Die Zeit-Verschwörung 3: Navigator - Stephen Baxter - E-Book

Die Zeit-Verschwörung 3: Navigator E-Book

Stephen Baxter

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Beschreibung

Eine Verschwörung aus der Zukunft manipuliert die Vergangenheit

Orm Egilsson wird Zeuge einer Prophezeiung, die von „Gottes Maschinen“ kündet. Zusammen mit seinem Sohn Robert macht er sich zur Zeit Wilhelms des Eroberers auf nach Cordoba, wo er einen Wissenschaftler trifft, der tatsächlich an diesen Maschinen arbeitet. Entschlossen, ihn aufzuhalten, verstrickt Orm sich immer mehr in die Intrigen der Weber, die versuchen, die Vergangenheit zu manipulieren und den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Jahrhunderte später entdeckt Kolumbus Amerika – und trägt den grausamen Krieg der Christen gegen die Ungläubigen, der mit den Kreuzzügen begann, in die Neue Welt …

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Seitenzahl: 545

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DAS BUCH

Nordengland, im Jahre 1070: Während Truppen unter William dem Eroberer raubend und brandschatzend durch das Land ziehen, hört Orm Egilsson in der Ruine eines Klosters eine Frauenstimme singen. Gebannt lauscht er den Worten, die von »Gottes Maschinen« künden, welche einst das weite Meer brennen lassen werden. Orm nimmt die verstörte Frau unter seinen Schutz und heiratet sie, doch nachdem sie ihm einen Sohn – Robert – geboren hat, zieht sie sich in die Einsamkeit ihres Klosters zurück. Mit Robert folgt Orm den Spuren der Prophezeiung. In Cordoba begegnet er Sihtric, der nach den Visionen Aethelmaers an geheimen Maschinen baut. Entschlossen, ihn aufzuhalten und dem vorhergesagten großen Krieg entgegenzuwirken, verstrickt sich Orm immer tiefer in die Intrigen, deren Fäden aus der Zukunft stammen. Schon bald wird klar, dass nicht nur ein einziger »Weber der Zeit« mithilfe der Prophezeiungen seine Interessen verfolgt. Als Robert sich in Sihtrics Tochter – eine Muslimin – verliebt und sie schwängert, kommt es zur Katastrophe. Robert verlässt das Mädchen und schließt sich den Kreuzfahrern an, nicht wissend, dass er die Prophezeiung in das Heilige Land tragen wird und mit ihr den Keim für einen Krieg West gegen Ost, Christen gegen Muslime. Und während Könige und Emire nach den Plänen für Gottes Maschinen trachten, wird das Jahr 1492 geschrieben – das Jahr, in dem Columbus sich nach Westen wendet und die Saat des Krieges über das Meer trägt …

DER AUTOR

Der Engländer Stephen Baxter, geboren 1957, zählt zu den weltweit bedeutendsten Science-Fiction-Autoren. Aufgewachsen in Liverpool, studierte er Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire. Zuletzt sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Evolution, Der Orden, Sternenkinder und Transzendenz.

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCHDER AUTORDAS TESTAMENT DER EADGYTH VON YORKDAS »INCENDIUM DEI«-KRYPTOGRAMM:PROLOG - 1070 N. CHR.ERSTER TEIL - MUSTA’RIB 1085 N. CHR.
IIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXIXXIIXXIIIXXIV
ZWEITER TEIL - CRUCESIGNATI 1242–1248 N. CHR.
IIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXIXXIIXXIIIXXIVXXVXXVIXXVIIXXVIIIXXIXXXXXXXI
DRITTER TEIL - NAVIGATOR 1472–1491 N. CHR.
IIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIIIXIXXXXXIXXIIXXIIIXXIVXXVXXVIXXVIIXXVIII
EPILOG - 1492 N. CHR.
III
NACHWORTNACHBEMERKUNG DES ÜBERSETZERSCopyright

ZEITTAFEL

622 n. Chr.:Beginn der islamischen Ära711 n. Chr.:Erste muslimische Heere landen in Spanien732 n. Chr.:Schlacht von Poitiers; Ende des muslimischen Vormarschs756 n. Chr.:Errichtung des politisch unabhängigen Reiches al-Andalus929 n. Chr.:Gründung des Kalifats von Córdoba1031 n. Chr.:Zusammenbruch des Kalifats von Córdoba; Entstehung der taifas1066 n. Chr.:Dänische und normannische Einfälle in England1085 n. Chr.:Alfons VI. von Kastilien erobert Toledo1096–99 n. Chr.:Erster Kreuzzug1187 n. Chr.:Saladin erobert Jerusalem zurück1212 n. Chr.:Las Navas de Tolosa: entscheidender Sieg der Christen in al-Andalus1236 n. Chr.:Eroberung Córdobas durch die Christen1242 n. Chr.:Ugedais Tod; Mongolen ziehen sich von Wien zurück1248 n. Chr.:Eroberung Sevillas durch die Christen1260 n. Chr.:Im Heiligen Land bereiten die Mamelucken den Mongolen die erste Niederlage1291 n. Chr.:Zerschlagung der Kreuzfahrerstaaten1347–52 n. Chr.:Das »große Sterben« – der Schwarze Tod1453 n. Chr.:Ottomanische Türken erobern Konstantinopel1479 n. Chr.:Vereinigung von Kastilien und Aragón1492 n. Chr.:Christen erobern Granada. Kolumbus bricht zu seiner Reise auf

DAS TESTAMENT DER EADGYTH VON YORK

(1070 N. CHR. OFFENBARTE ZEILEN)

Am Ende der Zeit Wird er kommen Zum Schweif des Pfaus: Die Spinnenbrut, der Christusträger Der Täuberich. Und der Täuberich wird ostwärts fliegen, Mit starken Schwingen, festem Herzen und klarem Verstand. Gottes Maschinen werden unseren Ozean verbrennen Und die Gewürzländer in Flammen setzen. All dies habe ich miterlebt Und meine Mütter auch. Schickt den Täuberich nach Westen! Oh, schickt ihn nach Westen!

(1481 N. CHR. GEFUNDENE ZEILEN)

Der Drache erhebt sich von seinem östlichen Thron, Wandert nach Westen. Die gefiederte Schlange, seuchengestählt, Fliegt übers Ozeanmeer, Fliegt nach Osten. Schlange und Drache, ein Zweikampf auf Leben und Tod, Und die Schlange ergötzt sich an heiligem Fleisch. All dies habe ich miterlebt Und meine Mütter auch. Schickt den Täuberich nach Westen! Oh, schickt ihn nach Westen!

DAS »INCENDIUM DEI«-KRYPTOGRAMM:

(Quelle: Der »Gottes Maschinen«-Kodex des Aethelmaer von Malmesbury, ca. 1000 n. Chr.)

BMQVK XESEF EBZKM BMHSM BGNSD DYEED OSMEM HPTVZ HESZS ZHVH

PROLOG

1070 N. CHR.

Orm Egilsson gehörte zu den Letzten, die an diesem strahlend hellen Februarmorgen das Dorf erreichten, und da lag es bereits in Ruinen. Man hatte die Holzhäuser in Brand gesteckt, die steinernen Scheunen wie Eier aufgebrochen, die Wintervorräte geraubt, das Saatgut verbrannt und die Tiere – selbst die trächtigen Mutterschafe und Kühe – geschlachtet oder vertrieben.

Und überall lagen Leichen. Männer und kleine Jungen waren wie Grashalme niedergemäht worden. Einige von ihnen hielten behelfsmäßige Waffen in den Händen, Sicheln und Rechen, ja sogar Spieße und rostige Schwerter, mit denen sie gegen die normannischen Krieger nicht das Geringste hatten ausrichten können. Aber diese Bauern waren gezwungen gewesen zu kämpfen, denn seit Harold vor über drei Jahren bei Hastings vernichtend geschlagen worden war, gab es kein englisches Heer mehr, das für sie kämpfte, und auch keinen englischen König. Und nachdem die Männer gefallen waren, hatten die Frauen und Mädchen dem üblichen Zeitvertreib der Normannen gedient. Orm wandte den Blick von den verdrehten Körpern in ihren blutigen Lumpen ab, in deren Umgebung der Schlamm von den Knien und Füßen der Soldaten aufgewühlt war.

So wie hier war es im ganzen Land. Wohin Orm auch blickte, überall sah er Rauchwolken aufsteigen, die von der gewaltigen Rauchsäule über dem wenige Meilen entfernten York beherrscht wurden. Die Normannen wollten sicherstellen, dass in diesem Land mindestens auf eine Generation hinaus keine weitere Rebellion Rückhalt fand; das galt auch für die heimlichen Nadelstiche der Wildmänner. Und die Normannen verfolgten ihre Ziele mit gnadenloser Effizienz.

Auf Geheiß seines Offiziers stieg Orm ab und führte sein Pferd am Zügel hinter sich her. Der Säuberungstrupp hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Arbeit gründlich beendet wurde. Die Hitze der schwelenden Feuer ließ Orm in seinem schweren Kettenhemd schwitzen, und die rußige Luft unter seinem kegelförmigen Helm hatte eine nahezu grobkörnige Beschaffenheit. Aber wie alle anderen stocherte er mit einem Stichschwert in verkohlten Trümmern und drehte Leichen mit dem Fuß auf den Rücken. Das war weniger schlimm, als selbst an dem Gemetzel teilzunehmen.

Er gelangte zu einer zerstörten Hütte oder vielmehr einer kleinen christlichen Kapelle, die, wie er an den Überresten eines Gedenksteins sah, der heiligen Agnes geweiht war, einer römischen Märtyrerin. Orm stieß die Trümmer der eingestürzten Mauern mit dem Fuß beiseite und legte den mit Stroh bedeckten Lehmboden frei. Hier gab es eine Herdstelle, deren Steine noch warm waren vom nächtlichen Feuer, und zwei bereits aufgebrochene Holztruhen. Nichts Wertvolles war mehr übrig.

