Professoren, Politiker, Journalisten, Herausgeber und Intendanten haben sie dafür gesorgt, dass die Nachfolgegeneration der späten Babyboomer ganz in ihrem politisch korrekten Sinn erzogen werden konnte. Inzwischen genießen die Altachtundsechziger ihren Lebensabend bei einem guten Glas Rotwein und in der wohligen Gewissheit, dass ihre Saat aufgegangen ist.

Das Problem ist bekannt: Selbst wenn die in Teilen charmante Stoßrichtung linksgrüner Ideale ausnahmslos richtig wäre – entspricht sie de facto nicht der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschaft. Gesetzt den Fall, linksgrüne Eliten hätten recht, so hätten sie in einer demokratischen Gesellschaft dennoch die Verantwortung, bevor sie ihre Ideale umsetzen, Bewusstheit und Zustimmung für ihre Weltsicht zu etablieren. Alles andere käme einem Regieren »von oben nach unten« gleich – und ebendiesen Eindruck haben weite Teile der Bevölkerung. Die Schere zwischen intellektueller (Pseudo-)Erkenntnis einerseits und den Grundbedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung andererseits ist ein Grund für die zunehmende Polarisierung. Die Arroganz, Hybris und paternalistische Bevormundung, mit denen linksgrüne Ideale unter einer Kanzlerin Merkel legislativ bindend umgesetzt werden, entwickelt sich zur Zerreißprobe für die deutsche Demokratie. Ohne echte Mehrheiten an der Basis konnten aufgrund des »Glücksfalls« Merkel weite Teile linksgrüner Programmatik in Realpolitik umgesetzt werden: Ausstieg aus der Kernkraft, Zwangsabgaben für Ökostrom, Ausstieg aus Kohle und fossilen Brennstoffen, Subventionen für E-Autos, mögliches Ende des Verbrennungsmotors, Abschaffung der Wehrpflicht, familiengerechtere, »weiblichere« Bundeswehr, Gendermainstreaming, politisch korrekte Umbenennung von Straßen, Plätzen und Museen, Einführung der Geschlechterneutralität, Ehe für alle, Einreise für alle, Abschiebung für nahezu keinen, Internet- und Medienzensur unter den Labeln »rechte Hetze« und »Fake News« u.v.m.

Viele Bürger haben noch gar nicht richtig mitbekommen, dass das deutsche Parlament nicht mehr dasselbe Parlament ist wie noch zu Zeiten der Altkanzler. Unter Angela Merkel haben sich etliche »Neuerungen« eingeschlichen, die inzwischen kaum noch hinterfragt werden. In früheren Zeiten gab es beispielsweise keine Koalitionsverträge mit derartig rigorosem Fraktionszwang. Doch seit der Kanzlerschaft Angela Merkels gehören lebendige Parlamentsdebatten und wechselnde Mehrheiten der Vergangenheit an.

»Dabei machte er [Thomas Oppermann, SPD] gleichzeitig auf die parlamentarische Unsitte des Verbots wechselnder Mehrheiten aufmerksam, das die zulässige Fraktionsdisziplin de facto zum verfassungswidrigen Fraktionszwang werden lässt. Denn wer sich nicht an die Fraktionsdisziplin hält, kann aus der Fraktion entlassen werden oder erhält für die nächste Wahl einen aussichtslosen Listenplatz. […] ›Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen‹, lautet die Vorschrift im Koalitionsvertrag der großen Koalition von 2013. […] Das Zulassen wechselnder Mehrheiten könnte gleichzeitig auch die Debatten im Bundestag wieder spannend machen. Die Abgeordneten müssten einander mit Argumenten überzeugen, um Mehrheiten zu bekommen und Gesetze zu verabschieden. Der Bundestag könnte sein Image als Kanzlerwahl-Verein und Stimmviehstall loswerden, wo jeder nach Vorgabe seines Fraktionschefs abzustimmen hat. Die Abgeordneten könnten ihrer tatsächlichen Rolle nachkommen, die Arbeit der Regierung zu kontrollieren. Diese Kontrolle findet ja derzeit nur noch auf dem Papier statt, weil im grauen Parlamentsalltag der Ära Merkel die Koalitionsfraktionen die Regierung bedingungslos unterstützen.«16

