Die wunderbare Reise des Herrn Maria - Eugen M. Schulak - E-Book

Die wunderbare Reise des Herrn Maria E-Book

Eugen M. Schulak

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Beschreibung

Die großen Fragen des Lebens Nach seiner letzten botanischen Expedition sitzt Herr Maria, von einer tödlichen Krankheit bedroht, in Quarantäne. Die ihm verbleibende Zeit will der Witwer im Ruhestand und Liebhaber exotischer Pflanzen dazu nutzen, in seinem Leben aufzuräumen. Ganz nach dem Motto »Der Tod ist der Wegweiser der Philosophie« notiert er, bewaffnet mit einer Kanne Schwarztee und einer quietschgrünen Limette, die Schlüsselmomente seines Lebens. Diese werden per E-Mail von einem angeheuerten Philosophen kommentiert, der Herrn Maria den Weg des Denkens weist. So begibt sich der liebenswert-schrullige Protagonist auf eine Reise zu den großen Themen der Philosophie, um am Ende sich selbst und die Welt ein bisschen besser zu verstehen. Mit Illustrationen von Bettina Mertz

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Eugen M. Schulak

Die wunderbare Reise des Herrn Maria

Ein philosophischer Roman

Mit Illustrationen vonBettina Mertz

Der Umwelt zuliebe #ohnefolie

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2022 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagabbildung sowie alle Illustrationen im Buch: © Bettina Mertz

Lektorat: Senta Wagner

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der Adonis, Minion Pro und Myriad Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-208-2

eISBN 978-3-903217-94-2

Für Rosemarie

Gebrauchsanweisung

Es ist ein Geschichtenbuch, ein Philosophiebuch und ein Pflanzenbuch und es ist thematisch geordnet. Der Autor empfiehlt, es wie heißen Tee zu trinken, also schluckweise zu lesen, weil er glaubt, dass der/die Leser*in dann mehr davon hat (und sich die Zunge nicht verbrennt). Das Buch ist gehaltvoll und zeigt die Entwicklung eines Menschen über rund fünfzig Tage. Wer jeden zweiten Tag ein Kapitel liest, ist gleichsam live dabei.

Wie man in der Praxis die philosophischen Gedanken nutzen kann? Im Alltag denken wir mal so, mal so, je nachdem, wie wir uns fühlen, ob wir ungestört sind oder nicht, ob in Eile oder einfach nur gedankenverloren, und wir sagen, was wir halt so denken. Das ist an sich nichts Verwerfliches, aber auch nichts Besonderes, vielmehr etwas sehr Gewöhnliches, das jeder und jedem von uns ohne Anstrengung gelingt.

Besser wäre, wenn wir über Weisheiten verfügten, auf die wir uns berufen können, die wir bewusst festgehalten haben und im geeigneten Moment anwenden, um schlichtweg das Richtige zu sagen und zu tun. Anzustreben wären innere Klarheit und auch Stärke und dass man Argumente, plausible Erklärungen und Beweise hat, nicht bloß Meinungen. Meinungen sind uninteressant.

Eben hatte Herr Maria seinen Rucksack auf die große Ladentruhe in seinem Vorhaus gewuchtet, als ihn ein Anruf vom Gesundheitsamt erreichte. Man müsse alle Reisenden, so hieß es, die aus Borneo zurückgekehrt seien, darüber informieren, dass dort ein Virus ausgebrochen sei. Bis auf Weiteres müsse er zu Hause bleiben. Nähere Informationen werde er in Kürze erhalten, man bitte um Geduld, bis bald und vielen Dank.

Eine Zeit lang blieb Herr Maria ruhig stehen und betrachtete seinen Rucksack, auf dem sich noch Spuren des Dschungels befanden. Vor ein paar Tagen erst war er mit einem russischen Guide über steile Berghänge gestiegen und hatte in drückender Hitze nach botanischen Juwelen gesucht. Hunderte Fotos hatte er geschossen, von sich schlingenden und windenden Schönheiten, die unter Kennern als die wunderlichsten ihrer Art gelten. Man hatte ihn an Orte geführt, die kaum noch betreten worden waren und wo er SIE inmitten der dampfenden Wälder dann auch gefunden hatte, mehrmals sogar, auf Baumstämmen, prächtig entwickelt mit pelzig dicken Blättern und üppigen Kannen: Nepenthes veitchii.

Manche dieser Kannen, die mit den Blattenden fest verwachsen und mit Verdauungssaft gefüllt waren, hatten eine Höhe von nahezu vierzig Zentimetern. Alle leuchteten in wunderbaren Farben, wie man sie von Orchideen kennt, doch waren es keine Blüten, sondern heimtückische Fallen. Ihr oberer Rand war spiegelglatt und glänzte wie ein frisch polierter Schuh. Wer immer sich dort niederließ, war in Gefahr, den Halt zu verlieren und in die Tiefe des Bauches zu gleiten. Von dort gab es dann kein Entrinnen mehr. Die Innenseite war glitschig und die gesamte Kanne aus einem Material, das sich wie Plastik anfühlte und kaum mit der Hand zu zerreißen war. Dort wartete der Tod, vor allem für Insekten. Doch mehrmals hatte er in den größeren Kannen auch Skelette von kleinen Nagetieren gefunden, deren aufgelöstes Fleisch als Nährstoff langsam aufgesogen worden war, um mehr Kraft für neue Kannen zu gewinnen, um das Spiel zu wiederholen bis zum Ende der Zeit. »Im Grunde eine schlimme Sache«, brummte Herr Maria und streichelte liebevoll seinen Rucksack.