Doch unter dem Stroh bewegte sich etwas, ein Rascheln im Schmutz. Vielleicht eine Ratte. Er ging zu der Stelle hinüber.

Und er hörte die leise Stimme einer Frau, die einen Singsang schnell hervorgestoßener englischer Worte intonierte:

Am Ende der Zeit Wird er kommen Zum Schweif des Pfaus: Die Spinnenbrut, der Christusträger Der Täuberich. Und der Täuberich wird ostwärts fliegen …

Ein Gebet? Keines, das er kannte – was bei einem Heiden aber auch nicht weiter verwunderlich war.

Er stampfte fest mit dem Fuß auf. Sein Stiefel erzeugte ein dumpfes, hohles Geräusch. Die Stimme verstummte.

Er stieß das Stroh beiseite und legte grob geschnittene Bretter frei. In den Lücken zwischen den Brettern sah er eine rasche Bewegung, das Aufblitzen eines blauen Auges.

Orm stellte sich breitbeinig hin und hob das Schwert, um es nach unten zu rammen. Aber dann zögerte er; er hatte das Blutvergießen satt. Er bückte sich, schob seine behandschuhten Finger zwischen die Bretter und zog sie nach oben.

In der Grube kauerte eine Frau, die eine schmutzige schwarze Kutte trug. Sie zuckte vor dem Licht zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Neben ihr sah er einen halb aufgegessenen Laib harten Winterbrotes, einen Holzkrug mit Wasser und eine verfärbte Stelle am Boden, deren Gestank ihm verriet, dass sie schon seit einigen Stunden in dieser Grube hockte.

Er sollte sie erledigen. Das wäre gnädiger, als sie in die Hände der Normannen fallen zu lassen. Er packte das Heft des Schwerts fester.

Sie ließ die Hände sinken und schaute zu ihm herauf. Sie hatte leuchtend blaue Augen, ein rundes, kräftiges Gesicht und kurz geschnittene Haare.

Ihm stockte der Atem. »Godgifu«, stieß er hervor. Und ließ das Schwert sinken.

Die Frau in der Grube beobachtete ihn. Ihr Blick war auf sein Gesicht gerichtet.

»Aber du bist nicht Godgifu«, sagte er auf Englisch.

Sie überlegte. »Weißt du das genau?«

»Du kannst nicht Godgifu sein. Ich habe sie sterben sehen.« Nein, teilte ihm sein unbarmherziges Gedächtnis mit. Mehr als das. Orm – oder die Mordmaschine seines Körpers – hatte sie im Blutrausch auf Senlac Ridge getötet, bei dem Gemetzel, das inzwischen »die Schlacht von Hastings« hieß. Hatte gedankenlos die Frau getötet, die er liebte. Er hatte sich das nie verziehen, obwohl ihm Sihtric, Godgifus Priesterbruder, in gewissem Sinn Absolution erteilt hatte.

»Ja, du hast recht. Ich heiße Eadgyth. Aber ich wünschte, ich wäre deine Godgifu.« Ihre Stimme klang kratzig, weil sie so lange nicht gebraucht worden war. Die Frau war nicht viel älter als zwanzig.

»Warum wünschst du dir das?«

»Weil du Godgifu verschonen würdest. Aber mich wirst du bald töten.«

»Warum bist du hier, Eadgyth?«

»Ich verstecke mich.«

»Vor den Normannen?«

»Vor den Normannen und meinen Eltern.«

»Wieso vor deinen Eltern?«

Sie erzitterte in ihrem Loch. »Ich möchte mein Leben Gott schenken. Sie wollen es dem Eroberer schenken.«

Er schaute sich um. Die anderen Soldaten waren mit etwas beschäftigt, was sie auf der anderen Seite des Dorfes gefunden hatten, mit einem Geldversteck oder einer Frau, die noch lebte. Niemand war in Orms Nähe, niemand beobachtete ihn. Er hockte sich in seinem schmutzigen Kettenpanzer steif hin. »Erzähl mir davon.«

Es war eine bekannte Geschichte. Unter Harold und seinen Vorgängern waren Eadgyths Angehörige betuchte Landbesitzer gewesen. Doch mehr als drei Jahre nach der Eroberung waren jegliche vagen Absichten König Williams, der alten englischen Aristokratie einen Schritt entgegenzukommen, durch die Rebellionen weggebrannt worden. Überall im Land schlugen Wildmänner aus den Wäldern, den Hügeln und dem Sumpfland zu, wohin ihnen die schwer gepanzerten Normannen nicht folgen konnten. Die Söhne des toten Königs Harold hatten von Irland aus Überfälle verübt. Der schottische König Malcolm hatte seine Schwester mit Edgar Atheling vermählt, der als Verwandter Edwards des Bekenners nach mancher Leute Ansicht sogar einen noch berechtigteren Anspruch auf den Thron hatte als Harold seinerzeit. Und so weiter. Während eine Rebellion nach der anderen niedergeschlagen wurde, gelang es nur sehr wenigen der einheimischen englischen Adligen, ihre Stellung zu erhalten.

Eadgyths Eltern hatten die Absicht gehabt, unter dem neuen Regime zu überleben. Und sie betrachteten ihre einzige Tochter als ihren größten Aktivposten.

»Sie haben mich aus meinem Kloster zurückgeholt. Ich sollte den Sohn des normannischen Herrn heiraten, dem wir nun gehören. Ich habe den Jungen getroffen. Er war nicht älter als siebzehn, und er wollte mich vergewaltigen, noch bevor ich ihm meinen Namen genannt hatte. Jetzt ist er Bischof.« Sie lachte ohne Bitterkeit.

»Also bist du weggelaufen.«

»Ich habe mich von einem Unterschlupf zum nächsten durchgeschlagen. Der Klerus und die Bewohner von Orten wie diesem haben mich beschützt.«

Orm hatte von solchen Dingen gehört. Für Bauern, die man ihrer Traditionen und des englischen Rechts beraubt hatte, stellten Einsiedler wie Eadgyth eine Erinnerung an die alten Zeiten, die alte englische Lebensweise dar.

»Und du …?«, fragte sie.

»Orm. Ich heiße Orm Egilsson.«

»Warum bist du hier? Du bist weder Normanne noch Engländer. Dies ist nicht deine Heimat.«

»Ich bin ein Söldner. Ich kämpfe gegen Bezahlung.«

Sie bewegte sich in ihrer engen Grube. »Warst du in Hastings dabei?«

»Ja.«

»An einem solchen Tag war es besser, für den Sieger zu kämpfen. Weshalb haben die Normannen dich hierher gebracht?«

»Um den Rebellionen ein Ende zu bereiten.«

»Mein Onkel ist ein Wildmann, im Fenland des Ostens«, sagte Eadgyth.

»Ja. Die Normannen nennen sie silvatici. Waldmenschen.« Überall in England hatten die Wildmänner den Normannen ein weiteres neues Wort beigebracht: murdrum, heimtückisches Töten. »Aber am schlimmsten war es im Norden. In diesem Land. Und darum wird es am meisten leiden. Es ist überall so wie hier, von Durham bis York – alles niedergebrannt und unbewohnt.« Dieses Jahr würde es keine Ernte geben, keine Lämmer oder Kälber; auf den Stahl würde der Hunger folgen.

»Also ist der Eroberer endlich hierher gekommen«, flüsterte Eadgyth. »Von Hastings zu diesem abgelegenen Ort mit seinen Bauern, Schafen und Rindern.«

Orm hörte laute Rufe. »Wir haben keine Zeit mehr«, sagte er.

»Dann musst du dir deinen Sold verdienen.«

Er blickte in ihre ruhigen Augen, die so sehr denen Godgifus ähnelten.

»Was ist das?« Die Stimme war schwerfällig, mit einem groben französischen Akzent.

Zu seiner Bestürzung sah Orm Roger fitz Gommery über sich stehen. Roger war ein einfacher Soldat, ein Paket gestählter Muskeln von den Zehenspitzen bis zum Gehirn und ein leidenschaftlicher Vergewaltiger. Der Schritt seiner ledernen Hose war mit Blut und Kot beschmiert, weil er an diesem Tag schon ausführlich seinem Lieblingszeitvertreib gefrönt hatte. »Störe ich dich bei einem kleinen Techtelmechtel, Orm Egilsson? Mal sehen, was wir da haben.«

Er schloss seinen Lederhandschuh über Eadgyths kurzen Haaren und zog sie hoch. Sie schrie und strampelte; ihre Beine waren zu schwach, um ihr Gewicht zu tragen.

»Roger …«

»Du kommst schon nicht zu kurz, Orm.«

Mit seiner behandschuhten Hand zerrte Roger am Kragen von Eadgyths Kutte. Der alte, häufig geflickte Stoff gab sofort nach. Sie stand nackt da, bis auf eine Unterhose aus fleckiger Wolle, die Roger ihr herunterzog. Ihr Körper war knochendürr, die Haut von blauen Flecken übersät, und die Brüste waren eingeschrumpfte Hügel hinter harten Brustwarzen. Sie wimmerte mit geschlossenen Augen und schien zu beten:

Und der Täuberich wird ostwärts fliegen,Mit starken Schwingen, festem Herzen und klarem Verstand.Gottes Maschinen werden unseren Ozean verbrennenUnd das Land der Gewürze in Flammen setzen.All dies habe ich miterlebtUnd meine Mütter auch …

Während sie diese Worte vor sich hinbrabbelte, musterte Roger sie verächtlich von oben bis unten. »Haut und Knochen. Hühnerbeine. Weißt du was, Däne? Ich hab keine Lust auf sie; mir reicht’s für heute. Aber wir können uns trotzdem ein bisschen amüsieren. Hast du schon mal ein Hähnchen zerlegt?« Er zog ein Messer aus seinem Gürtel und fuhr damit beinahe nachdenklich über Eadgyths Rücken. Sie richtete sich vor Schmerz starr auf, und warmes Blut floss.

