Die Zeit der Mörder - Philippe Soupault - E-Book

Die Zeit der Mörder E-Book

Philippe Soupault

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Beschreibung

"Die Zeit der Mörder" ist ein außergewöhnliches Zeitdokument, in dem der Autor seine Mitgefangenen, seien es gewöhnliche Kriminelle oder Widerstandskämpfer, porträtiert, über die Demütigungen und Erniedrigungen berichtet, die sie Tag für Tag erleiden müssen. Er beschreibt den Gefängnisalltag, wird zum Vertrauten der Gefangenen. In seinen Beschreibungen steckt seine ganze Verachtung für das faschistische Regime und deren menschenverachtendes System. "Die Zeit der Mörder" ist eine Zeitkapsel von besonders erschreckender Aktualität.

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Dieses Buch erschien erstmalig 1945 im Verlag

Éditions de la Maison Française in New York.

© Éditions Gallimard, Paris 2015

© der deutschen Übersetzung:

Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2017

Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagabbildung: Foto Ré Soupault: Philippe Soupault in Tunesien, 1940 © 2017 VG Bild-Kunst Bonn/Manfred Metzner

eISBN 978-3-88423-571-3

Philippe Soupault

Die Zeit der Mörder

aus dem Französischenvon Holger Fock und Sabine Müller

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

About the Author

Es mag vielleicht seltsam und sogar ziemlich unangebracht erscheinen, 1945 ein Buch mit Erinnerungen an einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt zu veröffentlichen. Außerdem scheint ein halbes Jahr in Haft (vor allem für diejenigen, die nie in einem Gefängnis eingesperrt waren) eine kurz Erfahrung zu sein, wo doch Millionen von Männern und Frauen seit mehreren Jahren in Gefangenschaft gelebt haben (und noch leben) und Millionen von Menschen hinter den Stacheldrahtzäunen der Konzentrationslager gelitten haben und umgekommen sind.

Doch gerade weil Millionen von Menschen aus allen Ländern zu Gefangenen geworden sind und es selbst nach ihrer Befreiung ihr ganzes Leben lang bleiben werden, habe ich gedacht, dass diese Erinnerungen an eine Inhaftierung veröffentlicht gehören.

Man scheint das Problem der Häftlingsgeneration, wenn auch nicht zu vergessen (ich weiß durchaus, dass es „Hilfswerke“ gibt, Unternehmen, die mit Wohltätigkeitsvereinen vergleichbar sind und die sich um Kriegsgefangene oder politische Gefangene kümmern, aber aus Mildtätigkeit, was ich in diesem Fall empörend finde), so doch zu verharmlosen. Ein sehr großer Teil der europäischen Jugend, ein Teil der besten jungen Leute Nordamerikas hat mehrere Monate oder mehrere Jahre lang die Prüfungen der Gefangenschaft ertragen müssen. Diese Gefangenen sind ungeheuren Belastungen unterworfen, die niemand ermessen kann, der sie nicht selbst erlebt hat. Die Jahre, die sie unter solchen anormalen Bedingungen (das ist das Mindeste, was man sagen kann) verbracht haben, hinterlassen tiefe Spuren. Wer aus den Gefängnissen oder aus den Lagern kommt, wird ein anderer Mensch sein als der, den man einen freien Menschen nennt. Meines Erachtens ist es durchaus gerechtfertigt zu sagen, dass man diese Menschen verkennt, sollte man sie nicht etwa ganz vergessen haben. Man spricht immer wieder von der Rückkehr der Gefangenen, erklärt, dass man ihnen einen „Platz“ bereithält, wenn sie zurückkommen, aber man will nicht zur Kenntnis nehmen, in welchem Zustand sie zurückkommen werden. Man glaubt ganz und gar zu Unrecht, sie könnten eines Tages, eines schönen Tages, dem ihrer Befreiung, „ihren Platz“ wieder einnehmen unter den Menschen, die nie in Ketten gelegt waren, unter denjenigen, die man völlig unzutreffend ihresgleichen nennt.

Ein Gefangener ist nicht nur ein Mensch, den man eingesperrt hat. Man hat ihm – und daran erinnert er sich unaufhörlich – mehrere Monate oder mehrere Jahre seines Lebens geraubt, man hat ihm nicht nur seine Unabhängigkeit, sondern auch seine Freiheit genommen. Man hat ihn nicht nur ausgeschlossen, man hat ihn gezwungen, nur noch an seine Flucht zu denken. Eine Gefangenschaft ist kein Rückzug, man kann dabei seine Gedanken nicht lenken, wie man will, es ist vor allem eine Schule der Revolte. Wer im Gefängnis lebt, denkt und träumt nicht, weil ihm das gefällt, sondern weil man ihn zwingt, nachzudenken und zu träumen.

Er ist verwandelt. Der Mensch, der aus dem Gefängnis kommt, ist ein vollkommen anderer, als der, der einige Zeit zuvor in den Kerker oder in ein Lager kam. Das kann man gar nicht oft genug sagen.

Diese Männer und Frauen, all die Männer und Frauen, die einmal jung waren, werden zurückkommen. Man wird sie bedauern, sie – ich habe keine Zweifel daran – mit offenen Armen aufnehmen, dann wird man vergessen, dass sie besondere Wesen sind, man wird ihnen ihr Benehmen „verzeihen“, das „seltsam“ erscheinen wird. Ich muss mich nur an das Schicksal der Kriegsgefangenen von 1914-1918 erinnern, dann weiß ich, wie man mit denen von 1939-1945 umgehen wird. Ich muss mich nur daran erinnern, wie ich nach meiner Freilassung aus dem Gefängnis aufgenommen wurde und wie ich darauf reagiert habe.

Anscheinend kümmert man sich viel und mit mehr oder weniger Hellsichtigkeit um das Problem der Klassen, der Arbeit und des Kapitals, weil daran weiter gearbeitet werden muss, man interessiert sich auch ein wenig für das Generationenproblem, das Problem der Gefangenen fasst man jedoch nur sehr selten oder eigentlich so gut wie nie ins Auge.

Mit der Veröffentlichung dieser Erinnerungen eines Häftlings möchte ich, soweit es im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten liegt, die Aufmerksamkeit auf die geistige Verfassung der ungeheuren Masse von Gefangenen lenken. Ich habe mich bei diesem Buch bemüht, Gefangene auf die einfachste Weise darzustellen, die mir möglich ist. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus (man wird es auf den folgenden Seiten bemerken am sehr häufigen, am sicher zu häufigen Gebrauch von: „ich staunte“, „ich war fassungslos“ und ähnlichen Wendungen). Tatsächlich erinnere ich mich sehr gut, dass mich zu Beginn meines Gefängnisaufenthalts das Leben, das ich dort führte, gerade deshalb überraschte, weil es nichts Seltsames, Außergewöhnliches oder Unvorhersehbares hatte. Erst nachdem ich einige Zeit in meiner Zelle verbracht hatte, musste ich mir eingestehen, dass dieses Leben nicht nur außerordentlich war, sondern unvorhersehbar oder, besser gesagt, unannehmbar. Während der gesamten Dauer meiner Gefangenschaft hat mein Erstaunen darüber nie nachgelassen. Die ganze Zeit über konnte ich es nicht hinnehmen und mich damit abfinden; ich kann es noch immer nicht. Und meine Genossen und alle anderen Gefangenen dachten mehr oder weniger bewusst wie ich. Dieses fortwährende Staunen hat mich allerdings gelehrt, mich in acht zu nehmen. Trotz all meines guten Willens und meiner Beflissenheit bin noch nicht überzeugt davon, dass ich die Psychologie des Häftlings wirklich verstanden habe. Wie schon beim Schreiben des ersten Teils meiner Memoiren, Geschichte eines Weißen*, habe ich bei der Aufzeichnung dieser Erinnerungen versucht, ein unmittelbares und vollständiges Zeugnis abzulegen. Dieses Zeugnis sollte so aufrichtig sein wie es einem Menschen möglich ist – das war jedenfalls meine Absicht in Erinnerung an den Rat von Charles Péguy: „Die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit, schlichtweg die schlichte Wahrheit sagen, unangenehm die unangenehme Wahrheit, traurig die traurige Wahrheit.“

Gerade die Wahrhaftigkeit des Zeugen rechtfertigt, daran zweifle ich nicht, die Veröffentlichung dieses Buches, sie vermag ihm einigen Wert zu geben.