Und wieder läutete das Telefon. Besagtes Virus, so hieß es jetzt, sei eine gefährliche Mutation des Affengrippevirus, Influenza orangutaniensis, die man schon seit Jahrzehnten kenne. Die Inkubationszeit betrage rund vierzig Tage. Die Quarantäne werde demnach auf fünfzig Tage verhängt. Falls die Krankheit ausbreche – und hier gab die Stimme ihr Bedauern kund, was Herr Maria geschmacklos fand –, sei in den meisten Fällen leider mit dem Tod zu rechnen, denn es gebe kein Heilmittel. Doch man könne versichern, und das sei – den Umständen entsprechend – die gute Nachricht, dass er keine Schmerzen zu befürchten habe, bloß müde werde und in einen fieberartigen Schlaf falle, der dann zum Exitus führe. So sei die Sachlage, vernahm er. Bis auf Weiteres sei er deshalb unter gesetzliche Quarantäne gestellt, dürfe das Haus, ohne Ausnahmen, nicht mehr verlassen. Den behördlichen Bescheid bekomme er auf dem Postweg zugestellt. Alles Gute!

Nepenthes veitchii

Höhe der Kanne: 25 cm

Orang-Utans haben in der Tat einen gesegneten Schlaf, das hatte ihm der russische Guide erzählt, als sie mit dem Fernglas hoch oben in den Bäumen eine Mutter mit ihrem Jungen entdeckten. Die beiden schliefen so seelenruhig und mit derart friedlichen Mienen, dass Herrn Maria warm ums Herz wurde, als er sich daran erinnerte. So würde es auch ihm ergehen. Friedlich würde er entschlafen, selig träumend sich dem Unvermeidlichen ergeben, zwar nicht in der Astgabel eines Baumes, dafür aber auf dem violetten Sofa, das er von seiner Tante geerbt hatte. Dort hatte er schon öfters hervorragend geschlafen und dort wollte er sich auch zur Ruhe begeben, wenn ihn die große Müdigkeit umfangen würde – absurd.

Herr Maria stand vor seinem Rucksack, sah den Dschungel vor sich, die leuchtenden Kannen, spürte die feuchte Hitze auf seiner Haut und roch den Gestank der Verwesung, den es in solchen Wäldern ebenso gab. Dann entledigte er sich seiner Stiefel und holte aus dem Tiefkühlschrank ein Paar Debreziner und zwei Scheiben schwarzes Brot, auf das er sich schon gefreut hatte, legte es in den Ofen, schubste die Würstel ins kochende Wasser und drückte eine Extraportion englischen Senf auf einen Teller. Gleich nach dem ersten Bissen, nachdem sich die fette Wurst mit dem würzigen Brot und dem Senf wohltuend in seinem Mund vermischt hatten, wurde ihm klar, dass jetzt zwar alles anders war, er aber trotzdem weiterleben wollte wie bisher. Und dafür war einiges zu tun.

Zuerst einmal musste er nach seiner botanischen Sammlung sehen, die in seiner Abwesenheit von einem Gärtner gepflegt worden war, den er für überaus verlässlich hielt. Ruhig stieg er die Treppen hoch zum Dachboden und betrat den großen, lichtdurchfluteten Raum, der bis auf die groben Holzbalken wie ein Glashaus aussah. Dort hatte Herr Maria seine Sammlung untergebracht, bald schon seit dreißig Jahren. Freundlich strich er mit seinen Händen über das eine oder andere Exemplar und war sehr zufrieden. Einige Pflanzen hatten in seiner Abwesenheit geblüht. Auch die vertrocknete Blüte einer Edithcolea grandis war dabei, was ihn schmerzte, weil sie bei ihm noch niemals geblüht hatte. Diese Blüten waren die wertvollsten, die es bei den Asklepiaten gab, riesig, aber fein gemustert wie ein persischer Seidenteppich, betörend schön und mit bestialischem Gestank. »Schade«, dachte er, »vielleicht im nächsten Jahr.«

Erst nach einem starken schwarzen Tee, in den er sich reichlich Limettensaft träufelte, trat ihm seine Situation so richtig ins Bewusstsein. Vierzig, vielleicht fünfzig Tage, dann würde er wissen, ob es weiterging. Und was jetzt? Er hatte nichts Dringliches zu tun. Er war ja schon im Ruhestand. Seitdem gab er sich gänzlich seiner botanischen Leidenschaft hin, kannte die besten botanischen Gärten von Zürich über Schönbrunn bis Kew Gardens wie seine Westentasche, hatte namhafte Sammler, Züchter und Gärtnereien in ganz Europa besucht, was zur Folge hatte, dass ihm sein verglaster Dachboden bereits viel zu klein geworden war. Aber ebenso hatte er in seine Tagebücher geschrieben, die er von Jugend an gewohnt war zu führen, und viel gelesen, vor allem klassische Literatur, manchmal auch ein Werk der Philosophie, auch wenn er mit solchen Büchern nur langsam vorankam.

