Die Zertrennung - Salmen Gradowski - E-Book

Die Zertrennung E-Book

Salmen Gradowski

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Beschreibung

Salmen Gradowski war ein Mitglied des »Sonderkommandos« von Auschwitz – jener Gruppe (nicht nur) jüdischer Häftlinge, die die Opfer in die Gaskammern begleiten und deren Körper nach der Vergasung verbrennen mussten. Einige von ihnen notierten das Verbrechen in allen Einzelheiten und vergruben ihr Zeugnis auf dem Lagergelände. Der erste, unvollständige Teil von Gradowskis Aufzeichnungen, in einer Flasche versteckt, wurde 1945 auf dem Gelände des Vernichtungslagers Birkenau von Soldaten der Roten Armee gefunden und 1969 in Warschau erstmals veröffentlicht. Den zweiten Teil – in einer Dose versteckt – verkaufte ein polnischer Finder dem in Auschwitz lebenden Chaim Wollnerman, der 1947 nach Palästina auswanderte und das Zeugnis erst 1977 im Privatdruck veröffentlichte. Sämtliche Texte Gradowskis erscheinen hier erstmals vollständig in deutscher Übersetzung.

Gradowskis Zeugnis ist von einer fast unerträglichen Akribie und Sprachkraft. Inmitten der Katastrophe, die er durchlebt, in dem Bewusstsein, sich nur an Gott und an eine Nachwelt richten zu können, versucht Gradowski, die eigene und die kollektive Erfahrung der Judenvernichtung als Menschheitsgeschehen zu deuten. Um der unversöhnlichen Trauer Stimme zu geben, greift er zurück auf das liturgische Repertoire wie Klagelieder oder apokalyptische Schriften, aber auch auf neujiddische Poesie. Die Vereinigung von literarischem Dokument und historischem Zeugnis macht Gradowskis Aufzeichnungen einzigartig.

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Salmen Gradowski

Die Zertrennung

Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos

Herausgegeben von Aurélia Kalisky unter Mitarbeit von Andreas Kilian

Aus dem Jiddischen von Almut Seiffert und Miriam Trinh

Im Gedenken an Chaim und Yokhid Wollnerman, Bernard und Ester Mark und an Erich Kulka, die ersten Mittler der Texte von Salmen Gradowski

Inhalt

Einleitung der Herausgeberin

Flaschenpost an die Welt danach

Eine Jugend im »Jiddischland«

Zwangsarbeiter des Todes

Schreiben, bezeugen, revoltieren

Textodysseen

Zur Edition

Textgestaltung und Transliteration

Karte

Salmen Gradowskis Aufzeichnungen

Die erste Handschrift

Brief vom 6. September 1944

Komm hierher, Du Mensch

Die zweite Handschrift

Vorwort

Eine Mondnacht

Der tschechische Transport

Vorwort

Die Nacht

Die Stimmung im Lager

Die Vorbereitungen der »Macht«

Das Hinausführen zum Tod

Sie kommen an

Sie sind da

Im Auskleideraum

Der Marsch zum Tod

Der Gesang aus dem Grab

HaTikvah

Die tschechische Hymne

Das Partisanenlied

Das Einschütten des Gases

Der erste Sieg

Die zweite Front

Die Enttäuschung

Sie und Er

»Heil Hitler«

Auf dem toten Platz

Im Bunker

Die Zubereitung für die Hölle

Im Herzen der Hölle

Die Vereinigung

Die Zertrennung

Vorwort

Appell

Der Glaube

Der Eine

Im Block

Die Zertrennung

Zurück im Block

Die Boxen

Der Trauer-Appell

Die erste Nacht

Der Trauer-Morgen

Auf dem Kommando

Freitagabend

Anhang

Schreiben in Auschwitz. von Aurélia Kalisky

Der Pakt

An den Rändern des Kanons

Schreibfieber

Den »Khurbn« schreiben – mit der Tradition und gegen sie

Dokumentationen und Chroniken der Katastrophe

Das Zeugnis der Poesie

Das Wissen und das Sehen

Die Wahl der Form

In Auschwitz weiterschreiben

Vergil in Auschwitz

Das integrale Zeugnis

Die Zertrennung

Bibliographie

Biographische Notiz

Bildnachweise

Übersetzen aus einer ermordeten Sprache

Danksagung

Einleitung der Herausgeberin

Flaschenpost an die Welt danach

Frühjahr 1945. Seit dem 27. Januar ist Auschwitz-Birkenau, das größte deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager, befreit.[1] Militärärzte und Sanitäter der Roten Armee, unterstützt von Freiwilligen des polnischen Roten Kreuzes, und ehemalige Häftlinge, die im Auschwitzer Krankenrevier arbeiteten, bemühen sich, die Überlebenden zu versorgen. Mehr als die Hälfte der ungefähr 7500 Menschen, die die Nazis vor ihrer Flucht nicht evakuiert hatten, sind völlig entkräftete Frauen. Juden, die in anderen Lagern der Umgebung oder in Verstecken überlebt haben, kommen zum Gelände, in der Hoffnung, Hilfe zu finden. Viele suchen auch nach Informationen über ihre verschwundenen Angehörigen.

Wenn sie die Wahrheit über das, was hier geschehen ist, nicht schon gekannt haben, so zerstört spätestens der Anblick des Lagers das bisschen Hoffnung, das ihnen geblieben war. Das Ausmaß des Verbrechens lässt sich beim Anblick der Relikte nur erahnen. Ein Ozean von Strümpfen. Berge leerer Koffer. Halden von Schuhen, Prothesen, Brillen, Spielsachen. Ihre hartnäckige Präsenz zeugt vom Verschwinden der Menschen, von denen nichts oder fast nichts geblieben ist. Sie wurden verbrannt und ihre Asche an verschiedenen Orten des Geländes entsorgt. Sieben Tonnen Haare sind noch da, in etwa 300 großen Säcken aus Papier. Polnische Goldgräber und Schatzsucher, oft Kinder und Jugendliche, durchsuchen den Boden des Geländes in der Hoffnung, kleine Wertgegenstände oder Goldzähne zu finden.[2] Auf dem gigantischen Territorium des Lagers sind auch Spurensucher und Beweissammler unterwegs: Angehörige von Untersuchungskommissionen, die offiziell beauftragt sind, Beweise des Verbrechens zusammenzutragen.[3] Sie erfassen Objekte, sammeln Dokumente und befragen Zeugen. Die Sicherung der Spuren und Beweise wird entscheidend dafür sein, ob die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden können und wie die Geschichte des Verbrechens geschrieben wird.

Einer der Überlebenden, die sich Antworten auf ihre Fragen erhoffen, ist Chaim Wollnerman, 33 Jahre alt. Er stammt von hier, aus der Kleinstadt Oświęcim[4]. Vor dem Krieg hatte er eine kleine Textilfabrik geleitet; da er sich aber auch für Medizin interessierte, hatte er ein Diplom in Erster Hilfe und Militärmedizin abgelegt. Dank seiner medizinischen Kenntnisse konnte er in den verschiedenen Ghettos und Lagern, in die er seit September 1941 deportiert worden war, als Pfleger eingesetzt werden. Nachdem er am 13. Februar 1945 im niederschlesischen Konzentrationslager Groß-Rosen befreit worden war, kehrte er im März nach Oświęcim zurück. Dort geht er jeden Tag ins Lager Auschwitz-Birkenau, in der Hoffnung, etwas über seine Freunde und seine Familie herauszufinden. Er sieht die Ruinen der zerstörten Krematorien[5] und die Magazine voller Gegenstände, die den Opfern gehört hatten und darauf warteten, ins Reich versandt zu werden. Im Mai 1945 wird er zum Vorstandsvorsitzenden der »jüdischen Religionsversammlung« in Oświęcim gewählt und mit der Aufbewahrung jüdischer Schriften betraut. Ein paar Wochen später, im Sommer, kommt ein junger Pole auf ihn zu und bietet ihm ein Objekt zum Kauf an, das er im Boden der Auschwitzer Krematorien gefunden hat. Es handelt sich um ein in einer Blechbüchse enthaltenes Manuskript, geschrieben in enger jiddischer Schrift. Als Wollnerman die ersten Zeilen gelesen hat, wird ihm klar, dass er ein einzigartiges Zeugnis in Händen hält:[6]

Lieber Leser, Du wirst in diesen Zeilen die Leiden und Nöte beschrieben finden, die wir, die unglücklichsten Kinder der ganzen Welt, durchgemacht haben in der Zeit unseres »Lebens« in der irdischen Hölle, die Auschwitz-Birkenau heißt.

In den drei Briefen, die jedem der drei Teile des Manuskripts vorangestellt sind, nennt der Autor die Vornamen seiner in Auschwitz ermordeten Familienmitglieder und fügt in einem Fall den Namen und die Adresse eines in New York lebenden Onkels an. Der Finder wird gebeten, sich an jenen zu wenden, um ein Foto des Autors von ihm zu erbitten und es zusammen mit dem Manuskript zu veröffentlichen. Der Name des Autors selbst wird nicht genannt, aber in zwei der drei Briefe findet sich anstelle einer Unterschrift eine Zahlenreihe:

(7) (30) (40) (50) – (3) (200) (1) (4) (1) (6,6) (60) (100) (10)

Wollnerman kommt bei dieser Reihe die jüdische Tradition der Gematrie in den Sinn, nach welcher Buchstaben in Zahlenwerte überführt werden können.[7] So kann er den Namen des unbekannten Autors entschlüsseln: Salmen Gradowski.[8] Die Handschrift erweist sich als Zeugnis eines jener Häftlinge, die im Sonderkommando arbeiten mussten. Diese Männer, deren Zahl zwischen etwa fünfzig und mehreren hundert variierte, arbeiteten direkt bei den Gaskammern, sie mussten den gesamten Tötungsprozess begleiten und die Leichen der Opfer verbrennen. Die Angehörigen des Sonderkommandos wurden von der SS als »Geheimnisträger« betrachtet. Dass einige von ihnen, darunter Salmen Gradowski, Aufzeichnungen machen und sie verstecken konnten, grenzte an ein Wunder.[9] Sogleich macht sich Wollnerman an die Entzifferung des Manuskripts. Viele Seiten kleben durch Feuchtigkeit und Schimmel aneinander, die Schrift ist stellenweise unlesbar. Wollnerman schreibt ab.

