Dieser Schmerz ist nicht meiner - Mark Wolynn - E-Book
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Dieser Schmerz ist nicht meiner E-Book

Mark Wolynn

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Beschreibung

Manche Menschen sind grundlos traurig, ängstlich oder leiden an Schmerzen, für die es keine Erklärung gibt. Manche wollen ihr Potenzial leben und stoßen immer wieder an eine Grenze, die unüberwindbar scheint. Die Ursache kann in der Familiengeschichte liegen, wenn erlittenes Leid durch Kriegserlebnisse, Unfälle oder eine frühe Trennung von den Eltern an die nächste Generation weitervererbt wurde.

Das bahnbrechende Buch von Mark Wolynn zeigt einen Weg, wie dieses Erbe gelöst und integriert werden kann. Es ist ein großartiges Selbsthilfebuch, um Familientraumata zu heilen. Und um sich wieder mit sich selbst zu verbinden und endlich das eigene Leben zu leben.

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Seitenzahl: 372

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Das Buch

Die Familiengeschichte heilen – sich selbst heilen

Manche Menschen sind grundlos traurig, ängstlich oder leiden an Schmerzen, für die es keine Erklärung gibt. Manche wollen ihr Potenzial leben und stoßen immer wieder an eine Grenze, die unüberwindbar scheint. Die Ursache kann in der Familiengeschichte liegen, wenn erlittenes Leid durch Kriegserlebnisse, Unfälle oder eine frühe Trennung von den Eltern an die nächste Generation weitervererbt wurde.

Das bahnbrechende Buch von Mark Wolynn zeigt einen Weg, wie dieses Erbe gelöst und integriert werden kann. Es ist ein großartiges Selbsthilfebuch, um Familientraumata zu heilen. Und um sich wieder mit sich selbst zu verbinden und endlich das eigene Leben zu leben.

Der Autor

Mark Wolynn gilt als Nordamerikas führender Experte auf dem Gebiet der transgenerationalen Traumata. Als Gründer und Direktor des Family Constellation Institute in San Francisco behandelt er Menschen, die aufgrund vererbter Familientraumata mit Depressionen, Angstzuständen, Panikattacken und chronischen Schmerzen zu kämpfen haben. Er lehrte an der University of Pittsburgh, dem Western Psychiatric Institute in Kripalu, dem Omega Institute, dem New York Open Center und dem California Institute of Integral Studies. Er ist ein gefragter Redner und hält weltweit Workshops in Kliniken, auf Tagungen und in Schulungszentren.

www.markwolynn.com

MARK WOLYNN

Dieser Schmerz ist nicht meiner

Wie wir uns mit dem seelischen Erbe unserer Familie aussöhnen

Aus dem Amerikanischen von Silvia Autenrieth

Kösel

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »It Didn´t Start with You. How Inherited Family Trauma Shapes Who We Are and How to End the Cycle« bei Viking, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCopyright © 2016 der Originalausgabe by Mark WolynnAll rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.This edition published by arrangement with Viking, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC. Umschlag: Weiss Werkstatt MünchenUmschlagmotiv: plainpicture / Hanka SteidleHerstellung und Infografiken: René Fink, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-20237-8V002www.koesel.dewww.penguinrandomhouse.de

Für meine ElternMarvin Wolynn und Sandra Lazier Wolynn Miller.Ich bin euch so dankbar für alles, was ihr mir gegeben habt.

Inhalt

Einleitung: Die geheime Sprache der Angst

Teil I – Das seelische Erbe unserer Familie

1 – Traumata – Was sich in unserer Familiengeschichte verbergen kann

2 – In unserem Körper begegnen sich drei Generationen

3 – Das Familiengedächtnis

4 – Sprachliche Schlüssel als Weg

5 – Die vier unbewussten Themen

Teil II – Die Erforschung unserer Schlüsselsprache

6 – Das Schlüsselproblem

7 – Die Schlüsselbeschreibungen

8 – Der Schlüsselsatz

9 – Das Schlüsseltrauma

Teil III – Die Verbindung herstellen

10 – Von der Erkenntnis zur Integration

11 – Die Schlüsselsprache der Trennung

12 – Die Schlüsselsprache von Beziehungen

13 – Die Schlüsselsprache des Erfolgs

14 – Die Schlüsselsprache als Medizin

Danksagung

Glossar

Anhang A: Fragen zur Familiengeschichte

Anhang B: Fragen zu frühen Traumata

Anmerkungen

Register

Wer nach außen schaut, träumt; wer nach innen schaut, erwacht.