Noch nie war der Tod für Herrn Maria ein Problem gewesen. Zwar hatte er den Tod seiner Frau, die vor vielen Jahren verstorben war, tief bedauern müssen, den eigenen jedoch stets völlig außer Acht gelassen. Aber jetzt, wo er vor der Tür stand? In jedem Fall, so dachte er, müsse die Zeit des Wartens, die vor ihm lag, gut genutzt werden. Sein Leben lang hatte er es so gehalten, der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, Inhalt und Sinn verliehen und Werke vollbracht, die kluge Planung erforderten und konsequente Durchführung. Aber jetzt, angesichts dieser Nachricht und beschränkt auf das eigene Haus?

Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, ging er wieder hinauf auf den Dachboden und machte sich ans Gießen, wozu er nur entkalktes Wasser verwendete, in das er winzige Mengen Nährstoffe und Mineralien mischte. Die Sammlung war wirklich in einem guten Zustand, das machte ihn glücklich. Die Stapelien trugen samtige Blüten, die Tillandsien, die auf alten Rebstöcken aufgebunden waren und malerisch von der Decke hingen, hatten Knospen getrieben, und sein alter Cyphostemma juttae setzte endlich einmal Früchte an, dunkelrot und verführerisch wie Weintrauben, jedoch hochgiftig. Die musste er unbedingt für einen Artikel fotografieren, den er sich für eine botanische Zeitschrift vorgenommen hatte.

»Der Tod ist der Wegweiser der Philosophie«, dachte Herr Maria, als er die verführerischen Beeren noch einmal zurechtrückte, damit er sie besser ablichten konnte. Den Spruch hatte er einst auf einem Kalenderblatt gelesen, das bei seiner Mutter in der Küche hing. Er war ihm auch schon früher in den Sinn gekommen, damals, als er den Tod seiner Frau verschmerzen musste und das »Ägyptische Totenbuch« las. Wenn wahr ist, was auf diesem Blatt geschrieben stand, dann sollte er diesem Wegweiser vielleicht folgen, sollte die ihm verbliebene Zeit dafür verwenden, sich mehr Bewusstheit über sich und die Welt zu verschaffen. Er blieb unschlüssig stehen. Dann zupfte er ein paar welke Blätter ab, stellte geräuschvoll einen großen Tontopf gerade, bewunderte die feinen violetten Härchen an den laternenförmigen Blüten seiner Ceropegia sandersonii …

Ceropegia sandersonii

Höhe der Blüte: 6 cm

… und ging schließlich zurück ins Erdgeschoss, wo er noch eine Tasse Tee zu sich nahm. Dann packte er langsam seinen Rucksack aus, steckte die Kamera an den Computer und begab sich unter die heiße Dusche.

Lange ließ er das Wasser über seinen Rücken brausen und genoss die duftende Seife, die ihm von einem liebenden Herz geschenkt worden war. Durch die Glasscheiben hindurch konnte er sehen, dass sich auch in seinem Badezimmer alles prächtig entwickelt hatte. Dieses Zimmer war nichts anderes als ein tropisches Terrarium mit einer kräftigen Heizung, etlichen Ventilatoren und Scheinwerfern, die alles taghell erleuchteten, und wo es, ganz nebenbei, auch eine Dusche, ein Waschbecken und einen Spiegel gab. Dort hatte er neben Bromelien, Orchideen und Farnen auch ein paar Kannenpflanzen untergebracht, die allesamt recht gut gediehen, aber lange nicht so prächtig und riesig wie jene, die er auf Borneo gesehen hatte, auf diesem bemoosten Baumstamm, der ständig tropfte und herrlich nach Moder roch.

Als sich Herr Maria die cremige Seife über die Wangen rieb, fiel ihm ein, dass er einmal von einem Philosophen gehört hatte, der seine Dienste anbot, den man gleichsam anheuern konnte wie einen erfahrenen Skipper, der den Weg durch die Klippen des Denkens kennt.

Psychologischen oder religiösen Beistand hatte er nur sehr selten in Anspruch genommen, obwohl es vielleicht dann und wann notwendig gewesen wäre. Das lag ihm einfach nicht. Für vage oder diffuse Antworten war er viel zu rational, als dass er sich ihnen hingeben konnte. Sein Leben lang hatte er Rechenmaschinen programmiert. Da gab es keine vagen Bereiche, und wenn, dann waren es eindeutig Fehler, die musste er ausmerzen. In dieser Weise war er auch mit eigenen Enttäuschungen und Kränkungen umgegangen, hatte sie einfach weggeschoben. Außerdem hatte er keine Angst, weder vor dem Tod noch vor Schmerzen, die waren ja ohnehin nicht zu befürchten. Viel eher war er darüber verärgert, dass sich sein Leben gegen seinen Willen änderte.