Etwa zur gleichen Zeit, als Wollnerman seine Nachforschungen in Auschwitz beginnt, kommt einer der wenigen Überlebenden des Auschwitzer Sonderkommandos, der 23-jährige Shlomo Dragon, ins Lager zurück. Es war ihm gelungen, während eines »Todesmarschs«[10] zu fliehen. Er hat Salmen Gradowski persönlich gekannt und weiß von den vergrabenen Dokumenten. Am 5. März 1945 findet er unweit des Krematoriums III[11] eine Feldflasche aus Aluminium, die ebenfalls ein Manuskript Gradowskis enthält.[12] Es handelt sich um ein Notizbuch mit 91 beschriebenen Seiten und einen auf zwei lose Blätter geschriebenen Brief, datiert auf den 6. September 1944. Wie in den drei Briefen, die im von Chaim Wollnerman gefundenen Manuskript enthalten sind, wendet sich der Verfasser direkt an den »Finder« und »Leser«:

Ich habe das geschrieben, als ich im Sonderkommando war. […] Ich wollte es, wie noch viele andere Schriften von mir, zur Erinnerung für die künftige Friedenswelt hinterlassen, die wissen soll, was hier geschehen ist. […] Lieber Finder. Ihr sollt überall suchen, auf jedem Fleckchen. Da liegen zu Dutzenden Dokumente von mir und anderen begraben, die ein Licht werfen wollen auf alles, was hier geschehen und passiert ist.

Auch hier formuliert Gradowski den Wunsch, sein Text möge publiziert werden, mit seinem Foto, das man von seinem Onkel in New York erhalten könne. Shlomo Dragon vertraut seinen Fund Mitgliedern der sowjetischen Untersuchungskommission an, die Gradowskis Bitte nicht nachkommen. Das Manuskript landet im Archiv des Museums für Militärmedizin in Leningrad.

Eine Jugend im »Jiddischland«

Chaim Salmen Gradowski wurde zwischen 1908 und 1910 in Suwałki geboren, einer Stadt an der litauischen Grenze, die damals zum Zarenreich und nach dem Ersten Weltkrieg zum unabhängigen Polen gehörte. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, in der es mehrere bedeutende Rabbiner gegeben hatte. Sein Vater, zum Rabbiner ausgebildet, war Kantor für die Sabbatgottesdienste zu den Hohen Feiertagen[13] im Beit Midrasch[14], wo er noch abends die Gemara studierte. Im Yizkor-Buch[15] von Suwałki werden Gradowskis Eltern, Shmuel und Sarah, als besonders gutmütige und gastfreundliche Menschen beschrieben[16]. Salmens jüngere Brüder, Moyshl und Avrom-Eber Gradowski, hatten in der berühmten Jeschiwa von Łomża[17] studiert und lehrten an einer der religiösen Schulen (Jeschiwot) in Suwałki. Salmen arbeitete im Bekleidungsgeschäft seines Vaters. Auch er hatte eine Jeschiwa besucht, aber im Unterschied zu seinen Brüdern das Studium nicht weitergeführt. Sein leidenschaftliches Interesse galt der Literatur.

In Suwałki gab es mehrere stark frequentierte Bibliotheken mit Beständen in russischer, jiddischer, hebräischer, deutscher und polnischer Sprache. Die von der besonderen dreisprachigen Kultur geprägten polnischen Juden[18] lasen viel; neben religiösen Schriften wurden auch die wichtigsten Texte der säkularen Literatur diskutiert. Ein Forum für lebhafte Debatten boten die jüdischen Zeitschriften in jiddischer, polnischer und russischer Sprache, die in den 1920er und 30er Jahren gegründet worden waren und auch in Suwałki zirkulierten. Im Kontext des zunehmenden Antisemitismus waren die politischen Angelegenheiten zweifellos das wichtigste Diskussionsthema: Sollten die Juden nach Palästina oder nach Amerika auswandern oder ihre Hoffnung auf den sozialistischen Internationalismus setzen? Diese Frage stellten sich viele junge Juden in »Jiddischland«, jenen osteuropäischen Territorien in Polen, Litauen, Weißrussland, der Ukraine, Rumänien und Ungarn, wo die meisten jüdischen Gemeinden lebten.

Im Unterschied zu anderen Städten, wo die ideologischen Gegensätze meist zu offenen Konflikten führten, muss in Suwałki eine außergewöhnlich tolerante Atmosphäre geherrscht haben. In der krisenhaften Zwischenkriegszeit, als man politische Kompromissbereitschaft für »die größte Sünde« hielt[19], galt Suwałki sogar als »Stadt der Kompromisse«[20]. Der idealisierende Blick zurück, typisch für die nach dem Krieg verfassten »Yizker-Bikher«, ist nicht die einzige Erklärung, warum die jüdische Bevölkerung von Suwałki in der Erinnerung der Zeitzeugen als besonders tolerant empfunden wurde. Dass die Stadt tatsächlich von einer Vielzahl unterschiedlicher politischer und kultureller Einflüsse geprägt war, hatte mit ihrer Lage im Grenzland zwischen Ostpreußen und Russland, später zwischen Polen, der UdSSR und Litauen zu tun. Zugleich war sie dadurch umso mehr den politischen Krisen der Zwischenkriegszeit ausgesetzt. Die jüdische Gemeinde wurde wiederholt zum Opfer antisemitischer Kampagnen und Pogrome.

Salmen Gradowski, der politisch engagierteste unter seinen Brüdern, verkehrte als Mitglied der zionistischen und antikommunistischen Jugendorganisation Betar in einem Kreis von sogenannten Revisionisten[21]. Nachdem Jabotinsky 1933 den Austritt seiner Organisation aus dem zionistischen Weltkongress beschlossen hatte, wurde Gradowski der Ortsvorsitzende einer von Meir Grossman geführten Fraktion der Revisionisten, die im Weltkongress verbleiben wollten. Mit seinem Bruder Moyshl gründete er zudem die Jugendorganisation »Tiferet Bahurim« (»Glorie« oder »Schönheit der Jugend«), die jungen Menschen aus Suwałki Mut machen wollte, an ihrem Glauben festzuhalten. Bald vereinigte sich »Tiferet Bahurim« mit der größeren religiösen Organisation »Hoveve Zion«, und gemeinsam organisierten sie Gebetsabende und Torah-Lesungen für fromme werktätige Männer.

Anfang der 1930er Jahre hatte Gradowski Sonja Sara Złotojabłko geheiratet. Sie stammte aus Lunna, einem kleinen Ort 40 Kilometer südöstlich von Grodno, der am 17. September 1939 von der Roten Armee besetzt und wenige Monate später der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik angegliedert wurde. Nach dem deutschen Einmarsch in Suwałki Anfang September 1939 waren die beiden nach Lunna geflohen, wo sie zunächst den Gemischtwarenladen der Złotojabłko-Familie weiterführten. Im Unterschied zu vielen jüdischen und nichtjüdischen Bewohnern, die nach Sibirien deportiert wurden – insbesondere diejenigen, die wegen des Besitzes eines Geschäfts als »Kapitalisten« galten –, konnte die Gradowski-Złotojabłko Familie ihr Geschäft behalten. Ab 1940 arbeitete Gradowski als Büroangestellter in einem staatlichen Unternehmen, dessen Identität sich nicht mehr feststellen lässt. Er brannte darauf, nach Palästina zu gehen; doch jegliches zionistische Engagement musste vor den neuen Machthabern geheim gehalten werden.

Vor Kriegsbeginn hatte er oft Gelegenheit gehabt, mit dem Schwager seiner Frau, dem jiddischen Schriftsteller David Sfard, über die Notwendigkeit des Zionismus zu debattieren. Sfard hat als Einziger der gesamten Familie überlebt.[22] Er erinnert sich an Gradowski als an einen Menschen, der von einem anderen Leben und vom Schreiben träumte:

Man spürte einen verborgenen Ehrgeiz und einen unterdrückten Elan. Er wollte etwas anderes und etwas Bedeutenderes sein, als er war. Die Arbeit im Laden seines Vaters in Suwałki versah er zwar gewissenhaft und mit Hingabe, aber für den ehemaligen Jeschiwa-Schüler bedeutete sie einen Abstieg. In der Stille versuchte er, mit der Feder einen Ausgleich zu finden, schrieb kleine sentimentale Notizen, die damals, als er sie mir zur Beurteilung vorlegte, noch nicht zu großen Hoffnungen berechtigten. Sie verrieten Pathos, Liebe zu Israel und Liebe zu Zion, aber sie waren zu schwülstig und es fehlte ihnen die konkrete bildhafte Schilderung. Er hörte sich meine Meinung gewöhnlich schweigend an, angespannt, verlegen, mit einem Lächeln, das verschämt und zugleich ironisch war. Von Zeit zu Zeit […] fragte er, mit erhobenem Haupt und etwas zu hoher Stimme:

»Und woran genau erkennt man den Unterschied zwischen Echtheit und Nicht-Echtheit, zwischen Talent und Nicht-Talent?«

Darauf antwortete ich:

»Da gibt es kein klares Kriterium. Das ist eine Sache der Erfahrung und des Geschmacks, wie beim Wein. Der Kenner spürt auf der Zunge, ob er gut ist.«

»Das heißt, es ist bloß eine Meinung und kein Gesetz, das Mose am Sinai gegeben wurde!«, antwortete er […] zufrieden.[23]

Anders als beim Schreiben legt Gradowski in seinen zionistischen und religiösen Überzeugungen große Sicherheit an den Tag. Für den Atheismus gibt es in seinen Augen keinerlei Rechtfertigung. Der Mensch brauche den Gedanken an einen Schöpfer. Er ist überzeugt von der Notwendigkeit, in Palästina einen jüdischen Staat zu errichten, und begründet dies mit den massiven Verfolgungen, denen die Juden überall auf der Welt ausgesetzt sind, besonders seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Volf, der Bruder seiner Frau, teilt seinen Wunsch, mit einem großen Teil der Gradowskis und der Złotojabłkos zu emigrieren – so schnell wie möglich.