CARL GUSTAV JUNG

Einleitung: Die geheime Sprache der Angst

In einer dunklen Zeit beginnt das Auge zu sehen …

THEODORE ROETHKE: IN A DARK TIME

Dieses Buch ist das Ergebnis einer persönlichen Mission. Sie hat mich einmal um die ganze Welt und zurück zu meinen Wurzeln gebracht. Und sie hat mir einen Berufsweg eröffnet, den ich mir zu Beginn der Reise nicht hätte träumen lassen. Seit mehr als 20 Jahren arbeite ich nun mit Menschen, die an Depressionen, Ängsten, chronischen Erkrankungen, Phobien, Zwangsgedanken, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen lähmenden Zuständen leiden. Viele von ihnen waren entmutigt und hatten schon fast die Hoffnung verloren, als sie zu mir kamen. Weder eine jahrelange Gesprächstherapie noch Medikamente oder andere Maßnahmen hatten den Ursprung ihrer Symptome aufdecken und ihren Leidensdruck mildern können.

Aus eigener Erfahrung sowie durch meine Ausbildung und klinische Praxis ist mir heute klar, dass die Ursache womöglich gar nicht in unserer eigenen Geschichte zu suchen ist. Sie verbirgt sich eher in der Geschichte unserer Eltern, Großeltern und sogar Urgroßeltern. Auch die Ergebnisse der neuesten wissenschaftlichen Studien, die es mittlerweile sogar in die Schlagzeilen geschafft haben, sagen uns: Traumafolgen können von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Dieses »Erbe« besteht in dem, was unter dem Schlagwort »vererbte familiäre Traumata« bekannt geworden ist. Und es wird immer deutlicher, dass wir es hier mit einem sehr realen Phänomen zu tun haben. Schmerz löst sich im Laufe der Zeit nicht immer von selbst auf. Er wird auch nicht unbedingt von selbst weniger. Selbst wenn die Person, die das Trauma ursprünglich erlebt hat, schon längst gestorben ist, selbst wenn ihre Geschichte jahrelang verschwiegen wurde, selbst dann können Fragmente von Erlebnissen, Erinnerungen und Körperempfindungen aus ihrem Leben weiterleben. Es ist, als tauchten sie Hilfe suchend aus der Vergangenheit auf, um über den Geist und Körper der heute Lebenden Erlösung zu finden.

Auf den folgenden Seiten erfahren Sie, wie meine empirischen Beobachtungen aus der Praxis als Leiter des Family Constellation Institute in San Francisco mit den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaft, Epigenetik und Sprachwissenschaft zusammenhängen. Und wie ich das, was ich von Bert Hellinger, dem bekannten deutschen Psychotherapeuten, gelernt habe, dabei einbringen kann. Sein familientherapeutischer Ansatz hat die psychologischen und physischen Auswirkungen vererbter familiärer Traumata auf mehrere nachfolgende Generationen aufgezeigt.

Ein Schwerpunkt dieses Buches ist die Frage, woran wir vererbte familiäre Muster erkennen. Es geht um Ängste und andere Gefühle sowie um Verhaltensweisen, die wir unwissentlich von unseren Vorfahren übernommen haben und die den Leidenskreislauf Generation für Generation aufrechterhalten. Und es geht um das Kernthema meiner Arbeit: wie wir diesem Leiden ein Ende bereiten können. Vielleicht ergeht es Ihnen wie mir, und Sie bemerken, dass viele unserer Muster gar nicht unsere eigenen sind, sondern aus der Familiengeschichte stammen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in dieser Familiengeschichte etwas gibt, das erzählt werden und endlich ans Licht gebracht werden will. Lassen Sie mich an dieser Stelle meine eigene Geschichte erzählen.

Ich hatte nie geplant, eine Methode zu entwickeln, die dabei helfen sollte, Ängste zu überwinden. Mein Weg dorthin begann mit dem Tag, an dem meine Sehkraft plötzlich nachließ. Von einem Moment auf den anderen war meine erste Augenmigräne da. Keine nennenswerten körperlichen Schmerzen im eigentlichen Sinne – »nur« ein Sturm schieren Entsetzens, während alles um mich herum verschwamm. Ich war damals gerade einmal 34, und nun stolperte ich wie im Dunkeln durch mein Büro, tastete halb blind nach meinem Telefon und setzte einen Notruf ab. Bald würde sich ein Krankenwagen auf den Weg zu mir machen.