Und ihre Augen klappten auf.

Sie starrte Orm direkt an. »Egilsson«, sagte sie. »Orm Egilsson. Hörst du mich? Bist du da? Bist du da?« Trotz Rogers brutalem Griff, mit dem er sie an den Haaren aufrecht hielt, und trotz der Wunde, die sich über ihren Rücken zog, war auf einmal jegliche Schwäche aus ihrer Stimme verschwunden. Sie klang nicht einmal mehr wie ihre Stimme, sondern tiefer, schwerer, mit verfälschtem Akzent. »Bist du da, Orm Egilsson?«

Roger starrte sie mit offenem Mund an. »Ist sie besessen?«

»Orm Egilsson. Höre, was ich dir zu sagen habe. Hör zu und merk es dir. Auch deine Söhne und deren Söhne sollen es auswendig lernen.« Dann intonierte sie erneut ihr unheimliches, fremdes Gebet.

Am Ende der Zeit Wird er kommen Zum Schweif des Pfaus: Die Spinnenbrut, der Christusträger Der Täuberich. Und der Täuberich wird ostwärts fliegen …

Roger bekreuzigte sich. »Bei Gottes Wunden, sie ist eine Prophetin.«

Sie sprach mit dieser klaren, fremdartigen Stimme weiter, von Feuern, die ein Meer verschlangen, vom Krieg.

All dies habe ich miterlebtUnd meine Mütter auch.Schickt den Täuberich nach Westen! Oh, schickt ihn nach Westen!

Orm verspürte eine unerklärliche Angst vor dieser nackten, hilflosen Frau. »Was für ein Pfau, was für ein Täuberich? Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Finde ihn«, sagte Eadgyth, und ihre Stimme war jetzt ein Zischen.

»Wen?«

»Sihtric.«

Es war der Name von Godgifus Bruder, dem Priester. Orm hatte Eadgyth nichts von ihm erzählt. Der Name erschreckte ihn bis ins Mark. »Aber Sihtric ist in Spanien«, sagte er schwach.

»Finde ihn. Und gebiete ihm Einhalt.«

Roger verlor die Nerven. Er ließ die Haare der Frau los, und sie sackte in sich zusammen. »Nimm sie, töte sie oder heirate sie, sie gehört dir allein, Däne. Ich will nichts mehr davon hören.« Er drehte sich um und stampfte davon, ein massiger Mann in seiner Rüstung, der sich wie wild bekreuzigte.

Die Frau hockte zusammengesunken da; ihr Rücken glänzte blutig rot. Orm hob ihr Gesicht mit einer behandschuhten Hand hoch. Speichel sprenkelte ihre Lippen, und er sah Blut auf ihrer Zunge. Sie hatte sich beim Sprechen gebissen. »Wer bist du?«, fragte er. »In wessen Namen soll ich Sihtric Befehle erteilen?«

Sie sah ihn an. »Orm?«

»Wer bist du?«

»Ich bin Eadgyth. Nur Eadgyth.« Sie runzelte die Stirn. »Ich – bin ich hingefallen?«

»Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast?«

»Was ich gesagt habe … was ist mit mir passiert, Orm Egilsson?«

Er stand auf. Um ihn herum verlor der strahlend helle Februartag an Substanz, und ein grelleres Licht schien durch seine spärlichen Fäden. Er erinnerte sich an Sihtrics Geschwätz in den Tagen vor Hastings, an das mystische Geplapper eines möglicherweise häretischen Priesters: das Gerede über den Zeitteppich, dessen Gewebe von einem Gott oder einem Menschen mit genug Macht – Sihtric hatte ihn den Weber genannt  – aufgeräufelt und neu gewirkt werden könne. Und nun waren Sihtric und seine Rätsel in Orms Leben zurückgekehrt.

Doch vor ihm auf dem Boden lag eine hilflose, nackte, zitternde und blutende Frau. Das war die Wirklichkeit. Er langte nach oben, nahm eine Decke vom Sattel seines Pferdes und legte sie ihr um die Schultern. Angelockt von Rogers wirrem Bericht, versammelten sich die von Blut und Vergewaltigung berauschten normannischen Soldaten neugierig um sie.

ERSTER TEIL

MUSTA’RIB 1085 N. CHR.

I

Das Land im Norden Spaniens interessierte Robert, Orms Sohn, nicht im Geringsten.

Warum sollte es auch? Grün, feucht und selbst im Juli mild, hatte es zu große Ähnlichkeit mit England. Und außerdem glaubte der vierzehnjährige Robert, dass seine Seele sich nicht nach landschaftlichen Schönheiten, sondern nach spiritueller Nahrung sehnte. Darum war er froh, als er mit seinem Vater Santiago de Compostela erreichte, die Stadt des heiligen Jakob vom Sternenfeld, wo er sich inmitten der versammelten Pilger vor dem Grab des Apostels – Santiago Matamoros, Jakob der Maurentöter – auf den Bauch werfen konnte.

Wie sich herausstellte, sollte er in dieser Stadt nicht seine Seele, sondern sein Herz verlieren, und zwar nicht an die staubigen Gebeine eines Heiligen, sondern an das süße Gesicht eines halb maurischen Mädchens.

Die drei, Robert, Orm und Ali Ibn Hafsun, ihr Führer, saßen auf kleinen Steinbänken im Schatten eines Apfelbaums, ruhten ihre Körper aus, die nach dem Tagesritt von der Küste hierher müde waren, und tranken den scharf gewürzten Tee eines Straßenhändlers. Die Stadt des heiligen Jakob war klein, schäbig und ziemlich verfallen, als hätte seit dem Abzug der Römer niemand eine Mauer ausgebessert oder einen zerbrochenen Dachziegel repariert. Auf diesem kleinen Platz herrschte jedoch reges Leben; Pilger in von der Reise schmutzigen Kleidern standen Schlange, um ihre Reverenz zu erweisen, Kinder jagten Hühner, Frauen kauften Lebensmittel ein, und Männer in weiten weißen Kleidern machten in verschiedenen Sprachen Geschäfte.

Und im Schatten der gedrungenen Kirche rempelten sich Kamele stöhnend an. Die Kamele waren außergewöhnlich. Robert fand, dass sie irgendwie falsch aussahen, als wären sie aus Stücken anderer Geschöpfe zusammengesetzt.

Orm lachte über die Kamele. »Ich habe immer gehört, Afrika beginne jenseits der Pyrenäen. Jetzt weiß ich’s.«

Ibn Hafsun musterte Robert. Er war ungefähr in Orms Alter – irgendwo in den Vierzigern – und kleidete sich wie ein Maure, hatte aber dennoch ergrauende blonde Haare und blaue Augen. Er schien Roberts Rastlosigkeit zu spüren. »Du bist mit den Gedanken woanders, mein Junge. Das merke ich daran, wie du diesen heißen Tee in dich hineinschüttest, wie dein Blick durch die Gegend schweift, alles anschaut und nichts sieht.«

Orm hatte immer gesagt, Robert habe die spirituelle Seele seiner längst verstorbenen Mutter, Eadgyth, die einst eine Einsiedlerin gewesen war. Aber Robert hatte auch die Statur und das Temperament seines Vaters, eines Soldaten. »Was geht dich das an?«, blaffte er zurück, vierzehn Jahre alt und äußerst ungehalten.

Ibn Hafsun hob die Hände. »Es war nicht böse gemeint. Ich bin euer Führer in diesem seltsamen Land. Dafür werde ich bezahlt. Und obwohl ich deinen Körper hierher gebracht habe, mache ich meine Sache schlecht, wenn ich zulasse, dass dein Geist herumirrt wie ein Hühnchen, das nicht mehr zu seinem Nest findet.« Er sprach einen lateinischen Dialekt mit starkem Akzent. Robert hatte erwartet, dass jedermann Arabisch redete, aber es gab zwei Sprachen in Spanien, Arabisch und dieses stark abgewandelte Latein, das die Leute aljami oder latinia nannten.

»Ich bin kein verirrtes Hühnchen.«

Ibn Hafsun lächelte. »Als was siehst du dich dann?«

»Ich bin ein Pilger. Und ich bin in der Stadt des heiligen Jakob, um das Grab des Bruders Christi zu besuchen, der zum Sterben hierher gekommen ist.«

»Du musst ihm vergeben, Ibn Hafsun«, sagte Orm leise. »Frömmigkeit ist heutzutage in Mode. Eine Generation nach der Eroberung sind die englischen Könige vergessen, und jeder Junge in England will ein Gotteskrieger wie König William sein.«

»Aber dies ist nur eine Zwischenstation«, sagte Ibn Hafsun in aller Unschuld zu Robert. »Euer erster Halt in Spanien. Euer Ziel ist Córdoba. Und soweit ich weiß, seid ihr nicht in Santiago, um einen längst toten Apostel zu treffen, sondern einen lebendigen Priester.«

Robert schnaubte. »Sofern das nicht alles ein raffinierter Schwindel ist, den sich irgendein Betrüger ausgedacht hat, um meinem Vater die Taschen zu leeren.« In England hatten sie sich oft über den Zweck der Reise gestritten.