Im Sommer 1941 besiegelt der deutsche Einmarsch das Schicksal der Familie. Die Wehrmacht besetzt Lunna Ende Juni und beginnt mit Plünderungen und der Ermordung der Juden, bevor die Einsatzgruppen in der Kleinstadt ankommen. Ein Judenrat wird bestimmt, die etwa 300 jüdischen Familien Lunnas werden am 2. November 1941 in ein Ghetto gesperrt. Salmen Gradowski ist im Judenrat für sanitäre und gesundheitliche Angelegenheiten verantwortlich. Genau ein Jahr später, am 2. November 1942, werden die Bewohner zusammen mit den Überlebenden sämtlicher Ghettos der Region in das Sammellager Kiełbasin bei Grodno gebracht. Von dort werden sie am 5. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert. Unter ihnen ist auch Gradowski mit seiner Frau, seiner Mutter, zwei seiner Schwestern, seinen Schwiegereltern und seinem Schwager Volf.[24] Der Transport kommt am 8. Dezember im Vernichtungslager an. Die Mitglieder der Familie Gradowski werden sofort vergast, während Salmen kurz nach seiner Registrierung für das Sonderkommando selektiert wird.

Zwangsarbeiter des Todes

Unter ständiger Androhung von Folter oder Hinrichtung dienten die Angehörigen des Sonderkommandos als Handwerker der Vernichtung, als »Zwangsarbeiter des Todes«[25]. Das Sonderkommando wurde im Frühjahr 1942, mit Beginn der Massenvernichtung von Juden sowohl im Stammlager (Auschwitz I) als auch in Auschwitz-Birkenau (»Kriegsgefangenenlager Auschwitz«, später in Auschwitz II umbenannt) zusammengestellt. Anfangs bestand die Gruppe aus etwa 50 bis 250 Häftlingen. Im Sommer 1944, als die Vergasungen in Auschwitz-Birkenau (Auschwitz II) mit der Vernichtung der aus dem ungarischen Staatsgebiet deportierten Juden ihren Höhepunkt erreichten, gehörten etwa 900 Mann dem Kommando an. Diese Häftlinge mussten die Opfer in einen Auskleideraum begleiten und sie dann, wenn sie entkleidet waren, in die Gaskammern geleiten.[26] Nach der Vergasung mussten sie die Gaskammern leeren und säubern. Sie waren außerdem dazu angehalten, aus den Körpern das herauszuholen, was materiellen Wert haben könnte, vor allem die Haare der Frauen, die Goldzähne und die Prothesen. Sie mussten die Sachen der Toten einsammeln und weiterleiten, die Körper vergraben, exhumieren oder verbrennen, die Dokumente vernichten, die die Opfer bei sich gehabt hatten, die nicht vollständig verbrannten Knochen zermahlen und schließlich die Asche vergraben oder in den Fluss streuen.[27]

Gemäß einer Anordnung Adolf Eichmanns sollten die Sonderkommandos nach drei Monaten vollständig erschossen werden, was Lagerkommandant Höß jedoch nach eigener Aussage nicht befolgte. Die einzige vollständige nachweisbare Liquidierung des Sonderkommandos fand am 9. Dezember 1942 statt, einen Tag nach Gradowskis Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Bis Februar 1944 blieb das neu gebildete Sonderkommando schließlich auch von Teil-Liquidierungen verschont: Die SS brauchte ihre Arbeitserfahrung, um die Vernichtungsrate auf höchstem Niveau zu halten. Trotzdem wussten alle im Sonderkommando, dass ihre Lebensfrist nur ein Aufschub war und dass sie früher oder später ermordet werden würden. Schließlich gehörte die Zerstörung jeglicher Möglichkeit der Zeugenschaft zur allgemeineren Strategie der Spurenbeseitigung und der Vernichtung von Beweisen, einer Strategie, der die Sonderkommandomitglieder selbst zuarbeiten mussten, von der Beseitigung der Leichen bis zur Demontierung der Tötungsanlagen, die einige Wochen vor der Evakuierung des Lagers angeordnet wurde. Die Aufgabe der Sonderkommandos bestand eben nicht nur darin, den Vernichtungsprozess zu »betreuen«, sondern auch darin, die Spuren zu tilgen. Auch in den anderen Tötungszentren und Vernichtungslagern gab es ein Äquivalent zum Auschwitzer Sonderkommando.[28] Aber in Auschwitz war die Maximierung der »Sonderbehandlung« durch Arbeitsteilung und der Einsatz von industriellen Verfahren am weitesten getrieben worden. Hannah Arendt hat 1951 in Bezug auf Auschwitz und andere Tötungszentren von »Fabriken zur Herstellung von Leichen« gesprochen.[29] Noch zutreffender wäre aber vielleicht zu sagen, dass sie nicht nur für die Produktion der Leichen, sondern auch für ihr Verschwinden organisiert worden waren. Das Sonderkommando sollte sogar die Asche entsorgen und die Knochen zerstampfen.

Anfang Dezember 1942, als Salmen Gradowski in das Sonderkommando eingegliedert wurde, lief die Massenvernichtung seit ungefähr sieben Monaten in Auschwitz-Birkenau. Zwei Bauernhäuser, die abseits der Gefangenenbaracken lagen, waren zu Gaskammern umfunktioniert worden – Bunker 1 und 2, auch »rotes Haus« und »weißes Haus« genannt. Das Sonderkommando zählte bis zu fünfzig Häftlinge pro Bunker. Anfangs mussten sich die Opfer im Freien ausziehen. Kurz nach der Inbetriebnahme der Bunker wurden zu diesem Zweck Pferdestallbaracken errichtet.[30] In der Nähe waren Gruben ausgehoben worden, etwa zwanzig Meter lang, fünf Meter breit und drei Meter tief. Zwischen den Bunkern und den Gruben verlief eine Schmalspurbahn, um die Leichen auf Loren zu transportieren. Von Mai bis September 1942 wurden sie vom »Begrabungskommando«, das zwischen 150 und 400 Mann zählte, in Gruben gelegt. Dies geschah auf einem Gelände, das seit Herbst 1941 für Massengräber genutzt wurde und auf dem bereits Tausende Leichen von sowjetischen Kriegsgefangenen und Häftlingen aus dem Lager begraben worden waren. Nach einem Besuch Himmlers am 17./18. Juli 1942 erging der Befehl, verstärkt auf die Vernichtung der Spuren zu achten. Am 21. September bekam das Sonderkommando den Auftrag, die begrabenen Körper zu exhumieren und zu verbrennen. Zu diesem Zweck führte man eine neue Verbrennungsmethode ein, die schon seit Juli 1942 für die Exhumierung und Verbrennung in Chełmno entwickelt worden war: Leichen wurden auf einem Scheiterhaufen verbrannt; nach kurzer Zeit ging man in Auschwitz dazu über, die Leichen in Verbrennungsgruben einzuäschern. Holz, Ölrückstände, Methanol und das Körperfett der Leichen hielten das Feuer am Brennen.[31]

Zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit wurden neue Gebäude errichtet, in denen die Vernichtung an einem einzigen Ort durchgeführt werden konnte. Diese Gebäude, Krematorium II, III, IV und V, lagen näher an den Häftlingsbaracken als die Bunker[32] und sollten künftig direkt von der Bahn angefahren werden.[33] Jedes Krematorium hatte einen Raum zum Auskleiden, eine oder mehrere Gaskammern und Verbrennungsöfen. In den großen Krematorien II und III wurden die Gaskammern als Duschräume getarnt und Öfen zur Müllverbrennung eingebaut, die zur Vernichtung der bei den Opfern gefundenen Dokumente dienten. Die Krematorien II bis V wurden in den Wochen nach Gradowskis Ankunft, ab März 1943 sukzessive in Betrieb genommen. Wegen der begrenzten Kapazität der Öfen in Krematorium V und der frühen Außerbetriebnahme von Krematorium IV wurde die Verbrennung ab Mai 1944 auch auf dem Hinterhof von Krematorium V in Gruben durchgeführt. Als zwischen Mai und Juli 1944 die Massentransporte aus Ungarn das Lager erreichten, wurde auch der Bunker 2 (als »Ausweichbunker V« bezeichnet) mit Verbrennungsgruben wieder in Betrieb genommen.

Anders als die übrigen Lagerhäftlinge lebten die Angehörigen des Sonderkommandos in der Gewissheit ihres baldigen Todes, denn sie waren die einzigen Gefangenen, die das Ausmaß der Vernichtung und sämtliche Details des Tötungsprozesses kannten. Ihre Arbeit ging unter Androhung von Schlägen, extremer Folter und eines grausamen Todes vonstatten. Die Selektion für das Sonderkommando erfolgte nach einer Quarantänephase, zum Teil auch schon kurze Zeit nach der Ankunft im Lager. Maßgeblich für die Auswahl der Häftlinge waren ein guter gesundheitlicher Allgemeinzustand und physische Leistungsfähigkeit. Die SS wählte fast ausschließlich jüdische Häftlinge aus, ihre Musterung war jedoch oberflächlich: Tatsächlich passierte es, dass sogar Körperbehinderte, Alte und Jugendliche für das Kommando selektiert wurden. Über ihre Aufgabe ließ man die neu Rekrutierten zunächst im Unklaren. Dann lernten sie ihre künftige »Arbeit« kennen, indem man sie zwang, eine Gaskammer zu leeren. Der Anblick von Hunderten Toten, die mit nackten Händen angefasst werden mussten, die entsetzliche Erkenntnis, wie umfassend die Vernichtung war und welchem Schicksal die anderen Menschen ihres Transports ausgeliefert worden waren, versetzte sie in eine Art Stupor[34]. Die Mitglieder des Sonderkommandos hatten jedoch keine Wahl. Sie verrichteten ihre Aufgaben, geprägt vom mächtigen Rhythmus und der physischen Härte der auferlegten Arbeit. Den Rhythmus zu verlangsamen bedeutete, sich Schlägen auszusetzen. Gegen die Regeln zu verstoßen, Opfern zu verraten, was sie erwartete, einen Befehl zu verweigern, Wertgegenstände zu stehlen oder sogar einen Fluchtversuch zu unternehmen bedeutete den Tod.