Es gibt etliche, wenngleich viel zu wenige Werke von unbestreitbarer Aufrichtigkeit, die von Häftlingen geschrieben worden sind und in denen sie von ihren Leiden und ihren Abenteuern erzählen. Ich bedaure, dass man diesen Berichten im Allgemeinen nicht die Aufmerksamkeit geschenkt hat, die sie verdienten. Diese Bücher hätten eigentlich alle, die das Glück haben, frei zu sein, zutiefst aufwühlen müssen. Ich glaube, ich weiß den Grund für die Gleichgültigkeit zu vieler Menschen, eine Gleichgültigkeit, die zu erschüttern ich mir – leider – nicht einbilden kann. Die Berichte von entflohenen Häftlingen, die man veröffentlicht hat, waren von Männern in bester Absicht geschrieben worden, doch sie waren keine Schriftsteller. Diese Amateure, die unter dem Eindruck des Erlebten schreiben, um sich in gewisser Weise von ihren Erinnerungen zu befreien, und die die Gelegenheit „nützen“, die man ihnen bietet, machen Literatur, wie Monsieur Jourdain einst Prosa, im Glauben, beim Schreiben müsse man eloquent, pittoresk, tragisch, bewegend sein. Um keine Literatur zu machen, scheint es mir wichtig, zu wissen, was Literatur ist und sie zu verabscheuen, wie ein Schriftsteller, der dieser Bezeichnung würdig ist, sie hassen kann. Da ich schon viel (viel zu viel) geschrieben habe, weiß ich, welcher Aufmerksamkeit, welcher Sorgfalt, welcher Wachsamkeit es bedarf, um einfache und wahre Dinge aufrichtig und einfach auszudrücken. Die schönen Sätze, die Schleifen, die großen Worte dienen dazu, das Unvermögen oder auch nur die Unbeholfenheit zu verbergen. In der Hoffnung, auf diese Weise allen beizuspringen, die ihre Erinnerungen an ihre Gefangenschaft veröffentlicht haben, habe ich mich um das bemüht, was man Wahrheit nennt, ohne Literatur zu machen, nicht einmal unbeabsichtigt. Auf keinem Gebiet, dessen bin ich mir sicher, ist „die Literatur“ so hassenswert wie auf dem des Leidens. Mit welchem Zähneknirschen, mit welcher Verärgerung werden alle, die tatsächlich gelitten haben, die unter dem Terror der Nazis, der Faschisten oder des Vichy-Regimes gelebt haben, Bücher von der Art eines Kriminalromans lesen, Bücher, die, das will ich gerne glauben, mit den besten Absichten der Welt geschrieben worden sind, nämlich um ihre Kämpfe, ihr Martyrium darzustellen*.

Man kann die Menschen, die so viele Jahre gelitten haben, nur dadurch ehren, dass man die Wahrheit vollkommen ungeschminkt, ich würde sogar sagen, ganz und gar roh wiedergibt. „Literatur“ zu machen, „Romane“ zu schreiben über Menschen, die gefoltert, langsam umgebracht, getötet wurden, ist eine Schmähung, die man einfach anprangern muss.

Wer wäre nicht empört bei dem Gedanken, dass einige Geschäftemacher Bücher über die Résistance, den „underground“, verkauft haben, in ihrem Auftrag verfasst von Autoren, die man in den Vereinigten Staaten ghostwriter, in Frankreich Neger nennt.

Dieser unerhörte Schwindel hat unweigerlich zu einem Unbehagen geführt und Zweifel an den authentischen Berichten gesät. Dennoch ist es unerlässlich, ist es wichtig, Zeugnisse in großer Zahl zu veröffentlichen. Millionen von Menschen erleiden noch immer die schlimmsten Qualen, und schon vergisst man die Henker.

Ich will nur ein Beispiel herausgreifen, das einzige, das ich wirklich gut kenne, von dem ich unmittelbar zeugen kann, das Beispiel der Vichy-Regierung.

Von Juni 1940 bis November 1942 habe ich die Anhänger der „Nationalen Revolution“, wie man sie vollmundig nannte, am Werk erlebt. Nichts fasst meine Erinnerungen an diese Zeit besser zusammen als dieser Vers von Victor Hugo: „Zeiten wie unsere bilden die Kloake der Geschichte.“ Ich habe Menschen gesehen, denen es eine Freude war, das Denken ersticken zu können, ich habe den Triumph von Erbärmlichkeit und Niedertracht erlebt. Das ist keine Übertreibung! – Marschall Pétain und seine Komplizen, über deren weitere Verantwortung die Geschichte richten wird, forderten ruchlose Männer auf, die Methoden der Nazis nachzuahmen, und ermutigten sie dazu. Es gelang ihnen, und sie beglückwünschten sich deshalb. Während dieser langen, endlos langen Jahre rief der Chef, wie er sich selbst nannte, in seinen Reden, Ratschlägen und Befehlen seine Anhänger und Bewunderer zu Verhöhnung, Demütigung und Beleidigung auf. Anhänger und Bewunderer suhlten sich in Schweinereien, verfolgten mit einer schamlos zur Schau gestellten Lust alles, was sich ihren Verbrechen gegen den Geist widersetzte. Eine Liste ihrer Verbrechen aufzustellen ist unmöglich. Sie waren an der Tagesordnung.

Zahlreicher, als man meinen könnte, imitierten viele dieser nationalen Revolutionäre mit großer Begeisterung und Treue die Nazis, deren Verhaltens- und Vorgehensweisen sie bewunderten. Bei ihrem niederträchtigen Verhalten halfen ihnen Leute, die man einfach nur Betrüger nennen kann. Letztere versuchten fortwährend, ein doppeltes Spiel zu spielen. Unter dem Vorwand, „die Kommandohebel“ in der Hand behalten zu wollen, behaupteten diese Heuchler, diese Jesuiten, dass sie nur zum Wohl des Landes handelten, aber in Wirklichkeit kümmerten sie sich um ihre Karriere, indem sie gute Miene zum bösen Spiel machten und einem schändlichen Regime dienten. Der größte Schurke unter diesen Betrügern, der Chef dieser Bande von falschen Fünfzigern war Admiral Estéva, der französische Generalresident in Tunesien. Um ihn und von ihm beschützt, zogen Anpasser, Arrivisten und Gauner Nutzen aus der „Nationalen Revolution“. Krokodilstränen über das französische Malheur vergießend, begünstigten sie die Nazifizierung des Landes und einigten sich darauf, alle Freiheiten eine nach der anderen zu ersticken. Unter ihrem Einfluss wurde die Atmosphäre für alle unerträglich, die sich, von Schändlichkeit umzingelt, diesem Regime der faulen Kompromisse und der üblen Machenschaften nicht unterwerfen konnten oder wollten. Diese verpestete Atmosphäre sorgte für die Ausbreitung der Mittelmäßigkeit. Alle gescheiterten Existenzen konnten Rache nehmen. Von überall krochen sie hervor. Sie versuchten, sich durch ihren Eifer und ihre Erbärmlichkeit hervorzutun. Man gliederte sie ein, damit sie Heere bildeten, um „die Ordnung aufrechtzuerhalten“ und die hohen moralischen Qualitäten und das Genie des vertrottelten Marschalls und Staatschefs zu rühmen. Sie taugten allerdings höchstens zu Spionen und Polizeispitzeln. Man musste sie gar nicht erst dazu ermutigen, die Denunziation war ihre Lieblingsbeschäftigung.

Ich habe die Anfänge des Faschismus in Italien erlebt, ich konnte zwölf Jahre lang die Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland verfolgen. Dieselben Kerle, denen man in Italien schwarze Hemden, in Deutschland braune Uniformen schenkte, erhielten in Frankreich Baskenmützen. Doch jene Männer, die durch die Straßen zogen und dabei „Vive le Maréchal!“ riefen oder behaupteten: „Pétain hat immer recht“, gehörten, wenn ich so sagen darf, zum selben Schlag Menschen, die ich „Heil Hitler“ oder „Mussolini a sempre ragione“ hatte brüllen hören. Darin konnte man sich nicht täuschen. Ich kann und ich will nicht vergessen, dass diese Legionäre, Mitglieder des „Service d’Ordre Légionnaire“ (S.O.L.), denen man den Gruß, die Haltung und das Benehmen der Faschisten oder der Nazis beigebracht hatte, sich durch Nichts von ihren deutschen, italienischen oder spanischen Vorgängern unterschieden. Es war nicht schwer, sie zu erkennen, durch meinen Abscheu entdeckte ich sie untrüglich. Zu meinem Hass gegen Nazis, Faschisten und Phalangisten kam noch die Demütigung hinzu, dass man mich eine Zeitlang für einen Landsmann dieser bösartigen und blutrünstigen Affen gehalten hat. Die Betrüger und Gauner, die eine Gefahr darin witterten, allzu unterwürfig die Nazis nachzuahmen, die sie dann doch für ein wenig zu kompromittierend hielten, versuchten, Verwirrung zu stiften, was ihnen teilweise auch gelang. „Der Marschall ist nicht Hitler“, sagten sie zu ihrer Entschuldigung. Um ihre Haut zu retten, sagen sie es auch jetzt noch, da die Stunde der Bestrafung gekommen ist. Aber ich vergesse nicht und will nicht vergessen, wie so viele Leute es versuchen, dass die Nationalrevolutionäre des Marschalls die Vettern und Brüder von Hitlers Nazis sind. Der Faschismus ist leider keine italienische Spezialität, der Nazismus keine deutsche. Der Nazismus ist ein Gift, das die Welt noch nicht endgültig ausgerottet hat. Bei bestimmten Menschen, bei solchen, die wissen, dass sie gescheitert sind, solchen, die sich verkannt fühlen, bei allen Kleingeistern, die sich ihrer Beschränktheit mehr oder weniger bewusst sind, bei gewissen, nie zufriedenen krankhaft Eingebildeten und bei einigen Individuen, die gedemütigt wurden, gibt es einen so starken Wunsch nach Rache, dass sie sich danach sehnen, ungestraft beherrschen, quälen und erniedrigen zu dürfen. Wenn sich ein Mann zeigt, der „wie sie“ ist, der sich zu ihrem Führer erklärt, der ihnen Rache verspricht und ihnen ermöglicht, Rache zu üben, der ihrer Beschränktheit und ihrer Grausamkeit einen gewissen Glanz verleiht, tragen sie ihn zum Triumph. Zu dieser schon zahlreichen Bande gesellen sich dann die Scharen von Intriganten, Betrügern und Arrivisten, die sich stets von Mittelmäßigkeit und Niedertracht angezogen fühlen, da sie ihnen eine schnelle Karriere versprechen. Und bald, wenn die Macht des Führers zunimmt, wenn eine gute Propaganda seine Siege verherrlicht, schließt sich das Heer der Angsthasen und der Opportunisten der Phalanx des Führers an. Sobald sie ein wenig Macht haben, besteht ihre erste Sorge darin, die Freiheit zu ersticken unter dem Vorwand, die Ordnung, die Autorität, die Hierarchie wiederherzustellen.