Zu Recht bemängelt Til Knipper im Tagesspiegel, wir hätten ein mehr oder weniger unterfordertes Parlament, das zu einem »Kanzlerwahl-Verein« verkommt. Doch damit das Parlament nicht vollends murrt, wird es durch allerlei Vergünstigungen befriedet. So hat sich allein die Zahl der begehrten und lukrativen Posten der Staatssekretäre unter Merkel verdreifacht, eine Unsumme an Mehrausgaben für den Steuerzahler – bei sehr umstrittenem Nutzen für die Demokratie. Doch wie erwartet, entwickeln sich um die fetten Pöstchen befriedete Soziotope, die erst einmal Ruhe geben. Dabei wird die Frage, warum Angela Merkel plötzlich so »links« geworden ist, recht kontrovers diskutiert. Für die einen hatte Merkel noch nie eine wirkliche Agenda. Ich war lange geneigt, dieser Ansicht zuzustimmen. Auf YouTube kann man Video-Zusammenschnitte mit Merkels Kernpositionen seit 2002 ansehen. Die über die Jahre mit Überzeugung und Pathos dargelegten Positionen gegenteiliger Aussagen, von ein und derselben Person vorgetragen, wirken in der direkten Abfolge vollkommen grotesk. Im Gegensatz zu Altkanzler Schröder, der tatsächlich Ziele verfolgte und dafür sogar abgewählt wurde, vertrat Merkel in Wirklichkeit kaum einmal stringente Positionen. Inzwischen ist ihre Strategie recht offensichtlich, in der Regel entscheidet die Bundeskanzlerin weder zielführend noch schnell. Machterhalt über Jahrzehnte erfordert eine gewisse Geschmeidigkeit – Stringenz und Überzeugungen sind dafür eher hinderlich. Angela Merkel wird allgemein ein sicherer Instinkt bescheinigt, wenn es darum geht, Macht zu erhalten. Dafür werden notfalls sogar ehemalige Parteifreunde und Gönner geopfert, unpopuläre Positionen geräumt und neue Allianzen geschmiedet. Eine dafür wichtige Technik: Die Kanzlerin wartet ab, woher der mediale Wind weht und wie sich danach die Volksmeinung entwickelt. Dann schlägt sie sich in letzter Minute auf die Seite der Mehrheit – selbst wenn sie dafür komplette Kehrtwenden in Kauf nehmen muss. Den Grund, warum Merkels finale Entscheidungen schlussendlich linkslastig ausfallen, sehen viele in der Beschaffenheit der Medienlandschaft. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Journalisten denkt linksgrün und propagiert entsprechende Ideale. Würde das deutsche Parlament nur von Journalisten gewählt, hätte es eine rot-rot-grüne Mehrheit von ca. 85 Prozent. »Dem bürgerlichen Lager neigen also gerade mal 15 Prozent der in Deutschland arbeitenden Journalisten zu.«17

Längere Zeit schaukelten sich Medien und Regierung in großer Einigkeit auf. Noch nie waren etablierte Medien ihrer Kernaufgabe als kritische vierte Gewalt weniger nachgekommen als 2015/16. Als es linken Kräften schließlich dämmerte, dass man mit der sicheren Medienhoheit die gewünschte Stoßrichtung einfach vorgeben konnte, war die Freude übergroß. Nach entsprechenden Kampagnen und mit etwas Beharrlichkeit zog die Kanzlerin nach, et voilà – linksgrüne Ideale waren beschlossene Sache. In Bezug auf die Zuwanderung sogar gegen geltendes Recht. Noch vor 12 Jahren hätte sich kein Linksgrüner träumen lassen, dass sich über diesen Mechanismus das komplette Wahlprogramm in Realpolitik umwandeln ließe.

Merkels Methode war unter anderem auch deshalb so lange möglich, weil sich große Teile der politischen Mitte vom konservativen CDU-Schildchen der Kanzlerin blenden ließen. Doch langsam entlarvt sich der Etikettenschwindel mehr und mehr. Peter Tauber, ehemaliger Generalsekretär der CDU, spricht aus, was innerparteiliche Häretiker gegen eine kryptogrüne Kanzlerin erwartet: »Wer nicht für Merkel ist, ist ein Arschloch!«18. Über kurz oder lang mussten die so Betitelten gehen. Der konservative Flügel und damit ein wichtiger Markenkern der CDU brach weg. Doch die innerparteiliche »Reinigung« von lang gedienten konservativen Mitgliedern erwies sich als Pyrrhussieg. »Arschlöcher« wie Alexander Gauland, Albrecht Glaser oder Erika Steinbach geben nicht einfach Ruhe. Auferstanden in der AfD, rauben sie Merkels Getreuen heute den Schlaf.