Nach den ersten Tagen setzte bei den meisten ein Selbstschutz-Verhalten ein, das sie wie Automaten mechanisch agieren ließ. Die SS-Leute versuchten, diesen Prozess zu begünstigen, indem sie alles, was direkt mit dem Töten zusammenhing, selbst übernahmen. Sie brachten die Opfer zu den Tötungsanlagen. Sie schlossen die Türen der Gaskammern und warfen das Zyklon B ein.[35] Solange das Vergasen und Verbrennen noch in Auschwitz I und in den Bunkern 1 und 2 stattfand, war der SS daran gelegen, eine direkte Konfrontation der Mitglieder des Sonderkommandos mit den lebenden Opfern zu vermeiden. Ein Teil des Sonderkommandos musste ihnen jedoch beim Auskleiden helfen. Als die perfektionierten Anlagen der Krematorien II bis V den Betrieb aufnahmen, wurden die Sonderkommandos gezwungen, eine direktere Rolle zu übernehmen und systematisch zu agieren. Ab jetzt mussten sie die Opfer in den Auskleideraum begleiten, ihnen beim Entkleiden helfen, sie über das Bevorstehende belügen und damit in Sicherheit wiegen. Manchmal mussten sie Gewalt anwenden, um Menschen, die sich widersetzten, zur Eile anzutreiben. Gegebenenfalls mussten sie Opfer festhalten, die durch Genickschuss getötet werden sollten.

Ihnen wurden im Vergleich zu anderen Inhaftierten Privilegien zugestanden: Sie hatten häufig genug zu essen und konnten sich gelegentlich aus den Vorräten bedienen, die die Opfer mitgebracht hatten.[36] Sie durften persönliche Gegenstände und Bücher besitzen, zivile Kleidung tragen und sich regelmäßig waschen. Von dem Augenblick an, als die SS beschlossen hatte, sie am Leben zu lassen, solange sie das für nützlich erachtete, genossen sie sogar die – dennoch unzureichende – Fürsorge eigens dem Sonderkommando zugewiesener oder zur Mitbetreuung befohlener Ärzte. Die Trupps arbeiteten sowohl tagsüber wie auch nachts, anfangs ohne feste Zeiten und nach Bedarf, vom Frühjahr 1943 an, als die Krematorien in Betrieb genommen wurden, in Zwölf-Stunden-Schichten, ein Ablauf, der jederzeit verändert werden konnte.[37] In den Pausen waren ihnen Aktivitäten erlaubt, die sonst verboten waren: Karten oder Fußball spielen, lesen, sogar musizieren.

Wenn das auch im Lager echte Privilegien waren, scheinen sie doch belanglos zu sein, wenn man bedenkt, dass die Sonderkommando-Häftlinge in einer gänzlich vom Tod bestimmten Welt lebten.[38] Alle Gegenstände, die sie um sich hatten, viele der Nahrungsmittel, die sie aßen, stammten von Toten. Im Auskleideraum mussten sie sich mit den Opfern, die ins Gas gingen, direkt konfrontieren, ihnen in die Augen sehen und sie belügen. Manchmal erkannte einer von ihnen in der Menge Menschen, die ihm nahestanden; und wenn die Opfer noch nicht wussten, dass sie in den Tod gehen würden, mussten die Sonderkommandoleute schweigen. In einigen Fällen nahmen sie das Risiko in Kauf, mit den Opfern zu sterben. Sie verleugneten ihre Ängste nicht und sagten ihnen manchmal die Wahrheit. Aber solche Versuche, die gelegentlich einen kurzlebigen Widerstand im Auskleideraum bedeuteten, wurden von der SS sofort niedergeschlagen und wirkten sich auf den gnadenlosen Rhythmus von Transporten in die Gaskammern kaum störend aus.

Unter den Männern des Sonderkommandos gab es welche, die auf mehr als eine Art und Weise versuchten, sich der ihnen angetanen Gewalt zu widersetzen. Sie bemühten sich, ihre Menschlichkeit zu bewahren, ihre eigene, aber auch die der Opfer, deren Körper sie verbrennen mussten. Mehrere Zeugnisse berichten, dass in den Krematorien oder Häftlingsunterkünften regelmäßig und sogar während der Arbeit religiöse Juden beteten und dabei von anderen Häftlingen geschützt wurden, die ihnen während dieser Zeit zum Teil die Arbeit abnahmen und darüber wachten, dass sie nicht von Kapos oder SS-Leuten gestört wurden. Einige fassten schon das reine Überleben als eine Form des Widerstands auf. Mochte sie auch noch so gering und zerbrechlich sein, die Hoffnung, zu überleben und erzählen zu können war eine Quelle, aus der sie Kraft schöpften. Andere nahmen sich nach wenigen Tagen im Sonderkommando das Leben. Genaue Angaben darüber, wie viele es waren, gibt es nicht. Wieder andere versuchten zu fliehen. Erfolgreiche Fluchten sind nicht überliefert worden, Flüchtige wurden verhört und exekutiert. Als Vergeltungsmaßnahme, um weitere Fluchtpläne zu verhindern oder weil gerade weniger Transporte angekündigt waren, liquidierten die Deutschen gelegentlich einen Teil des Kommandos.[39]

Eine kleine Gruppe unternahm auch konkrete Aktionen, um den Ablauf der Vernichtung zu stören. Vermutlich im Herbst 1943 bildete sich ein Kern organisierten Widerstands.[40] Mehrere Häftlinge planten einen Aufstand, um die Krematorien zu zerstören und zu fliehen. Gleichzeitig arbeiteten sie daran, Informationen aus dem Lager hinauszuschaffen: zum einen, um die Außenwelt zu alarmieren – insbesondere die Juden in den Ghettos, von denen viele immer noch in der trügerischen Hoffnung auf eine Deportation in »Arbeitslager« lebten; zum anderen, um Beweise für die Massenvernichtung zu sammeln: neben Dokumenten – Listen von Transporten und Zeugnissen – vergruben sie auch menschliche Überreste wie Zähne, die dem späteren Finder die Dimension der Vernichtung deutlich machen sollten. In der Gründung einer Widerstandsgruppe innerhalb des Sonderkommandos verband sich die tiefe Sehnsucht, die eigene Erfahrung zu vermitteln, mit dem Willen, sich in einer ihrer Aussichtslosigkeit bewussten Geste gegen die Henker aufzulehnen.[41]

Einige unter den Widerständlern hatten eine Funktion in der Häftlingshierarchie. Bisweilen versuchten Kapos und Vorarbeiter der Sonderkommandos, ihren Kameraden Freiheiten zu verschaffen, damit diese ihrer konspirativen Tätigkeit nachgehen konnten.[42] Die Widerstandsgruppe im Sonderkommando nutzte die Privilegien einiger ihrer Mitglieder, um im Lager verbotene Gegenstände zu organisieren.[43] Es gelang ihnen, Aufnahmen von Opfern unmittelbar vor ihrer Ermordung und von der Arbeit des Sonderkommandos an den Verbrennungsgruben zu machen und dem polnischen Widerstand über Verbindungsleute die Negative zukommen zu lassen.[44]

Die Mitglieder der Widerstandsgruppe hielten regelmäßigen Kontakt mit der Widerstandsorganisation in Auschwitz I (der »Kampfgruppe Auschwitz«)[45]. Dokumente und Beweismaterial aus den Mordanlagen von Birkenau wurden Mitgliedern der »Kampfgruppe« übergeben mit Hilfe von Häftlingen, die Bewegungsfreiheit auf dem Lagergelände hatten, wie zum Beispiel Angehörige des Elektriker-, Dachdecker- und Installateurkommandos. Die hochriskante Kommunikation zwischen den beiden Gruppen diente aber auch dem Zweck, eine Widerstandsaktion des Sonderkommandos mit einer allgemeinen Revolte im Häftlingslager zu koordinieren.[46]

Der am weitesten fortgeschrittene Aufstandsplan der Widerstandsgruppe des Sonderkommandos wurde letztlich nie in die Tat umgesetzt. Am 7. Oktober 1944 führte eine unkoordinierte Revolte einzelner Häftlinge, die während einer Selektion zum Tode bestimmt wurden, und anderer Häftlinge des Sonderkommandos, die sich ihnen anschlossen, zur Zerstörung des Krematoriums IV. Salmen Gradowski, der der Widerstandsgruppe angehört hatte, war unter den Anführern der Revolte in Krematorium II. Noch am Tag des Aufstands liquidierte die SS den größten Teil des Sonderkommandos – 452 Mann, unter ihnen Gradowski, der im Kampf gefallen sein soll[47]. Zweiundzwanzig Monate war Salmen Gradowski Arbeiter im Sonderkommando gewesen, hatte aber der Vernichtung, deren Zeuge er war, zweifach widerstanden: indem er revoltierte und indem er schrieb.

Schreiben, bezeugen, revoltieren

Einen Tag nach Gradowskis Ankunft wurde das gesamte bisherige Sonderkommando ermordet. Es hatte zuvor die begrabenen Leichen von sowjetischen Kriegsgefangenen und Häftlingen aus dem KL Auschwitz sowie die Leichen aus den Bunkern 1 und 2 exhumiert und mit den Leichen der letzten Mordaktionen verbrannt.[48] Gradowski gehörte also einem vollständig neu aufgestellten Sonderkommando an. Er wurde zunächst für einige Wochen den Bunkern 1 und 2 zugewiesen, seine Funktion dort ist nicht bekannt. Zwischen März und Juli 1943, als die Krematorien in Betrieb genommen wurden, teilte man ihn erst der Mannschaft des Krematoriums III und später dem Krematorium II zu.[49] Außer einigen nichtjüdischen »Prominenten« wurde das gesamte Sonderkommando von Birkenau anfangs in Häftlingsbaracke 2 in dem Lagerteil b von Bauabschnitt I (B I b) untergebracht (auch als Block 2 bezeichnet), im Juli 1943 dann in Pferdestallbaracken des Lagerabschnitts B II d, in Baracke 13 und zeitweise auch 11. Alle Sonderkommando-Baracken in B I b und B II d waren von den anderen Häftlingsbaracken isoliert.[50] Wir wissen, dass Gradowski »Schreiber« in seiner Baracke war.

Im Sommer 1944 wurde der größte Teil der Häftlinge des Sonderkommandos in den Krematorien selbst untergebracht, auf den Dachböden der Krematorien II und III und im Auskleideraum des Krematoriums IV[51]. Die sukzessiven Umquartierungen entsprachen dem Anliegen der SS, die Vernichtung zu optimieren, vor allem aber sollten die Kontakte der Männer des Sonderkommandos mit anderen Inhaftierten eingeschränkt werden.

Da man sie für Tätigkeiten in dem Krematorium einteilte, in dem sie auch untergebracht waren, kamen sie fast nie mehr nach draußen.