Nachdem Herr Maria alles gut erwogen hatte, traf er schließlich eine Entscheidung. Wenn ihm schon der Tod im Nacken sitze, so dachte er, dann sei es wohl am besten, dem Kalenderblatt zu folgen und sich der Philosophie zu widmen. So wäre die Zeit am sinnvollsten genutzt. Gleich morgen wollte er nach der Adresse suchen und Kontakt aufnehmen.

Sehr geehrter Herr,

eben erst bin ich von einer Forschungsreise zurückgekehrt und befinde mich in Quarantäne. Falls das Virus zum Ausbruch kommt – so wurde mir von Amts wegen mitgeteilt –, hat dies mit hoher Wahrscheinlichkeit meinen raschen Tod zur Folge. Die Inkubationszeit beträgt vierzig bis fünfzig Tage. Da ich diese Zeitspanne sinnvoll nutzen möchte, ersuche ich Sie um philosophischen Beistand und hoffe, dass es Ihnen möglich ist, meinen Fall zu übernehmen.

Mit herzlichem Gruß,Herr Maria

PS: Da ich vermögend bin, brauchen Sie sich über die Höhe Ihres Honorars keine Sorgen zu machen. Mir ist wichtig, dass ich in der mir verbleibenden Zeit dem philosophischen Denken so nahekomme wie nur irgend möglich und Sie mir jene Zeit zur Verfügung stellen, die dafür notwendig ist.

Bald schon folgte die überaus freundliche Antwort des Philosophen. Dies ließe sich schon machen, doch sei man bei Ausschluss persönlicher Treffen auf die schriftliche Form beschränkt. Freilich könne man auch via Videokonferenz kommunizieren, aber davon rate er eher ab. So wäre es wohl am besten – und das sei eine Empfehlung angesichts der besonderen Lage –, eine Reihe an denkwürdigen Ereignissen aus dem eigenen Leben auszuwählen und schriftlich in Form von kurzen Episoden auf den Punkt zu bringen. Dies sei auch deshalb sinnvoll, weil jedes Nachdenken über den Tod letztlich das eigene Leben zum Inhalt habe, das Philosophieren über den Tod ein Philosophieren über das Leben sei.

Er selbst, so führte der Philosoph weiter aus, werde zu jeder Episode, die er erhalte, innerhalb von vierundzwanzig Stunden einen philosophischen Kommentar abliefern, der Herrn Marias Text vertiefe und auch weiterführend zu denken gebe – dazu verpflichte er sich, angesichts der Notlage, aber auch angesichts des Honorars, das er in diesem Fall verlangen müsse. Als der Philosoph am Ende seines Schreibens sein Honorar nannte, musste Herr Maria lächeln und freute sich, dass dieser alles stehen und liegen ließ und ihm exklusiv zur Verfügung stand.

Mit großer Andacht und Disziplin machte er sich an die Arbeit. Immer schon war er der Meinung gewesen, dass sein Leben aus einer Vielzahl von Geschichten bestand. Akribisch wählte er denkwürdige Ereignisse seiner Entwicklung aus, auch anhand seiner Tagebücher, und begann mit frühen Erinnerungen, die er in gewählte Worte fassen und dem philosophischen Berater zur Deutung vorlegen würde.

Von nun an wollte sich Herr Maria jeden zweiten Tag um halb zehn mit einer Kanne schwarzen Tees und einer quietschgrünen Limette an seinen Schreibtisch setzen, um eine Geschichte zu erzählen und dann zu Mittag weiterzuleiten. Am nächsten Tag erhielte er, ebenso zur Mittagszeit, einen gelehrten Kommentar dazu, den er aufmerksam lesen würde, damit er ihn in seinen Gedanken durch den weiteren Tag begleitete. An den Abenden galt es zu überlegen, welche Geschichte er tags darauf schreiben wollte. Die restliche Zeit würde er seinen Pflanzen widmen, spezielle Erdmischungen zubereiten, zu klein gewordene Töpfe gegen größere austauschen und sich über jedes neue Blatt und jede Blüte freuen.

Der Totengräber oder Die Freundschaft

Im Alter von fünf Jahren, als wir bei meinen Großeltern am Land waren, eröffnete ich meiner Mutter, dass ich nun erwachsen war und schon alleine außer Haus gehen konnte. Wahrscheinlich wollte ich fremde Menschen sehen und mit ihnen reden. Meine Mutter blieb jedenfalls skeptisch und folgte mir in einigem Abstand. Ich ging schnurstracks den Hügel hinunter und bog zielsicher in die dunkle Kellergasse ein, die zum Friedhof führte. Dort sah ich mir die Gräber an, die brennenden Kerzen und üppigen Blumen. Besonders angetan hatten es mir die rot gemusterten Schusterkäfer, die sich in langen Ketten in der Borke der alten Bäume versteckten.

Und dann sah ich ihn, den buckligen kleinen Mann, wie er umringt von Werkzeug sich an einem Grab zu schaffen machte. So wie es meine Art war, sprach ich ihn an, und er begann freundlich von seiner Arbeit als Totengräber zu erzählen, die mich augenblicklich faszinierte. Ich bat ihn helfen zu dürfen. Zuerst wollte er meine Bitte abschlagen, dann aber drückte er mir einen verwelkten Kranz in die Hand und schickte mich damit zum Mistplatz, der sich hinter einer Mauer in einer Ecke befand. Ich kann mich noch gut an die riesige Halde erinnern, wie sie voll von seltsamen Dingen in allen erdenklichen Farben in der Sonne lag. Der kleine Mann lachte, als er meine Begeisterung sah. Eifrig brachte ich auch all die leeren Gießkannen zurück zur Wasserstelle, bis ich meine Mutter bemerkte, die mir vom Friedhofseingang aus zuwinkte.