Mit dem fulminanten Aufstieg der Kanzlerin, gefördert von den 68er-Zöglingen in Politik und Medien, wurden die Zerrbilder von Angela Merkel als Person immer bizarrer. Irgendwann grassierte der Mythos einer vorsätzlich durchtriebenen Politikerin, die als ehemalige FDJ-Funktionärin von jeher »Böses« mit Deutschland im Sinn hatte. Einige Kritiker wollten im Handeln der Kanzlerin gar die »zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution« wiedererkennen, eine marxistisch-leninistische Strategie zum schleichenden Gesellschaftsumbau. Folgt man Politik-Insidern wie Vera Lengsfeld,19 ist Angela Merkel über den demokratischen Aufbruch in den Wirren der Wendezeit als eine Art Unfall in die CDU gerutscht, eine Partei, die sie in Wahrheit nie mochte. Insgeheim sei Merkel schon immer eine verkappte Linksgrüne gewesen, welche die Partei von innen her aufgerollt habe. Nach und nach hätte sie die Partei zu einer schwarz getarnten, in Wahrheit jedoch grünen Partei gemacht, die mit der alten CDU nur noch den Namen gemein habe. Schon früh sei Merkels eigentlicher Wunschpartner die Partei der Grünen gewesen. Aus diesem Grund hätte die Kanzlerin auch den unnötigen und überhasteten Atomausstieg vollzogen, der die CDU erst in die Nähe der Grünen als möglichen Partner gebracht hat.

Wie dem auch sei – obwohl ich persönlich eher der Interpretation von Merkel als opportunistische Machtfrau zuneige – und nicht der Variante eines linken U-Bootes –, möchte ich doch auf den Kern meiner These kommen. Anstatt Merkel als Person zu dämonisieren, wie dies Teile der AfD und andere konservative Kräfte tun, finde ich andere Aspekte wichtiger. Regierungschefs sind nicht nur das, was sie als reale Personen sind, sondern vielmehr das, was das Kollektiv und das Amt aus ihnen gemacht haben. Die Frage ist und bleibt: Warum konnte Angela Merkel ihre politischen 180-Grad-Wendungen so lange überleben? Ungestraft hat sie fast alle ehemaligen Kernpositionen gedreht, zudem hat sie gröbste Fehlentscheidungen und das stärkste Schrumpfen ihrer Partei seit 1949 zu verantworten. Trotz alledem erkennt sie keine Fehler in ihrer Politik und verkauft im Nachhinein alle Entscheidungen glaubhaft als alternativlos. Jeder männliche Bundeskanzler hätte für eine derartig ignorante und selbstgerechte Haltung bereits dreimal seinen Hut nehmen müssen – nicht so Angela Merkel. Mittlerweile reiben sich selbst linke Autoren wie Jakob Augstein verwundert die Augen, »Merkel erinnert inzwischen an die Insekten, die sogar noch den Atomkrieg überleben. Sie bleibt einfach immer übrig.«20 Allgemein spricht man von der »Teflon-Kanzlerin«, bei der auch größte Verfehlungen keine politischen Konsequenzen haben. Vielleicht ist es an der Zeit, den Blick von Merkel zu lösen und sich stattdessen endlich zu fragen, welche Kräfte Merkel tatsächlich tragen. Nach wie vor leben wir in einer männlich dominierten Gesellschaft. Was sind das also für Männer, die eine kinderlose Frau zur »Mutti« der Nation stilisierten – eine regressiv-kollektive Projektion sondergleichen? Nicht durch Zufall entsteht innerhalb der CDU die größte Reibung mit der Generation der vor 1955 geborenen, also den etwas älteren Männern, die entweder die Partei verlassen oder mit der Faust in der Tasche auf bessere Zeiten warten. Die noch älteren Männer, also die Generation der heute über 80-Jährigen, sind entweder tot, im Pflegeheim oder komplett fassungslos. Es wäre eine überaus spannende Sache, wenn Männer wie Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Peter Scholl-Latour oder Arnulf Baring heute noch zur aktuellen Lage Stellung nehmen könnten. Doch da ist fast keiner mehr. Letzte Mohikaner, wie Rupert Scholz, Hans-Olaf Henkel oder Joachim Starbatty, führen mit ihren schwindenden Kräften längst verlorene Schlachten in Zweit- und Drittkanälen wie N24. Hier beklagen sie die mannigfaltigen Rechts- und Verfassungsbrüche durch die Bundesregierung, doch in heutigen Zeiten wirken sie eher wie die alten Grantler aus der Muppet-Show-Loge. Merkel hat es heute leicht, denn getragen wird sie von einer anderen Generation: den Babyboomern. Sie stellen die heutigen Eliten und zeigen eine geradezu unnatürliche Beißhemmung gegen die große Staatsmutter.