Auf allen Breitengraden, auf allen Kontinenten kann sich dasselbe Phänomen ereignen. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Man erstickt die Freiheit.

Die Geschicktesten, denn diese Gescheiterten können mitunter sehr geschickt sein, handeln weniger brutal. Sie beginnen mit der Einschränkung der Freiheit! Doch die Freiheit lässt sich nicht einschränken, begrenzen, aufteilen, kontrollieren, einzwängen, bemessen, drosseln, zähmen, kanalisieren.

Da ich ein Gefangener war und davon als Zeuge auf den Seiten berichtet habe, die ich hier unter dem von Arthur Rimbaud diktierten Titel veröffentliche, den Gefangene, alle Gefangenen, instinktiv und schmerzlich auf Anhieb bestätigen werden, kann ich bezeugen, dass diejenigen, die die Freiheit verachten oder versuchen, sie zu ersticken oder einzuschränken, Mörder sind. Sie fangen damit an, den Geist zu töten, der nur frei leben kann, dann fahren sie damit fort, indem sie jene einsperren, die dagegen aufbegehren, weil sie frei sein und frei denken wollen, und am Ende füsilieren sie diese Rebellen, diese Dissidenten.

Die Erinnerungen, die ich veröffentliche, sind die einer Epoche, die zweifellos nicht sehr bekannt ist. Viele werden es vermeiden, darüber zu sprechen, sie werden vergessen, manche werden vergeben wollen, andere werden Gründe dafür haben, sich nicht zu erinnern. Und dennoch, es ist die Zeit der Mörder.

Man vergisst schnell. Ich will nicht vergessen und will nicht, dass man vergisst. Die Mörder leben weiter. Es wird nie gelingen, sie ganz zu vernichten. Die einen verstecken sich, die anderen wechseln das Hemd, manche wollen sogar schon ihre Aktivitäten, unter anderem Namen und in einer anderen Uniform, wieder aufnehmen.

Seit 1938 lebte ich in Tunis, wo ich bis zum Waffenstillstand 1940 den Presse- und Informationsdienst sowie den Radiosender von Tunesien leitete. Ich wohnte in einem arabischen Haus im Stadtzentrum der Einheimischen, in der sogenannten Medina.

Seit Juni 1940 bildeten sich in diesem französischen Protektorat spontane Widerstandszentren. Schüchtern und unbeholfen versuchten alle, die Vichy nicht akzeptierten konnten (dieser Name vereint alle Feigheit, alle Dummheit, alle Verbrechen der sogenannten nationalen „Revolution“), sich zusammenzuschließen und zu handeln. Sie taten ihr Bestes. – Aber das ist eine andere Geschichte. Von 1941 bis 1942 versuchte die Polizei des Vichy-Regimes, diese Widerstandsbewegung niederzuschlagen und die Oppositionellen einzuschüchtern. Man erstellte eine Liste mit Verdächtigen. Zu meiner Ehre setzte man auch mich darauf. Im März 1942 begann man mit der Verfolgung der Verdächtigen. Ich wurde auf einen der ersten Karren geladen. Am 12. März erging der Befehl, mich zu verhaften.

* Philippe Soupault, Geschichte eines Weißen, übers. v. Hans Thill, Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1990.

* Dieselbe Bemerkung könnte man zu Filmen über die Verbrechen der Nazis und über die Widerstandskämpfer in allen besetzten Länder machen.

I

Als ich am Abend des 12. März 1942, einem Donnerstag, nach Hause zurückkehrte, dachte ich, was für ein trostloses Wunder dieser Frühling war, doch er würde einmal mehr ein Versprechen mit sich bringen. Ich schmiedete Pläne und hoffte, denn ich hatte die Hoffnung nie aufgegeben.

Man hatte mich schon gewarnt, dass ich beschattet würde, aber da mich ein „gut unterrichteter“ Mann jede Woche zur Vorsicht mahnte, und viele Leute mich finster ansahen, wenn sie mich auf der Straße erblickten, machte ich mir erst Sorgen, als ich bemerkte, dass man mir folgte und mein Haus überwachte.

An jenem Tag hatte ich eine Freundin besucht, die sich tags darauf einem chirurgischen Eingriff unterziehen sollte, und als ich am Ende des Tages nach Hause zurückging, war ich überrascht, wie man es immer zu Beginn eines Frühjahrs ist, von dem zu milden Abend, dem heiteren und kecken Licht. Ich hatte es allerdings eilig, in meine vier Wände zu kommen, fernab von allem, um die Leute nicht mehr zu sehen, die stolz ihre Baskenmützen* trugen, und um nicht mehr an Plakaten vorbeizugehen, auf denen die Wohltaten der „Nationalen Revolution“ gerühmt wurden.

Ich hatte schon den Schlüssel zur Eingangstür aus meiner Tasche geholt, als mich ein Individuum von der Eleganz eines Filmgangsters, flankiert von zwei Schattengestalten, seinen Knechten, fragte: „Sind Sie Monsieur Soupault?“ Dabei hob er das Revers seines Jacketts, um mir seine Polizeimarke zu zeigen.

Misstrauisch und wütend, antwortete ich nur einsilbig. Ich hatte begriffen, dass der Tag gekommen war, vor dem ich mich gefürchtet und den ich erwartet hatte, der Tag, an dem ich in die Fänge von Polizisten des Vichy-Regimes geraten würde.

Ich trat ins Haus, gefolgt von den drei Individuen, die ihre Hüte abnahmen. Der Chef nahm mein Schlafzimmer in Augenschein, wie es ein möglicher Mieter macht, während sich einer seiner Männer vor die Tür stellte, fest entschlossen, wie mir schien, mich nicht mehr hinausgehen zu lassen. Der dritte wartete, die Hände in den Taschen, auf Befehle und ließ mich nicht aus den Augen. Ich nehme an, dass man mich als eine gefährliche Person eingestuft hatte, denn die drei Polizisten waren offensichtlich auf der Hut und belauerten meine geringsten Bewegungen. Ich bat um eine Erklärung und der Inspektor zeigte mir den Durchsuchungsbefehl. Da die Nacht anbrach, diskutierte ich eine Weile wegen des Termins für diese Haussuchung. Ich meinte, mich zu erinnern, dass den Durchführungsbestimmungen zufolge Haussuchungen nach Sonnenuntergang unstatthaft seien. Der Polizist erwiderte, dass der Belagerungszustand fortbestehe und ich keine Einwände zu erheben hätte. Er begann mit der Durchsuchung und gab einem seiner Helfer ein Zeichen, der sogleich in mein Badezimmer stürzte, während der andere reglos stehenblieb, mit seinem Blick meinem Hin und Her folgte. Der Chef pflanzte sich vor meinem Schreibtisch auf und begann die Briefe zu lesen, die auf eine Antwort warteten. Er schien sich daran zu laben. Äußerst gereizt, bemühte ich mich ruhig zu bleiben. Ich nahm ein Buch, den dritten Band von Labiches Théâtre, was den einen Polizisten sehr zu beunruhigen schien. Von Zeit zu Zeit hob ich die Augen und sah die Polizisten meine Korrespondenz lesen in der Hoffnung, dort „etwas“ zu finden. Nachdem der Chef die Briefe geprüft hatte, stöberte er weiter und entdeckte das Manuskript des Romans, an dem ich damals schrieb. Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, war er auch schon schwer enttäuscht. Das Manuskript umfasste mehr als siebenhundertfünfzig Seiten. Er zog die Nase hoch, ließ die Blätter durch seine Finger gleiten, machte bisweilen eine Stichprobe und legte es mit verächtlicher Miene auf einen Stuhl. – Er blätterte zerstreut in einem Notizheft, in dem ich meine Gedanken festgehalten hatte, da die ersten Seiten aber nur Notizen zur Literatur enthielten, widmete er ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei hätte er einige ziemlich harte Urteile über seine Dienstherren von der Vichy-Regierung finden können. Da das Heft nicht versteckt war, sondern offen herumlag, war er überzeugt, dass es sich nur um bedeutungslose Schriften handelte. Das entsprach genau der Erfahrung, die Edgar Allen Poe in der Erzählung Der entwendete Brief beschrieben hat.

Dann prüfte er eines nach dem anderen die Bücher in meinem Bücherregal. Er klopfte gegen die Wände der Möbel, schaute unter die Matratzen und entdeckte schließlich einen kleinen Notizblock auf einem Tischchen neben meinem Bett. Er lächelte triumphierend. Ich hatte darauf Literaturangaben, Verse, Fragmente von Sätzen notiert. Er verstand nichts. Sein Lächeln verschwand.

So einfach nahm er es nicht hin, mit leeren Händen dazustehen, und begann wütend, die Teppiche anzuheben, die Möbel zu verrücken und die Bilder abzuhängen. Ich las weiter in Labiches Komödie Alle lieben Célimare. Endlos lange, wie mir schien. Die „Haussuchung“ dauerte schon mehr als zwei Stunden, und ich fragte mich, ob ich bald ausgehen könnte, denn ich war an jenem Abend zum Essen bei Freunden eingeladen, die ziemlich weit weg wohnten.