Orm rutschte auf der Bank herum. Er war noch immer ein großer, schwerer Mann, aber sein von zu vielen Feldzügen lädierter und zernarbter Körper war steif und schmerzte selbst im Ruhezustand. »Ich habe Sihtric geschrieben«, sagte er mit fester Stimme. »Er hat mir geantwortet, und ich habe seine Schrift erkannt. O ja, Sihtric lebt. Da bin ich mir sicher.«

Und er wechselte einen Blick mit Robert, denn die zentrale Wahrheit blieb unausgesprochen: Der eigentliche Grund ihrer Reise war Orms Geschichte von dem »Testament«, das Eadgyth, Roberts Mutter, nach ihrer Entdeckung durch Orm in einem Erdloch von sich gegeben hatte, in dem sie sich vor den Normannen versteckt hatte. Nachdem sie nun jahrelang gespart und die erforderlichen Vorbereitungen getroffen hatten, war Orm bereit, ihren Befehl auszuführen und Sihtric aufzusuchen.

Robert glaubte das alles nicht so ganz. Doch seine Mutter war schon in seiner frühen Kindheit zur alten Kirche der heiligen Agnes in der Nähe des von den Normannen inzwischen wieder aufgebauten York zurückgekehrt und erneut in dieses Erdloch gekrochen, ohne sich um ihren beunruhigten Gemahl und ihren verzweifelten kleinen Sohn zu kümmern. Und sie war gestorben, als Robert gerade einmal sechs gewesen war; die Jahre ihrer Flucht vor den Normannen hatten ihre Lungen zu sehr angegriffen.

Ibn Hafsun beobachtete den stummen Austausch zwischen ihnen, und Robert sah eine berechnende Neugier in seinen hellen Augen. »Nun, du bist hier, Robert, aus welchen Beweggründen auch immer. Und was hältst du von dem Land?«

»Nicht viel. Es hat große Ähnlichkeit mit England.«

Ibn Hafsun lachte. »Das will ich nicht abstreiten. Ja, diese Ecke ist wie England oder Irland. Nass, windig, geprägt vom Seewetter aus dem Westen. Aber das gilt nur für einen sehr kleinen Teil dieser Peninsula. Du wirst schon sehen.«

»Ich glaube, er weiß nicht, was eine ›Peninsula‹ ist, Ibn Hafsun«, sagte Orm.

»Sag mir wenigstens eins: Wie nennt ihr das Land, in das ihr gekommen seid?«

»Spanien«, fauchte Robert.

»Aha. Nun ja, es hat viele Namen gehabt. Die Römer haben es Iberien genannt, nach einem Fluss, dem Ebro, der ins Mittelmeer mündet. Später hieß es bei ihnen dann Betica, nach einem anderen Fluss, der im Westen ins Ozeanmeer mündet – dem Fluss, an dem Córdoba liegt. Noch später kannte man es unter dem Namen Hispania oder Spanien, nach einem Mann namens Hispan, der hier einmal geherrscht hat – oder vielleicht wurde es nach Hesperus benannt, dem Abendstern. Viele dieser Namen stammen natürlich von noch älteren Völkern, den Menschen, die hier lebten, bevor die Caesaren kamen. Und die Mauren nennen es al-Andalus.«

»Die Mauren sind im Süden«, erwiderte Robert. »Hierher sind sie nie gekommen.«

»Nein?« Ibn Hafsun grinste. »Einst gab es hier im Norden nicht mehr als einen winzigen Salzkristall Christentum in einem Becher Islam, nachdem die Mauren die Peninsula – die Halbinsel – binnen weniger Jahre überrannt hatten. Und vor nicht allzu langer Zeit – oh, das ist kaum hundert Jahre her – hat ein großer maurischer Wesir namens Al-Mansur diese Stadt geplündert und die Glocken der Jakobskirche nach Córdoba gebracht, wo sie sich bis auf den heutigen Tag befinden.«

»Ich glaube dir nicht«, sagte Robert.

»In welchem Punkt?«

»Dass die Mauren nur ein paar Jahre gebraucht haben, um ganz Spanien zu überrennen. Die Römer hätten sie zurückgetrieben.«

»Doch, es ist leider wahr«, sagte Ibn Hafsun. »Es geschah nur hundert Jahre nach dem Tod des Propheten. Die damaligen Könige waren keine Römer – das Imperium hatte nämlich den Westen verloren –, sondern Goten. Jahrhundertelang haben wir hier ebenso geherrscht wie die Römer, oder sogar noch besser. Aber wir konnten den Mauren nicht standhalten.«

»Warum sagst du ›wir‹?«, fragte Orm.

»Ich entstamme einer Familie gotischer Grafen«, sagte Ibn Hafsun stolz. »Unser Familienname lautete Alfonso.«

»So heißt auch der König«, sagte Robert.

»Zu meines Urgroßvaters Zeit sind wir zum Islam übergetreten und haben einen arabischen Namen angenommen. Die Mauren nennen solche wie uns muwalladun, ›angenommene Kinder‹. Und nun bin ich auf einmal ein übrig gebliebener Muslim in einem neuerlich christlichen Königreich. Ihr seht, Geschichte ist kompliziert.« Er lächelte, ein Muslim mit blauen Augen und blonden Haaren.

»Wenn du aus einer Grafenfamilie stammst, weshalb musst du dann für ein paar Pennys Reisende begleiten?« , fragte Robert unverblümt.

Hinter ihm sagte eine neue Stimme: »Weil es schwer ist, in al-Andalus reich zu werden, wenn man kein Maure ist.«

Robert drehte sich um. Ein Mann kam auf sie zu, klein, nicht gerade kräftig, mit abgehärmtem, vom Alter gezeichnetem Gesicht. Er trug eine bescheidene schwarze Priesterkutte, und um seine unregelmäßige Tonsur herum lichteten sich bereits die Haare. Ein Mädchen in einem schlichten, fließenden Gewand folgte ihm. Sie hatte sittsam das Gesicht zum Boden gesenkt.

Ibn Hafsun stand auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. »Sihtric. Der Friede Allahs sei mit dir. Und mit deiner Tochter.«

»Gott sei auch mit dir.« Der Priester war ein magerer Mann, sah Robert, aber sein Schmerbauch zeugte davon, dass er den Freuden des Lebens nicht abgeneigt war. Er musterte Orm, der ihn ein gutes Stück überragte. »Sei mir gegrüßt, Wikinger. Wann sind wir uns zum letzten Mal begegnet?«

»Bei Williams Krönung. Vor fast neunzehn Jahren.«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen. Aber dazu ist das Leben zu kompliziert, nicht wahr? Und das ist also dein Sohn.« Mit einem Grinsen wandte er sich an Robert. »Der überzeugte Heide hat einen frommen Christen gezeugt. Wie amüsant.« Er lachte laut auf.

Robert ärgerte sich, dass der Priester so abschätzig über ihn sprach.

Doch dann hob Sihtrics Tochter den Kopf und sah Robert direkt an, und er vergaß seinen Ärger. Sie war gewiss nicht viel älter als er. Ihr Gesicht war ein vollkommenes honigfarbenes Oval, und sie hatte volle, rote Lippen, eine zierliche Nase und leuchtend blaue Augen.

»Sie heißt Moraima«, sagte Sihtric trocken.

Robert hörte ihn kaum. Er war bereits hin und weg.

II

Sie blieben nur eine einzige Nacht in Santiago de Compostela, dann brachen sie alle miteinander nach Süden auf. Ihr Ziel war Córdoba – zwar nicht mehr die Hauptstadt eines westlichen Kalifats, aber nach wie vor das schlagende Herz der muslimischen Zivilisation in Spanien.

Wie sich herausstellte, würden sie die gesamte Strecke zu Pferde zurücklegen, während zwei herrisch dreinschauende Kamele ihr Gepäck trugen. Ibn Hafsun setzte sich sofort an die Spitze ihres kleinen Trupps. Robert sollte die Nachhut bilden und die Kamele im Auge behalten. Er merkte rasch, dass es kein Vergnügen war, in einer Dunstglocke aus Kamelfürzen und heißem Sand dahinzutraben, ohne mit jemandem sprechen zu können.

Und was noch schlimmer war, das Mädchen, Moraima, ritt vorne neben Ibn Hafsun her und war darum stets mindestens zwei oder drei Pferdelängen von Robert entfernt.

»Für eine so hoch entwickelte Zivilisation«, bemerkte Sihtric, »scheinen die Mauren einen seltsamen Widerwillen gegen den Gebrauch des Rades zu hegen.«

Ibn Hafsun grinste nur. »Wer braucht Räder, wenn Allah uns Kamele geschenkt hat?«

»So, so, eine Tochter«, sagte Orm zu Sihtric. »Das hätte ich nicht erwartet. Sie ist eine Schönheit, Priester.«

»O ja. In meiner Familie gibt es eine robuste Art von Schönheit – wie du nur allzu gut weißt, Wikinger, Gott schenke der Seele meiner Schwester Frieden.«

»Und die Mutter ist Maurin?«

»War Maurin. Moraima ist als Muslimin aufgewachsen.«

»Ich dachte, die Bischöfe versuchten euch Priester davon abzuhalten, in eurer Gemeinde den Pflug anzusetzen.«

»Sie gehörte nicht zu meiner Gemeinde. Und hin und wieder fühlt man sich eben einsam, so fern von daheim. Man muss mit den Menschen in seiner Umgebung zusammenleben; man muss wie sie leben. Die Mauren nennen mich Mozaraber – Musta’rib, Fast-Araber … Und die Bischöfe sind ziemlich weit von Córdoba entfernt, Orm.«

Während der Tag verstrich und die Sonne über die Himmelskuppel segelte, änderte sich die Landschaft allmählich. Sie durchquerten die Ausläufer einer schroffen Gebirgskette und kamen in trockeneres, staubigeres Land, wo es nur wenig oder gar kein Gras gab und die Hügel aus dem Erdreich ragenden Felsklumpen ähnelten. Die Ortschaften waren kleine, dicht gedrängte Ansammlungen würfelförmiger, staubfarbener Häuser. Im Land zwischen den Ortschaften wuchsen Olivenbäume in breiten, bis zum Horizont reichenden Streifen, und Herden knochiger Schafe ergriffen die Flucht, als sie vorbeikamen. Auch die Menschen hier waren anders; sie hatten dunklere Haut, und ihre Zähne und Augäpfel waren strahlend weiß. Auf der Straße trafen sie hin und wieder auf Maultiertreiber, abgehärtete, verhutzelte Männer, die kleine Karawanen beladener Tiere vor sich hertrieben; die Glöckchen am Hals der Maultiere bimmelten traurig. Hier ist es nun wirklich anders als in England, dachte Robert.

