Die Wundertäter - Nina Grunenberg - E-Book

Die Wundertäter E-Book

Nina Grunenberg

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Beschreibung

Von Speer bis Erhard – die Macher des Wirtschaftswunders

Während die meisten Deutschen nach 1945 damit beschäftigt waren, die Folgen des Krieges zu bewältigen, kümmerte sich eine kleine Gruppe von einflussreichen Männern um den wirtschaftlichen Wiederaufbau – und um den Fortgang ihrer eigenen Karrieren. Die bekannte Journalistin Nina Grunenberg erzählt die Geschichte dieser „Wundertäter“, ihren Aufstieg im Nationalsozialismus und ihre prägende Wirkung auf die Bundesrepublik.

„Arbeiten, anpacken, aufbauen“ – dieses Wort Josef Neckermanns war die Parole jener Männer, die Westdeutschlands Wirtschaft auf den Trümmern des „Dritten Reichs“ wieder aufrichteten. Nina Grunenberg hat erstmals ihre Geschichte aufgeschrieben. Die wirtschaftspolitischen Anfänge der Bundesrepublik erscheinen so in einem neuen Licht.
Die „Wundertäter“ – das waren selbstbewusste, kantige Gestalten, von den Erfahrungen des Krieges geprägt, zum Erfolg entschlossen. Die Tatsache, dass sie allesamt „Männer mit Vergangenheit“ waren, machte sie nach 1945 für den Wiederaufbau so wertvoll – und anfechtbar zugleich. Es war eben nicht das erste Mal, dass sie Karriere machten. Noch im Kaiserreich zur Welt gekommen hatten sie an der „Heimatfront“ für Hitlers Endsieg gekämpft. Nun arbeiteten sie am Wirtschaftswunder. Die Zahl der wirklich Einflussreichen war immer klein. Man blieb unter sich und pflegte die altbewährten Beziehungen.
Von A wie Abs bis Z wie Zangen – das Lebenswerk der „Wundertäter“ erfährt heute eine späte, unvermutete und unreflektierte Renaissance und wird von Politikern aller Couleur als vorbildlich gerühmt. Höchste Zeit also, sich der Hintergründe und tatsächlichen Gestalter des sogenannten Wirtschaftswunders zu erinnern, ohne die der wirtschaftliche Aufstieg nun einmal nicht zu haben war.

Die erste gut erzählte Geschichte des Wirtschaftswunders.

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
EINLEITUNG – Welches »Wunder«, welche »Täter«?
Kapitel 1 – Speers »Kindergarten« und die deutsche Kriegswirtschaft (1942 bis 1945)
Kapitel 2 – Wege aus dem Niemandsland – die deutsche Wirtschaft (1945 bis 1948)
Kapitel 3 – Gründergeist zwischen Ruinen – die Pioniere der frühen ...
Kapitel 4 – »Herrliche Zeiten« – die Wundertäter im Lichte des ...
Kapitel 5 – Ein Phänomen verblaßt – Gipfel und Grenzen des »Wirtschaftswunders« ...
Kapitel 6 – Vom Wunderland in die Alltagswelt – der Eintritt in die Normalität ...
Kapitel 7 – Vom Alltag in die Rezession – das Ende der Hochkonjunktur (1963 bis 1966)
 
Epilog
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Die Wundertäter von A-Z
Danksagung
Personenregister
Copyright
Für Reimar Lüst
Das Leben wird nach vorwärts gelebt,aber nur nach rückwärts verstanden.Kierkegaard
EINLEITUNG
Welches »Wunder«, welche »Täter«?
Wir Deutsche lieben Wunder. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel macht da keine Ausnahme. In ihrem erklärten Bestreben, Deutschland in puncto Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand binnen zehn Jahren wieder unter die ersten Drei in Europa zu führen, beruft sie sich gern auf Ludwig Erhards »soziale Marktwirtschaft«.
Die Kernsätze Erhards, so versicherte sie am 25. Januar 2006 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, hätten für sie »nichts, aber auch gar nichts an Aktualität verloren«. Angela Merkel verrät ihren Zuhörern auch den Grund dafür: »Daraus entstand das, was man in Deutschland das Wirtschaftswunder nennt.« In ihrer ersten Regierungserklärung am 30. November 2005 hatte die Kanzlerin den Mitgliedern des Deutschen Bundestags eine rhetorische Frage gestellt: »Warum soll uns das, was uns früher und was uns zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den – wie ich sage – zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen?«1
Zweite Gründerjahre also, gar ein neues »Wirtschaftswunder«? Ludwig Erhard, der 1977 im Alter von achtzig Jahren starb, ist für die Westdeutschen noch dreißig Jahre nach seinem Tod das Symbol ihres fulminanten Wiederaufstiegs nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der unbekümmerten Inanspruchnahme seiner Person durch die gegenwärtige Regierung hätte er jedoch seine Schwierigkeiten gehabt. Allein das Wort »Wirtschaftswunder« bereitete ihm heftiges Unbehagen. Überhaupt war das Wirken übersinnlicher Mächte seine Sache nie, schon gar nicht in seiner unbestrittenen Domäne, der Wirtschaftswissenschaft. Er hielt sich an Tatsachen, Zahlen und Fakten.
»An Wunder aber vermag ich gerade im Bereich der Wirtschaft nicht zu glauben«, hatte der nüchterne Ökonom am 21. Juni 1948 den hungernden Deutschen in einer Rundfunkansprache zugerufen. Danach kündigte er die sofortige Auflösung von bisher geltenden Preisbindungen an, um, wie er sagte, »dem Wettbewerb und der daraus resultierenden Preissenkung Raum zu geben«.2
Erhards Appell kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Am Vortag hatten die Bewohner der drei Westzonen »richtiges« Geld erhalten. Erhard ging es vor allem darum, im deutschen Volk das Vertrauen in die neue Währung, die D-Mark, zu wecken und dem Geld wieder seine eigentliche Funktion zurückzugeben. Für jeden Deutschen in den drei Westzonen waren 60 Deutsche Mark »Kopfgeld« vorgesehen, von dem am 20. Juni 40 DM ausgegeben wurden. Die Betriebe erhielten Mittel, um Löhne und Gehälter auszuzahlen. Die meisten Verbindlichkeiten wurden im Verhältnis 100: 10 umgestellt. Ein Witzbold bei »News Chronicle« registrierte, daß in »dieser Woche die stabilste Währung in Europa zerstört wurde«: die Währung der Zigarette.