Der Inspektor, den ich seit zwei Stunden beobachtete, war einer jener Polizisten, die Detektiven, „Helden“ in Kriminalromanen gleichen wollen. Er trug einen ziemlich gut geschnittenen, ultramarinblauen Anzug, eine dunkelgraue Krawatte und ein weißes Hemd. Mit seinem glatt rasierten Gesicht erinnerte er an gewisse junge Kinohelden, nur dass er nicht aussah wie ein Dummkopf, sondern wie ein Halunke. Er war ein bisschen zu steif und ziemlich glattgebügelt, und er lächelte häufig auf eine Art, die er offenbar für raffiniert hielt.

Vor allem aber überraschte es mich, dass er sich zu amüsieren schien. Bestimmt hielt er sich für sehr intelligent und stark. Sein Gehilfe, der Schreiber, gehörte zu jener Sorte von Menschen, die zu nichts nutze und deshalb schließlich bei der Polizei gestrandet sind. Er durchwühlte alles ohne großen Ehrgeiz und gab sich keinerlei Mühe, eine Spur zu finden. Er wollte die Sache mindestens ebenso schnell hinter sich bringen wie ich. Recht armselig gekleidet im Stil der Mittelmeerregion, mit einem Anzug, den er als einen Sack betrachtete, in den man täglich schlüpft, drückte seine ganz und gar rundliche Figur mal Langeweile aus, mal die Lust loszulachen. Was den dritten Ordnungshüter anging, so verkörperte er den Trottel in seiner ganzen Dummheit. Für ihn war es ein Beruf wie jeder andere! Doch man ahnte, dass er zu seiner Zerstreuung gern brutal geworden wäre.

Nach drei Stunden des Suchens, in denen ich den Eindruck gewann, sie hätten den unbedingten Befehl, irgendein „belastendes“ Dokument, ganz gleich was, bei mir zu finden*, schienen sie urplötzlich die Hoffnung zu verlieren. Sie sahen mich aufmerksam an und beschlossen dann, mich zu filzen, doch erst, nachdem sie sich entschuldigt hatten. Als der Inspektor meine Ausweistasche prüfte, wurde er plötzlich ganz unruhig, was sich darin zeigte, dass er einen Schritt zurücktrat. Er hatte gerade einen Waffenschein gefunden, aus dem hervorging, dass ich einen Revolver von ziemlich großem Kaliber besaß.

„Tragen Sie Ihren Revolver bei sich?“

Er schien wirklich beunruhigt.

„Nein“, erwiderte ich, „ich habe ihn vor kurzem verliehen.“

Beruhigt zählte er die wenigen Geldscheine, die ich bei mir hatte

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte er seinen zweiten Helfer.

„Nichts.“

Der zweite Helfer zeigte seine leeren Hände.

Der Inspektor setzte sich an meinen Schreibtisch, zog aus einer Aktentasche, einer schmalen, schwarzen Mappe, ein Blatt mit dem Briefkopf der Polizei hervor, und begann ein Protokoll der Durch suchung aufzusetzen, in dem er mit allerlei rechtlichen Formulierungen festhielt, dass er nichts gefunden hatte.

Lustlos las er mir das Protokoll vor und bat mich um eine Unterschrift. Da die Polizisten nichts gefunden hatten, dachte ich zu diesem Zeitpunkt, ich würde sie bald los sein und könnte dann wieder meinen Beschäftigungen nachgehen.

Der Detektiv hielt den Moment für gekommen, wo er mich „dran bekam“.

„Da er alles gestanden hat“, erklärte er und sah mir dabei in die Augen, „war diese Durchsuchung eigentlich unnötig.“

Ich verlor nicht die Fassung, wie er gehofft hatte, denn ich verstand überhaupt nicht, was er damit meinte. Und das sagte ich ihm deutlich.

„Sie verstehen nicht?“

„Nicht im Geringsten.“

„Sie sind sehr stark, aber es nützt Ihnen nichts. Wir wissen alles.“

Ich tat weiter so, als würde ich nicht verstehen.

„Sie werden uns begleiten müssen“, fügte er hinzu.

Die Ausdrucksweise erschien mir sonderbar, aber höflich.

In dem Augenblick ging ein Kollege, der im selben Haus wohnte wie ich, über den Hof, und ich bat ihn, meine Frau zu verständigen, dass man beabsichtigte, mich zu verhaften, und sie zu bitten, sie möge einige meiner alten „Freunde“ darüber in Kenntnis setzen.

Der Inspektor protestierte ein wenig, aber ich hatte zu Ende sprechen können, ohne dass er mich unterbrach. Allerdings untersagte er mir, einen Brief zu schreiben.

Ich knipste das Licht aus und wir gingen hinaus in die Nacht. Die Gehilfen flankierten mich, während der Inspektor vor mir ging. An einem Platz wartete ein Wagen, und ich wurde gebeten einzusteigen. Man setzte mich auf die Rückbank und die beiden Hauptpolizisten, immer noch sehr wachsam, setzten sich zu beiden Seiten neben mich, während der Wachmann, treu und aufmerksam wie ein Hund, neben dem Fahrer Platz nahm.

Es lag schon lange zurück, dass ich in ein Auto gestiegen war, und dieses Gefühl erschien mir angenehm, obwohl mich die Begleitung durch die Polizisten ziemlich anwiderte. Fest entschlossen, nicht zu protestieren, blieb ich im Fond des Fahrzeugs so ruhig wie möglich. Der Inspektor sah nicht sehr zufrieden aus, und sein gezwungenes Lächeln konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen. Er erwartete, dass ich ihm Fragen stellte. Doch ich schwieg.

Die Fahrt dauerte nicht lange, und zehn Minuten nach unserer Abfahrt kamen wir vor dem Gebäude an, in dem der Inlandsnachrichtendienst, die „Renseignements généraux“, untergebracht war. Ich hatte den Eindruck, eine Kaserne zu betreten. Es roch nach Staub, alten Papieren, Stroh, getrockneter Tinte, ungewaschenen Männern. Begleitet von meinen beiden Bewachern (der dritte war verschwunden, kaum dass wir das Gebäude betreten hatten), gingen wir in den ersten Stock hinauf. Üble Gerüche hingen in der Luft. Alles roch muffig. Man hieß mich in ein Büro eintreten, vor dem ein Polizeibeamter Wache schob.

Ein Tisch, drei Stühle, ein Feldbett. An der Wand ein Stadtplan. Von der Decke hing eine Lampe mit elektrischem Licht von dem Modell, das man in Verwaltungen bevorzugte. Doch die Glühbirne gab nur ein rötliches und widerwärtiges Licht von sich.

Der Inspektor zeigte auf das Feldbett und fragte ohne jede Ironie:

„Wünschen Sie eine andere Bettdecke?“

„Nein, danke.“

„Ich komme morgen wieder, um Sie zu verhören. Das Zimmer, in dem Sie die Nacht verbringen werden, ist mein Büro.“

Ich antwortete nichts. Es schien mir nutzlos zu protestieren, nutzlos zu diskutieren, nutzlos zu sprechen. Ich hatte in dem Augenblick sehr deutlich den Eindruck, dass „der Schlag“ bestens vorbereitet war. Und dann kamen mir frühere Lektüren in Erinnerung: „Nie gestehen … So wenig wie möglich reden …“ Außerdem widerten mich diese Leute, diese Polizisten, zutiefst an. Sie Domestiken zu nennen, erschien mir ungerecht gegenüber Hausangestellten. Ich schämte mich für den Gedanken, dass sich Menschen bereitfanden, diesen Beruf auszuüben, und betrachtete sie mit demselben Abscheu wie die hohen Beamten, die ich einige Wochen zuvor mit tränenreicher Stimme das Loblied auf Marschall Pétain hatte singen hören. Widerwillig ertrug ich den Kontakt mit denen, die der „Nationalen Revolution“ dienten.

Mit einem Mal sehr müde, setzte ich mich auf das Feldbett. Der Inspektor rief den Polizeibeamten, der sich auf einen Stuhl einige Meter entfernt von „meinem“ Bett setzte, und verließ, gefolgt von Polizist Nr. 2, das Büro.

Ich sah auf meine Armbanduhr, 21 Uhr 15: die Zeit, zu der ich jeden Abend die BBC hörte.

Ich streckte mich auf dem Bett aus und schloss die Augen, zufrieden, allein zu sein, oder jedenfalls nahezu allein, denn der Polizeibeamte hatte die Anweisung bekommen, weder das Wort an mich zu richten, noch auf meine Fragen zu antworten.

Mit geschlossenen Augen versuchte ich, „den Dingen ins Gesicht zu sehen“.

Plötzlich trat Polizist Nr. 2 ins Büro und fragte mich:

„Wollen Sie etwas essen?“

„Nein danke … Aber ich hätte gerne ein Orange.“

„Man wird Ihnen eine bringen. Haben Sie Geld dabei?“

„Ja.“

„Gut!“

Ich hatte nicht daran gedacht, dass ich Hunger oder Durst bekommen könnte.

Ich streckte mich wieder auf dem Feldbett aus. Der Beamte gähnte regelmäßig. Die Lampe störte mich. Mir war sehr heiß, aber ich wollte mich nicht mehr rühren, nicht einmal, um meinen Mantel auszuziehen. Ich fragte mich, wie ich meine Frau benachrichtigen, sie beruhigen könnte. Ich dachte, dass sie sich Sorgen machte, und dieser Gedanke hinderte mich, an mein Schicksal zu denken. Als ich die Augen öffnete und mich umsah, als ich den Polizeibeamten bemerkte, der mich bewachen sollte, fand ich „das alles“ idiotisch, vollkommen idiotisch. Das Fenster war sorgsam geschlossen, ich konnte die Nacht nur durch die schmutzigen Fensterscheiben sehen. Manchmal ekelten mich die Gerüche an, die ich erkannte, dann vergaß ich sie und überlegte mir Möglichkeiten, um mit der Außenwelt in Verbindung zu treten. Unmöglich! Ich wiederholte innerlich: „unmöglich“, und dieser Gedanke ließ mich schlagartig und klar begreifen, dass man mir die Freiheit genommen hatte. Unmöglich! Ich war nicht wütend, aber ich ballte die Fäuste und presste die Kiefer zusammen.