Als der Nachmittag in den Abend überging und es allmählich dunkel wurde, hielten sie an einem Gasthaus. Ibn Hafsun gab ihnen ein paar Münzen, und sie setzten sich auf umgedrehte Fässer im Schatten von Olivenbäumen. Eine Frau bereitete an einem offenen Feuer das Essen für sie zu. Sie warf Knoblauch, Auberginen, Paprika und in Mehl gewendete Anchovis in das Olivenöl, das in einer heißen Pfanne brutzelte. Während die Anchovis brieten, breitete sich der Duft des Meeres aus.

Ibn Hafsun hockte sich auf eine Decke neben Robert. Er tunkte Brot in eine Schüssel mit übel riechendem Inhalt; wie sich herausstellte, war es Schafskäse mit zermantschten Früchten. Er bot Robert etwas davon an, aber dieser lehnte ab.

Selbst hier konnte Robert der brav bei ihrem Vater sitzenden Moraima nicht nahe kommen.

Unweit der Straße arbeitete sich eine Gruppe kleiner Jungen durch einen Olivenhain. Sie sammelten die Früchte ein, indem sie Stöcke in die Zweige warfen. Dabei waren sie sehr geschickt; mit jedem Wurf holten sie etliche der Früchte herunter. Es sah wie ein nettes Spiel aus, und Robert wünschte, er wäre ein paar Jahre jünger, dann hätte er mitmachen können, ohne dass es ihm peinlich gewesen wäre.

Endlich begannen Sihtric und Orm über die Angelegenheit zu sprechen, die Orm hierher geführt hatte.

»Ich habe dir von dem Zeugnis erzählt«, sagte Orm.

»Die Prophezeiung deiner Gemahlin aus der Zeit, bevor sie deine Gemahlin war. Die dir meinen Namen genannt hat, lange bevor sie etwas von meiner Existenz wissen konnte.« Sihtric erschauerte. »Es ist ein unangenehmes Gefühl, einem solch übernatürlichen Blick ausgesetzt zu sein. Aber warum hast du fünfzehn Jahre gebraucht, um etwas zu unternehmen?«

Orm zuckte die Achseln. »Ich musste mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Das nötige Geld auftreiben. Eine Familie ernähren.« Er warf Robert einen Blick zu. »Ich habe daran gedacht, das Ganze zu vergessen, die Sache aufzugeben, ohne hierher zu kommen.«

»Und warum hast du deine Meinung geändert?«

»Ich bin einem Reisenden begegnet – einem Söldner, der mit König Alfonso in al-Andalus gekämpft hatte. Er hat mir ein Stück von einer maurischen Sage erzählt. Es gab da inmitten all dieses Geredes über Täuberiche und Meere eine Zeile in Eadgyths Prophezeiung, die ich nicht verstanden hatte.«

»Welche Zeile?«

»›Der Schweif des Pfaus‹. Das hat sie gesagt. Und das hat mir der Reisende schließlich erklärt.«

Moraima lächelte. »Ich verstehe. Ich kenne die Geschichte …«

Einem alten arabischen Mythos zufolge, sagte sie, seien die bewohnbaren Gebiete der Welt nach der Sintflut wie ein Vogel geformt gewesen, dessen Kopf im Osten und dessen Hinterteil im Westen war.

»So viel zur Meinung der Araber über Westeuropa«, warf Orm ein.

Doch als al-Andalus unter den Mauren zu seiner vollen Prachtentfaltung gelangt sei, habe man sich ein neues Bild von dem Land gemacht: Nun war es ein Pfauenschweif.

Hingerissen lauschte Robert Moraimas Stimme. Sie hatte kaum etwas gesagt, seit sie mit ihrem Vater zu der Gruppe gestoßen war – und mit ihm hatte sie noch kein einziges Wort gewechselt.

»Siehst du?«, wandte sich Orm an Sihtric. »Ich wusste, dass du in Spanien warst, aber Eadgyth nicht. Sie hat deinen Namen genannt, ohne dir je begegnet zu sein. Und als ich die Geschichte mit dem Pfauenschweif gehört habe – es schien alles zusammenzupassen, und ich hatte das Gefühl, dass ich der Sache nachgehen musste.«

Sihtric lächelte. »Typisch für den Weber, sich derart kryptisch auszudrücken – wenn es der Weber war. Nennen wir denjenigen, der deiner Gemahlin diese Worte in den Mund gelegt hat, lieber … mal sehen … einen Zeugen. Mag sein, dass er mit dem Weber identisch ist, aber vielleicht auch nicht.«

»Sie.«

»Wie bitte?«

»Wenn ich Eadgyth meine Niederschrift ihrer Worte gezeigt habe – sie konnte sich nicht daran erinnern, sie von sich gegeben zu haben –, sprach sie immer von ihrer … äh … Besucherin.«

»Dann also ›sie‹«, meinte Sihtric. »Und was, glaubst du, hat die Zeugin dir aufgetragen?«

Orm sah ihn an. »Dir Einhalt zu gebieten.«

Sihtric erwiderte seinen Blick. »Nun, dann wirst du zunächst einmal herausfinden müssen, was ich hier tue, nicht wahr?«

Falls ihr Gespräch Ibn Hafsuns Neugier erregte, so ließ er es sich nicht anmerken. Schweigend arbeitete er sich durch seinen Schafskäse.

Irgendwo ertönte eine laute, klagende Stimme. Wie Ibn Hafsun Robert erklärte, war es ein Muezzin, der von seinem Minarett in der nahe gelegenen Stadt aus die Gläubigen zum Gebet rief. Ibn Hafsun nahm seine Decke vom Pferd und kniete mit dem Gesicht nach Osten nieder.

Robert hatte sich noch nie so fern von daheim gefühlt wie in dieser staubigen Hitze, mit dem fremdartigen Gesang in den Ohren und dem exotischen Duft der arabischen Speisen in der Nase. Und als Moraima ihm einen raschen Blick zuwarf, waren ihre blassblauen Augen das Seltsamste in dieser seltsamen neuen Welt, und zugleich auch das Verführerischste.

III

Am nächsten Tag ließ Robert die Kamele Kamele sein, arbeitete sich an der Kolonne entlang nach vorn zu Ibn Hafsun und begann eine Unterhaltung mit ihm.

Die spanische Halbinsel ähnelte einem riesigen Quadrat, erfuhr er, das durch eine Gebirgskette – die Pyrenäen  – praktisch von Frankreich abgetrennt wurde. Weitere Gebirgsketten durchzogen das Innere; sie verliefen ungefähr von Osten nach Westen, und durch das Flachland zwischen ihnen schlängelten sich Flüsse. Vier der fünf größten mündeten im Westen, im Ozeanmeer.

Die nordwestliche Ecke um Santiago de Compostela herum war grün und mit einem milden Klima gesegnet, und viele Menschen lebten vom Meer. Im Südosten gab es mehr Pflanzen; dort bauten die Mauren Obst und Gemüse an. Momentan durchquerten sie jedoch das Innerste des Landes, ein riesiges Gebiet trockener Tiefebenen, das von den Bergen und Flüssen durchschnitten wurde. Die Christen mit ihrer degenerierten, vom Lateinischen abstammenden Sprache nannten es meseta. Die Winter waren lang und bitterkalt, die Sommer trocken und glühend heiß. Hier gab es keine Wälder, kaum Gras und nur spärliches Buschwerk. Robert fiel auf, dass keine kleinen Vögel sangen, denn sie konnten nirgends nisten; nur Bussarde kreisten über ihnen, und Adler erkundeten die Hügel.

»Und die Christen und Mauren?«

»Du musst dir Spanien dreigeteilt vorstellen«, erklärte Ibn Hafsun. »Die Mauren im Süden, christliche Königreiche im Norden und eine Art Grenzland dazwischen. Da die Christen allmählich stärker geworden sind, hat sich das Grenzland im Lauf der Jahrhunderte nach Süden verschoben. Und nachdem die Kastilier nun Toledo eingenommen haben, teilt das von Osten nach Westen verlaufende Grenzland die Halbinsel grob in zwei Hälften: Der Norden ist christlich, der Süden maurisch.«

Robert nickte, während er sich das bildlich vorstellte. »Und eines Tages wird diese Grenze ganz nach Süden verschoben, und dann ist Spanien wieder maurenfrei.«

»Willst du das wirklich? Schau dich um. Sieh dir an, was die Mauren aus diesem Land gemacht haben.«

Zufällig ritten sie gerade an einem Flussufer entlang. Robert sah, dass Bewässerungssysteme das Land in Streifen schnitten, und am Fluss drehten sich geduldig riesige Wasserräder.

»All das ist maurisch«, sagte Ibn Hafsun. »Hier hat es eine Hochkultur gegeben, Robert, Sohn von Orm. Die höchste seit den Römern. Höher als die der Christen.«

»Nicht so hoch«, sagte Robert heftig, »dass Alfonsos christliche Heere die Mauren nicht vertreiben könnten.«

Ibn Hafsun zuckte die Achseln. »Nun, das lässt sich nicht bestreiten.«

»Muss es so sein?«

Die leise Stimme verblüffte Robert. Es war Moraima, die zu ihnen aufgeschlossen hatte und nun neben ihnen herritt. Sie sprach Englisch, die Sprache ihres Vaters, aber mit starkem Akzent.