Eine Augenmigräne ist in der Regel keine schwerwiegende Erkrankung. Man sieht zwar kurzzeitig verschwommen, doch meist normalisiert sich das Sehvermögen innerhalb einer Stunde. Das Schlimme ist nur, dass man das zunächst nicht unbedingt weiß. Bei mir allerdings war die Augenmigräne nur der Anfang. Innerhalb weniger Wochen konnte ich auf dem linken Auge fast nichts mehr sehen. Ob Gesicht oder Verkehrsschild – alles verschwamm zu einer grauen Masse.

Die Ärzte klärten mich darüber auf, dass ich unter einer sogenannten Retinopathia centralis serosa litt, einer unheilbaren Erkrankung, deren Ursache unbekannt ist. Bei ihr tritt Flüssigkeit aus der Aderhaut aus und sammelt sich unter der Netzhaut, sodass diese sich abhebt. Die Folge ist eine Narbenbildung auf der Netzhaut und unscharfes Sehen. Einige der Betroffenen – jene fünf Prozent mit der chronischen Verlaufsform, an der auch ich litt – erblinden. So wie es bei mir aussah, sagte man mir, ich müsse mich darauf einstellen, dass irgendwann wohl beide Augen befallen sein würden. Es sei nur eine Frage der Zeit.

Kein Arzt konnte mir sagen, was meinen Sehverlust ausgelöst hatte und was Heilung verspräche. Alles, was ich auf eigene Faust ausprobierte – Vitamine, Saftfasten, Heilen durch Handauflegen –, schien die Symptome nur noch zu verschlimmern. Ich war völlig verwirrt. Das, wovor ich am meisten Angst hatte, stand mir bevor, und ich war absolut hilflos, etwas dagegen zu unternehmen. Blind zu sein, außerstande, ein eigenständiges Leben zu führen und völlig auf mich allein gestellt – das würde ich nicht durchstehen. Mein Leben wäre ruiniert. Ich würde jeden Lebenswillen verlieren.

Immer wieder ließ ich dieses Szenarium in meinem Kopf ablaufen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto tiefer nistete sich die Hoffnungslosigkeit in meinem Körper ein. Ich versank in einem zähen Morast. So sehr ich versuchte, mich aus diesem Sumpf zu befreien, er hielt mich fest, und in meinen Gedanken kreiste das Bild, wie ich völlig allein, hilflos und ruiniert sein würde. Genau diese Worte – allein, hilflos und ruiniert – gehörten zu meiner persönlichen Sprache der Angst. In ihnen klang das Echo von Traumata nach, die sich noch vor meiner Geburt in meiner Familiengeschichte ereignet hatten. Einmal freigesetzt, beherrschten sie meine Gedanken, bis sich alles in meinem Kopf drehte und mein Körper regelrecht durchgerüttelt wurde.

Ich fragte mich, warum ich meinen Gedanken solche Macht zugestand. Andere Menschen machten schließlich weitaus Schlimmeres durch als ich, ohne dass es sie so massiv herunterzog. Was brachte mich dazu, so tief in der Angst stecken zu bleiben? Es sollte noch Jahre dauern, bis ich diese Frage beantworten konnte.

Damals galt für mich nur noch das Motto »nichts wie weg«. Ich beendete meine Beziehung, meinen Job, verließ meine Familie, meine Stadt – alles, was mir vertraut war. Ich wollte Antworten. Antworten, die in der Welt, in der ich lebte – eine Welt, in der viele Menschen orientierungslos und unglücklich schienen –, nicht zu finden waren. Ich hatte tausend Fragen und wollte keinesfalls mit dem mir bekannten Leben weitermachen. Ich verkaufte meine Firma, ein erfolgreiches Eventmanagement, an jemanden, der mir gerade über den Weg gelaufen war. Und weg war ich, auf nach Osten – so weit östlich, wie ich nur irgend konnte –, bis ich Südostasien erreichte. Ich wollte geheilt werden. Nur hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie.

Ich las Bücher und saß mit den Lehrern zusammen, die sie geschrieben hatten. Wann immer ich von jemandem hörte, der oder die mir vielleicht helfen könnte – eine bestimmte alte Frau, die in einer Hütte lebte, ein immerzu Lachender in langer Robe –, war ich sofort dort. Ich nahm an Seminaren teil und sang Mantras mit Gurus. Einer dieser Gurus sagte zu uns, die wir gekommen waren, um ihn sprechen zu hören, er wolle sich nur mit »Findern« umgeben. Suchende, meinte er, blieben einfach immer genau das, was der Begriff ausdrückt: ständig auf der Suche.