Als dann in der letzten Juniwoche 1948 der berühmte »Schaufenstereffekt« eintrat und sich die armseligen Läden plötzlich mit den erstaunlichsten, lange entbehrten Waren füllten, waren die Deutschen überwältigt. So ist es auch nicht verwunderlich, daß in diesen Tagen die ersten Zeitgenossen begannen, ein »Wunder« für diesen phänomenalen Wandel verantwortlich zu machen. Oder war es etwa kein Wunder, daß die D-Mark der »Lucky Strike« ihren Rang als Leitwährung ablief?
Selbst die unerschütterlichsten Optimisten konnten im Sommer des Jahres 1948 nicht vorhersehen, daß die skeptisch begrüßte Deutsche Mark binnen einem Jahrzehnt zur härtesten Währung in Europa aufsteigen sollte. Als es dann soweit war, sprach bereits die ganze Welt vom »deutschen Wirtschaftswunder«. Es war die erste Vokabel, die nach »Achtung« und »Blitzkrieg« den Sprung in den Fremdwortschatz der benachbarten Völker schaffte.
Der rasante Aufstieg eines zerstörten, von Hitlers Diktatur ruinierten, von der Welt geächteten (und obendrein drastisch verkleinerten) Landes zur führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents – wie war er anders zu erklären als durch ein Wunder? Der erste Politiker, der nach 1945 öffentlich über Irrationales spekulierte, war Heinrich Pünder, der dem Wirtschaftsverwaltungsrat der britisch-amerikanischen Bizone vorsaß: »Es ist fast wie ein Wunder«,3 staunte er Ende August 1948 über den allgemeinen Aufwärtstrend.
Merkwürdig, daß die Deutschen der »Zusammenbruchsgesellschaft« anno 1945 von »Wundern« überhaupt noch etwas hören wollten. Eigentlich hätten sie davon ein für allemal kuriert sein müssen. Nur allzugern hatten sie sich im Inferno des Krieges am Mythos der »Wunderwaffen« aufgerichtet. Ihr baldiger Einsatz, von Propagandaminister Joseph Goebbels unermüdlich angekündigt, sollte den »Endsieg« bringen. Daß die »Wunderwaffen«, wie fast alles in den zwölf Jahren der Nazidiktatur, nur fauler Zauber waren, begriff die Mehrheit der Zeitgenossen erst hinterher.
Mit »Wundern« scheint es in der deutschen Geschichte eine besondere Bewandtnis zu haben. Das »Mirakel des Hauses Brandenburg«, der plötzliche Tod der Zarin Elisabeth Anfang Januar 1762, bewahrte Friedrich den Großen vor der Niederlage im Siebenjährigen Krieg und dem für diesen Fall geplanten Selbstmord. Ganz ähnlich hoffte auch der in seinem Bunker vor sich hin phantasierende Hitler bei der Nachricht vom Tode Roosevelts auf ein Mirakel in eigener Sache.
In der Serie der »braunen« Wunder stand an erster Stelle Albert Speers vermeintliches »Rüstungswunder«, der explosionsartige Anstieg der Kriegsproduktion. »Wir müssen nur noch ein Jahr durchstehen«, sagte er im Januar 1945, »dann haben wir den Krieg gewonnen.«4 Noch in den Verhören durch die Amerikaner zeigte sich Speer von sich selbst beeindruckt, als er auf seine Erfolge verwies.
Aber auch ein »Wirtschaftswunder« hatte es bei den Nazis schon einmal gegeben. 1936 erschien im Amsterdamer Querido-Verlag ein Buch des emigrierten Redakteurs des »Berliner Tageblatts« Hans Erich Priester. Es trug den Titel »Das deutsche Wirtschaftswunder«. Der Autor beschrieb darin die Wirtschafts- und Finanzpolitik des »Dritten Reiches« und ihren offensichtlichen Erfolg: Die Arbeitslosen verschwanden von der Straße. Nur wenige sahen damals, daß die deutsche Wirtschaft ihren Aufschwung ganz wesentlich dem Aufschwung in den USA dankte.
Auch die größten Wunder haben in der Regel natürliche Ursachen. Wunder gibt es nicht, bestätigen denn auch die Ökonomen und weisen mühelos nach, daß der Aufstieg Nachkriegsdeutschlands dem Zusammentreffen richtiger Entscheidungen, günstiger Umstände und glücklicher Fügungen zu verdanken sei.
Aber wer traf diese Entscheidungen? Wer sorgte für diese außergewöhnliche deutsche success story, die selbst kühlen Beobachtern im In- und Ausland fast einhellig wie ein »Wunder« vorkam? Bundeskanzler Konrad Adenauer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard stellten die entscheidenden Weichen und profitierten politisch vom ökonomischen Aufschwung. Aber am Schwungrad der deutschen Wirtschaft standen sie nicht. Die Bundesrepublik Deutschland glich, so formulierte einmal der bekannte Historiker Werner Abelshauser, »lange einer erfolgreichen Wirtschaft auf der Suche nach ihrem politischen Daseinszweck«.5
Die Wundertäter – wer waren sie? Wer kennt diejenigen, die in den Unternehmen Verantwortung trugen, Erhards marktwirtschaftliches Konzept umsetzten und die gigantische Industrieruine, die von Hitlers Vernichtungskrieg übriggeblieben war, zu neuem Leben erweckten? Wie dachten sie, wie tickten sie, was gab ihnen Zuversicht, trieb sie an? Gerade weil diese Fragen so naheliegen, ist es erstaunlich, daß sie bisher so gut wie gar nicht gestellt, geschweige denn in einem größeren Zusammenhang beantwortet wurden. »5000 Zeithistoriker in Deutschland – und keiner, der sie mal gefragt hätte, als sie noch lebten«,6 empörte sich Joachim Fest mit Recht.
Nach wie vor tauchen die Namen der tatsächlichen Macher des »Wirtschaftswunders« in den voluminösen Geschichtswerken der Historikerzunft bestenfalls am Rande auf. Ihr Wirken wird stiefmütterlich behandelt. Offensichtlich nehmen sie auf der Prioritätenliste der westdeutschen Historiker keine vorderen Plätze ein, was bis in die späten 1960er Jahre hinein auch mit ihrer tiefen Verstrickung in den nationalsozialistischen Sumpf zu tun hatte. Der Blick über die imaginäre »Stunde Null« hinweg in die Abgründe der Vergangenheit wurde nach Möglichkeit vermieden, von den Historikern, aber vor allem von den Protagonisten selbst, die ihre Spuren in den Führungsetagen des »Dritten Reiches« mehr oder minder absichtsvoll verwischten.