Ein Polizeibeamter brachte mir eine Orange.

In fast regelmäßigen Abständen kehrten dieselben Gedanken wieder, als hätte man sie auf eine Scheibe gebannt, die sich drehte.

Wie meine Frau benachrichtigen?

Mal verging die Zeit zu schnell, mal zu langsam. Zu schnell, weil ich mir vorstellte, dass man mich noch am selben Abend freilassen würde, zu langsam, wenn ich dachte, dass ich erst am nächsten Tag würde handeln, protestieren, Einwände erheben können. „So wenig wie möglich reden.“ Ich ermahnte mich selbst.

Ich sah so häufig auf meine Uhr, dass ich mich erbittert dazu durchrang, es weniger häufig zu tun. Unfähig, meine Gedanken zu sortieren, zu kontrollieren, bemühte ich mich, an „andere Dinge“ zu denken, doch der Strom meiner verdrängten Gedanken überschwemmte diese „anderen Dinge“.

Noch immer auf dem Bett ausgestreckt und immer müder, wie mir schien, müde vom Nachdenken, müde vom Augenschließen, müde vom Auf-die-Uhr-schauen, spürte ich sämtliche Glieder. Muskelkrämpfe und Gliederschmerzen. Ich biss in ein Stück Orangenschale. Da erinnerte ich mich auf einmal, dass ich Zigaretten in der Tasche hatte, und ich begann zu rauchen. Die ersten beiden Zigaretten waren angenehm, aber nach der dritten wurde mir übel; trotzdem rauchte ich weiter, aus „Pflichtgefühl“, ohne Vergnügen, dann mit Verärgerung, aber ohne aufhören zu können.

Um halb zwölf, 23 Uhr 30, kamen der Inspektor und sein Adlatus herein.

Ich fand auf Anhieb zu einer inneren Ruhe zurück, die mich selbst überraschte. Ich erwartete nicht, dass er mir meine Freilassung verkünden würde, aber ich stellte mir die Frage.

„Ich werde Sie schon heute Abend verhören.“

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, während sein Gehilfe einen Stuhl heranholte und, nachdem er einige Blatt Papier und ein Tintenfass auf den Tisch gelegt hatte, sich ebenfalls setzte. Der Schreiber sah müde und resigniert aus, der Inspektor hingegen wirkte sehr aufgeregt. Er holte etwas aus einer Schublade, was man eine dicke Akte nennt, zog einige Schriftstücke zurate, dann begann das Verhör.

„Name, Vorname …“

Die Leier des Familienstands.

„Kennen Sie Monsieur de R…?“

„Ja.“

„Notieren Sie“, sagte er zum Schreiber.

Ich antwortete vorsichtig, dann weigerte ich mich, auf gewisse Fragen zu antworten.

„Hören Sie, Monsieur“, sagte er zu mir mit einer Freundlichkeit, die in meinen Ohren falsch klang, „Sie sollten mir die Wahrheit sagen. Ich verhöre Sie als Zeugen. Es ist einfacher, wenn Sie mir alles sagen, was Sie wissen.“

„So wenig wie möglich reden.“ Diese fünf Worte klangen in meinen Ohren, standen mir vor Augen. Ich zählte die Silben dieses Satzes an meinen Fingern ab:

„Ich rede nur in Gegenwart meines Anwalts.“

Die Floskel schien mir konventionell, aber verbindlich.

„Ich wiederhole, dass ich Sie nur als Zeuge befrage.“

Ich ließ ihn seine Fragen stellen.

Ich würde verdächtigt, sagte er mir, Beziehungen zu einem Agenten einer ausländischen Macht zu unterhalten und ihm Dokumente zu liefern, die die nationale Verteidigung beträfen.

Meine Festnahme ist wirklich gut vorbereitet, dachte ich. Ich wurde verdächtigt. Man verhaftet mich, und jetzt muss eine Anklage aufgebaut werden.

Ihm wurde ziemlich schnell klar, dass ihm dieses Verhör keine Informationen verschaffen würde, und er machte auf mich den Eindruck, als wäre ihm selbst diese Formalität letztlich ziemlich sinnlos vorgekommen, da er bereits die Anweisung erhalten hatte, mich zu verhaften. „Sollen sie doch sehen, wie sie damit zurechtkommen“, schien er bei sich zu sagen, schließlich war er nicht so einfältig, dass er nicht gemerkt hätte, dass alles im Voraus eingefädelt worden war und man ihn eine Rolle spielen ließ, die ihm dumm erschien. Nach einer halben Stunde las er mir ein so vages Protokoll vor, dass ich mich fragte, ob man damit überhaupt etwas anfangen konnte. Ich musste unterschreiben. Am Ende konnte er nicht anders, als mir zu sagen: „Ich bedauere, dass Sie mir nicht die Wahrheit gesagt haben.“ Er schien verärgert, hatte aber wohl nichts anderes erwartet. Schließlich ging er weg. Der Wachmann führte mich zu einer scheußlichen Toilette, dann nahm er seinen Wachposten wieder ein. Sobald ich mich wieder auf dem Feldbett ausgestreckt hatte, rief ich mir alle Fragen und meine Antworten ins Gedächtnis. – Ich warf mir vor, zu viel geredet zu haben, obwohl ich so ausweichend wie möglich geantwortet hatte. Dann schlummerte ich in einer Art Delirium, das mit den Augenblicken, die dem Schlaf vorausgehen, nichts gemein hatte. Vor meinen Augen zogen matte, farblose Bilder vorüber, Straßen, Gesichter, die des Polizisten und seiner Gehilfen, die toter Freunde und dann, plötzlich, die hoher Justizbeamter. Manchmal kam ich wieder zu mir und ich spürte Wut in mir aufsteigen, weil ich meine Frau nicht von meiner Verhaftung hatte benachrichtigen können. Dann fiel ich in meinen deliriumsähnlichen Zustand zurück. Ich hörte Glocken, Stimmenlärm, Gespräche. Ich dachte nicht mehr an die Uhrzeit.

Irgendwann in der Nacht, ich vermutete, dass es Mitternacht war, brachte man einen Mann ins Büro. Er setzte sich auf einen Stuhl. Man brachte ihm eine Decke, die er ablehnte. Eine Stunde nach seiner Ankunft bot ich ihm das Feldbett an. Er lehnte ab.

Die Anwesenheit dieses Mannes, der kein Wort von sich gab, der mit offenen Augen dasaß, munterte mich auf. Wir hatten kaum ein paar Worte gewechselt, aber ich war voller Sympathie für ihn. Ich bot ihm eine Zigarette an, und war sehr froh, als er sie annahm. Der Polizeibeamte döste vor sich hin und hinderte uns nicht am Reden. Mein Genosse war ungefähr vierzig Jahre alt und Landwirt, ein Spezialist für Entenzucht, der aus Tschechien stammte. Wir vermieden es darüber zu sprechen, was uns in dieses Büro gebracht hatte. Man muss sich immer vor „Spitzeln“ unter Zellengenossen in acht nehmen, dachte ich. Und offensichtlich war auch er misstrauisch. Er beobachtete mich, und als sich unsere Blicke trafen, lächelte er. Er schien keine Angst zu haben. Manchmal zuckte er mit den Schultern und schnaubte. Der Polizeibeamte schlief. Dann fiel sein Kopf plötzlich auf seine Brust, und diese Bewegung weckte ihn. Mir war manchmal sehr heiß und dann, wenn ich mich einige Minuten nicht bewegte, sehr kalt. Ich stand vom Bett auf, ging ein paar Schritte hin und her und rauchte dabei eine Zigarette, die mir zu dieser nächtlichen Stunde (auf meiner Armbanduhr war es 2 Uhr 35) bitter vorkam. Die Zeit verging nur langsam. Es gelang mir noch immer nicht, meine Gedanken zu ordnen, und diese Unfähigkeit ärgerte mich. Mit der Zeit schmerzten meine Beine immer mehr, und meine Kehle war sehr trocken. Ich erinnerte mich. Irgendwann muss ich eingenickt sein, denn ich wunderte mich über das Morgengrauen. Mein Genosse saß noch immer in derselben Haltung da und der Wachmann war verschwunden. Ich hatte nicht tief geschlafen, denn meine Umgebung überraschte mich nicht. Als ich zu mir kam, wusste ich sofort, warum ich mich in diesem Büro befand. Der Geflügelzüchter lächelte mir zu. Das Morgengrauen ist, wie ich schon seit langem wusste, eine schwierige halbe Stunde. Man friert, man findet kein Gleichgewicht und alle Gedanken stimmen einen traurig. Obwohl ich es mir wünschte, schaffte ich es nicht, optimistisch zu sein, dabei hatte ich mir diesen neuen Tag herbeigewünscht. Ich hatte mir vorgenommen, zu protestieren, zu diskutieren, zu kämpfen. Aber die Morgenröte, die hinter den schmutzigen Fensterscheiben heraufzog, gefolgt vom Geruch nach Staub und Menschen, umzingelt von den Erinnerungen an die Gesichter der Polizisten, erregte nur Abscheu in mir und entmutigte mich. Einen Abscheu ohne Übelkeit, einen eher intellektuellen als körperlichen Widerwillen. Ich verachtete mich dafür, der Polizei ausgeliefert zu sein. Ich hätte mich gerne geschlagen, wie unter Betrunkenen. Und ich wäre gerne weggegangen, hätte am liebsten nicht mehr an all diese Leute und Dinge gedacht und eine unüberwindliche Entfernung zwischen sie und mich gelegt. Am frühen Morgen empfand ich eine tiefe Müdigkeit, dann vergaß ich diese Müdigkeit. Ungeduldig wollte ich den Fortgang der Geschichte erfahren, denn ich war neugierig, wie „sie“ es anstellen würden, mich hinter Gittern zubringen. „Sie“, das waren eine Menge Leute, alle, die Macht hatten, die Legionäre, die Soldaten, die Polizisten, die seit mehr als zwei Jahren mein Kommen und Gehen überwachten und die mich denunzierten, weil ich ihre Plattitüden und ihre Unterwürfigkeit nicht akzeptierte und mich über sie lustig machte. Ich hatte gespürt, wie der Hass um mich herum zunahm. Ich wusste, dass man seit langem sagte: „Den da, den muss man zurechtstutzen.“ Und jetzt, an diesem Freitagmorgen des 13. März 1942, fragte ich mich, wie und mit welchen Mitteln sie mich „zurechtstutzen“ würden.