Innerhalb ihrer neuen Unterkunft waren sie, wenn die Arbeit getan war, in der Zeitgestaltung relativ frei. Manche Zeugen versichern, dass wenig geredet wurde, wenn man einmal zurück im Block war. Andere dagegen berichten, dass die Häftlinge über ihre Situation und die ihnen verbleibenden Möglichkeiten debattierten, über die ethischen und theologischen Implikationen ihrer Handlungen, über die Notwendigkeit, Rache zu üben und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Man kann sich vorstellen, dass Gradowski eher zu denen gehörte, die über das sprachen, was sie durchlebten. Die fragmentarischen Zeugnisse anderer, aber auch seine Niederschriften vermitteln das Bild eines Menschen, der vom Sinn seines Handelns und von der ethischen und spirituellen Dimension seiner Existenz durchdrungen war. Wir wissen von Jakob Freimark (jidd. Yaakov Fraymark), einem Mann, der wie Gradowski aus Suwałki stammte, dass er auch versuchte, anderen Menschen außerhalb des Sonderkommandos zu helfen. Freimark arbeitete im »Kanada« genannten Effektenlager, wo das an der Selektionsrampe und in den Auskleideräumen zurückgelassene Gepäck der Opfer sortiert wurde.[52] Hier hatte er regelmäßigen Kontakt zu den Sonderkommando-Häftlingen, die die restlichen Sachen der Opfer, die im Auskleideraum zurückgeblieben waren, zur Abholung bereitstellten. Gradowski besorgte Freimark Lebensmittel, um einige Häftlinge, die auch aus Suwałki kamen, vor dem Verhungern zu bewahren.[53] Dank Freimark wissen wir auch, dass Gradowski seinen Glauben weiterhin praktizierte. Er berichtet, dass Gradowski sich nach jedem Transport seine Tefillin (Gebetsriemen) anzulegen pflegte, sich in seinen Gebetsmantel hüllte und das Kaddisch für die Seelen der Opfer sagte. Freimark gegenüber äußerte Gradowski auch den Schmerz, den ihm die Verbrennung der heiligen Bücher und Kultobjekte bereitete, sowie die Überzeugung, dass er und alle Sonderkommando-Mitglieder tagtäglich eine Sünde begingen.[54] Neben seinem Glauben war es vermutlich seine politische Überzeugung, die ihm in Momenten der tiefsten Verzweiflung Widerstandskraft gab.

Im Block blieb aus ersichtlichen Gründen die Tätigkeit des Schreibens hoch verdächtig. Trotz der damit verbundenen Gefahr begann Gradowski, Listen von Transporten und Häftlingen anzulegen. Er befragte Angehörige der verschiedenen Teilkommandos, sobald sich die Gelegenheit ergab. Parallel dazu oder möglicherweise ein wenig später – das wissen wir nicht – entschloss er sich, eigene Texte zu schreiben. Er war nicht der Einzige, und die Absicht, Zeugnisse für die Nachwelt zu hinterlassen, wurde in der Widerstandsgruppe offen diskutiert.[55] Der Gesamtkomplex der auf Jiddisch verfassten Manuskripte, die aufgefunden wurden, lässt darauf schließen, dass die Verfasser – Salmen Gradowski, Salmen Lewental und Leyb Langfus – die einzelnen Themen unter sich aufgeteilt haben.[56] Sicher ist, dass in der Gruppe besprochen wurde, wie und wo die Manuskripte versteckt werden sollten.[57] Das alles erlaubt, von einer Art Geheimarchiv zu sprechen: Die Zeugen und Opfer wurden zu Laienhistorikern, Chronisten und Dichtern ihrer eigenen Vernichtung, und das Archiv, das sie hinterlassen haben, muss zweifelsohne in Verbindung und in Kontinuität betrachtet werden mit der seit Ende des 19. Jahrhunderts von ostjüdischen Intellektuellen geförderten Aktivität des Sammelns von Dokumenten und des Aufzeichnens der jüdischen Geschichte.[58]

Wir wissen, dass Gradowski einzelne Kameraden in seine Pläne eingeweiht hat, vor allem diejenigen, die außerhalb des Sonderkommandos für die Beschaffung der nötigen Materialien sorgen konnten, und jene, die ihm im Block helfen konnten, seine Schreibtätigkeit vor der SS und den Blockältesten geheim zu halten. Für die Papierbeschaffung konnte er auf Jakob Freimark zählen, der im »Kanada«-Lager Notizbücher und Papier besorgte, das aus Zementsäcken hergestellt wurde. Unterstützung kam auch von Shlomo Dragon, der als »Stubendienst« eingesetzt war. Wie Salmen war auch Shlomo seit Anfang Dezember 1942 im Sonderkommando, zusammen mit seinem älteren Bruder Abraham. Er stammte aus der polnischen Kleinstadt Żuromin, wo er vor dem Krieg als Schneider im Geschäft seines Vaters gearbeitet hatte. Im Sonderkommando war er aktives Mitglied der Widerstandsgruppe. Er erinnert sich an Gradowskis Schreibtätigkeit:

Kaum jemand wusste, dass er diese Aufzeichnungen führte; nur ich als Stubendienstarbeiter wusste davon. Wir ermöglichten ihm die Abfassung der Listen, denn eigentlich erlaubten die Bedingungen so etwas nicht. Ich besorgte ihm ein Bett neben einem Fenster, damit er genügend Licht zum Schreiben hatte. […] Er sagte uns, man müsse der Welt ein Zeugnis über die Ereignisse im Lager hinterlassen. Als er die Aufzeichnungen begann, ahnten wir bereits, dass unsere Überlebenschancen gleich Null waren. Immer wieder richteten die Deutschen Gruppen von Sonderkommando-Häftlingen hin […]. Er steckte die Hefte in Glasbehälter, die an Thermoskannen erinnerten, und verbarg sie an allen möglichen Orten. Er entwickelte dazu eine ganz besondere Methode.[59]

Laut Shlomo Dragon und bestätigt von Eliezer Eisenschmidt, einem anderen Überlebenden des Sonderkommandos, der mit Gradowskis Transport nach Auschwitz deportiert wurde, teilte Gradowski seine Pritsche mit einem Mann, der »Maggid« oder »Dayan von Maków« genannt wurde (Prediger und rabbinischer Richter von Maków[60]). Andere Zeugnisse identifizieren diesen Mann als Leyb Langfus, der ebenfalls einen Text im Boden der Krematorien hinterließ.[61] Gleichen Alters wie Gradowski, war er im Beth Din seiner Stadt rabbinischer Richter gewesen. Im Sonderkommando hatte er eine kleine Gruppe religiöser Juden um sich versammelt, mit denen er betete und die Torah studierte. Eisenschmidt und Dragon betonen beide, dass Langfus und Gradowski zusammen schrieben:

In Birkenau schrieben [Gradowski] und der »Maggid« von Maków nachts Tagebücher über die Ereignisse: Woher die Transporte kamen. Wie viele Menschen eingetroffen waren. Wann der Transport kam. Wie viele ermordet wurden und wie viele als Häftlinge in das Lager kamen. Die Listen versteckten sie in Flaschen, die sie im Müll gefunden hatten. Die Flaschen versiegelten sie mit Wachs, damit sie bis zur Wiederauffindung nach der Niederlage der Deutschen erhalten blieben. Wir wussten bereits, dass wir jedes Stück Wachs, das wir im Abfall fanden, aufheben und an den »Maggid« oder an Gradowski weiterreichen mussten, damit sie mit diesem Wachs die Flaschen der geheimen Tagebücher versiegeln konnten.[62]

Den Wunsch, Zeugnis abzulegen, hatte nicht nur der enge Kreis derer, die schrieben. In mancher Hinsicht sind die von Menschen des Sonderkommandos verfassten Transportlisten und geschriebenen Texte auch das Ergebnis kollektiver Gesten, die eine von vielen geteilte Intention offenbaren. Das spiegelt auch die Organisationskette wider, die eingerichtet werden musste, damit die Zeugnisse nicht verloren gingen: angefangen bei der Papierbeschaffung bis zum Auffinden eines der Manuskripte durch Shlomo Dragon – und dazwischen unter anderem das Sammeln von Wachsresten zum Versiegeln der Flaschen.

Neben den Transportlisten, die er verfasste, schrieb Gradowski spätestens im Spätherbst 1943 seinen ersten Text, »Komm hierher, Du Mensch« (S. 74-142), in ein kleines Notizbuch mit kariertem Papier und schwarzem Umschlag. Der Text widmet sich den Ereignissen vor der Zeit im Sonderkommando und hat die Reise vom Sammellager Kiełbasin nach Auschwitz zum Thema. Auf die Wochen zurückblickend, in denen die deutschen Truppen die »Aktion Judenrein« in der Region Grodno durchführten und die Überlebenden im Lager Kiełbasin sammelten, setzt die Erzählung zu dem Zeitpunkt ein, als die meisten Gefangenen des Sammellagers nach Auschwitz deportiert werden. Unter ihnen ist der Erzähler und Zeuge Gradowski mit seinen Familienangehörigen. Eine Widmung an die ermordeten Familienmitglieder, die nur mit ihren Vornamen genannt werden (S. 73), ist dem Text im Notizbuch vorangestellt, sowie ein Satz in vier Sprachen (Polnisch, Russisch, Französisch und Deutsch): »Interessieren Sie sich für dieses Dokument, weil es sehr wichtiges Material enthält.« (S. 72)

Der Text selbst hat die Form einer Anrufung, gerichtet an einen »freien Menschen« in der Zukunft, der den Zeugen in die Hölle von Auschwitz begleiten soll. Indem der Autor im eigenen Namen spricht, in der ersten Person, als Augenzeuge und als Opfer, gibt er sich vor den Lesern als Führer und Mittler aus. Die Erzählung zeichnet den Weg nach, der den Verfasser nach Auschwitz geführt hat, Orte werden genannt, dennoch wird man Namen, Zahlen, präzise Fakten und Daten nur gelegentlich finden. Gradowski will weder den Untergang eines Einzelnen darstellen noch sich allein auf Fakten und Daten fokussieren: Durch die Schilderung der Ankunft seines Transports in Auschwitz will er exemplarisch die Vernichtung eines ganzen Volkes nachzeichnen. Das vollgeschriebene Notizbuch versteckte er zunächst in einer Grube unter der Asche, wahrscheinlich kurz nachdem er seinen Text fertiggestellt hatte.