Bis auf wenige Ausnahmen leben die Männer, die hinter dem »Wunder« standen, heute nicht mehr. Da ihre Generation zeitlebens großen Wert auf Verschwiegenheit und Diskretion legte, überrascht es nicht, daß sie in eigener Sache wenig Schriftliches hinterließen. »Nur nichts Geschriebenes«, hieß es in ihren Kreisen, und wenn doch, dann »nichts Unterschriebenes«. Was sie sich zu sagen hatten, erledigten sie unter vier Augen. Geordnete Nachlässe mit Gedanken und Erinnerungen, mit Zeugnissen über die privaten, gesellschaftlichen, gar politischen Motivationen ihres Handelns sind sehr selten. Dafür wimmelt es in den Archiven der Unternehmen von Jagdeinladungen und tiefempfundenen Dankschreiben für viele »schöne Hirschbrunfterlebnisse«. In den Memoiren, die einige von ihnen schrieben oder schreiben ließen, fällt vor allem eines auf: Das Jahr 1945 spielte darin kaum eine Rolle. Darüber sprach man entweder nicht oder erst viel später, dann aber merkwürdig verquer. Bei einem Herrenabend zu Ehren von Hans-Günther Sohl würdigte der CDU-Politiker Kurt Birrenbach 1965 Sohls Einsatz während der Kriegsjahre und sagte dann: »Die Zeit von 1945 bis 1948 sollten wir aus bitterer Erinnerung außer acht lassen. Sie haben, lieber Herr Sohl, kein Ressentiment gehabt – la guerre c’est la guerre -, man muß in die Zukunft blicken, und dieses haben Sie getan.«7 Sohl symbolisierte fünfundzwanzig Jahre Thyssen: Als er im Unternehmen anfing, war es Teil der Vereinigten Stahlwerke, 1945 bis 1953 bestand das Unternehmen aus seiner Person. 1953 wurde die August-Thyssen-Hütte (ATH) neugegründet. So wie der Name Sohl für Thyssen stand, so repräsentierten Hermann J. Abs die Deutsche Bank, Wilhelm Zangen Mannesmann oder Karl Winnacker die Hoechst AG.
 
Die Wirtschaftsführer, die Westdeutschland aus den Trümmern des Nationalsozialismus aufbauten, waren Männer, die es in sich hatten: farbige, knorrige Figuren, kein glattes Holz, jeder auf seine Weise unverwechselbar. Der Begriff »Manager« war ihnen fremd.
Über einen Kamm zu scheren sind sie nicht, was dem Versuch einer »Kollektivbiographie« – das Wort ist ein Widerspruch in sich – natürliche Grenzen zieht. Doch es gibt Gemeinsamkeiten. Die Wundertäter waren ausnahmslos im Deutschen Kaiserreich zur Welt gekommen, die meisten zwischen 1880 und 1910. Allesamt waren sie fest in der vermeintlichen Sekurität des wilhelminischen Deutschland verwurzelt. Danach allerdings wurde ihnen – mit dem Ersten Weltkrieg, Weimar, Hitler und dem Zweiten Weltkrieg – ein Pensum auferlegt wie keiner anderen Generation.
Mit der gedanklichen Verarbeitung des Geschehenen wären sie wohl selbst dann nur schwer hinterhergekommen, wenn sie nichts anderes zu tun gehabt hätten. Sie dachten meist patriarchalisch, ständestaatlich, antikommunistisch; politisch waren sie rechts bis rechts außen angesiedelt. Den Nationalsozialismus hatten die meisten von ihnen anfangs begrüßt. Autoritäre Herrschaftsstrukturen befürworteten sie nicht nur, weil sie hofften, damit wieder an Deutschlands ehemalige Größe anknüpfen zu können – sie versprachen sich davon vor allem gute Geschäfte. Nur die allerwenigsten, wie der Gründersohn Fritz Thyssen, der mit Hitler brach und 1939 emigrierte, fanden im Laufe der Jahre die Kraft, sich innerlich und äußerlich konsequent vom Nazi-Regime loszusagen.
Hinterher hakten sie die zwölf Hitlerjahre ungerührt als »accident de parcours« ab und machten weiter, sobald ihre »Entnazifizierung« abgeschlossen war und die Alliierten grünes Licht gaben. Ihr geistiger Bezugspunkt war und blieb die Vorkriegszeit. Was die deutsche Wirtschaft produziert hatte, war Weltstandard gewesen. Zumindest ihr Können und ihre Erfahrung konnte ihnen niemand absprechen, auch die Sieger nicht, die im Gegenteil schon bald auf sie angewiesen waren. Das war Balsam für ihr lädiertes Selbstbewußtsein. Daß sie keineswegs aus dem Nichts kamen, sondern durch die Bank Männer mit Vergangenheit waren, machte sie erfolgreich, unentbehrlich – und anfechtbar zugleich. Es war eben nicht das erste Mal, daß sie Deutschland einen Aufschwung bescherten, und auch nicht das erste Mal, daß sie Karriere machten. Wie im Fall des 1901 geborenen Bankiers Hermann Josef Abs, den der »Spiegel« 1958 als »Erzengel des bundesrepublikanischen Großkapitals«8 porträtierte, lag oft nicht einmal ein Bruch, allenfalls eine kurze Pause, zwischen der Karriere vor und der nach 1945. Deutlich länger und unbequemer gestaltete sich die Unterbrechung nur für Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, Jahrgang 1907, in Nürnberg zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, und für Friedrich Flick, Jahrgang 1883, der in Nürnberg zu sieben Jahren verurteilt wurde. Während der Krupp-Erbe, 1951 vorzeitig entlassen, als müder Mann zurückkehrte, reichten die Kräfte des berüchtigten Konzernschmieds Flick, der schon von Hitlers Krieg ordentlich profitiert hatte, aus, um danach noch einmal zum reichsten Mann des Landes aufzusteigen.
Daß mit einer politisch so diskreditierten Mannschaft in völlig verfahrener Lage eine florierende Wirtschaft und ein prosperierender Staat aufgebaut werden konnte, mit einem Staatsvolk, das die ihm von den westlichen Siegern eingeräumte Chance zur Demokratisierung dankbar nutzte: Das darf man als eigentliches Wunder betrachten.