Ich wollte ein Finder sein. Ich meditierte jeden Tag. Ich fastete regelmäßig. Ich bereitete mir Heilkräutertees und bekämpfte damit die aggressiven giftigen Stoffe, die in meiner Vorstellung in mich eingedrungen waren. Und über alldem nahm mein Sehvermögen weiter ab und ich geriet immer tiefer in eine Depression.

Was mir damals nicht klar war: Wenn wir uns dagegen wehren, etwas Schmerzhaftes zu empfinden, hält sich der Schmerz oft noch hartnäckiger – das beste Rezept, um dauerhaft zu leiden. Hinzu kommt, dass das Suchen selbst verhindern kann, dass wir das Gesuchte finden. Wenn wir zu sehr außerhalb von uns selbst suchen, merken wir nicht, wenn wir am Ziel angekommen sind. In unserem Innern mag sich etwas Wertvolles ereignen, aber wenn wir es nicht wahrnehmen, kann es uns leicht entgehen.

»Was willst du nicht sehen?«, gaben mir die Heiler immer wieder zu bedenken und provozierten mich dazu, tiefer zu blicken. Woher sollte ich das wissen? Ich tappte im Dunkeln.

Ein Guru in Indonesien brachte mich einen Schritt weiter, als er fragte: »Für wen hältst du dich, dass du meinst, du solltest keine Probleme mit den Augen haben?« Und er fuhr fort: »Vielleicht hören Johanns Ohren nicht so gut wie die von Gerhard, und Elisabeths Lungen sind vielleicht nicht so kräftig wie die von Gerda. Und Dietrich kann nicht annähernd so gut laufen wie Sebastian.« (Alle in dem damaligen Training waren entweder aus den Niederlanden oder aus Deutschland und litten offenbar unter diversen chronischen Erkrankungen.) Irgendwie kam die Botschaft an. Er hatte ja recht. Für wen hielt ich mich, dass ich meinte, ich sollte doch bitte keine Probleme mit den Augen zu haben? Wie überheblich von mir, die Wirklichkeit infrage zu stellen. Ob es mir gefiel oder nicht: Meine Netzhaut war vernarbt und ich sah nur verschwommen, aber ich – das »Ich«, das tiefer angesiedelt war als all das – begann dabei eine innere Ruhe zu erleben. Mochte mein Auge tun, was es wollte – es war nicht mehr ausschlaggebend dafür, wie es mir ging.

Um der tieferen Lernerfahrung willen ließ uns der besagte Guru 72 Stunden lang – drei Tage und drei Nächte – mit Augenklappen und Ohrenstöpseln auf einem kleinen Kissen sitzend in Meditation verbringen. Jeden Tag erhielten wir eine kleine Schale Reis zu essen und nur Wasser zu trinken. Kein Schlaf, kein Aufstehen, kein Hinlegen, keine Kommunikation. Wollte man zur Toilette, musste man die Hand heben und wurde im Dunkeln zu einem Loch im Boden geführt.

Ziel dieser verrückten Aktion war es, aus nächster Nähe die Verrücktheit des eigenen Geistes zu erfahren, indem man ihn beobachtete. Ich lernte, wie mein Geist sich unaufhörlich die schlimmsten denkbaren Szenarien ausdachte und mir einredete, ich könnte mich vor dem schützen, was mir am meisten Angst einjagte, wenn ich nur hart genug an mir arbeitete und mir ein dickes Fell zulegte.

Nach solchen Erfahrungen gewann ich innerlich etwas mehr Klarheit. In Bezug auf mein Auge jedoch blieb alles beim Alten – es trat weiter Flüssigkeit aus und die Vernarbungen der Netzhaut setzten sich fort. Auf vielen Ebenen sind Sehprobleme eine wunderbare Metapher. Ich kam schließlich darauf, dass es weniger darum ging, was ich sehen oder nicht sehen konnte, sondern wie ich die Dinge sah. Aber das geschah nicht einfach so im Handumdrehen.

Im dritten Jahr meiner »Visionssuche«, wie ich sie heute nenne, bekam ich dann endlich, wonach ich gesucht hatte. Ich hatte viel meditiert. Die Depression war fast verschwunden. Ich konnte unzählige Stunden schweigend verbringen und bei meinem Atem oder meinen körperlichen Empfindungen verweilen. Das war der leichte Teil.