»Seltsam«, meinte der Totengräber, »was so ein kleiner Junge denn auf einem Friedhof zu finden glaubt?« Meine Mutter, die zu uns getreten war, konnte ihm keine Antwort geben, doch als er von ihr erfuhr, dass ich der Enkel des Schriften-Malers war, streichelte er mir liebevoll über den Kopf. Mein Großvater hatte die große Christusfigur am Kreuz, das Prunkstück, das sich inmitten des neubarocken Friedhofs befand, vergoldet und die meisten der gusseisernen Tafeln beschriftet, die an den Grabkreuzen befestigt waren. Er und mein Großvater waren Freunde und in der Folge durfte auch ich mich zu diesen zählen.

Über mehrere Jahre hinweg war ich fast jedes Wochenende, im Sommer bald täglich auf dem Friedhof und half dem Totengräber ein, zwei Stunden bei der Arbeit. Dabei wurden wir richtig gute Freunde. Er und seine Frau wohnten innerhalb der Friedhofsmauern in einem zauberhaften Häuschen, das über und über mit Rosen bewachsen war. Dort bekam ich beizeiten auch meinen Lohn, meist eine Silbermünze, die er mir herzlich in die Hand drückte. Sein Rücken machte ihm arg zu schaffen, und so war er froh, dass ich das Gießen übernahm. Gerne erzählte er auch Geschichten, wie etwa die, dass er in einem Bleisarg im Zuge einer Exhumierung die Barthaare des Verstorbenen in einer Flüssigkeit hatte schwimmen sehen, oder die, dass einmal, vor langer Zeit, bei einem Begräbnis Klopfgeräusche aus dem Sarg kamen und die scheintote Frau dann erst zwei Wochen später tatsächlich verstorben war.

Er war schon steinalt, als ich ihn zum letzten Mal besuchte. Als er mich sah, begann er zu weinen. Nach seinem Tod erfuhr ich, dass sein Sohn bereits in jungen Jahren in die Großstadt gezogen und dort als Obdachloser früh verstorben war.

VIELEN DANK HERR MARIA,

eine wunderbare Geschichte! Stets ist man vom Tod umgeben, von welken Kränzen und Grablaternen, und doch steht etwas ganz Lebendiges im Zentrum. Es ist der Beginn Ihrer Autonomie. Alles beginnt mit dem Staunen und der Neugier. Entdeckt werden ein stiller, geheimnisvoller Ort und ein besonderer Mensch, der dort für alles zuständig ist. Ihre Neugier für sein Leben eröffnet Ihnen eine neue Welt voller Wunder. Sympathie und Interesse entstehen wie von selbst, und alles entwickelt sich hin zu einer zauberhaften, sehr ungewöhnlichen Freundschaft.

Speziell in jungen Jahren sind Freundschaften – besonders solche, die älteren Menschen gelten – ein optimaler Lernort. Zu dieser Erfahrung ist Ihnen im Nachhinein zu gratulieren. Das ist der Stoff, aus dem der Mensch seine Ideale entwickelt, die Ur-Bilder, denen er lebenslang folgt.

Jede Freundschaft, so lässt sich allgemein behaupten, beruht auf der Freiwilligkeit unserer Wahl und unserer Entscheidung, im Unterschied zu verwandtschaftlichen oder geschlechtlichen Beziehungen, die uns vom Schicksal vorgegeben oder gar aufgenötigt werden. Allein in der Wahl unserer Freundschaften sind wir wirklich frei. Deshalb kommt ihnen auch in der Philosophie eine ganz besondere Bedeutung zu, nämlich als die edelste unter allen menschlichen Beziehungen.

Schon bei den alten Griechen war die philia, die Freundschaft, ein wertvolles Gut, wie der Schriftsteller Xenophon, ein Schüler des Sokrates, zu berichten weiß. Die meisten Menschen kümmerten sich vor allem um ihren Besitz: »Und doch, mit welchem anderen Besitztum verglichen sollte ein guter Freund nicht als viel wertvoller erscheinen? Welches Pferd oder welches Stiergespann ist denn so nützlich wie ein wackerer Freund?« (Erinnerungen an Sokrates, II, 4) Ein Freund, so Xenophon, dürfe nicht geizig, habgierig oder streitsüchtig sein und solle sich nicht nur Gutes angedeihen lassen, sondern auch Gutes erwidern. Auch solle er ehrlich sein und kein Schmeichler. Denn wahre Freundschaften würden »um der Tugend willen« geschlossen, nicht zum wechselseitigen Vorteil.