Aber es war wie ein Fluch. Wohin auch immer die Wundertäter der frühen Jahre kamen, welche Geschäfte sie abschlossen, welche Gewinne sie einfuhren, nach der Vertragsunterzeichnung, »bei der dritten Flasche Champagner«, so Eberhard von Brauchitsch, »konnte auch schon einmal die Frage auftauchen: ›Was haben Sie eigentlich im Krieg gemacht?‹ Diese Frage war Teil des Schicksals meiner Generation.«9
Die »Langen Fünfziger«,10 die sich im Kalender der Historikerzunft vom Ende der vierziger bis in die Mitte der sechziger Jahre hineinziehen – sie sind heute wieder populär. Aufwendige Titelgeschichten und Fernsehdokumentationen erzählen uns »Wie wir wurden, was wir sind«. Vergangen und vergessen die Zeit, als den Deutschen ihr erstes Nachkriegsjahrzehnt noch peinlich war, ihnen als Inbegriff kleinbürgerlicher Enge und miefigen Spießertums vorkam. Hans Magnus Enzensberger machte aus seiner Verachtung keinen Hehl: »Was habe ich hier zu suchen, in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland, wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts« (Landessprache, 1960).
Heute werden diese Fünfziger als gute alte Zeit verklärt. Wer wollte nicht, daß es mit Deutschland wieder aufwärts geht? Es muß ja nicht gleich wieder ein Schlaraffenland sein. Viele wären schon mit einem sicheren Arbeitsplatz zufrieden. Die Massenarbeitslosigkeit, das Grundübel der gegenwärtigen Gesellschaft, hat sich allen vollmundigen Versprechungen des letzten sozialdemokratischen Bundeskanzlers und seiner amtierenden christdemokratischen Nachfolgerin zum Trotz festgefressen. Eine Wende zum Besseren scheint nicht in Sicht. Die Vollbeschäftigung der Adenauer-Ära – muß sie den um ihren Lebensunterhalt bangenden Deutschen nicht als ferne Glücksverheißung erscheinen?
 
Die Wundertäter von damals – sie spielen bei all der Nostalgie kaum eine Rolle. Dabei war es hauptsächlich ihrer Energie zu verdanken, daß gut sechzig Millionen Westdeutsche zwanzig Jahre nach dem Krieg nicht nur wohlhabend, sondern vor der Weltöffentlichkeit in einem Maße rehabilitiert waren, wie es 1945 niemand mehr für möglich gehalten hätte.
Über die Aufbaujahre der deutschen Wirtschaft kann man nicht reden, ohne an die Persönlichkeiten zu erinnern, die das Wirtschaftswunder verkörperten. Der Kreis der wirklich Einflußreichen war klein. Er umfaßte je nach Definition ein Dutzend, allenfalls zwanzig Akteure. Im Jahre 1962, als die Wundertäter im Zenit ihrer zweiten Karriere standen und das abermalige »deutsche Wirtschaftswunder« schon wieder zu Ende ging, bilanzierte Ralf Dahrendorf, damals noch Soziologieprofessor in Tübingen: »Die unbekannteste Führungsgruppe der deutschen Gesellschaft der Bundesrepublik ist die, die ihr zugleich mindestens äußerlich das Gepräge gibt: die wirtschaftliche Oberschicht, die als Schöpfer und Nutznießer des Wirtschaftswunders die neue Gesellschaft vor allem kennzeichnet.«11
Die Wirtschafts- und Finanzgewaltigen der bundesdeutschen Gründerzeit, von A wie Abs bis Z wie Zangen, sind inzwischen fast alle verstorben und vergessen, und das, obwohl sie ein staunenswertes Stück Zeitgeschichte mitschrieben und sich darauf viel zugute hielten. Wer kann heute noch etwas mit Namen wie Heinrich Kost, Carl Wurster, Ulrich Haberland, Heinrich Nordhoff oder Willy H. Schlieker anfangen?
Daß das Lebenswerk dieser Wundertäter gerade eine späte, unvermutete und unreflektierte Renaissance erlebt und von Politikern aller Couleur in seltener Einhelligkeit, wenn auch höchst verschwommen, gepriesen wird, ist nur ein Grund mehr, sich der historischen Gestalten zu erinnern, ohne die der Wiederaufbau und das »Wirtschaftswunder« nun einmal nicht zu haben waren – im guten wie im schlechten. Ein Rezept für die Lösung der heutigen Krise ist daraus nicht abzulesen. Eines jedoch darf man aus dieser Geschichte lernen: Auch Wunder müssen gemacht werden.
1
Speers »Kindergarten« und die deutsche Kriegswirtschaft (1942 bis 1945)
Am Samstag, dem 24. Juni 1944, veranstaltete Albert Speer, der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, im oberösterreichischen Linz eine Heerschau seines eigenen Herrschaftsbereichs. Ihm lag daran zu beweisen, daß er nach seinem zeitweiligen politischen »Absturz« aus der Gnade des Führers und einer schweren Krankheit wieder auf der Höhe war. In dem beschaulichen Donaustädtchen versammelte er die Paladine der Rüstungsindustrie, Ausschußvorsitzende und eigene Mitarbeiter, insgesamt etwa 150 Personen. Um die gedrückte Stimmung der Versammlung zu heben, verbreitete Speer ungeniert »Phantastereien« über die Zukunft, sprach von weiteren Rüstungssteigerungen in den nächsten Monaten und zeigte sich überzeugt, daß in den Betrieben noch immer Reserven bis zu 30 Prozent steckten.12
Als er sich nach dem Krieg daran erinnerte, erschrak er über die »fast grotesk wirkende Tollkühnheit, ernsthaften Männern den Gedanken einzureden, daß immer noch eine äußerste Anstrengung den Erfolg bringen könne«.13
Der verzweifelte Zweckoptimismus des Ministers täuschte niemanden über den Ernst der Lage hinweg. Am 6. Juni 1944, dem »längsten Tag« des Krieges, waren die Alliierten in der Normandie gelandet und hatten die zweite Front eröffnet, die Stalin immer wieder angemahnt hatte. Vierzehn Tage später begann die Rote Armee mit dreifacher Überlegenheit eine Offensive, die zehn Monate später mit der Einnahme Berlins endete. Seit Mai 1944 bombardierte die US Air Force die deutsche Treibstoffindustrie nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Der auf Hochtouren laufenden deutschen Kriegsmaschine drohte das Öl auszugehen.
Die in der ersten Reihe Sitzenden Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und SS-Oberführer Hans Kehrl, Speers Chef des Rohstoff- und Planungsamtes, auch als »Manager der Großraumwirtschaft« in die Annalen des »Dritten Reichs« eingegangen, versicherten sich sechs Jahre später während ihrer Haft in Landsberg, daß ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits der Glaube an einen »erträglichen« Kriegsausgang abhanden gekommen war. Kaum anzunehmen, daß die Mehrzahl der Anwesenden anderer Ansicht gewesen wäre.