Babyboomer-Männer sind die erste Generation der wohlerzogenen Männer. In der Blüte der Feminismusbewegung groß geworden, lernten die netten Typen, wie man es richtig macht, sogar im Bett. Die egoistischen, ignoranten Väter noch vor Augen, wollte ja keiner als Macho gelten. Selbst wenn maskuline Rauschebärte noch so modern sind – niemand will heute mehr ein »testosterongesteuerter Mann« sein. Einmal mehr entlarvt sich der Irrsinn der Realitätsverleugnung. Denn was sollten Männer bitte sonst sein als testosterongesteuert? Natürlich gibt es sie, die östrogengesteuerten Männer. Dies ist allerdings immer nur ein Übergangsstadium. Den Betroffenen schrumpft der Penis, und es wachsen Brüste; der Rest lässt sich chirurgisch lösen.

Viele Jahre später, als Fünfzigjährige, buchten Babyboomer-Männer dann klammheimlich Schwitzhütten-Seminare, in denen sie nach ihrer verlorenen Männlichkeit suchten, oder sie verschlangen Bestseller mit dem vielsagenden Titel: »Nie mehr Mr. Nice Guy: Wie Sie als Mann bekommen, was Sie wollen – im Leben, in der Liebe und beim Sex«21. Viele Psychologen gehen davon aus, dass es bei dieser Generation aus unterschiedlichen Gründen zu einer engen Mutterbindung kam, doch dazu später mehr. Dass das Phänomen Merkel tatsächlich an einer Infantilisierung der männlichen Eliten und der Bevölkerung insgesamt liegen könnte, wird nur zögerlich erkannt. Die kollektive Zuschreibung, in der Bundeskanzlerin die »Mutter der Nation« zu sehen, ermöglichte Angela Merkel jedenfalls ungesunde Machtspielräume, welche die jahrzehntelange Balance der deutschen Nachkriegsdemokratie ernsthaft ins Wanken brachte. Mutters beste Söhne, die Taubers und Altmeiers, machen es mit ihrer Freund-Feind-Kennung natürlich nicht besser. Ihr Motto: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« ist zwar christlichem Vokabular entnommen (Matthäus 12, 30), war zugleich aber unverkennbar auch die Devise der Nazis. Derartige Sprüche führen geradewegs in die Polarisierung, und auch diesmal wurde eine jahrzehntelang stabile politische Mitte bis zur Unkenntlichkeit zerrieben.