»Das sind die ersten Worte, die du an mich gerichtet hast«, sagte Robert zu ihr. »Und muss es dabei unbedingt um den Krieg gehen?«

»Aber ihr redet ja von nichts anderem. Ihr und unsere Väter.« Ihre Stimme war ebenso zart wie ihr Gesicht, und doch glaubte Robert, eine gewisse Kraft unter der zerbrechlichen Oberfläche zu bemerken. Das machte sie nur umso begehrenswerter.

»Wir haben nicht vom Krieg geredet. Ibn Hafsun hat mir etwas über das Land erzählt.«

»Ah«, sagte Ibn Hafsun, »aber du bist ein Gotteskrieger  – zumindest ein kleiner. Sag mir, dass du nicht davon träumst, im Kettenhemd und mit dem Schwert in der Hand an der Seite von Rodrigo, El Cid, dem ›Herrn‹, dem größten aller kastilischen Krieger, durch dieses Land zu reiten!«

Moraima lachte, ein Geräusch wie sprudelndes Wasser. »Ich frage dich noch einmal, Robert: Muss es so sein?«

Widerstrebend erwiderte Robert: »Der Papst sagt, wenn man kämpft, um christliche Gebiete von den Ungläubigen zurückzuerobern, kämpft man für Christus.«

»Na ja, was soll er auch sonst sagen«, rief Sihtric von seinem Pferd zu ihnen herüber. »Aber der Papst hat größere Ziele.«

Der Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam war in Europa bereits vierhundert Jahre alt. Nun hatten die wilden, kriegerischen türkischen Seldschuken sogar das Heilige Land erobert und das Christentum am Ort seiner Entstehung fast vollständig ausgelöscht. Außerdem bedrängten sie das Oströmische Reich, seit langer Zeit das Bollwerk zwischen Westen und Osten, und hatten bereits die reiche Provinz Kleinasien eingenommen. Alexius, der Kaiser in Konstantinopel, hatte den Westen um Hilfe gebeten. Doch nach Jahrhunderten ständiger Invasionen und Kriege waren die nachrömischen Staaten Westeuropas wie bewaffnete Feldlager, reizbar und misstrauisch; sie strotzten von kleinen Heeren, die allesamt von den alten Legionärstruppen in den Schatten gestellt worden wären. Der Papst, geistlicher Führer all dieser Reiche, hegte den Wunsch, sie im Kampf für ein großes Ziel zu vereinen.

»Und was wäre ein besseres Ziel für einen Papst als ein Krieg gegen den Islam?«, gab Ibn Hafsun leise zu bedenken.

Moraima sah Robert erneut an. »Ich frage dich noch einmal: Muss es so sein?«

»Ich hoffe nicht«, sagte Robert.

»Wirklich?«

»Mir wäre es lieber, wir beide wären Freunde statt Feinde.«

»Dann müssen wir abwarten, wie sich unser kleines Abenteuer entwickelt, nicht wahr?« Und sie trabte an die Seite ihres Vaters zurück.

Die älteren Männer wechselten zweideutige Blicke, aber Robert ignorierte sie.

IV

In den folgenden Tagen ritten sie stetig weiter nach Süden, und das Land wurde immer rauer. Die Olivenhaine und Weinberge waren in zunehmendem Maße verwildert, das Strauchwerk drang auf die Straße vor, und viele Städte wirkten verlassen. Es gab einige bewohnte Ortschaften, die jedoch allesamt umfangreiche Verteidigungsanlagen aufwiesen: befestigte Hügelkuppen, Städte mit komplizierten Systemen von Mauern und Türmen. Ibn Hafsun und Orm achteten darauf, dass ihre Schwerter stets gut sichtbar waren.

»Dies ist das Grenzland, Robert«, sagte Ibn Hafsun. »So etwas entsteht, wenn große Zivilisationen sich aneinanderreiben. Die Araber haben ein Wort dafür. Sie nennen solche Regionen tugur. Die Schneidezähne.«

Schließlich näherte sich die Gruppe Toledo. In gedrückter Stimmung machten sie Halt.

Es war Nachmittag, und die Sonne stand im Süden, sodass der von Norden kommende Robert die Stadt als Umriss sah. Toledos innerster Kern war eine Festung, die auf einer erhöhten Landzunge stand; ein Fluss glitzerte zu ihren Füßen. Und auf der Ebene draußen vor der Stadt, jenseits einer massiven Steinbrücke, lagerte ein Heer. Wimpel blitzten in einer Staubwolke auf, Zeltwände flatterten in der sanften Brise. Es war ein christliches Heer, versammelt unter dem Kreuz Jesu.

Ibn Hafsun kam zu Robert. »Was hältst du davon, Soldat?«

Robert blickte sich um. »Ein leicht zu verteidigender Ort, da oben auf diesem Felsen. Der Fluss schützt ihn auf drei Seiten. Die Mauern sind maurisch?«

»Römisch, dann gotisch, dann maurisch.«

»Und doch ist es Alfonso gelungen, die Stadt zu erobern.«

»Erst vor wenigen Monaten. Die Wunden sind noch frisch. Du bist zum äußersten Rand der Christenheit gekommen, junger Soldat. Wir werden nur eine Nacht bleiben. Die Stadt ist ein Nest enger, gewundener Straßen voller Schatten. Pass auf dich auf, und auch auf deinen Vater. Und morgen – al-Andalus! Oder was davon übrig ist. Kommt jetzt. Habt ihr Geld? Ich könnte mir denken, dass die Soldaten des Königs von uns einen Zoll für die Überquerung ihrer Brücke verlangen werden …«

Am nächsten Tag ließen sie Toledo hinter sich und ritten weiter nach Süden. Mit jedem schwerfälligen Schritt der Kamele wuchs die Hitze, und Robert Egilsson fühlte sich, als werde er in stetigem Tempo in eine riesige Esse hineingeführt.

Sie befanden sich jetzt tief im Gebiet der Mauren. Das wurde deutlich, als sie das erste Mal bei einer kleinen Ortschaft Halt machten, um ein lahmes Kamel auszutauschen. Marwam, ein dunkler, hagerer Mann mit dem Gesicht eines Nagetiers, bestand darauf, beide Kamele durch frische Tiere zu ersetzen, und bot ihnen obendrein auch noch seine Dienste als Begleiter an.

»Das wäre vielleicht klug«, meinte Ibn Hafsun. »Wir sind weit jenseits der Grenze zu den Christen, aber die taifas – die maurischen Königreiche – stehen nicht gerade auf freundschaftlichstem Fuße miteinander. Man weiß nie, wann man womöglich die falsche Grenze überquert oder es versäumt, den korrekten Zoll zu entrichten.«

Aber Sihtric schnaubte nur verächtlich. »Verschwendet ihr nur euer Geld an diesen wieseläugigen Kameltreiber. Ich will nichts damit zu tun haben.«

Also schloss Marwam sich der Gruppe an. Als sie aufbrachen, lief eine Schar kleiner Kinder auf die Straße heraus, um ihnen kreischend und hüpfend nachzuwinken. Sie hatten alle das gleiche Nagetiergesicht wie ihr Vater.

Marwam war der erste echte Maure, dem Robert je begegnet war – kein Mischling wie Moraima, auch kein Nachkomme eines gotischen Christen wie Ibn Hafsun –, und er musterte den Mann neugierig. Er war drahtig, in schmutzige weiße Stoffbahnen gekleidet und schien sich auf dem Rücken eines Kamels ebenso sicher zu fühlen wie auf den eigenen Beinen. Während sie dahinritten, sang er klagende, nasale Lieder, die Lieder eines Wüstenvolkes aus einem einstmals römischen Land. Aber Robert glaubte, dass seine Lieder an Moraima gerichtet waren, denn Marwam sah sie hin und wieder mit unergründlichen braunen Augen an, und seine in einer unbekannten Sprache gesungenen Worte ließen das Mädchen erröten.

»Wenn ich wüsste, was ›denk an deine Frau und deine Kinder‹ auf Maurisch heißt, würde ich ihm das mal vorsingen«, sagte Robert leise zu seinem Vater.

Orm grinste tolerant. »Mach dir keine Sorgen. Sie ist ein Stadtmädchen. Ich glaube nicht, dass sie sich auch nur im Geringsten für Kameltreiber interessiert. Er liebäugelt nur, ebenso wie sie. Außerdem – solltest du dir solche Dinge nicht aus dem Kopf schlagen? Eifersucht ist bei den Christen eine Sünde, soweit ich weiß. Und die Wollust auch.«

»So wie die meisten Dinge«, gab Robert mürrisch zu.

Bei all den Geschichten um Grenzen, Zölle und taifas lernte Robert zu seiner Überraschung, dass es hier in Spanien mehr als ein maurisches Land gab. Er hatte geglaubt, der gesamte Islam wäre unter den Befehlen des Kalifen in Bagdad vereinigt wie ein riesiges Heer, ohne individuelle Gesichter oder Gedanken.

In Wahrheit gehörten die Muslime jedoch etlichen verschiedenen Völkerschaften an. Selbst die Heere, die ursprünglich – vor dreihundert Jahren – in das gotische Spanien eingefallen und von den Christen im Glauben, sie kämen alle aus der alten römischen Provinz Mauretanien, als Mauren bezeichnet worden waren, hatten nicht nur aus Arabern bestanden. Die Führer waren Araber gewesen, ja, aber gegenüber ihren Berber-Kriegern aus den rauen Ländern des Maghreb im Süden, jenseits der Säulen des Herkules, hatten sie nur eine Minderheit dargestellt. Viele Nachfahren der Berber beklagten sich sogar noch fünfzehn oder zwanzig Generationen später gern, sie seien bei der Aufteilung des alten gotischen Königreichs von den Arabern hereingelegt worden.