Eine Gästeliste der Linzer Tagung ist nicht aufzufinden, aber Speers engste persönliche Mitarbeiter waren mit großer Wahrscheinlichkeit mit von der Partie. Zum Beispiel der junge Willy H. Schlieker, Jahrgang 1914, der später in der Bundesrepublik als Werftbesitzer Schlagzeilen machte. Wegen seiner hemdsärmligen Umgangsformen war er bei der älteren Generation der Wirtschaftsführer als »Rotzlöffel« verschrien. Aber er war wichtig. Die Zuteilung und Kontrolle der Rohstoffe in der Eisen- und Stahlindustrie lagen in seiner Hand. Oder Ernst Wolf Mommsen: Der gelernte Jurist war der Verbindungsmann der Reichsgruppe Industrie zum Rüstungsministerium und ein Vertrauter des Ministers. Mommsen stellte 1963 den schwarzen Mercedes zur Verfügung, mit dem Speer vom Spandauer Gefängnis abgeholt wurde. In der Bundesrepublik brachte es Mommsen in der Wirtschaft noch bis zum Krupp-Chef und krönte seine Karriere als Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Zu Speers Entourage gehörte auch Theo Hupfauer, Jahrgang 1901, ein SS-Spitzenfunktionär, der im letzten Kriegsjahr Speers Amtschef war und den Hitler in seinem politischen Testament zum Arbeitsminister ernannte. Nach dem Krieg tauchte er in die bürgerliche Unauffälligkeit ab und betrieb in München ein Im- und Exportgeschäft. Die Alliierten erkannten nie, welche vergleichsweise bedeutende Position er innegehabt hatte. Mit dabei war auch der Ingenieur Paul Pleiger, der sich mit Görings Hilfe zum Herrn über den größten NS-Staatskonzern, die »Reichswerke Hermann Göring«, aufschwang – ein Prolet, den selbst die »Ruhrbarone«, denen er in die Quere kam, furchterregend fanden.14 Er war einer der wenigen, die nach dem Krieg politisch nicht überlebten. Der spezielle Moralkodex der westdeutschen Industrie-Eliten zog nach 1945 »sehr feine Linien zwischen die Kollegen, die akzeptabel, gerade noch akzeptabel und nicht mehr akzeptabel waren«. 15
In seinem Bericht über die Tagung nannte der »Völkische Beobachter« vier Personen, die Speer mit Kriegsverdienstkreuzen auszeichnete, darunter Dr. Ing. Fritz Lüschen, Leiter des Hauptausschusses Elektrotechnik, ein Pionier der Nachrichtentechnik und stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Siemens & Halske. Im Juni 1945 nahm er sich in Berlin das Leben.
Nach der Sitzung lud Speer seine Gäste zu einem Konzert in die Stiftskirche Sankt Florian ein. Die Vierte Sinfonie von Bruckner und ein nächtlicher Imbiß bei Kerzenschein im Marmorsaal des Stifts habe sie für kurze Zeit in eine schönere Welt versetzt, erinnerte sich Hans Kehrl.
Höhepunkt der Tagung sollte eine Audienz bei Hitler auf dem Obersalzberg sein. Daran war Speer vor allem gelegen. Er selber brauchte ein sichtbares Zeichen des Rückhalts. Auch den Managern, die zunehmend von Parteistellen kritisiert wurden, wollte er einen Vertrauensbeweis des Führers verschaffen. Mit Autobussen wurden sie zum Platterhof gefahren, dem Hotel für die Gäste des Führers, der Kaffeesaal diente als Auditorium.
Die Erwartungen waren hochgeschraubt, doch der Auftritt Hitlers war eine Katastrophe und endete mit einem Eklat. »Es sah beinahe so aus, als ob Speer ihn wie eine Puppe aufs Podium schieben mußte.« Der Führer wirkte seltsam abwesend, verlor immer wieder den Faden und ließ zur Enttäuschung seiner Zuhörer »nichts von der militärischen Lage, nichts von den Luftangriffen, nichts von womöglichen Wunderwaffen, nichts von der Lage in den besetzten Gebieten« verlauten. Statt dessen erschreckte er sie mit einer Kostprobe seines radikalen Zynismus und malte ihnen die Zukunft »wenn der Krieg verlorenginge« in düstersten Farben aus: »… meine Herren, dann brauchen Sie keine Umstellung (auf Friedenswirtschaft) vorzunehmen. Dann bleibt nur, daß jeder einzelne sich seine private Umstellung vom Diesseits zum Jenseits überlegt: ob er das persönlich machen will oder ob er sich aufhängen lassen will oder ob er verhungern will oder in Sibirien arbeiten will – das sind die einzigen Überlegungen, die dann der einzelne zu machen braucht.«16 Vielleicht lag es an den betretenen Mienen seines Publikums oder an seinem chronischen Erschöpfungszustand, daß Hitler sich danach nie wieder zu einer Ansprache vor größerem Publikum aufraffte.
Adolf Hitler bei einem Treffen von Wirtschaftsführernauf dem Obersalzberg am 26. Juni 1944; am Rednerpult:Albert Speer.
Die Industriellen waren zutiefst erschrocken. Schließlich hatte der Führer und Reichskanzler höchstpersönlich das Ende seiner Herrschaft mit ihrem eigenen Untergang gleichgesetzt. Offenbar war er nicht mehr Herr seiner selbst, mutmaßte Hans Kehrl. War er denn noch regierungsfähig? Im Bus »drehten sich alle unsere Gespräche eigentlich nur darum: ›Warum hat uns das nie jemand gesagt?‹«17 Auch Speer, der sich einen Motivationsschub erhofft hatte, war erschüttert: »Wir alle waren wie vor den Kopf geschlagen.«
Seit er zwei Jahre zuvor das Ministerium für Bewaffnung und Munition in Berlin, Pariser Platz 4, übernommen hatte, scheinen Momente der Besinnung bei ihm und seinen Mitarbeitern eher selten gewesen zu sein. Bei seiner Ernennung war er 37 Jahre alt und »außer sich vor Freude«18 über die Größe der Aufgabe. Sie war eine unwiderstehliche Herausforderung für ihn, erzählte seine Sekretärin nach dem Krieg – »er triumphierte. Die Welt gehörte ihm.«
Im Dezember 1941 waren die schlecht ausgerüsteten deutschen Truppen vor Moskau im Schnee steckengeblieben. Im früh einsetzenden russischen Winter mußte die deutsche Wehrmacht ihren ersten schweren Rückschlag hinnehmen und das Gesetz des Handelns der Gegenseite überlassen.