Der Frage geht auch Platon nach, der bekannteste Schüler des Sokrates. Ausschlaggebend für eine Freundschaft sei vor allem das wechselseitige Vertrauen und die Verständigkeit: »Wenn du verständig wirst, dann werden alle dir freund und alle dir zugetan sein: so wirst du für alle brauchbar und gut.« (Lysis, 210d)

Diese Worte erinnern mich sehr an Ihre Geschichte, Herr Maria. Sie hatten Vertrauen zu diesem Mann, haben ihn angesprochen und wie selbstverständlich begonnen ihm zu helfen. Sie müssen wohl, wie Platon es meint, »verständig« gewesen sein, aufnahmebereit und lernfähig. Der Totengräber wiederum hat Ihnen Aufmerksamkeit geschenkt und Aufgaben zugewiesen, die Sie meistern konnten, und alle Ihre Fragen gerne beantwortet. Weil Sie beide verständig und guten Willens waren, konnte Ihre Freundschaft erst eigentlich entstehen.

Aristoteles gibt drei Gründe für eine Freundschaft an: das Nützliche, das Angenehme und das Gute. Ein Mensch wird zum Freund, weil er entweder nützlich, angenehm oder schlechthin gut ist. (Nik. Ethik, 1155b19) Da sich das, was nützlich oder angenehm ist, aber rasch ändern kann und überdies nicht auf den Freund selbst abzielt, sondern eben auf seine Nützlichkeit oder sein angenehmes Wesen, sind solche Freundschaften oft instabil oder hinfällig. Sie sind bloß Mittel zum Zweck. Ganz anders hingegen verhält es sich mit Freundschaften »unter Guten«, bei denen die Freunde einander um ihrer selbst willen lieben. Dass diese Liebe auch nützlich und angenehm ist, so Aristoteles, verstehe sich von selbst.

Epikur, der die Argumente des Aristoteles kennt, sieht den Ursprung der Freundschaft aber trotzdem im wechselseitigen Nutzen begründet. Niemand sei mit jemandem befreundet, von dem er keinerlei Nutzen habe. Ein Nutzen liege bereits dann vor, wenn wir ein gutes Gespräch führten, uns verstanden fühlten, einen Hinweis oder Rat empfingen oder uns bloß ein freundliches Wort zuteilwerde, über das wir uns freuten. Hinsichtlich der Freundschaft immer nur von Uneigennützigkeit und vom Guten zu reden, wie Epikur dies seinen Vorgängern vorhält, sei Heuchelei. Wenn eine Freundschaft durch den wechselseitigen Nutzen aber erst einmal gestiftet sei, so könne ihre Fortdauer durchaus auch von anderen Motiven bestimmt werden und werde es auch, je länger die Freundschaft halte, das heißt, je länger sie sich bewähre.

In der römischen Literatur gibt es sogar ein eigenständiges Werk, das nur dem Thema der Freundschaft gewidmet ist: Laelius de amicitia von Cicero. Gemeinsam mit der Weisheit sei sie das wertvollste Geschenk, das wir von den Göttern erhalten hätten. Ihr Ursprung liege in der menschlichen Natur, die gleichsam von selbst das Gefühl der Liebe und des Wohlwollens hervorbringe, und zwar immer dann, wenn sich in einem Menschen ein Anzeichen von Rechtschaffenheit zeige. Wahre Freundschaft ergebe sich demnach nur zwischen guten und rechtschaffenen Menschen, die in ihrem Verhalten verlässlich seien, eine edle Gesinnung hätten und frei seien von Ehrsucht, Zügellosigkeit und Vermessenheit. Es gebe nichts, was liebenswerter sein könne als die Tugend. Nichts könne zwingender zur Hochachtung führen als sie.

Eine Freundschaft lebenslang zu erhalten, so Cicero, sei freilich schwierig: Oft trete der Fall ein, dass Freunde in politischen Angelegenheiten unterschiedlicher Meinung sind. Oft ändere sich der Charakter, bald durch widrige Umstände, bald durch das vorgerückte Alter. Oft komme es gerade bei den Tüchtigsten zu einem Wettstreit um Ämter und Ruhm.

Auch Ihre Freundschaft mit dem Totengräber fand ein Ende, als sie dann älter wurden und anderen Interessen folgten. Schön, dass Sie dieser Erinnerung Bedeutung zumessen. Im Ende der Geschichte liegt viel Wehmut, auch weil Sie zu Lebzeiten des alten Mannes gar nicht wussten, was sein Schicksal war. Aber die Freundschaft hatte ihre Zeit.

In ihrer »Reinigkeit und Vollständigkeit«, schreibt Immanuel Kant, in ihrer idealen Form sei Freundschaft unerreichbar, fernab der Realität, und so vor allem das »Steckenpferd der Romanschreiber«. Trotzdem ist es eine »ehrenvolle Pflicht«, nach diesem Ideal zu streben. Denn der moralische Kern der Freundschaft ist »das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen, soweit sie mit beiderseitiger Achtung gegeneinander bestehen kann«. (Met. der Sitten, Tugendlehre, § 46) Wer sich auf eine Freundschaft einlasse, nehme eine intime Vertrauensstellung ein und gleichzeitig in Kauf, die Freundschaft des anderen wieder zu verlieren, wenn gewisse Urteile und Empfindungen inkompatibel seien und die Achtung des anderen plötzlich fraglich werde.