Eines Tages stand ich in der Warteschlange zu einem Satsang, einem Treffen mit einem spirituellen Meister. Schon seit Stunden harrte ich in dem langen weißen Gewand aus, das alle trugen, die dort am Tempel warteten. Dann war ich an der Reihe. Ich erwartete, dass der Meister meine Hingabe würdigen würde, doch er durchschaute mich geradewegs und sah, was ich nicht sehen konnte. »Geh nach Hause«, sagte er. »Geh nach Hause und rufe deine Mutter und deinen Vater an.«

Wie bitte? Ich schäumte innerlich. Mein Körper bebte vor Wut. Damit lag er ja wohl ziemlich daneben. Meine Eltern konnten mir gestohlen bleiben. Ich brauchte sie nicht mehr. Aus dem Alter war ich heraus. Mit denen war ich schon lange fertig. Ich hatte sie gegen bessere Eltern, göttliche Eltern, spirituelle Eltern eingetauscht – die ganzen Lehrer, Gurus und Weisen, die mich auf dem Weg zur nächsten Stufe meines Erwachens begleiteten. Nach vielen Jahren Therapie, in denen ich auf Kissen eingeprügelt und Pappfiguren, die meine Eltern darstellten, kurz und klein geschlagen hatte, glaubte ich, ich hätte meine Beziehung zu ihnen »geheilt«. Ich beschloss also, den Rat des Meisters in den Wind zu schlagen.

Und doch ging mir etwas an seinen Worten noch lange nach. Sie ließen mich nicht los. Mir wurde klar, dass keine Erfahrung je umsonst ist. Alles, was uns widerfährt, hat sein Gutes, ob wir seine augenscheinliche Bedeutung erkennen oder nicht. Alles in unserem Leben führt schließlich irgendwohin.

Aber ich wollte mir meine Illusion davon, wer ich sei, erhalten. Ich klammerte mich daran, dass ich mich mit Meditation auskannte. Also suchte ich die Begegnung mit einem anderen spirituellen Meister. Einem, der mir – da war ich sicher – gerecht werden würde. Schließlich ließ er jeden Tag Hunderte von Menschen in seine himmlische Liebe eintauchen. Sicher würde er in mir den tief spirituellen Menschen erkennen, für den ich mich hielt. Wieder wartete ich einen vollen Tag lang, bis ich an die Reihe kam und vor ihm stand. Mein großer Moment war gekommen. Und dann geschah es wieder: Fast wortwörtlich hörte ich noch einmal die Worte, die schon der andere Meister gesagt hatte: »Rufe deine Eltern an. Geh nach Hause und schließe deinen Frieden mit ihnen.«

Dieses Mal kamen die Worte an.

Große Lehrer wissen, was Sache ist. Die wahrhaft großen unter ihnen kümmert es nicht, ob man an ihre Lehren glaubt oder nicht. Sie bieten eine Wahrheit an, und dann überlassen sie es einem selbst, seine eigene Wahrheit zu entdecken. Adam Gopnik schreibt über den Unterschied zwischen Gurus und Lehrern in seinem Buch Through the Children’s Gate: »Ein Guru gibt uns zunächst sich selbst und dann sein System; ein Lehrer gibt uns zunächst sein Fach und dann uns selbst.«

Große Lehrer wissen, dass der Ort, wo wir herkommen, sich darauf auswirkt, wohin wir gehen. Und dass Unbewältigtes aus der Vergangenheit Einfluss auf unsere Gegenwart hat. Sie wissen, dass unsere Eltern wichtig sind, ob sie uns gute Eltern sind oder waren oder nicht. Es führt kein Weg an ihnen vorbei. Die Geschichte unserer Familie ist unsere Geschichte. Ob es uns gefällt oder nicht: Sie steckt in uns.

Ungeachtet der Geschichte, die wir mit ihnen erlebt haben, können wir unsere Eltern nicht aus unserem Leben löschen oder verbannen. Sie sind in uns und wir sind ein Teil von ihnen – selbst wenn wir sie nie kennengelernt haben. Sie abzulehnen, bringt uns nur weiter weg von uns selbst und erzeugt zusätzliches Leid. Für diese beiden Lehrer war das sonnenklar. Ich selbst konnte es nicht sehen. Ich war blind – im wörtlichen wie im bildlichen Sinne. Nun wurden mir die Augen geöffnet, und zwar vor allem dafür, dass ich zu Hause ein Chaos hinterlassen hatte.