Speer, der seine Karriere bislang als der Lieblingsarchitekt Hitlers gemacht hatte, verstand von Rüstung wenig – aber der Führer hatte ein Faible für Dilettanten. Entscheidend war für ihn Speers großes Organisationstalent. Mit seiner Hilfe hoffte Hitler, dem Zuständigkeitschaos in der Kriegswirtschaft ein Ende machen und die kriegsentscheidende Wende herbeizwingen zu können.
Es war nicht so, als hätte Speer das wohlbegründete Urteil seines Vorgängers Fritz Todt vergessen: Der hatte den Krieg für aussichtslos erklärt. Aber Speers Ehrgeiz verdrängte alle Bedenken. Mit Feuereifer und einem Führerbefehl im Rücken fing er an, die Rüstungsproduktion von seinem Schreibtisch aus zu koordinieren und sie der riesigen Heeresbürokratie zu entziehen. Als Mitarbeiter brauchte er Leute mit starken Nerven und kräftigem Biß. Amtschefs, die älter als 55 Jahre alt waren, hielt er auf Distanz. In diesem Alter herrschten, fand Speer, »Routine und Anmaßung« vor. War kein geeigneter Ersatz zur Stelle, sollten wenigstens die Stellvertreter nicht älter als vierzig Jahre alt sein. So kam es, daß in seinem relativ kleinen Ministerium – bis Kriegsende arbeiteten dort nicht mehr als 220 Beamte – jugendliche Gesichter das Bild bestimmten, ebenso in dem riesigen Heer von über zehntausend Managern und Technikern aus allen Bereichen der Industrie, die Speers Direktiven in den Rüstungsbetrieben umsetzen sollten.
Hitler selbst prägte für diesen »Jugendstil« des Rüstungsministeriums das Wort von »Speers Kindergarten«. 6000 hochmotivierte Jungmanager, allesamt deutlich jünger als fünfzig, hatten am Ende für den »Endsieg« gearbeitet. Mit ihnen beginnt die Personalgeschichte des »Wirtschaftswunders« der fünfziger Jahre. Sie waren auf die Härten der Nachkriegswirtschaft bestens vorbereitet – darunter einflußreiche Unternehmenschefs wie VW-Chef Heinrich Nordhoff und Thyssen-Chef Hans-Günther Sohl, umtriebige Handelsherren wie Josef Neckermann und ehrgeizige Technikpioniere wie Ernst Heinkel, aber auch Professoren – zum Beispiel der Statistiker Rolf Wagenführ, der für die einheitliche Grundlage der Rohstoffbilanzen sorgte. Nach dem Krieg setzte er seine Karriere erst bei der Gewerkschaft und später als Leiter der statistischen Abteilung der Montanindustrie in Luxemburg fort und beschloß sie als Professor in Heidelberg. Oder Karl-Maria Hettlage, ein Jurist, der während des Krieges Leiter der Finanzund Wirtschaftsabteilung bei Speer war und später Finanzberater von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Als Staatssekretär (1958 bis 1962 und 1967 bis 1969) war er der maßgebende Mann im Bundesfinanzministerium.
Speers »Buben«, wie die Riege der Dreißig- bis Vierzigjährigen spöttisch genannt wurde, waren in erster Linie tüchtige Techniker und fähige Ingenieure. Nicht wenige von ihnen hatten in den frühen dreißiger Jahren erlebt, was es heißt, arbeitslos zu sein. Sie waren loyale und oft überzeugte Nationalsozialisten, die ihren Weg erst mit Kriegsbeginn in der Rüstungswirtschaft gemacht hatten und sich mit ganzer Kraft in den Dienst der Hitlerschen Kriegsziele stellten. Der Köder, mit dem sie für das Regime gewonnen wurden, war die magische Formel der Nazis: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Die Nazis hatten den jungen, noch »formbaren« Männern Rückenwind gegeben, interpretierte Albert Speer. Ihre berufliche Zukunft schien gesichert. Die Glorifizierung der Technik durch die Nazis konnte sie in dieser Überzeugung nur bestärken.
Generell galt die Faustregel: Geisteswissenschaftler mit weltanschaulichen Bedürfnissen heuerten eher bei Gestapochef Heinrich Himmler im Reichssicherheitshauptamt an, während Ingenieure mit ihrem Sinn für das Machbare und Praktische den Weg ins Speer-Ministerium suchten. Aber das wäre ein eigenes Kapitel.
Sie alle hätten der Denkschrift, die ihr Chef am 20. September 1944 an Hitler sandte, ohne Abstriche zustimmen können: »Die Aufgabe, die ich habe, ist eine unpolitische. Ich habe mich so lange in meiner Arbeit sehr wohl gefühlt, als meine Person und auch meine Arbeit nur nach der fachlichen Leistung gewertet wurden.«19 Die meisten von ihnen behaupteten, zumal in der Rückschau, Politik nur als »komischen Lärm im Hintergrund« wahrgenommen zu haben, wie der Flugzeugkonstrukteur Ernst Heinkel in seinen Erinnerungen schrieb. Das klingt wie eine pseudonaive Strategie der Selbstentlastung.
Was sie dagegen sehr wohl wahrnahmen, waren die Adrenalinstöße, die ihnen das »System Speer« in regelmäßigen Abständen versetzte. Sie waren der Macht nahe, standen im Mittelpunkt des Nazikosmos und wurden mit Herausforderungen konfrontiert, die ein Engagement mit Leib und Seele verlangten. Ob sie nun die Kontingentierung der Rohstoffe flexibilisierten, ob sie Millionen Tonnen von Eisen und Stahl, die Hauptwährung des Krieges, von einer Ecke des »Großgermanischen Reiches« in die andere verschoben, ob sie binnen Minuten über den Einsatz von Tausenden von Fremdarbeitern entschieden – in ihren kurzen schnellen Karrieren wurden sie für alles trainiert, was ihnen auch beim Wiederaufbau von Nutzen sein konnte: das Planen in großen Dimensionen, ein drakonischer Managementstil, der Hindernisse mit Phantasie und Brutalität überwandt, und der unbekümmerte Umgang mit beträchtlichen Risiken. Allerdings brauchten sie sich von juristischen Problemen auch nicht anfechten zu lassen. Nebenbei knüpften sie Beziehungen, die auch nach dem Zusammenbruch tragfähig blieben. Nur eines lernten sie nicht: Von Finanzen hatten »Speers Buben« wenig Ahnung – ein Defizit, das sich in den spektakulären Pleiten manifestierte, die manch einer von ihnen im Wirtschaftswunder erlebte. Geld spielte bei Speer keine Rolle. Seine Leute durften drauflos wirtschaften, nur das Ergebnis zählte.