Nicht alles durchschauend, erriet ich mehr, als dass ich überlegte. Ich sorgte mich nicht darum, was man mit mir anstellen würde, aber ich wollte gern wissen, wie die Dinge ablaufen würden. Ich nahm an, dass ich nicht der einzige war, der in der Patsche saß, und dass man Freunde und Kameraden verhaften würde. Fortwährend ermahnte ich mich, keine Namen zu nennen, was mir leicht erschien, vor allem aber, nichts zu verraten durch meinen Gesichtsausdruck, eine Geste, einen Ausruf oder mein Schweigen, ich musste aufpassen, dass ich in keine Falle tappte. Mit geballten Fäusten und zusammengepresstem Kiefer strengte ich mich an, hart zu werden. Es kam darauf an, weder nervös noch müde, weder angewidert noch unverschämt zu sein, sondern neutral, undurchdringlich zu bleiben.

Allmählich hörte ich gewohnte Geräusche. Die Straßenbahnen verkehrten, Autos fuhren, Menschen gingen vorüber. Es war ein neuer Tag. Ein anderer, unbekannter Tag.

Der Polizeibeamte kam herein und knipste das Licht aus. Das freute mich wirklich, denn ich verabscheute dieses rötliche und deprimierende Licht, das ich zu lange gesehen hatte. Doch das fahle Morgenlicht munterte mich auch nicht mehr auf. Mir gefiel das klischeehafte Adjektiv „fahl“. Ich wiederholte: „das fahle Morgenlicht“, wie man den Refrain eines Schlagers wiederholt.

Unfähig meine Gedanken zu ordnen, bemühte ich mich zu lernen, was ich weder tun noch sagen durfte. Aber ich konnte mir nicht darüber im klaren werden, was es zu tun und zu sagen galt. Dennoch hatte ich das Bedürfnis, etwas zu tun, diesem hellsichtigen Delirium zu entgehen. Ich nahm ein kleines Wörterbuch vom Schreibtisch des Polizisten und las darin mit aller Aufmerksamkeit, zu der ich fähig war, angefangen beim Buchstaben N. Die Wörter, die ich kannte, flatterten und zogen vorüber, die Wörter, die ich nicht kannte, wurden zu Spielzeug. Ich las ihre Definition mehrmals, bemühte mich, sie auswendig zu lernen: ein Spiel, das mich mehr ärgerlich machte als zerstreute. Und die Zeit verging nicht. Die morgendlichen Minuten kamen mir länger vor als die der Nacht, zumindest meinte ich das, während ich sie erlebte. Meine jüngsten Erinnerungen verschwanden sehr schnell. Ich prägte sie mir nicht ein. Ich versuchte vielmehr, mir Dinge auszudenken. Der Morgen hellte auf. Das Büro füllte sich mit schmutzigem Licht. Die Dinge hoben sich ab und bekamen Farbe. Möbel, Tisch, Stühle und Bett wurden größer. Mein Genosse, reglos wie eine Statue (ich fragte mich, ob er nicht die Gabe besaß, mit offenen Augen zu schlafen), trug nicht mehr die Maske der Nacht. Von tiefen Falten gezeichnet und vom sprießenden Barthaar verdunkelt, schien sein Gesicht zugleich willensstark und resigniert: Er hatte einen kräftigen Kiefer, die Augen traten ein wenig hervor, die Nase war breit, das Haar ungebändigt und die Stirn niedrig.

Ich bemühte mich, nach seinem Vorbild gegen die Ungeduld anzukämpfen und mich nicht zu bewegen. Doch dieses Mittel ging mir schon bald gegen den Strich und ich marschierte kreuz und quer durch das Büro. Ich lernte, meine Schritte einzuteilen, zu zählen, mich auf der Stelle zu drehen. Ich stieß gegen die Wände. Ich lehnte mich ans Fenster, doch es waren nur Steinhaufen in einem Brachland zu sehen. In ziemlich weiter Ferne konnte man ein beiges Verwaltungsgebäude erkennen, trist wie eine weitere Kaserne. In einer Ecke rechts des Brachlands wuchs ein wenig Gras auf einer Ansammlung von Abfällen. Ich kehrte dem Fenster den Rücken zu und betrachtete meine Hände, nur um etwas Lebendiges zu sehen. Sie erschienen mir blasser als sonst und völlig nutzlos. Zwei Minuten lang studierte ich den Verlauf meiner Handlinien. Dann setzte ich mich auf eine Ecke des Feldbetts und begann wieder zu rauchen. Es war sehr kalt. Ich zog eine Decke über meine Beine. Dann streckte ich mich, nachdem ich meine Zigarette zu Ende geraucht hatte, wieder aus und schloss die Augen. Das Delirium begann von Neuem. Gedanken flackerten auf, dann verschwanden sie schlagartig. Ich wurde wütend: „Diese Dreckskerle“, murmelte ich, „was für Dreckskerle!“ … Erneut überfielen mich Kälte und Durst. Neue blödsinnige Gedanken setzten zum Angriff an: jemanden umbringen, den Nächstbesten, die Fensterscheiben mit meinen Händen einschlagen, um Blut zu sehen … Ich nickte ein, dann wachte ich auf, dann fiel ich wieder in einen Nebel.

Der Polizeibeamte kam mit einer Zeitung zurück. Als ich ihn fragte, ob er sie mir ausleihen könne, lehnte er ab: „Verboten!“ Ich hob den Kopf zum Himmel und sagte mit leiser Stimme: „Was für ein Mist!“

Ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen. Ich wusste, dass ich in der Falle saß, dass sie mich geschnappt hatten, dass ich erneut Verhöre über mich ergehen lassen müsste. Ich kannte den Polizeipräsidenten und den Generalstaatsanwalt vom Sehen, und ich wusste, was für schändliche Persönlichkeiten in dieser Stadt regierten. Es war mir nicht entgangen, dass sie mit großer Freude ihre Macht missbrauchten und sich dazu beglückwünschten, ihre Autorität dadurch unter Beweis gestellt zu haben, dass sie Leute verhaften ließen, die sie höhnisch Verdächtige nannten. Sie hatten mich öffentlich zu einer Kreatur der Volksfront, zu einem Kommunisten erklärt. Und jetzt, dachte ich, werden sie mir zeigen, „wozu sie in der Lage sind“. Ich wusste, dass sie sich wollüstig im Schmutz suhlten, dass es ihnen ein Vergnügen war, in den Abwässern zu waten, deren Quelle in Vichy sprudelte.

Selbstgefällig und lächelnd traf der Inspektor gegen 9 Uhr morgens ein. Er betrachtete mich aufmerksam. Ich war schon auf der Hut und schaffte es, gleichgültig zu erscheinen. Er wunderte sich über die Anwesenheit einer weiteren Person im Büro.

„Möchten Sie Kaffee?“

„Gerne.“

Er ließ einen Burschen eintreten, der Kaffee auf einem Tablett brachte, auf dem leere Gläser und Gläser mit schwarzem Kaffee standen, freilich Ersatzkaffee, ich trank zwei Gläser der lauwarmen und bitteren Flüssigkeit. Der Tscheche lehnte den Kaffee ab.

Ich erwartete ein weiteres Verhör. Der selbstzufriedene Polizist wusste nicht genau, was er tun sollte, er bot mir an, die Zeitung zu lesen, und reichte mir sogar ein wöchentlich erscheinendes Kreuzworträtselheft.

Er holte seine „umfangreiche“ Akte aus einer Schublade seines Schreibtischs und sagte zu mir: „Ich bin gleich wieder zurück, es dauert vielleicht ein oder zwei Stunden.“

Er ging, um sich Befehle abzuholen und zu fragen, welche Haltung er einnehmen sollte. Würde man ihm gestatten, mich mit den Mitteln, die die Polizei bevorzugt anwendet, zum Sprechen zu bringen: durch Durst, oder Schläge, oder sogar durch Einsatz der neuesten Erfindung, die von der Gestapo entwickelt worden war, Stromstöße an den Geschlechtsteilen?

Er nahm dann die Haltung eines gewissenhaften, gehorsamen Angestellten ein, der an seine Karriere denkt. Aber er befürchtete Unannehmlichkeiten und wagte es nicht, Verantwortung zu übernehmen. Man weiß ja nie so genau. Disziplin und Schläge. Arbeit, Familie, Vaterland. Wir folgen dem Marschall, der seine Versprechen hält. Und so begab er sich zufrieden mit sich, ernst und „würdig“ zu seinem Vorgesetzten, dem Polizeipräsidenten, einem bekannten Lumpen, einem jener Beobachter, dem der Staatssekretär im Innenministerium am meisten Gehör schenkte.