In der Folge verfasste er drei weitere, voneinander unabhängige und in sich geschlossene Texte. Sie wurden vermutlich ebenfalls in Notizbüchern niedergeschrieben.[63] Der exakte Zeitpunkt ihrer Entstehung lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Was »Eine Mondnacht« betrifft, so sind wir auf Vermutungen angewiesen. Hingegen lässt sich die Niederschrift der beiden anderen Texte des zweiten Konvoluts annäherungsweise datieren. »Die Zertrennung« (S. 219-259) und »Der tschechische Transport« (S. 157-218) wurden zwischen Ende Februar und Anfang April 1944 verfasst[64], vermutlich unmittelbar nach den dort geschilderten Ereignissen: der partiellen Liquidierung des Sonderkommandos am 24. Februar 1944 und der ersten Liquidationsaktion des tschechischen Familienlagers am 8. März 1944.[65]

»Eine Mondnacht« (S. 147-156) ist keinem bestimmten Ereignis gewidmet. Es handelt sich um eine lange Rede an den Mond, zugleich Klage und Anklage, dass er angesichts der entsetzlichen Ereignisse, die sich vor seinen Augen und in seinem Licht badend abspielen, gleichgültig bleibt. »Der tschechische Transport« schildert die erste Etappe der Liquidierung des Familienlagers aus Theresienstadt, die in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1944 stattfand. Einigen Zeugen zufolge war die Widerstandsgruppe im Sonderkommando mit Männern des Familienlagers in Kontakt gewesen, um einen gemeinsamen Aufstand zu koordinieren[66]. Die Widerstandsaktivisten des Sonderkommandos hofften, im Familienlager auf junge Männer als Kombattanten zählen zu können. Diese waren zum Teil militante Zionisten, oft in besserer körperlicher Verfassung als viele Häftlinge in anderen Lagerteilen. Ab Ende Februar kursierten Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Liquidierung, und in den ersten Märztagen bekam das Sonderkommando den Befehl, die Öfen zu beheizen. Das wies auf die Ankunft eines wichtigen Transports hin, und es bestand kein Zweifel mehr, dass die Juden des Familienlagers zum Tode verurteilt waren. Die Verantwortlichen im Familienlager sollen sich jedoch geweigert haben, Widerstand zu leisten – einige, weil sie nicht an ihre Vernichtung glauben wollten, andere aus Rücksichtnahme auf die vielen Kinder.[67] Eine Revolte misslang, was als versäumte Gelegenheit für einen allgemeinen Aufstand betrachtet wurde.

Die Ereignisse in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1944, als 3791 Menschen aus dem Familienlager in den Gaskammern ermordet wurden, schockierten die anderen Inhaftierten des Lagers sehr, vor allem die Männer des Sonderkommandos. Die Mitglieder der Widerstandsgruppe hatten bis zuletzt auf eine Revolte gehofft und wären bereit gewesen, sich beim kleinsten Zeichen seitens der Opfer gegen die Deutschen zu wenden. Die Opfer aber rebellierten nicht, jedenfalls nicht mit Gewalt, obgleich sie wussten, was sie erwartete. Sie leisteten Widerstand mit ihren letzten Gesten, indem sie ihre Verachtung für die SS und ihre Hoffnung auf die Zukunft in Worten bekundeten, schließlich mit Liedern (die Hatikwa, die Internationale, das Partisanenlied und die tschechische Nationalhymne), die ihre kollektive Identität und ihre geistige sowie politische Widerstandskraft zum Ausdruck brachten. Im »Tschechischen Transport« legt Gradowski den ganzen Prozess des Tötens präzise dar, zeichnet ihn Etappe für Etappe nach: die Trennung der Familien vor der Abfahrt zu den Krematorien, die Ankunft dort, die Entkleidung, den Gang in die Gaskammer, den Gesang der Opfer, ihre Agonie, das Herausholen der Leichen, ihre Verbrennung. Er wendet sich an seine Leserschaft in der Zukunft, jenen »freien Bürger der Welt«, und führt sie Schritt für Schritt bis zum »Herzen der Hölle«. Dieses »Herz« ist der Raum mit den Öfen, in denen die Körper der Opfer verzehrt werden, bevor sie sich zum Himmel steigend mit den anderen »vereinigen«.

Der dritte Text, »Die Zertrennung«, erzählt von einem Ereignis, das vor der Liquidierung des Familienlagers stattgefunden hat: der Ende Februar 1944 durchgeführten Selektion eines Teils des Sonderkommandos, die möglicherweise als Vergeltung nach einem Fluchtversuch von der SS beschlossen wurde. Ungefähr die Hälfte des damaligen Sonderkommandos, etwa 200 Mann, war selektiert worden, darunter vor allem Häftlinge, die sekundäre Arbeit zu leisten hatten, wie z. ‌B. das »Reinigungskommando«, das die Haare der Opfer waschen sollte. Am 24. Februar 1944 wurden die selektierten Männer von Auschwitz zum KL Lublin (Majdanek) verbracht und dort ermordet.[68] Auch in diesem Text dominiert die kollektive Erfahrung das individuelle Erleben. Das »Wir« des Sonderkommandos, das durch die gemeinsame Erfahrung zusammengeschweißt wurde, wird plötzlich zerrissen. Die etwa 400 Menschen wissen, dass die Hälfte von ihnen zum Tode verurteilt ist. Die von den Nazis durchgeführte »Zertrennung« erleben sie als Amputation, die in jedem den nackten, individuellen Überlebenswillen verschärft, auf Kosten der Solidarität, die zu verteidigen sie sich zuvor selbst geschworen hatten.

Jedem der drei Teile des zweiten Manuskripts hat Salmen Gradowskis einen Brief vorangestellt (S. 143ff., 157ff. und 219ff.). Darin wendet er sich explizit an seine zukünftige Leserschaft und erklärt seine Situation und Identität – allerdings nur in der chiffrierten, von Wollnerman später entschlüsselten Signatur. Die Tatsache, dass es drei verschiedene Briefe gibt, deutet darauf hin, dass er die Texte an unterschiedlichen Orten vergraben wollte, aber wohl aus zeitlichen Gründen darauf verzichtete. Aus wie vielen Notizbüchern die drei Texte stammen und wo und wann genau sie vergraben wurden, ist nicht mehr nachzuvollziehen.[69] Anders verhält es sich mit dem ersten Manuskript. Als die Verantwortlichen Anfang September 1944 begannen, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen und besonders die Gruben voller Asche leeren zu lassen, holte Gradowski es aus der Erde, um es an einem anderen, sichereren Ort zu verstecken. Die Bemühungen der SS, Spuren zu verwischen, deuteten auf eine bevorstehende Liquidation des Lagers hin. In den Monaten zuvor hatte sich die Widerstandsgruppe innerhalb des Sonderkommandos Waffen beschafft und mit Hilfe von Frauen, die in der Rüstungsfabrik der Weichsel-Metall-Union arbeiteten, Schwarzpulver in die Krematorien geschmuggelt. Einzelne Häftlinge hatten sogar Granaten gebaut, von denen Shlomo Dragon einige in seiner Matratze versteckte, und ihre Kontakte mit der »Kampfgruppe Auschwitz« verstärkt. Weil sie über das Vorrücken der Roten Armee informiert war, zögerte die Kampfgruppe die Revolte bereits seit Anfang 1944 immer wieder hinaus, so dass die Männer des Sonderkommandos noch die Liquidierungen des tschechischen Familienlagers (März und Juli 1944) und des sogenannten Zigeunerlagers (August 1944)[70] und vor allem die Massenvernichtung der Juden aus Ungarn (Mai – Juli 1944) miterleben mussten. Nach mehreren verpassten Gelegenheiten, der kurzfristigen Absage eines bereits festgelegten Aufstandstermins im Sommer 1944 und angesichts der bevorstehenden Liquidierung des Sonderkommandos erschien den Widerständlern des Sonderkommandos der Zeitpunkt Anfang September 1944 als einzige Chance. Wenn es schon nicht mehr darum ging, zu überleben, so wollte man wenigstens mit der Waffe in der Hand sterben.

Bevor er das Notizbuch erneut vergrub, schrieb Gradowski einen Begleitbrief, datiert auf den 6. September 1944 (S. 69). Darüber hinaus fügte er am Ende des Büchleins zwei vielleicht unmittelbar vor dem Vergraben verfasste Notizen an, die dem »Finder« einige Informationen über den Autor liefern: die Adresse eines Onkels in New York und die Angabe, wann der Text geschrieben wurde (S. 142)[71]. Mitten im Satz bricht er ab: »Aber letztens …« Somit sind der Brief und die am Ende des Notizbuchs eingefügten Informationen die letzten Sätze, die Gradowski schrieb, bevor die Flasche erneut vergraben wurde. Den Brief verfasste Gradowski »im Augenblick größter Gefahr und Erregung«, wohl in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Aufstands. Diese Umstände mögen erklären, warum er sich dafür entschied, ihn mit seinem eigenen, unverschlüsselten Namen zu unterschreiben.

Der Aufstand fand erst am 7. Oktober 1944 statt. Die Widerstandsgruppe erhielt kurz zuvor die Information über die geplante Liquidierung fast der Hälfte des Sonderkommandos, die bei den Krematorien IV und V eingesetzt waren. Einige Häftlinge kündigten Widerstand an – unter ihnen Gradowski – und riskierten einen verzweifelten Kampf, bei dem letztlich zwei Drittel des Sonderkommandos umgebracht wurden. Am 9. Oktober 1944 waren nur noch 212 Häftlinge am Leben.

Textodysseen

Gradowskis Textkonvolute existierten lange Zeit getrennt. Die Odyssee des ersten Manuskripts, des Textes, der als erster geschrieben und als letzter vergraben worden war, führt uns von Auschwitz nach Leningrad, dann nach Warschau und schließlich nach Jerusalem. Als Shlomo Dragon seinen Fund der sowjetischen Untersuchungskommission übergab, ließ man Gradowskis Brief sogleich ins Russische übersetzen. Aber der Appell an den Leser der Zukunft wurde nicht befolgt: Feldflasche und Manuskript gelangten in den Archivfundus des Militärmedizinischen Museums des Verteidigungsministeriums in Sankt Petersburg.[72] In der Sowjetunion konnte Gradowskis Zeugnis nicht publiziert werden: Die Arbeit des Sonderkommandos und seine Rolle während der Judenvernichtung ließen sich nicht in das vorherrschende antifaschistische Narrativ integrieren; außerdem enthielt es zahlreiche Antisemitismusvorwürfe gegen nichtjüdische Polen. In einem zunehmend antisemitischen Klima und im Rahmen der sowjetischen Erinnerungspolitik, die das Gedächtnis der Shoah marginalisierte, war es dazu verdammt, ein vergessenes Archivdokument zu werden.