Als dieses Buches entstand, hat sich Angela Merkel noch einmal mit Ach und Krach in eine Koalition der Wahlverlierer gerettet. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie viel lieber mit den Grünen koaliert hätte als mit der SPD. Dafür hätte sie sogar die Kröte FDP geschluckt, doch dank Christan Lindner kam es anders, und Merkel wurde zum Kniefall vor der SPD gezwungen. Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahes hat es sichtlich genossen: »Sie haben gedacht, sie brauchen uns nicht mehr, aber die SPD wird gebraucht, bätschi sage ich dazu!« Abgesehen davon, dass Nahles’ Vokabular mit »Ätschi-bätschi«, »Sesselfurzer« und »in die Fresse«22 ein weiterer Beleg für die Infantilität ihrer Generation ist, ließ sich die SPD ihren Selbstmord natürlich vergolden. Merkel räumte für ihren Machterhalt sogar noch die letzten konservativen Positionen der CDU, zudem verschenkte sie den Löwenanteil der Ministerämter an die SPD. Die alte CDU gibt es nicht mehr, nur noch die alte Kanzlerin. Politische Analysten spekulieren darüber, ob Merkels Koalition, die zum Zeitpunkt der Regierungsbildung keine reale Mehrheit hat, eine ganze Legislaturperiode durchhält. Die Sommerkrise von 2018 hat gezeigt, auf welch dünnem Eis die Koalition steht. Doch selbst wenn Merkels Amtszeit vorzeitig endet, ist es sehr wahrscheinlich, dass eine Politik in ihrem Sinne fortgeführt wird. Ich wage die Prognose, dass moralische Allianzen in Politik und Medien noch längere Zeit eine stabile Mehrheit haben werden, auch ohne Angela Merkel. Viel wichtiger ist doch die Frage: Wie ist es um den Reifegrad einer Gesellschaft bestellt, wenn politischer Opportunismus, Paternalismus und Gesinnungsethik derart lange geduldet werden?

Eliten im Traumaschatten

Was hat zu dieser dramatischen Polarisierung der deutschen Gesellschaft innerhalb so kurzer Zeit geführt? Viele Autoren sind der Meinung, die Gründe seien in einer weltweiten Entwicklung zu suchen, bei der die »abgehängten, besorgten Bürger« dem Tempo der Globalisierung und Digitalisierung nicht standhalten können. Sind nicht allerorten in der westlichen Welt dieselben trennenden Kräfte am Werk? Um nur die USA, England, Frankreich, Kanada und Australien zu nennen – überall in der westlichen Welt polarisiert und verschärft sich das demokratische Spektrum. Doch abgesehen von diesen allgemein geltenden Mechanismen in der westlichen Welt wagt dieses Buch die These, dass die Gründe für die Polarisierung in Deutschland Spezifika aufweisen, die gesondert betrachtet werden müssen. Deutschland ist kein Land wie jedes andere. Historisch nicht, geografisch nicht und schon gar nicht, wenn man die aktuellsten Entwicklungen bezüglich der Flüchtlingskrise bedenkt. Deutsche Sonderwege, im Bösen wie im Guten, sind schon ziemlich einzigartig. Zudem ist Deutschland, neben Korea, das einzige Land, dessen Volk über Jahrzehnte getrennt und in zwei konkurrierenden politischen Ideologien gelebt hat. Allein die Zeit des Kalten Krieges hat aus »den Deutschen« offensichtlich unterschiedliche Menschen geformt.