Ich überflog die Zeitung weniger angewidert, als ich dachte, ich konnte in der Tat die Lobeshymnen auf Pétain lesen, die Entrüstung über das perfide Albion, die Aufrufe der Legion auf der Suche nach Anstand. Man beschrieb die Niederlagen der Roten Armee in aller Ausführlichkeit. Mit großer Sorgfalt zählte man die Verluste der englischen Marine auf. Es gab nichts zwischen den Zeilen zu lesen. Das Informationsministerium und die Zensur kannten ihr Metier bestens. Ich wurde von der Ankunft eines weiteren Inspektors unterbrochen, eines aufgedunsenen, kräftigen Kerls, der mich mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Er schien mich zu kennen und wirkte höchst überrascht, mich in diesem Büro anzutreffen.

„Sind Sie Monsieur Soupault?“

Er sprach das Monsieur mit besonderer Betonung.

„Ja.“

„Ach, schau an“, meinte er.

Seine Verwunderung schien aufrichtig zu sein. Er war noch nicht auf dem Laufenden und doch erinnerte ihn mein Name an eine „Affäre“, die er recht gut kannte.

Er wollte meinen nächtlichen Genossen, den unerschütterlichen Tschechen, abholen, und verkündete ihm, dass man ihn endlich freilassen würde. Der Tscheche schien weder froh noch überrascht zu sein. Als ich sah, wie sehr er die Ruhe bewahrte, nahm ich mir vor, seinem Beispiel zu folgen. Sicher wusste er, was bei der Polizei üblich war, und kannte die Psychologie der Inspektoren.

Ich blieb allein. Ich nahm die Lektüre der Zeitung wieder auf und studierte aufmerksam die Kleinanzeigen. Es war nichts daraus zu erfahren. Mit einem gewissen Misstrauen prüfte ich das Kreuzworträtselheft. Tatsächlich fragte ich mich, aus welchen Gründen der Polizist mir diese Spielerei gebracht hatte. Es war ein Wochenblatt, das Liebhabern dieser Art von Zeitvertreib verhältnismäßig teuer war. Die Definitionen waren ziemlich armselig. Nach einigen Versuchen gelang es mir, eines der Rätsel zu lösen. Mit dieser Beschäftigung würde ich, so dachte ich, meine Ruhe zeigen. Vielleicht wollte mich der Polizist auf die Probe stellen. Hinter jeder Geste und jedem Schritt der Leute, die mich bewachen sollten, vermutete ich eine Falle. Ich bereute sogar, den Kaffee getrunken zu haben. Allerdings empfand ich keinerlei Unwohlsein. Ich war nur müde, was mir ganz normal erschien.

In der Polizeikaserne bekamen die Geräusche einen besonderen Sinn. Wenn ich Diskussionen oder Schritte hörte, vermutete ich, dass man einen neuen Verdächtigten herbrachte. Ungefähr alle zehn Minuten ging die Tür auf und ein aufgeblasener Beamter oder Inspektor schaute nach, ob ich nicht geflohen war. Inzwischen schien die Sonne ins Büro, und sogleich sah alles viel staubiger aus. Der alte Schmutz der Verwaltungen.

Wie ein Bär umkreiste ich den Schreibtisch, das Bett. Ich strich mir mit der Handfläche über meinen sprießenden Bart. Mund und Kehle trockneten immer mehr aus, und manchmal verspürte ich den schrecklichen Drang auszuspucken. Noch immer war ich angewidert, aber vor allem von mir selbst, und gegen 11 Uhr vormittags ärgerte ich mich besonders über mich. Ich wusste im Übrigen nicht genau warum, war nicht imstande zu urteilen. Ich hatte einfach genug und dachte: „Wie lange wird das noch dauern?“ „Das? Was?“ In diesem Büro zu bleiben, kam mir vor wie der Gipfel an Ungnade. Und doch, dachte ich, lässt man mich hier in Ruhe. Ich muss an andere Dinge denken. Leichter gesagt als getan. Körperlich und intellektuell fühlte ich mich schon nicht mehr frei. Ich stellte fest, dass ich aus einem sehr engen Kreis von Gedanken nicht ausbrechen konnte. Dabei richtete sich mein Begehren auf nichts Bestimmtes. Der Gedanke, dass ich den Polizeibeamten sicher bald wieder sehen würde, war mir äußerst unangenehm. Ich erinnerte mich an seine süßliche und heuchlerische Stimme, sein zufriedenes Lächeln, seine Erscheinung, die der einer Schaufensterpuppe aus einer Provinzstadt glich, und diese Erinnerung „zehrte an meinen Nerven“. Was heißt das genau, „an den Nerven zehren“? Ich stellte mir solche dummen Fragen. „Ich bin kein schöner Anblick“, sagte ich mir mehrmals. Und diese Floskeln, diese Klischees, die mir andauernd in den Sinn kamen, ärgerten mich. Mir fiel ein, dass das Warten noch mehrere Tage dauern könnte und ich bereitete mich auf diese Prüfung vor. Ich malte mir für die Zukunft das Schlimmste aus und versuchte so, die Ungeduld der Gegenwart zu vergessen. Am schlimmsten war, dass ich den Kontakt mit den Männern, mit dem Polizisten und vor allem den Wachmännern, hinnehmen musste. Ich fürchtete weniger Schläge als hinterhältige Fragen und idiotische Überlegungen.

Ich war nicht mehr ruhig genug, um die Zeit abzuschätzen. Gegen 2 Uhr nachmittags kehrte „mein“ Inspektor zurück. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, versuchte aber vor allem, gleichmütig zu erscheinen. Mehr oder weniger heuchlerisch empörte er sich darüber, dass man mir kein Mittagessen angeboten hatte. Ich wies sein Angebot zurück.

„Ich hole Sie ab, um Sie zum Untersuchungsrichter zu bringen.“

Wieder ein Verhör, dachte ich. Doch das Wort Untersuchungsrichter gefiel mir. Richter waren mir a priori lieber als Polizisten.

„Machen Sie sich fertig.“

Er ging hinaus.

Ich schlüpfte in meinen Mantel. Meine Beine waren „sehr müde“. Doch ich fühlte mich ziemlich stark und war froh, aus diesem Büro heraus zu kommen.

Eine Viertelstunde verging. Gespannt sah ich erneut auf meine Uhr.

Der Inspektor wies mir in Begleitung seines Gehilfen den Weg.

„Holen Sie H.“, sagte er zu dem Wachmann im Flur. Und wir warteten.

H. war der Name meines ehemaligen Sekretärs. Ich fragte mich, was er mit dieser Sache zu tun hatte. Er kam manchmal zu Besuch und zeigte damals eine ziemlich bemerkenswerte Anhänglichkeit, während die meisten meiner früheren Mitarbeiter oder Kollegen eine Zurückhaltung an den Tag legten, die nah an Feigheit grenzte.

Doch es war nicht mein ehemaliger Sekretär, der am Ende des Flurs erschien, sondern sein Sohn, ein Bursche von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, vom Typ derjenigen, die man in Paris Spargel nannte. Er litt an Asthma, weshalb ihn seine Mutter und seine Frau umsorgten wie ein Kleinkind. Er besaß die Reife eines Pubertierenden, gab vor, immer bestens unterrichtet zu sein, war großsprecherisch, indiskret und mehr kindisch als bösartig. Er besuchte mich immer und manchmal begleitete er mich auf meinen Spaziergängen oder Fahrradausflügen. Als Pariser bewahrte er sich in seiner Sprache und seinen Gesten jene Unabhängigkeit, die ich damals sehr schätzte. Seine Verachtung für Vichy war aber nur oberflächlich. Angestellt bei einer Verwaltung, die damals eine besondere Bedeutung hatte, dem Amt für Getreide, schreckte er nicht davor zurück, jedem, der es hören wollte, von den Machenschaften dieses Amts und von den Tricksereien seiner höheren und niederen Angestellten zu erzählen, besonders derjenigen, die glühende Anhänger des Marschalls waren. Dank ihm hatte ich von bestimmten Formen der Bestechung erfahren, die die Männer des Vichy-Regimes erfolgreich anwandten.

Ich glaube, dieser junge Mann, der den Snobismus eines Pariser Kleinbürgers besaß und ziemlich stolz war, einen Schriftsteller zu kennen, zudem noch jemanden, der eine Zeitlang einige Ämter geleitet hatte, musste sich dieser Bekanntschaft wohl übermäßig gerühmt haben, und sicher gab er einige meiner Äußerungen entstellt wieder oder erfand sogar welche zum Zwecke seiner Angeberei.

Ich erinnerte mich plötzlich an den Satz des Polizisten am Ende der Haussuchung: „Er hat alles gestanden.“ Er, das war also der junge H.

Als er am Ende des Flurs erschien und mich erblickte, sah er äußerst verlegen aus. Weder grüßte er mich noch streckte er mir die Hand entgegen. Er beugte den Rücken und wich meinem Blick aus. Wessen mochte er sich wohl schuldig gemacht haben?, fragte ich mich, als ich ihn mit so betretener Miene sah. Vielleicht hatte man ihm untersagt, mit mir zu reden. Wir stiegen die Treppe hinunter, und man setzte mich auf den Rücksitz des Wagens, während man H. neben dem Fahrer platzierte.