Das Prinzip größtmöglicher Effizienz war auch bei der rigorosen Umstrukturierung und Zusammenfassung der Rüstungsproduktion Speers Mantra. Ausgerechnet von Walther Rathenau, dem jüdischen Wirtschaftsorganisator des Ersten Weltkrieges, borgte er sich das Zauberwort von der »Selbstverantwortung der Industrie«. Mit ihm machte er den Managern die von seinem Vorgänger Todt geschaffenen Hauptausschüsse – für Panzerbau, Munition, Waffen, allgemeines Wehrmachtsgerät, Maschinen und so fort – schmackhaft, die er zielstrebig erweiterte. Die Ausschüsse flankierte er durch ein System von »Ringen«, die auch die Zulieferproduktion einschlossen. Speers »Buben« stand damit eine Spielwiese offen, auf der sie ihrem unternehmerischen Elan freien Lauf lassen konnten.
Was die nackten Zahlen anging, schien der Erfolg Speer recht zu geben. Der Ausstoß der gesamten deutschen Rüstungsproduktion schnellte von Anfang 1942 bis Mitte 1944 auf das Dreifache hoch. Der absolute Höhepunkt – allen alliierten Luftangriffen zum Trotz – wurde Ende August 1944 erreicht. Durch die endlosen Niederlagen und Rückzüge an allen Fronten, die dem Untergang der Sechsten Armee in Stalingrad folgten und die Wende des Krieges anzeigten, gingen der Wehrmacht jedoch tagtäglich gewaltige Mengen an Panzern, Waffen und Kriegsgerät aller Art verloren. Im Jahr 1943 fertigten die deutschen Rüstungsbetriebe rund 25 000 Flugzeuge, 11 000 Panzer und 100 000 Geschütze – die USA, die Sowjetunion und England zusammen brachten es dagegen auf rund 146 000 Flugzeuge, 70 000 Panzer und 600 000 Geschütze, Tendenz steigend. Viele der alliierten Fabrikate, etwa der russische Panzer vom Typ T-34 oder die Bomber und Begleitjäger der Briten und Amerikaner, waren den deutschen Typen auch qualitativ überlegen.
1944 gelang es Speer noch einmal, die deutsche Rüstungsmaschinerie zu einer nicht mehr für möglich gehaltenen Höchstleistung hochzupuschen. Selbst wenn man Speers notorische Schönfärbereien einkalkuliert, lagen die Produktionsziffern weit über den Vergleichszahlen von 1940 bis 1943. Im vorletzten Kriegsjahr liefen in Deutschland sage und schreibe 27 000 Panzer und fast 40 000 Flugzeuge aus den Fabrikhallen. Die Steinkohleförderung bewegte sich noch immer gut zehn Prozent über dem Vorkriegsniveau, und die Treibstofferzeugung übertraf im ersten Quartal 1944 sogar die hochgesteckten Erwartungen der dynamischen Rüstungsplaner in Speers Ministerium.
In der Stahlherstellung konnten die Kapazitäten bis Oktober 1944 zu fast einhundert Prozent ausgereizt werden, wie Speers Panzerfachmann Walter Rohland, genannt »Panzer-Rohland«, stolz vermeldete. Der promovierte Eisenhüttenfachmann, Jahrgang 1898, war im November 1943 zum Vorstandsvorsitzenden der 1926 gegründeten Vereinigten Stahlwerke (VSt), Europas größtem Stahlerzeuger, aufgestiegen. Neben dem »Arbeitsausschuß Panzerfertigung« unterstand ihm auch die Abteilung Eisen und Stahl im sogenannten Ruhrstab des Ministeriums. Rohland war durchaus repräsentativ für die neue Generation, die mit Speer auch an der Ruhr, dem industriellen Herzen Deutschlands, ans Ruder kam und sich an den schwindelerregenden Produktionssteigerungen regelrecht berauschen konnte. Am 19. Dezember 1944 hatte er in einem Vortrag in der Gesamtvorstandssitzung der Vereinigten Stahlwerke (VSt) sogar Goethes »Faust« ins Feld geführt, um seinen verzagenden Kollegen neuen Elan einzuflößen: »Ja, und fändet ihr, was gestern ihr gebaut, schon wieder eingestürzt, Ameisen gleich nur frisch die Trümmer aufgeräumt! Und neuen Plan ersonnen, Mittel neu erdacht.« Der effiziente Technokrat durfte für seine Leistungen das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz entgegennehmen – was Werner Höfer, den Journalisten und späteren Fernsehmann zu einer schmetternden Laudatio in Goebbels’ Wochenzeitung »Das Reich« inspirierte.
»Es war wie ein Wunder«, bemerkte Hans Kehrl staunend: »Trotz der Verschärfung des Luftkrieges und unserer zunehmenden Hilflosigkeit gegenüber diesen Angriffen stieg die Produktion auf allen Gebieten.«20 Mit dem Jahresausstoß an Kriegsmaterial hätten sich 1944 laut Speer 225 Infanteriedivisionen neu aufstellen lassen – wenn es die Leute dafür denn noch gegeben hätte.
Der Preis für diesen Kraftakt, der auch den Alliierten in Anbetracht ihrer vernichtenden Bombardements wie ein »deutsches Rüstungswunder« vorkam, war immens. »Tatsächlich waren die Produktionsleistungen beeindruckend, aber im Wettlauf mit dem drohenden Untergang nur das Ergebnis letzter, verzweifelter Anstrengungen. Sie bedeuteten zum Beispiel eine 72-Stunden-Woche für Arbeitskräfte, den Verbrauch letzter Reserven und die fast völlige Stillegung der zivilen Industrie, von Handel und Handwerk zugunsten der Rüstung. Man muß außerdem sehen, daß im gleichen Zeitraum die Wehrmacht ebenso viele Waffen im Kampf an allen Fronten einbüßte, wie Speer produzieren ließ. Je mehr Jagdflugzeuge er zum Beispiel ablieferte, desto mehr wurden abgeschossen, weil es sich um veraltete Modelle handelte und nicht genügend Treibstoff für die Pilotenausbildung zur Verfügung stand.«21 Und nicht zu vergessen: Dieses sogenannte Rüstungswunder war »stark zwangsarbeitergesteuert« (Ulrich Herbert), 7,8 Millionen im August 1944.