Dennoch gelang es dem leitenden wissenschaftlichen Berater des Militärmedizinischen Museums in Leningrad, Anton Lopatjonok, den Text zwischen 1961 und 1962 als Mikrofilmkopie nach Polen zu senden, höchstwahrscheinlich über einen Mittelsmann in der DDR, wo Lopatenok stationiert war. Eine Kopie des Mikrofilms, eine Fotokopie des Briefs Gradowskis und einen von ihm verfassten Essay zum Manuskript mit Anschreiben an Bernard (Ber) Mark vertraute er einem Dozenten der Universität Łódź, Paweł Korzec, an. Korzec reichte beides an den Historiker Bernard Mark weiter, den Leiter des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau (ŻIH). Das ŻIH hatte seit seiner Gründung 1947 die Tätigkeit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission abgelöst und wurde zum Sammelort nicht nur der Materialien des Ringelblum-Archivs[73], sondern auch Tausender Manuskripte, die vor und während der Shoah verfasst wurden. In Polen fand nur hier eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung der Juden statt. Im Zuge des seit 1949 wachsenden Einflusses der Partei wurden Forschung und Publikationen des Instituts überwacht und gegebenenfalls zensiert.[74]

Bernard Mark erkannte die Bedeutung von Gradowskis Manuskript, besonders im Hinblick auf den Auschwitz-Prozess, der 1963 in der Bundesrepublik beginnen sollte. Bereits im März 1962 hatte er die Übersetzung ins Polnische abgeschlossen.[75] Erst 1969, drei Jahre nach seinem Tod, wurde sie von seiner Witwe Ester Mark bearbeitet, für den Druck vorbereitet und in der Zeitschrift des Jüdischen Historischen Instituts (Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego) in einer zensierten Version veröffentlicht. Roman Pytel bearbeitete seinerseits ebenfalls Marks Übersetzung und veröffentlichte eine von ihm überarbeitete Version zwei Jahre später, im Jahr 1971.

Mark hatte bis zu seinem Tod an einem Buch in jiddischer Sprache über die Formen des Widerstands im Lager Auschwitz-Birkenau gearbeitet, das Ester Mark später, 1977, in Israel veröffentlichte. Megiles Oyshvits (Die Rollen von Auschwitz)[76] enthielt in seinem zweiten Teil die drei dem Jüdischen Historischen Institut damals bekannten Manuskripte des Sonderkommandos: das Manuskript von Salmen Lewental, das eines später durch Ester Mark als Leyb Langfus identifizierten »unbekannten Autors« und Gradowskis aus Leningrad überbrachtes Manuskript, im Original und mit Kommentaren. Bei der Herausgabe des Textes von Gradowski nutzte Ester Mark die von ihrem Mann und von Pytel unternommene Transkription des Originalmanuskripts. Megiles Oyshvits wurde ins Französische (1982) und ins Englische (1985) übersetzt, und somit konnte Gradowskis Zeugnis erstmals breiter rezipiert werden.

Wenn die neue Ausgabe sich auch enger an Gradowskis ursprünglichen Text hielt als die 1969 veröffentlichte Fassung, blieb sie dennoch problematisch; die Entzifferung war stellenweise nicht sorgfältig genug, ganze Passagen fehlten. Ungeachtet dessen basieren die meisten bisher erschienenen Ausgaben auf den von Bernard und Ester Mark oder von Roman Pytel erarbeiteten Versionen des Gradowski-Textes.[77]

Auch das zweite Konvolut – »Eine Mondnacht«, »Der tschechische Transport« und »Die Zertrennung« – hat eine komplizierte Geschichte. Bereits 1945 beschlossen Chaim Wollnerman und seine aus der Deportation zurückgekehrte Frau Yetka (Yochid) Ringer, nach Palästina auszuwandern. Auf dem Weg dorthin verbrachte das Paar 1946 mehrere Monate erst in Lauf an der Pegnitz, dann in München, wo Chaim als Sekretär des obersten Rabbiners tätig war. Noch aus Deutschland schrieb er Gradowskis Angehörigen in New York und erhielt bald darauf das von Gradowski für die Publikation des Manuskripts gewünschte Foto (siehe Abb. 1). Am Vortag ihrer Abreise nach Palästina wurde in ihre Wohnung eingebrochen und das Originalmanuskript von Gradowski gestohlen. Nur die Transkription und ein paar einzelne Blätter blieben erhalten. Nach ihrer Ankunft in Israel 1947 gingen einige Jahre ins Land, bevor sich die Wollnermans um Veröffentlichungsmöglichkeiten für das kostbare Manuskript bemühten. Es waren vergebliche Versuche. Anfang der sechziger Jahre übergab Chaim eine 1950 angefertigte Kopie des transkribierten Manuskripts an Yad Vashem, wo es bis heute als Mikrofiche aufbewahrt wird.[78]

Trotz des großen Interesses von Josef Kermish, dem damaligen Archivleiter der Gedenkstätte, wurde nichts unternommen, um es zu publizieren. Auch wenn sich die Gründe dafür nicht genau nachvollziehen lassen, spielte sicherlich der zeitgeschichtliche Kontext eine Rolle: Seit den fünfziger Jahren dominierte in Israel eine Gedächtnispolitik, in deren Rahmen die Rolle von Juden in der Vernichtung (ob es sich nun um die »Arbeitsjuden« der Vernichtungslager, die jüdischen Polizisten der Ghettos oder die Judenräte handelte) vielfach undifferenziert und abwertend betrachtet wurde.

Chaim Wollnerman ließ sich nicht entmutigen. 1977 publizierte er das Buch auf eigene Kosten – unter dem Titel In harts fun gehenem (»Im Herzen der Hölle«). Im selben Jahr erschien auch das von ihm mitherausgegebene Yizkor-Buch von Oświęcim, in welches er das »Im Herzen der Hölle« betitelte Unterkapitel aus dem »Tschechischen Transport« aufnahm.[79] Ebenfalls 1977 erschien Megiles Oyshvits in Ester Marks Bearbeitung. Weder Chaim Wollnerman noch David Sfard und Jehoshua Wygodski, die in Yad Vashem arbeiteten und für Wollnermans Edition kurze Begleitworte verfassten, wussten von der Veröffentlichung eines weiteren Gradowski-Manuskripts durch Ester Mark in Israel. Jehoshua Wygodski weist in seinem Text zwar darauf hin, dass ihm ein anderes Manuskript von Gradowski bekannt sei, und erwähnt die polnische Edition von Bernard Mark im Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego, die wiederaufgelegte Fassung, die zwei Jahre später in der Schriftenreihe des Auschwitz-Museums erschien. Doch weiß er nichts von Ester Marks Unternehmung.[80] Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieser Textodyssee, dass beide Konvolute jahrzehntelang eine Parallelexistenz führten. Ob Ester Mark von der Wollnerman-Edition wusste oder zu einem späteren Zeitpunkt davon erfuhr, ist nicht bekannt. Jedenfalls erwähnen die französischen und englischen Editionen von Megiles Oyshvits weder die Wollnerman'sche Edition noch die darin enthaltenen Texte.

Gradowski war lange Zeit nur einem engeren Kreis von Holocaustforschern bekannt, der sich in erster Linie für den dokumentarischen und archivarischen Wert seiner Handschriften interessierte.[81] Auch die anderen Aufzeichnungen, die im Boden der Krematorien entdeckt worden waren, wurden vor allem als Beweise für die Vernichtung und als historiographische Quelle hinsichtlich der Überlebensbedingungen im Sonderkommando betrachtet.

Die lückenhafte und zögerliche Rezeption hat aber auch noch andere Gründe. Eine einseitige Wahrnehmung der Mitglieder des Sonderkommandos als Kollaborateure der Vernichtung und die damit verbundene Tabuisierung der Thematik gab es nicht nur in Israel. Zahlreiche Auschwitz-Überlebende, angefangen bei Primo Levi, haben das Sonderkommando von dieser Warte aus betrachtet.[82] Lange Zeit wurden die Sonderkommando-Häftlinge moralisch verurteilt; selbst nachdem einige von ihnen bei den Prozessen der 1960er Jahre als Zeugen aufgetreten waren und sich explizit zu ihrer Rolle geäußert hatten, änderte sich daran nichts. Ein differenzierterer Blick auf ihre Erfahrung findet sich in der bahnbrechenden Arbeit des überlebenden Philologen und Historikers Nachman Blumental, der als Mitglied der Jüdischen Historischen Kommission in Łódź unmittelbar nach dem Krieg einen wiedergefundenen Brief der letzten »jüdischen Arbeitskräfte« aus dem Vernichtungslager Chełmno kommentierte.[83] Weitaus bekannter sind das Stück Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss, das auf Zeugenaussagen beim Auschwitz-Prozess basiert[84], und Claude Lanzmanns Film Shoah (1985), in dem Überlebende verschiedener Vernichtungslager von den Tätigkeiten im Sonderkommando und als »Arbeitsjuden« erzählen.[85] Dennoch gelang es nicht, die Texte der Sonderkommando-Mitglieder einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Dank der Arbeit einzelner Historiker und Holocaustforscher hat sich die öffentliche Wahrnehmung des Schicksals der Sonderkommandos in den letzten beiden Jahrzehnten allmählich verändert.[86] Dies hängt auch mit den sukzessiven Neupublikationen der ausgegrabenen Manuskripte und autobiographischer Zeugnisse von Überlebenden der Sonderkommandos zusammen, insbesondere der seit 2008 erschienenen Editionen und Neuübersetzungen von Gradowskis Handschriften, die beide Textkonvolute vereinen und jüngst den preisgekrönten Film Son of Saul von László Nemes Jeles (2015) inspirierten. Gradowski wird zunehmend als Autor eines überragenden Textes der Khurbn- und der Shoah-Literatur anerkannt.[87]

Im Kontext der überwiegend missbilligenden Interpretation der Rolle des Sonderkommandos und der zögerlichen Rezeption ihrer Zeugnisse kam den Editionen von Gradowskis Handschriften eine umso größere Bedeutung zu: Erstmals wurde Schreiben und Bezeugen als Form des seelischen Widerstands erkennbar; nicht nur als Faktenbeweis, sondern auch als Zeichen für die Behauptung von Menschlichkeit. Wie Elie Wiesel im Vorwort zur französischen Ausgabe von Ber Marks Buch Megiles Oyshvits schrieb, manifestiert sich in der gewählten Form die Singularität jedes Sonderkommando-Mitglieds: »jedem sein Stil, seine Sprache, seine Wut«[88].