Und Robert erfuhr, dass die Muslime nicht nur gegen die Christen, sondern auch gegeneinander Krieg führten.

Es war fünfzig Jahre her, dass ein einzelner Regent in Córdoba über sämtliche muslimischen Länder in Spanien geherrscht hatte. Dieser Regent war erstaunlicherweise ein zweiter Kalif gewesen, unabhängig von dem im fernen Bagdad. »Das ist so«, sagte Sihtric, »als beherberge eine Stadt wie Paris oder York einen zweiten eigenen Papst.«

Mit dem Niedergang des Kalifats war al-Andalus in so viele taifas zerfallen, dass kaum jemand all diese Kleinstaaten mehr hatte zählen können; es mochten drei Dutzend gewesen sein. Doch wie es in der Politik und im Krieg so ist, hatten die taifas sich gezankt wie Fische in einem Teich und einander aufgefressen, bis nur mehr ein halbes Dutzend übrig waren.

Je weiter sie nach Süden kamen, desto kahler, trockener und staubiger wurde das von der Hitze ausgedörrte Land. Und doch erweckten die Bewässerungskanäle es in riesigen, breiten Streifen zu grünem Leben. Sihtric zufolge kontrollierten »Wassergerichte« in den Städten die Instandhaltung der Bewässerungssysteme, die wertvolles Gemeindeeigentum darstellten. Der Boden schien sogar noch fruchtbarer zu sein als in England, wo die Bauern mit schweren Pflügen schufteten. Aber schließlich war dieses Land nicht so, wie Gott es geschaffen hatte, sondern es war von Menschen bearbeitet worden, von Menschen, die aus Wüsten kamen und wussten, wie man aus dem kleinsten Tropfen Feuchtigkeit Leben gewann.

An einem Ort, wo sie für die Nacht Halt machten, bezahlte Marwam einem Bauern ein paar Münzen, damit sie ihre Decken im Schatten von Obstbäumen ausbreiten konnten. Solche Früchte hatte Robert noch nie gesehen; sie waren schwer und von leuchtender Farbe. Moraima erklärte ihm, es seien Orangen, ein arabischer Name für eine von den Mauren eingeführte Frucht. Sie kletterte auf einen Baum, pflückte ein paar Exemplare und zeigte ihm, wie man die Schale entfernte. Als er in die dicken Spalten biss, quoll Saft heraus und lief ihm übers Kinn. Die Orange war so bitter, dass sich seine Zunge einrollte, aber der Geschmack war wie Licht in seinem Mund.

So aßen sie ihre Orangen, das Gesicht mit klebrigem Saft und kleinen Stücken der Schale bekleckert, und lachten über einander. Es war ein schlichter, wortloser Augenblick zwischen ihnen, den selbst der treulose Kameltreiber nicht verderben konnte.

V

Endlich erreichte die Gruppe Córdoba.

Auf dem Weg zu dem von einer Mauer umgebenen Stadtkern durchquerten sie das landwirtschaftlich genutzte Umland. Am äußersten Rand erstreckten sich weitläufige, erstaunlich grüne Anwesen, auf denen hängende Gärten und Zitrushaine die Flussufer säumten und Gebäude wie würfelförmige Juwelen in der Sonne glänzten. Diese Anwesen ähnelten den »villas« der längst verschwundenen Römer, meinte Sihtric. Er nannte sie munyas, Landgüter.

Dann ritten sie auf den alten Straßen durch die Vororte der eigentlichen Stadt – Ansammlungen von Lehmziegelhäusern, die sich am Straßenrand drängten. Sihtric erklärte, die Stadt sei längst über ihre römischen Mauern hinausgewachsen, und etliche ihrer unabdingbaren Teile seien hierher verpflanzt worden: Wohngebiete, Märkte, Badehäuser, Handwerksbetriebe, Obst- und Gemüsegärten. Die Bauten im Innern der Stadtmauern seien zumeist Amtsgebäude wie Paläste, ein Gericht, die Münzen und Gefängnisse.

Aber der Ort hatte schon bessere Tage gesehen. Die Reisenden kamen an ausgebrannten Gebäuden vorbei, und sogar einige der imposanten Anwesen wirkten verlassen. Diese Zerstörungen hatten nichts mit den christlichen Heeren zu tun, sondern waren Narben der Kriege zwischen den Muslimen. Córdoba war keine Hauptstadt von irgendetwas mehr, nicht einmal die ihres eigenen Geschicks, denn es war in den Herrschaftsbereich einer taifa eingegliedert worden, die von einer anderen maurischen Stadt namens Sevilla aus regiert wurde.

In unmittelbarer Nähe der Stadt scharten sich Straßenhändler, die Wasserbeutel, Fleisch am Spieß und sogar funkelnde Schmuckstücke feilboten, um die Reisenden. Auch Bettler drängten sich nach vorn, reckten ihnen die Stümpfe abgeschlagener Arme entgegen oder ließen grässliche offene Wunden im Gesicht aufklaffen. Vielleicht alte Soldaten oder Flüchtlinge aus den von den Christen okkupierten Städten im Norden.

Schließlich ragte Córdoba selbst vor ihnen auf, ein von Mauern umschlossener Wald aus Minaretten und Kuppeln unterschiedlicher Größe. Sie gelangten zu einem der sieben Tore in der Mauer. Verkehr strömte hindurch, Fußgänger, Pferde, Maultiere und die alles andere überragenden Kamele.

Soldaten standen in lässiger Haltung am Tor. Robert musterte sie. Sie trugen wattierte Jacken über langen Kettenhemden, runde Helme und Kettenmasken, die sie sich übers Gesicht ziehen konnten. Außerdem hatten sie Schilde aus Holz, lange Speere, Stichschwerter und kompliziert aussehende Bogen. Einige von ihnen waren mit Armbrüsten bewaffnet, deren Konstruktion laut Ibn Hafsun bis auf die Römer zurückging. Es war ein seltsamer Anblick für Robert: Soldaten, auf deren Kleidung nirgends ein Christenkreuz prangte.

Sie stellten ihre Tiere in einem Stall unter und hinterließen Anweisungen, dass man ihnen ihr Gepäck nachbringen sollte. Robert sah zu seiner Überraschung, dass dort Sklaven arbeiteten; in England gab es nicht viele Sklaven.

Dann gingen sie unter Sihtrics Führung in die überfüllte Stadt hinein. Die Straßen – so schmal, dass an manchen Stellen keine zwei Personen aneinander vorbeigehen konnten, ohne sich zu berühren – waren zu einem derart dichten Netzwerk von Sackgassen und S-Kurven verwoben, dass Robert schon bald nicht mehr wusste, wo er sich befand. Würzige Düfte unbekannter Speisen stiegen ihm in die Nase, und die Muezzinrufe, die von den Türmen der Stadtmoscheen aufstiegen, klangen ihm in den Ohren. Marwam hatte sich zu Roberts Erleichterung bereits wieder auf den Heimweg gemacht, aber die vielen Gesichter um ihn herum waren wie die von hundert Marwams, dunkel und scharf geschnitten, und ihre fremdartige Sprache war mit lateinischen Brocken versetzt.

Sie kamen an einem Torbogen in einer Mauer vorbei, der mit Ausbuchtungen versehen, elegant aus sanft gerundetem Stein geformt und mit komplizierten Mustern bedeckt war. Er lenkte Roberts Blick von der schattigen Straße in einen sonnenhellen Hof, einen quadratischen Garten mit vielen Fliesen und grünen Pflanzen, in dem ein Brunnen sprudelte. So etwas – einen solchen Garten voller Wasser und Sonnenlicht  – gab es in Roberts England der düsteren, befestigten Städte und brütenden normannischen Festungen nicht. Es war, als schaute man durch ein Loch in der Mauer der Welt geradewegs ins Paradies.

»So halten wir es hier«, sagte Moraima, die ihn beobachtete. »Unsere Gärten sind die Herzen unserer Häuser. Unser Reichtum, in Schönheit gegossen für diejenigen, denen wir Freude bereiten wollen. Ist es dort, wo du lebst, anders?«

Er sah, wie sich das Licht des verborgenen Gartens in ihren unergründlichen Augen spiegelte, als wären sie ebenfalls Eingänge, durch die er eintreten könnte.

Ibn Hafsun stieß Orm an und kicherte, das Mädchen lachte, und der Moment war vorbei.

VI

Sie ruhten sich einen Tag lang aus.

Robert, der wegen der Hitze nicht lange schlafen konnte, stand in der Morgendämmerung auf und ging ohne bestimmtes Ziel spazieren.

Die Stadt war schon vor ihm erwacht; auf den Straßen herrschte reges Leben, auf den Märkten und bei den Moscheen wimmelte es im blaugrauen Licht von Menschen, und die Maultiertreiber hetzten ihre Tiere zu den Stadttoren hinaus. Unterwegs gewöhnte er sich allmählich an die Anordnung und den Verlauf der Straßen. Maurische Häuser scharten sich stets in dichten Gruppen um einen Hof, und der Zuweg bestand aus immer schmaler werdenden Gassen, die von breiteren Straßen abzweigten. Es lag eine Logik darin, aber es war nicht die geradlinige Logik einer römischen Stadt wie London; hier verzweigten sich die Straßen wie das Geäst eines Baumes und führten in zahllose Sackgassen. Auch die Menschen waren anders als die Engländer. Sie waren Mischlinge, das Ergebnis vieler Generationen von Ehen zwischen den Eindringlingen und den Angehörigen der alten gotischen Stämme. Sie waren auch nicht allesamt Muslime; es gab Christen hier, und viele Juden.