Die Nemesis holte Speer Mitte Mai 1944 ein. Er konnte nicht länger leugnen, daß die riesigen Verluste nicht mehr auszugleichen waren. Wer jetzt noch die gerade anlaufende alliierte Luftoffensive, die Invasionsfront in der Normandie und die Vernichtung der Heeresgruppe Mitte zusammenrechnete – eine Niederlage, gegen die Stalingrad nur ein Vorspiel gewesen war -, konnte nur zu einem Resultat kommen: Der Krieg war für Deutschland verloren – militärisch, rüstungstechnisch und politisch.
Den Rüstungsmanagern, die am 26. Juni 1944 Hitlers Auftritt im Platterhof erlebten, hat seine Rede noch ein leichtes Frösteln angesichts des Abgrunds verursacht, aber die meisten wußten damals schon längst, was die Stunde geschlagen hatte. Nur wagte es keiner laut auszusprechen. Walter Rohland sagte es leise – schon nach dem vor Moskau erfrorenen »Blitzkrieg« Hitlers. Fritz Todt, Speers nüchterner Vorgänger, hatte es Ende November 1941 sogar gewagt, dem Führer die Niederlage vorauszusagen. Acht Wochen später kam er bei einem Flugzeugunglück, das Anzeichen eines Mordanschlags trug, ums Leben.
Bei seinen Ausführungen in der Reichskanzlei hatte sich Todt auf die Einschätzung von Walter Rohland gestützt. Der jedoch setzte in der Folgezeit alles daran, die Ende 1941 als unabwendbar erkannte Niederlage mit allen Kräften hinauszuzögern. Als litten sie an einer schizophrenen Bewußtseinsspaltung, taten »Speers Buben« alles, was in ihren Kräften stand, um das Ende hinauszuschieben. »Es war, als würden Schauspieler ein Drama unbeirrt zu Ende spielen, obgleich der Hintergrund, das Szenarium, vor dem das Drama abläuft, schon längst nicht mehr vorhanden ist.«22
Einer, der zu helle war, um das Unheil nicht zu ahnen, aber auch zu vorsichtig, um gute Geschäfte aufs Spiel zu setzen, war Josef Neckermann, geboren 1912 in Würzburg und durch die Arisierung eines jüdischen Kaufhauses und die Übernahme eines Wäscheversands in den 1930er Jahren zu einigem Wohlstand gekommen. Mit seinen ersten Großaufträgen für Fritz Todts Organisation – »60 000 Wolldecken, die grauen, unten abgenäht«, dazu »Blaumänner und warme Unterwäsche« – hatte er gute Erfahrungen, sprich Gewinne, gemacht. Anfang 1942 erhielt Neckermann den Auftrag, für die frierenden deutschen Landser eine Winteruniform zu entwerfen, die den russischen Schneestürmen mit Temperaturen von bis zu dreißig Grad unter Null standhalten sollte. Am 19. April 1942 flog er zusammen mit Albert Speer in einer Ju 52 in Hitlers Hauptquartier, in die »Wolfsschanze« bei Rastenburg.
Für den folgenden Vormittag, zufällig Hitlers 53. Geburtstag, stand die Präsentation der neuen Uniformen auf dem Programm. Der Würzburger war nicht der einzige Gewerbetreibende, der sich zu diesem Zeitpunkt in der »Wolfsschanze« aufhielt. Am selben Tag sollte auch Ferdinand Porsches »Tiger-Panzer« vorgeführt werden. Hitler, der zu Neckermanns Erstaunen Make-up im Gesicht trug, zeigte sich mit der neuen Winterausrüstung vollauf zufrieden. Der Textilhändler konnte aufatmen. Aus der Fassung brachte ihn erst die abendliche Runde im Gästehaus des Hauptquartiers mit den »Herren der Schwerindustrie«, die soeben ihren neuen Panzer vorgeführt hatten. »Ich war erstaunt, mit welcher Offenheit in diesem Kreis davon gesprochen wurde, daß der Krieg nur mehr durch ein Wunder zu gewinnen sei, an das niemand mehr glaube.«23
Im Sommer 1945 mutmaßte die »Neue Zürcher Zeitung«, wahrscheinlich hätten »verantwortungsvolle Betriebsführer« schon seit der durch die Katastrophe in Stalingrad markierten Kriegswende in aller Stille damit begonnen, Vorbereitungen für die Nachkriegszeit zu treffen. Viele hätten wohl darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn kein Kriegsgerät mehr gebraucht würde.
Der »unternehmerische Weitblick«, den das Blatt den deutschen Industriellen unterstellte, war tatsächlich vorhanden. Im Ruhrrevier planten die Bergwerksdirektoren seit 1942 mehr oder minder unverhohlen über den Krieg hinaus. Es fing damit an, daß sie ihre auf Hochglanz gewienerten Maybachs und Daimlers zum Schutz vor Bomben und Trümmern in unterirdischen Stollen einmauern ließen. Nach Kriegsende waren sie unversehrt zur Hand.
Der 1891 geborene Wilhelm Zangen, seit 1934 Generaldirektor der Mannesmann Röhrenwerke und einflußreicher Leiter der Reichsgruppe Industrie, trug von Anfang an auf zwei Schultern. Nach außen hin unterstützte er das Regime, finanzierte aber hinter dessen Rücken seit 1942 dem jungen Nationalökonomen Ludwig Erhard das private »Institut für Industrieforschung« in Nürnberg. Die Nazis hatten dem gebürtigen Fürther die Habilitation verweigert und ihm allerhand Steine in den Weg gelegt. Mit Zangens Hilfe konnte Erhard in aller Ruhe weiter über die deutsche Nachkriegswirtschaft nachdenken. Das Ergebnis legte Erhard im März 1944 auf den Tisch: eine Denkschrift mit dem harmlosen Titel »Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung«. Das brisante Manuskript, 1944 ohne weiteres dazu angetan, seinen Besitzer an den Galgen zu bringen, trug Erhard so unbekümmert in seiner Aktentasche mit sich herum, daß es Theodor Eschenburg, der sich damals als Geschäftsführer eines Kartells für Reißverschlüsse und Perlmuttknöpfe über Wasser hielt, fast den Atem verschlug. »Es war eine gespenstische, Angst und Bewunderung erregende Lektüre«,24 schrieb er später.

ENDE DER LESEPROBE

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Erste Auflage Dezember 2007
 
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