„Zum Militärgericht!“, ordnete der Inspektor an, der neben mir saß.

Die Fahrt dauerte kaum fünf Minuten. Stets in Begleitung unserer Polizisten stiegen wir eine Treppe in den zweiten Stock hinauf. Eine Glastür, darüber die Inschrift: Tribunal Militaire. Vor der Tür standen uniformierte Schreiber und betrachteten uns gleichgültig: neue Kundschaft. Man brachte uns in einen Flur. Zwei Holzbänke standen sich gegenüber. Ich setzte mich auf eine und man bat H., auf der anderen Platz zu nehmen. Der Polizeigehilfe setzte sich neben mich und betrachtete H. Der Inspektor verschwand in einem Büro.

Am Ende dieses Flurs befand sich eine kleine Tür. Dort herrschte reges Kommen und Gehen. Anwälte in Robe erschienen, uniformierte Schreiber, die Akten trugen, gingen ein und aus. Ich konnte einen Teil der Richtersitze sehen. Vor der Tür diskutierten zwei Gendarmen. „Mindestens noch eine Stunde …“, sagte einer der beiden.

Zwei Anwälte unterhielten sich mit leiser Stimme. Andere begrüßten sich lautstark: „Lieber Kollege …“

Ein Anwalt öffnete einen Spalt breit die Tür zu dem Büro, in das der Inspektor hineingegangen war, und fragte:

„Ist er noch nicht da?“

Als Antwort hörte ich:

„Wir erwarten ihn jede Minute.“

Der Mann, der die Antwort gab, hatte einen starken südfranzösischen Akzent. Aus einem anderen Büro kamen junge Frauen, Schreibkräfte. Eine von ihnen trug einen kurzen Rock und zeigte ein wenig Knie. Sie war sehr dick und man konnte deutlich die Form ihrer Brüste erkennen. Als ein Angestellter sie im Vorübergehen um die Taille fasste, rief sie: „Pfoten weg!“ Die andere Schreibkraft trug dicke Brillengläser. Grell geschminkt, lächelte sie und erwiderte liebenswürdig die Begrüßung der Anwälte und ihrer Kollegen. „Guten Tag, Fräulein Odette.“ – „Guten Tag.“ Das Leben und sein üblicher Trott.

Ich langweilte mich weitaus weniger als im Büro des Inspektors, und dennoch ging mir die Gleichgültigkeit all dieser Leute auf die Nerven, die nicht zu bemerken schienen, dass man wenige Meter entfernt von ihnen Menschen verurteilte, dass man über ihr Leben oder zumindest über mehrere Jahre ihres Lebens verfügte. Diese Männer und Frauen, die kamen und gingen, verrichteten ihre Arbeit, ohne nachzudenken, warteten nur auf den Feierabend. Vor mir diskutierten blasierte Anwälte über das Schicksal ihrer Mandanten. Während das Gericht „beriet“, stellten sie Prognosen auf.

„Zwei Jahre Haft?…“

„Auf Bewährung, mein Lieber …“

„Hat heute schlechte Laune, der Oberst …“

Nach einer Viertelstunde hörte ich nichts mehr. Das Schauspiel war in die Ferne gerückt. Ich rauchte. Mir war heiß und ich hatte Durst. Ich schaute H. an, der einfältig lächelte, als wollte er vor den anderen den Schlauberger spielen. „Was konnte er erzählt haben, da er angeblich alles gestanden hatte?“: eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Bei geschickter Befragung hatte dieser Junge, ein Schwätzer vom Schlage derer, die man Klatschbasen nennt, sich vermutlich gehen lassen und erzählt, was er sich einbildete, hatte Märchen erzählt. Ich erinnerte mich, dass ich ihn einmal über seine Liebe zum Kriminalroman reden gehört hatte. Aber ich war mir sicher, dass er nichts wusste, weder aus meinem Leben noch von meinem Tun oder meinen Gedanken.

Ich wandte mich ab. Der Fahrer des Wagens, der uns gefahren hatte, gesellte sich zu seinem Kollegen, dem Polizeigehilfen, der uns bewachen musste, scherzte mit ihm, lachte lauthals. Ich verstand ungefähr, dass sie über den Schwarzmarkt sprachen und Adressen austauschten.

„Du kannst ein Huhn und sogar ein Pfund Butter haben.“

„Kein Witz!“

„Ja, aber aufgepasst! Der Alte ist durchtrieben, er lässt sich nicht so leicht einschüchtern.“

„Verstanden.“

Und sie lachten.

Und ich dachte: „Eine einzige Sauerei, das alles …“

Das Hin und Her ging weiter. Manchmal bemerkte ich ein wenig Aufregung an der Tür zum Gerichtssaal. Die Gendarmen spielten sich wieder auf. Ein Anwalt kam heraus.

„Drei Jahre! Der hat sein Teil gekriegt.“

Dann kamen die Zeugen heraus, noch rot, weil ihnen immer noch bange war, weil sie persönlich vor den Militärrichtern erscheinen mussten. Sie waren die einzigen, die ein wenig angespannt wirkten. Die anderen, Anwälte, Angestellte oder Gendarmen, spielten ihre Rolle ganz gelassen. An den Flur und das Gericht gewöhnt, dachten sie weder an die Angeklagten noch an die Verurteilten.

Ich war nicht mehr ungeduldig. Bei all dem Hin und Her und all diesen schwatzenden Leuten, die mir nicht die geringste Aufmerksamkeit widmeten, fand ich zu einer gewissen Schicksalsergebenheit zurück. Alles Weitere wartete ich ab.

Die Tür, durch die ich hereingekommen war, ging auf und ein kleiner, dicker Mann, der ein Fahrrad schob, trat in den Flur. Er verschwand im Büro des Untersuchungsrichters. Da ich ihm keine besondere Aufmerksamkeit schenkte, dachte ich zuerst, er sei ein Angestellter. Mit seinem runden Schädel, seiner beginnenden Glatze, seinen vortretenden Augen war er mir allerdings eher unsympathisch.

Zehn Minuten später kam der Inspektor aus dem Büro und holte H. Der richtete sich in seiner ganzen Größe auf und trat siegesgewiss ein. Die Tür ging wieder zu.

„Ist der Untersuchungsrichter eingetroffen?“, fragte ich meinen Wachmann.

„Ja“, antwortete er mir, „wurde auch höchste Zeit.“

Ich bemühte mich, mir das Gesicht des Fahrradfahrers zu vergegenwärtigen, den ich gesehen hatte. Der neue Gegner. Ich musste mich also auf die Antworten vorbereiten. Diese Feststellung erschien mir freilich dumm, doch ich konnte nur diesen Satz wiederholen: „Er wird mir Fragen stellen und ich muss mich vorbereiten, darauf zu antworten.“

„Ich werde trottelig sein“, nahm ich mir vor und war ganz zufrieden, mich dumm zu fühlen. All diese Leute kamen mir selbst so dumm vor. Alle spielten eine Komödie. Und ich machte mich lustig über sie. Ich sah diese „Akteure“ vorübergehen, wie man von einer Caféterrasse aus Passanten zusieht. Nach einer halben Stunde kam H. wieder heraus. Sein Gesicht war knallrot und er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Der Inspektor holte mich herein. Ich trat in ein sehr kleines Büro, in dem ein großer schwarzer Marmorkamin auf der rechten Seite fast den ganzen Platz einnahm. Vor dem einzigen Fenster stand ein gewöhnlicher Schreibtisch, an dem rechts der Untersuchungsrichter saß, und ihm gegenüber ein junger Mann, sein Gerichtsschreiber. Auf der linken Seite beanspruchte das Fahrrad viel Platz. In der Mitte des Zimmers standen ein mit schwarzem Rips bezogener Second Empire Sessel und zwei ganz normale Strohstühle. Entlang der Wände und auch auf dem Kamin stapelten sich Akten. Das Parkett war grau vom Staub und von der schmutzgelben Decke baumelte eine Lampe. Es roch nach Tinte und alten Socken.

Ich erfasste das Inventar dieses Zimmers auf einen Blick und sogar noch, bevor ich die Männer sah.

„Setzen Sie sich“, blaffte der Untersuchungsrichter.

Seine recht laute Stimme überraschte mich nicht. Er las einen Bericht, vermutlich den, den der Polizist von meinem Verhör angefertigt hatte. Dieser saß auf einem Stuhl neben dem Sessel, auf dem ich Platz genommen hatte, und wirkte immer noch sehr selbstzufrieden. Ich musterte den Untersuchungsrichter aufmerksam. Ich betrachtete seinen hell beleuchteten Schädel, seinen großen, ungewöhnlich massigen und sehr runden Kopf. Die fortgeschrittene Glatze gab ihm das sonderbare Aussehen eines vorzeitig gealterten Mannes. Sein aufgedunsenes und frisch rasiertes Gesicht verriet den feisten Schlemmer. Seine Haut war zu rosig, seine Nase rund vom vielen Schnauben. Vor allem aber fiel er durch seinen Mund und seine Augen auf, ein widerwärtiger Mund voller Zähne, die von dicken, konturlosen Lippen gesäumt wurden, und Augen wie Lottokugeln, mattbraun, mit schweren, roten Lidern sowie einem lüsternen und ausweichenden Blick. Zusammen mit der niederen Stirn, den runden Wangen und dem schiefen Kinn ergab das ein Gesicht, als hätte man ein Schwein mit einem Pekinesen gekreuzt. Sein Anblick stieß mich ab, trotzdem glaubte ich noch, dass mich dieser Untersuchungsrichter aus den Fängen der Polizei befreien würde, und deshalb war ich ihm sehr wohlgesonnen.