Ähnlich dachte auch Søren Kierkegaard, der Weise aus Kopenhagen, wenn er die sentimentalen Freundschaften von notorischen Partylöwen aufs Korn nimmt, die auf »dunklen Gefühlen« und »unerklärlichen Sympathien« beruhen: »Wahre Freundschaft erfordert Bewusstsein und wird dadurch davon erlöst, bloß Schwärmerei zu sein.« (Entweder – Oder, II) Wahre Freundschaft existiere, laut Kierkegaard, nur im Ernst. Und auch im Ernst des spielenden Kindes, Herr Maria, kann sie sich manifestieren. Der Totengräber meinte es ja ebenfalls ernst mit Ihnen, als er Sie nach und nach in sein Reich hineingelassen hat.

Wie auch immer: Freundschaften sind unverzichtbar. Sie geben Halt, machen Mut, spenden Trost und erhöhen generell die Zuversicht. Gerade in Krisenzeiten, in denen wir im Vorgefühl einer Umwandlung stehen und uns unbehaglich fühlen, sind sie ein Hort der Stabilität.

»Ein Hort der Stabilität«, brummte Herr Maria, nachdem er einen leichten Zuwachs bei seiner Sansevieria pinguicula bemerkt hatte. Er hatte sie letzten Sommer gut verpackt per Post von einem Hamburger Züchter erworben. »Muss ein komischer Kauz sein, dieser Philosoph«, dachte er, »lebt wohl vergraben in den alten Schriften alter Philosophen. Aber gut so.«

Herrn Marias Freunde – jene, die ihm fraglos am Herzen lagen, sowie die anderen, um die er sich mehr hätte kümmern sollen – waren jetzt weiter weg denn je, zumindest hatte er diesen Eindruck. Von einigen werde er sich noch verabschieden müssen, dachte er, das sei er ihnen schuldig. Aber er war es leid zu telefonieren. Sein ganzes Berufsleben lang hatte er am Telefon seine Geschäfte gemacht. Jetzt wollte er seine Ruhe haben, wollte sich vorbereiten auf das, was ihm bevorstand, er hatte einfach keine Lust zu plaudern oder sich trösten zu lassen. Es kam ihm sehr entgegen, dass er seine philosophischen Termine schriftlich absolvieren konnte. So gab es keine anderen Stimmen, die ihn hätten stören können, keine Ablenkung beim Denken, beim Schreiben und Lesen.

Liebevoll strich er mit den Händen über die steinharten, nadelspitzen Enden seiner kenianischen Schönheit, die unter der Berührung sanft zu wippen begann. »Ein Hort der Stabilität«, das war diese Tonschale ebenso, in der sie sich fest mit ihren Stelzwurzeln verankert hatte. Möglichst steinig musste die Erde sein, nur ein Anflug von Humus sei hinzuzumischen, hatte man ihm geraten. Jedenfalls hatte sie neuen Halt gefunden und einen Liebhaber obendrein.

Sollte er das Virus nicht überleben, war seine Sammlung nicht in Gefahr, da konnte er beruhigt sein. In dieser Sache hatte er bereits mit Professor Sanctarius telefoniert, dem renommierten Raritätenhändler, der sie im Anlassfall zu übernehmen versprochen hatte. Bei ihm würde sie in guten Händen sein. Von seinem Glashaus aus würde sie sich sinnvoll zerstreuen und Stück für Stück neue Liebhaber finden. So hatte alles seine Ordnung und nichts war vergebens.

Sansevieria pinguicula hatte er bei Sanctarius jedenfalls noch nie gesehen. Vor langer Zeit, so wurde ihm berichtet, gab es bei ihm drei schöne Exemplare, später aber nie wieder. In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts war sie im tropischen Kenia entdeckt worden und wurde bei Sammlern rasch zur Legende, vor allem ihrer Stelzen wegen, auf denen sie zu schweben scheint. Jeder neue Trieb bildet sich an einem horizontalen oberirdischen Ausläufer. Erst wenn sich die ersten Blätter zeigen und ihre hornigen, scharfen Spitzen bilden, entwickeln sich die arttypischen Stelzen, die dann langsam nach unten in die Erde tauchen und dort Wurzeln treiben. Bis zu diesem Zeitpunkt wird der Trieb ausschließlich von seiner Mutter ernährt.

Jedenfalls war Herr Maria sehr zufrieden. Er hatte seiner Sansevieria pinguicula den sonnigsten Platz gegeben und sie im Winter etwas wärmer gestellt, so wie es empfohlen wurde. Und jetzt begann sie zu treiben, was wirklich eine Freude war. In ein paar Jahren würde sie wohl zum ersten Mal blühen, dachte er, weiße, fantastisch duftende Büschel sollen es sein, die aus den tiefen Rosetten der älteren Exemplare in die Höhe schießen und etliche Wochen lang ihre Pracht entfalten. Da musste er tief Luft holen und gleich noch einmal, weil ihm zu Bewusstsein kam, dass ihm dieses Ereignis vielleicht gar nicht mehr vergönnt sein würde.