Schaut man sich die Entscheider und Protagonisten der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland näher an, stößt man unweigerlich auf die Generation der Babyboomer. An den Schaltstellen der Macht, politisch, medial und kulturell, sitzen die Geburtenjahrgänge von 1955 bis 1970. Ich gehöre selbst dazu und bin als Autor und bildender Künstler ein Vertreter des kulturellen Flügels. Im ersten Teil dieses Buches möchte ich die Besonderheiten meiner Generation skizzieren, die sich gegenüber Amerikanern, Briten, Franzosen und vielen anderen westlichen Demokratien doch erheblich unterscheidet. Denn nicht nur die viel beschriebene Schuld und Täterschaft der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges ist einzigartig, sondern gemessen am Rückbranden des Kriegsgeschehens auf deutschen Boden hat auch die deutsche Bevölkerung im Vergleich zu anderen westlichen Staaten eine ungleich höhere Zahl persönlicher und struktureller Schäden zu beklagen. Während die zivilen Toten der Staaten aus Übersee naturgemäß gegen null gehen, beklagt Deutschland allein 1,2 Millionen tote Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Doch zunächst ein Vergleich der absoluten Kriegstoten einiger westlicher Nationen, Zahlen die betroffen machen: USA: 400000, Frankreich: 360000, Großbritannien: 330000, Kanada: 40000, Australien: 30000, Deutschland jedoch: 6,4 Mio. Tote. Hinzu kommt das kollektive Trauma durch den Heimatverlust von 12–14 Mio. Deutschen, die gewaltsam aus den ostdeutschen Gebieten vertrieben wurden. Vor allem Frauen, Kinder und Greise erlebten auf ihrer überstürzten Flucht im Winter 1945 die Hölle. Zu den über 6 Mio. Kriegstoten und den 12 Mio. Vertriebenen kommen noch einmal 2 Mio. deutsche Frauen und junge Mädchen hinzu, die von der systematischen Massenvergewaltigung durch russische Soldaten betroffen waren. Mir ist bewusst, dass allein das Erwähnen deutscher Opferzahlen vielerorts Entrüstung auslöst und in der Regel reflexartig der Satz folgt: »Ja – aber was willst du damit eigentlich sagen! Deutschland hat doch den Krieg angefangen!« Selbstverständlich. Das Benennen von Tatsachen ist keineswegs mit dem Vorsatz verbunden, deutsche Schuld zu relativieren, Opferzahlen aufzurechnen oder Verbrechen zu leugnen. Natürlich lernt jeder deutsche Grundschüler, dass Deutschland in Bezug auf den Holocaust und Russland noch ganz andere Zahlen zu verantworten hat, nämlich 6 Mio. getötete Juden und unfassbare 26 Mio. Tote auf dem Gebiet der heutigen Sowjetunion. Mir geht es an dieser Stelle nicht um Aufrechnungen, Schuld, Verantwortung oder Gerechtigkeit. Die Debatte über »verdienten« oder nicht verdienten Schaden an der deutschen Bevölkerung, über die Kollektivschuldthese und andere moralische Bewertungen möchte ich an dieser Stelle überhaupt nicht führen. Mir geht es schlichtweg darum aufzuzeigen, dass bei der Generation der deutschen Babyboomer – im Vergleich zu anderen westlichen Staaten – eine statistisch ungleich höhere Wahrscheinlichkeit besteht, aus einer durch Gewalt vorbelasteten Familie zu kommen. In den USA, England oder Frankreich gibt es diese nahezu flächendeckende persönliche Betroffenheit durch Täter- oder Opferschaft de facto nicht. Denn rechnet man obige Zahlen der persönlich betroffenen Deutschen hoch, so gibt es in nahezu jeder deutschen Familie wenigstens ein Familienmitglied, das getötet, verwundet oder vergewaltigt wurde. Zudem ist ja völlig klar, dass es innerhalb der betroffenen Generation eine kaum zu bemessende Anzahl geleugneter Täterschaft gibt, das heißt, eine saubere Trennlinie zwischen »Opfern« und »Tätern« lässt sich in einem Gewaltraum so gut wie niemals ziehen. Deutschland bis 1945 als ebendiesen Gewaltraum zu erkennen, in dem sowohl durch Opferschaft als auch durch Täterschaft eine nahezu flächendeckende Betroffenheit der Bevölkerung gegeben war, ist für das weitere Verständnis dieses Buches unerlässlich. Deutsche Babyboomer sind nicht einfach nette, unbelastete, lebensfrohe Fünfzigjährige wie in anderen westlichen Demokratien auch. Sie sind die Kinder von Eltern, die als Kinder um ihr Leben rannten, auf der Flucht aus dem Osten. Sie sind die Kinder von Eltern, die in Bunkern der Großstädte zitterten oder mit ansehen mussten, wie Eltern, Geschwister oder Freunde verbrannten oder vergewaltigt wurden. Deutsche Babyboomer sind die Kinder von Vätern, die bei den Pimpfen oder der Hitlerjugend lernten, dass deutsche Männer zäh, flink und hart sein müssen. Sie sind die Kinder von Müttern, die beim Jungmädelbund oder Bund Deutscher Mädel (BDM) lernten, dass das Schlachtfeld einer tapferen deutschen Mutter das Kindbett ist. Deutsche Babyboomer sind die Kinder von Eltern, die ohne Väter aufwuchsen oder deren Väter körperlich oder seelisch so verwundet waren, dass sie ihren Kindern niemals nahekommen konnten. Babyboomer sind die Kinder von Kindern, die von kalten, verbitterten Müttern erzogen wurden, die alles verloren hatten, oftmals auch die Liebe zu ihrem eigenen Körper. Und – deutsche Babyboomer sind die Enkel von Großeltern, die einem verbrecherischen Regime zujubelten, die von Stalingrad bis El-Alamein Krieg führten und die Menschen wegen ihrer Abstammung oder persönlicher Merkmale ausgrenzten und töteten.