Unter den Mitgliedern der Widerstandgruppe war Gradowski derjenige, der die kollektive Erfahrung der Vernichtung in dezidiert literarischer Form wiedergeben und sein Schreiben in die Tradition der jüdischen und jiddischen Literatur einfügen wollte.[89] Die Lektüre seiner Texte ist nur schwer erträglich. Sein beschreibender und bezeugender Erzähler führt den Leser in die »Gruften« der Hölle von Auschwitz. Das Unvorstellbare des Massenmordes wird einerseits in schmerzhafter Präzision gezeichnet, andererseits lyrisch verdichtet. Unsere Edition stellt die Texte Gradowskis als eine jüdische literarische »Antwort auf die Katastrophe« vor und würdigt den Autor als den Schriftsteller, der er werden wollte – mit seinem Stil und seiner Sprache.

Zur Edition

Die vorliegende Übersetzung macht der deutschsprachigen Leserschaft erstmals sämtliche Texte Gradowskis zugänglich.

Aus dem beigefügten datierten Brief und der Notiz geht hervor, dass das Manuskript aus Sankt Petersburg als erstes verfasst wurde; zudem schildert es Begebenheiten vor der Ankunft in Auschwitz. Folglich bildet es den Anfang. Vorangestellt ist der Brief (S. 69-71) – ihn sollte »der Finder« zuerst lesen. Die Reihenfolge der Texte in Gradowskis Notizbuch wurde beibehalten: dem Appell an den Finder in vier Sprachen und der Widmung (S. 72 und 73) folgt der Text und schließlich die Notiz. Wir haben uns entschieden, das Konvolut »Die erste Handschrift« zu nennen und dem eigentlichen Text die Überschrift »Komm hierher, Du Mensch« zu geben. Auch wenn er in ein Notizbuch geschrieben wurde, hat er nichts Notathaftes. Es handelt sich auch nicht um ein Tagebuch oder eine Chronik[90]; vielmehr ist es die leitmotivisch wiederholte Aufforderung an den Leser, die dem Text seine Struktur verleiht.

Diese Handschrift, in einem Notizbuch (14,5×9,5 cm) überliefert, ist in relativ gutem Zustand und wurde anhand von Scans neu dechiffriert. Somit konnten Wörter und mitunter ganze Passagen ergänzt werden, die bisher nicht entziffert worden waren. Ungefähr 2,5 ‌% des Textes (etwa zwei Seiten) sind nicht mehr rekonstruierbar.

Die Seiten des Notizbuchs sind bis 164 rückwärts laufend nummeriert[91], 73 davon sind einseitig beschrieben, 16 Seiten beidseitig. Einige Seiten wurden von Gradowski offensichtlich herausgerissen.[92] Die Tatsache, dass mehrere Seiten fehlen, ohne dass der Text seine Kohärenz verliert, könnte darauf hinweisen, dass Gradowski manche bereits geschriebene Absätze verworfen und neu geschrieben hat oder dass er das Papier für andere Zwecke benutzte, wie zum Beispiel für das Verfassen von Transportlisten. Auf zwei leergelassenen Seiten des Notizbuchs sind Raster zu erkennen, die vermutlich dafür gedacht waren (siehe S. 81 und S. 116).

Jede Seite hat 20 bis 38 Zeilen. Der Text verläuft auf den Linien des karierten Papiers, meistens mit Leerzeile, manchmal auch ohne. Am Anfang des Textes sind die Absätze durch Zeilenbrüche markiert, was darauf hinweist, dass die Struktur für Gradowski eine Rolle spielte. In einer Situation, wo es höchst gefährlich war, Papier aufzutreiben, komponiert er seinen Text, ohne an Platz zu sparen, und legt Wert darauf, durch die Textgestaltung einen gewissen Rhythmus wiederzugeben. Dass er zudem nur einseitig und vorwiegend nur auf eine Seite der Doppelseiten des Notizbuchs geschrieben hat, könnte eine Vorsichtsmaßnahme gewesen sein: Die Tinte drohte im feuchten Boden abzufärben.

Auf den ersten Seiten des Notizbuchs hat Gradowski offenbar sehr große Sorgfalt walten lassen.[93] Andere Passagen sind deutlich schneller geschrieben und schwerer lesbar. Die Unterschiede der Handschrift und der Seitengestaltung, von den ersten, sorgfältig komponierten, bis zu den letzten, sehr dicht und offensichtlich in Eile geschriebenen Seiten, schließlich die unvollendete Notiz am Ende, die er vor dem Vergraben des Manuskripts schnell noch hinzufügte, lassen Rückschlüsse auf den Zustand des Schreibenden zu.

Das Original des zweiten Konvoluts ist verschollen. Aus dem Vorwort Wollnermans zu seiner Edition von 1977, in dem von »kleinen Blättern und Notizbüchern« die Rede ist, sowie aus den erhaltenen Seiten können wir schließen, dass es sich um eines oder mehrere Notizbücher handelte.[94] Unsere Ausgabe folgt Wollnermans Transkription von 1950, die in Yad Vashem als Mikrofiche vorhanden ist. Es handelt sich um linierte Hefte, die auf einem Mikrofiche zusammengefasst wurden, ohne Kennzeichnung, wo jeweils ein Heft beginnt und endet. Nur die Seiten von »Die Zertrennung« (an zweiter Stelle des Mikrofiche) sind nummeriert (von 1 bis 60). Wollnerman hat fast immer auf der linken Seite kopiert und die rechte leer gelassen. Die Tatsache, dass Gradowski im ersten Manuskript auch so verfuhr und Wollnerman an zwei Stellen des Textes »Die Zertrennung« vermerkt, dass Seiten im Original fehlen[95], weist darauf hin, dass er versucht hat, beim Transkribieren in seinen eigenen Notizbüchern die Originale Gradowskis nachzuzeichnen. Die Angaben in der Transkription erlauben jedoch nicht, eventuelle durch Wollnerman vollzogene Modifikationen zu identifizieren.

Die Unterschiede zwischen der Transkription und der Edition gehen offenbar auf Wollnermans editorische Entscheidungen zurück. So stammt der Gesamttitel »Im Herzen der Hölle« höchstwahrscheinlich von ihm.[96] Desgleichen die Titel »Die Zertrennung« und »Der Tschechische Transport«, die sich in der Transkription nicht finden. Die wenigen erhaltenen Seiten des Originalmanuskripts[97] erlauben den Schluss, dass der Titel eines der drei Texte (»Eine Mondnacht«) und die jeweiligen Untertitel auf Gradowski zurückgehen. Wir haben uns dafür entschieden, die von Chaim Wollnerman gewählten Haupttitel zu übernehmen; ansonsten sind wir der Transkription gefolgt, die weniger Untertitel (bzw. Unterkapitel) aufführt. Eigentümlichkeiten im Manuskript, wie z. ‌B. ein umrahmter Satz (S. 246, Fn. 15) oder Wörter in Klammern, die in Wollnermans Edition fehlen, wurden übernommen. Dabei ist allerdings nicht zu rekonstruieren, ob es sich bei diesen Eigentümlichkeiten in Wollnermans Transkription um eine Nachbildung von Gradowskis Original handelt. Die Textgestalt, d. ‌h. Absätze, Leerzeilen, als fehlend oder unlesbar markierte Stellen, größtenteils auch die Interpunktion, folgt der Transkription, soweit im Deutschen möglich und lesbar.

Grundsätzlich wurden Absätze, Leerzeilen und Zeilenbrüche aus dem Original bzw. der Transkription übernommen, auch wenn in einigen Fällen nicht eindeutig zu erkennen ist, ob Gradowski einen neuen Absatz einfügen wollte. Die auffälligsten Besonderheiten in beiden Manuskripten werden in den Fußnoten erläutert: durchgestrichene Wörter, offenbar nachträglich korrigierte oder eingefügte Sätze; Sätze, die auf der gegenüberliegenden, ansonsten leeren Seite stehen.

Auf die Rekonstruktion des Manuskripts in allen materiellen Details wurde verzichtet. Wir konnten nicht sämtliche fehlenden oder durchgestrichenen Wörter, Wörter, die Gradowski durch Sperrung hervorhebt, jede Variation in der Schriftdichte kenntlich machen. Eine durchgängige historisch-kritische und philologische Kommentierung des Textes hätte die Lektüre ständig unterbrochen und den Zugang zu einem allein durch seinen Inhalt schwer zugänglichen Text weiter erschwert.[98] Gleichwohl haben wir den materialen Zustand der Manuskripte so weit wie möglich berücksichtigt und die Besonderheiten der absichtsvoll gewählten Seitengestaltung wiederzugeben versucht. Wir haben durchgestrichene Wörter oder ähnliche Besonderheiten vermerkt, wo sie den Schreibprozess beleuchten und zeigen, wie Gradowski ständig nach dem richtigen Wort, nach dem angemessenen Satzkonstrukt, kurz: einem adäquaten Stil suchte.

Die Übersetzerin hat sich zum Ziel gesetzt, den Rhythmus des Originals so nachzubilden, dass Gradowskis Stimme hörbar wird und die Eigenarten seines Stils im Deutschen nicht verschwinden.[99] Die Interpunktion (im damaligen Jiddischen oft ungenau) wurde nur gelegentlich ergänzt oder modifiziert; vor allem wenn Satzzeichen – wie Gedankenstriche – offensichtlich als Mittel der Rhythmisierung eingesetzt wurden, folgt die Übersetzung den Eigenheiten des Originals.

Was die Reihenfolge der Texte betrifft, so haben wir uns für die Anordnung der Wollnerman-Edition entschieden. Hier kommt dem »Tschechischen Transport« eine zentrale Position zu. Laut Gradowskis Angaben zum Zeitpunkt der Niederschrift müsste »Die Zertrennung« vor dem »Tschechischen Transport« stehen.[100] Gleichwohl gibt