Die Stadt lag geborgen im Schutz ihrer alten römischen Mauern, die bis zu einem Fluss reichten, an dem sich Wasserräder träge drehten und den noch immer eine stabile Römerbrücke überspannte. Im Innern der Stadt gab es lauter imposante, geschmackvoll geflieste Gebäude, die mit komplizierten Stein- und Stuckornamenten geschmückt waren. Das größte Bauwerk war eine riesige Moschee, die sich auf ihrem eigenen Gelände nahe beim Fluss ausbreitete: ein Tempel für einen Gott, der nicht Gott war, ein kraftvolles islamisches Wahrzeichen, stolz in eine römische Stadt gepflanzt. Die Häuser vermittelten den Eindruck von Reichtum und Sorgfalt, dachte Robert, von gründlicher Arbeit bis ins Feinste. Und doch war es eine aus dem Krieg geborene Architektur. Die Gebäude besaßen massive, festungsartige Mauern, Türme und Tore, aber ihre Proportionen und die fein gearbeiteten Verzierungen  – Arabesken, Stuckornamente und Schriftfriese  – verliehen diesen Kriegsbauten eine Anmut.

Im Lauf des Tages erschloss sich ihm der Zyklus der Stadt. Wegen der Hitze und des Lichts war der Lebensrhythmus hier ganz anders als in England. Gegen Mittag zogen sich die Menschen in den Schatten ihrer Häuser zurück; Fenster und Läden wurden geschlossen. Selbst die Tiere verstummten, als schlafe die ganze Stadt unter einer Decke aus dichter, staubiger, orangefarbener Luft. Doch als der Abend kam und mit ihm ein erster Hauch von Kühle, begann sich die Stadt erneut zu regen. Die Straßenlaternen wurden angezündet, und die Stadt erwachte als ein Firmament aus Licht und Bewegung, aus Musik und Gelächter zum Leben.

Robert war hingerissen.

Am zweiten Morgen begaben sie sich zu Sihtrics kleinem Stadthaus. Roberts Herz schlug schneller, als Moraima sich ihnen anschloss.

Sihtric bewirtete sie mit verdünntem Wein und verkündete, er werde Orm später am Tag seinem Gönner vorstellen, einem gewissen Ahmed Ibn Tufayl, Wesir des Emirs jener taifa, zu der Córdoba jetzt gehörte. »Als der Wesir erfahren hat, dass du kommen würdest, Orm, hat er mir befohlen, dich zu ihm zu bringen. Die Kalifen haben den Wikingern immer standgehalten; dies war nicht Alfreds England, schwach, rückständig und gespalten, und es gibt hier nur wenige Wikinger. Darum ist er sehr neugierig auf dich!«

»Hoffentlich enttäusche ich ihn nicht«, knurrte Orm unwirsch. Im hellen spanischen Sonnenschein war er massiv, schwer und irgendwie dunkel, fand Robert. Er fühlte sich hier nicht wohl. Und er hatte wahrscheinlich Kopfschmerzen von dem Mönchswein, den er mit Sihtric in der vergangenen Nacht gebechert hatte. »Fällt dir heute nichts an mir auf?«, wandte er sich an Robert.

»Bei Gottes Augen. Du hast dir die Haare geschnitten.«

Orm strich sich übers Kinn. »Ja, und ich habe mich auch gründlich rasiert. Und ein Bad genommen.«

Robert war baff. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Ich bin in eins dieser maurischen Badehäuser gegangen. War ganz angenehm, wenn es einen nicht stört, dass man hinterher stinkt wie eine oströmische Hure.«

Ibn Hafsun lächelte. »Man muss schon vorzeigbar sein, wenn man einen muslimischen Herrscher treffen will. Saubere Kleidung, eine gründliche Wäsche. Die Abgesandten der christlichen Könige, selbst die des Papstes, haben das immer gewusst. Aber natürlich haben die Christen heutzutage nicht mehr ganz so viel Ehrfurcht vor den Mauren wie zur Zeit meines Vaters.«

Moraima, die ihnen Wein nachschenkte, kam an Robert vorbei. »Ich bin froh, dass du nicht gebadet hast. Ich mag den Geruch der Christen.« Und sie wandte sich mit einem flüchtigen, verführerischen Lächeln ab.

Sihtric hielt ihnen einen Vortrag über Córdobas Pracht. »Zu seiner besten Zeit, noch vor einer Generation, war es die größte Stadt im Westen. Es hatte sogar genauso viele Einwohner wie Konstantinopel. Fünfhundert Moscheen. Dreihundert Badehäuser. Fünfzig Krankenhäuser. Weißt du überhaupt, was ein ›Krankenhaus‹ ist, junger Robert?

Und die größte Bibliothek der Welt, so heißt es, habe hier in Córdoba unter den Kalifen ihre Blütezeit erlebt. Alles fing damit an, dass der oströmische Kaiser dem Kalifen ein Exemplar eines pharmakologischen Textes von Dioscorides schickte – habt ihr von ihm gehört? Es war, als werfe man ein Stück heißes Eisen in eine Pfanne voller Wasser. Das Geistesleben in al-Andalus ist regelrecht übergekocht …»

Die reichen, im Frieden lebenden Kalifen förderten die Bildung als willkommenes Symbol der Macht und eines hohen Entwicklungsstandes. Und sie waren dazu viel besser in der Lage als die westliche Christenheit, denn sie hatten Zugang zu den erhalten gebliebenen Werken des Altertums. Mit Hilfe von Legionen von Kopisten und Übersetzern verschmolzen die maurischen Gelehrten griechisches und römisches Wissen mit dem, was ihre Verwandten in Damaskus und Bagdad von den Persern übernommen hatten, und dann bauten sie auf diesem Fundus auf. Das Ergebnis war eine Blütezeit der Astronomie und Physik, der Medizin und Philosophie.

»Die Bibliothek wuchs auf vierhunderttausend Bücher an«, sagte Sihtric. »Allein der Katalog umfasste vierundvierzig Bände! Und das zu einer Zeit, als die Könige von England komplette Analphabeten waren. Doch nachdem das Kalifat zusammengebrochen war, wurde die Bibliothek aufgelöst. Ach, wie gern wäre ich eine Generation früher geboren! Aber in der Stadt stößt man immer noch an allen Ecken und Enden auf Bücher, als hätte man sie irgendwie ausgewildert. Dass ich für Ibn Tufayl so nützlich bin, liegt nicht nur an meiner Bildung, denke ich, sondern ebenso sehr an meinem Geschick beim Aufspüren der Bücher …«

Sihtric war ein Mensch voller Widersprüche. Trotz seiner Bewunderung für die maurischen Errungenschaften Córdobas legte er Wert darauf, die tieferen römischen Ursprünge der Stadt hervorzuheben.

»Überall in Westeuropa ist es dasselbe. Wir hausen alle in den gewaltigen Ruinen des Imperiums, vierhundert Jahre, nachdem irgend so ein primitiver Germane den letzten Kindkaiser vom Thron gestoßen hat. Wusstet ihr, dass der Philosoph Seneca aus dieser Stadt kam? Und Kaiser Hadrian, der in Britannien seine Spuren hinterließ, wie du sehr gut weißt, Orm, stammte aus der spanischen Stadt, die bei den Römern Italica hieß und jetzt die Hauptstadt unserer hiesigen taifa ist, Ishbiliya oder Sevilla …«

Während er weiterplapperte, packte Moraima unerwartet Roberts Hand, hielt sich einen Finger vor die Lippen und zog ihn aus dem Raum. »Komm. Wenn sie merken, dass wir uns verdrückt haben, sind wir schon weit weg.«

Robert fand es ungeheuer aufregend, mit Moraima zu einem unerlaubten Abenteuer aufzubrechen – endlich mit ihr allein zu sein, ohne dass ihm Väter oder lüsterne Kameltreiber in die Quere kamen. Aber ein Rest von Pflichtbewusstsein veranlasste ihn einzuwenden: »Wir müssen zu diesem Wesir …«

»Ich bringe dich schon rechtzeitig zum Palast. Ich dachte, du wärst ein Krieger – aber du bist ja ein richtiger Angsthase. Jetzt komm schon.«

Also brachen sie auf, einander an den Händen haltend, kichernd und halb rennend wie kleine Kinder.

Sie führte ihn zu einem belebten, lärmigen Markt voller Stände mit Stapeln von Fliesen, Schalen und feinen Samt-, Filz- und Seidenstoffen. Moraima erzählte ihm, dass Schuhe, Teppiche und Papier aus Córdoba in der ganzen muslimischen Welt berühmt seien. Auch exotische Importe waren zu finden: Walross- und Eisbärfelle aus Skandinavien, geschnitztes Elfenbein und Goldschmuck aus Afrika, Seide, Gewürze und Juwelen aus dem Osten, sogar feine Wolle aus England. An einem Stand gab es einen Haufen Früchte, deren Namen Moraima ihm nennen musste, bis auf die Orangen: Zitronen, Limonen, Bananen, Granatäpfel, Wassermelonen, Artischocken. Nicht einmal die normannischen Könige, glaubte Robert, aßen derart exotisches Zeug.

»Es heißt, Córdoba sei eher afrikanisch als europäisch. Paris oder London seien ganz anders«, meinte Moraima.

»Afrika fängt bei den Pyrenäen an«, wiederholte Robert die Worte seines Vaters.

»Ich war noch nie jenseits der Pyrenäen. Ich würde gern einmal London sehen. Oder York.«

»Da war ich schon. Und in anderen Städten auch.«

»Du bist ein Glückspilz.«