Sansevieria pinguicula

Höhe: 35 cm

Durchmesser der Schale: 20 cm

Nachdem er ein paar Töpfe zurechtgerückt hatte, die unter der Last ihrer Bewohner schon gefährlich schief standen, ging er langsam die Treppe hinunter und landete schließlich auf seiner Couch. Die Erde für die Epiphyten war ausgegangen, fiel ihm ein. Das sollte er auf seine Einkaufsliste schreiben. Aber was musste er denn jetzt noch besorgen? Und wieder hatte er seine Freunde vor Augen, gedachte auch jener Freundschaften, die zerbrochen und entsprechend bitter waren. Aber was sollte er jetzt noch daran ändern? Am besten ein wenig schlafen, dachte er und schloss die Augen. Als er wieder erwachte, kam ihm eine weitere Geschichte aus seiner frühesten Jugend in den Sinn. Die würde er morgen aufschreiben und dem Philosophen übermitteln.

Muttersorgen oder Die Dankbarkeit

Gleich zu Beginn meiner Schulzeit wurde klar, dass es mit dem Schreiben wohl nicht so einfach werden würde. Die Buchstaben purzelten wild durcheinander, blieben nicht in der Zeile und hatten auch unterschiedliche Größen, sodass sie entsetzlich anzusehen waren. Auch die Ziffern standen verkehrt herum. Dass ich einmal die rechte Hand, dann wieder die linke zum Schreiben benutzte, machte die Sache nicht besser. Mein Lehrer konnte mir bei diesem Problem nicht helfen. Er hielt mich für einen »Dickschädel«, ein anderes Mal hörte ich ihn von einer »Sonderschule« reden. Dort würde ich leichter »mitkommen« und hätte ein besseres Leben.

Die Sonderschule war für meine Mutter keine Option, denn das Lesen machte mir keine Schwierigkeiten. Am Ende der ersten Klasse las ich fließend jedem, der es hören wollte, mit großer Freude aus meinen Kinderbüchern vor. Fürs Schreiben hingegen entwickelte meine Mutter ein Trainingsprogramm, das ich während der ersten zwei Jahre meiner Schulzeit über mich ergehen lassen musste. Das war damals eine harte Prüfung für mich und hat mir ab und zu die Tränen in die Augen getrieben. Doch meine Mutter blieb standhaft. Mit viel Liebe und Mitgefühl brachte sie mich dazu, das Regelwerk der geschriebenen Sprache langsam zu akzeptieren. Ich sah dann auch ein, dass es besser war, die Schreibhand nicht ständig zu wechseln. Am Ende entschloss ich mich für den ständigen Gebrauch der rechten Hand.

Ergänzend zu diesem Training gab es die Bibliothek meines Vaters, aus der er mir auch später immer wieder Bücher zu lesen gab: Das Dschungelbuch, Die Schatzinsel, Robinson Crusoe, Ali Baba und die 40 Räuber, die Geschichte von Dracula und schließlich Sherlock Holmes, die Erzählungen von Edgar Allen Poe und anderes mehr. Freilich waren das keine Kinderbücher, aber sie waren spannend und gut geschrieben, sodass ich sie allesamt zu Ende las. Mit der Zeit konnte ich in der Schule mithalten. Ich durfte meine Aufsätze sogar vor versammelter Klasse vorlesen, was eine große Genugtuung für mich war.

Später haben mich auch ganz andere Sprachen fasziniert, die Quellcodes der ersten Rechenmaschinen, die komplexe Abläufe bestimmen konnten und Zukunft in sich trugen. Bald schon gab es das, was mir aus »Raumschiff Enterprise« geläufig war, für alle zu kaufen, sodass die Entwicklung von eigener Software zu meinem Beruf wurde. Trotzdem ist mir die Liebe zur Alltagssprache und zum Schreiben nie verloren gegangen. Vor allem das Schreiben von Tagebüchern ist bis heute eine liebe Gewohnheit, die aus meinem Leben nicht wegzudenken ist.

SEHR GEEHRTER HERR MARIA,

zweifellos haben Sie Ihrer Mutter zu danken. Sie hat Eigeninitiative und Kreativität ins Spiel gebracht, mit Sicherheit auch große Sorgen gehabt, die wohl alle befällt, wenn der Nachwuchs mit der Schule nicht zurechtkommt. Heute können Sie klar erkennen, wie notwendig und erfolgreich diese Kur gewesen ist. Niemals im Leben hätten Sie ohne diese Unterstützung das erreichen können, was Sie erreicht haben.

Schön, dass Sie dafür Dankbarkeit empfinden. Ich denke, es ist mit ein Stück der Vorbereitung auf den Tod zu rekapitulieren, wem man eigentlich zu Dank verpflichtet ist. Man könnte dies auch als einen Teil der großen Abrechnung sehen, die Sie jetzt schon durchführen können, noch bevor Sie das Jüngste Gericht oder das Rad des Schicksals über den Tisch zieht, wenn Sie mir den philosophischen Scherz gestatten.

Im Altgriechischen bedeutet eucharistía, wie auch unser Wort Dankbarkeit, teils dankbare Gesinnung, teils Dankerweisung durch Wort und Tat. Sie beinhaltet ein Wissen, wem und wann man Dank abzustatten hat und wie und von wem man ihn annehmen soll. In der Literatur wird die eucharistía