Jahrelang hatte ich über meine Eltern ein vernichtendes Urteil gefällt. In meiner Vorstellung war ich viel kompetenter, viel sensibler und menschlicher als sie. In meinen Augen waren sie schuld an allem, was in meinem Leben schieflief. Nun musste ich noch einmal zu ihnen zurück, um etwas wiederherzustellen, was mir fehlte: meine Verletzlichkeit. Ich musste erkennen, dass meine Fähigkeit, Liebe von anderen zu empfangen, daran geknüpft war, inwieweit ich die Liebe meiner Mutter annehmen konnte.

Doch das würde nicht einfach sein. Der Bruch zwischen uns war so tief, dass ich mich in ihren Armen immer wie in einer Bärenfalle gefühlt hatte. Jede Faser meines Körpers spannte sich an und zog sich zusammen, als wollte ich einen Schutzpanzer bilden gegen ihre Berührung. Es war eine Wunde in mir, die sich auf jeden Bereich meines Lebens auswirkte – vor allem darauf, mich in einer Beziehung zu öffnen.

Meine Mutter und ich brachten es fertig, monatelang nicht miteinander zu sprechen. Taten wir es dann doch, zog ich mich hinter meinen Panzer zurück und ignorierte die Wärme, mit der sie mir hin und wieder begegnete. Ich tat kühl und distanziert. Andererseits warf ich ihr vor, sie würde mich nicht sehen und nicht wirklich hören. Ich hatte mich emotional in eine Sackgasse verrannt.

Entschlossen, unsere kaputte Beziehung zu heilen, buchte ich einen Flug nach Pittsburgh, den Ort meiner Kindheit. Ich hatte meine Mutter viele Monate nicht gesehen. Als ich auf das Haus zuging, spürte ich, wie sich mir der Brustkorb zusammenschnürte. Ich war nicht sicher, ob an unserer Beziehung noch etwas zu kitten sein würde – ich fühlte mich innerlich in vieler Hinsicht verletzt. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst und malte mir die Szene in meinem Kopf immer wieder aus: Sie würde mich in die Arme schließen, und ich, der ich vorgehabt hatte, mich ihrer Umarmung hinzugeben, würde unversehens das Gegenteil tun: Ich würde erstarren.

Ziemlich genau so kam es auch. In einer Umklammerung gefangen, die ich nur schwer ertrug, bekam ich kaum noch Luft. Dennoch bat ich sie, mich noch etwas länger im Arm zu halten. Ich wollte von innen heraus in Erfahrung bringen, was es damit auf sich hatte, dass mein Körper sich derart gegen sie sträubte. Spüren, wo ich mich anspannte, welche Empfindungen in mir aufstiegen, wie ich mich abschottete. Das Ganze war mir nicht neu – diese Reaktion kannte ich aus meinen Beziehungen. Nur dass ich dieses Mal nicht davor weglief. Ich wollte die Wunde dort heilen, wo sie entstanden war.

Je länger meine Mutter mich im Arm hielt, desto mehr war mir, als müsste ich platzen. Es war körperlich schmerzhaft. Der Schmerz ging in Betäubung über und die Betäubung in Schmerz. Nach vielen Minuten gab schließlich etwas nach. Meine Brust und mein Bauch begannen zu beben. Etwas in mir begann sich zu lösen. Und das setzte sich in den folgenden Wochen fort.

In einem unserer vielen Gespräche während dieser Zeit erzählte meine Mutter fast beiläufig von einem Vorfall, der sich zugetragen hatte, als ich noch klein war. Sie hatte für drei Wochen ins Krankenhaus gemusst, um an der Galle operiert zu werden. Diese Information erlaubte mir, eins und eins zusammenzuzählen: Als meine Mutter und ich damals auseinandergerissen wurden – ich war noch keine zwei Jahre alt –, zog sich in meinem Körper unbewusst alles zusammen. Als sie wieder nach Hause kam, hatte ich das Vertrauen verloren, dass sie für mich da sein würde. Ich wollte nicht, dass sie mich noch einmal so verletzen würde. Lieber stieß ich sie von mir weg. Und das tat ich auch noch die nächsten 30 Jahre lang.

Ein weiteres frühes Ereignis könnte zu meiner tief verwurzelten Angst, mein ganzes Leben könne mit einem Schlag ruiniert sein, beigetragen haben: Meine Mutter erzählte mir, dass ihre Wehen bei meiner Geburt ins Stocken geraten seien und man mich mit der Zange holen musste. Was dazu führte, dass ich am Kopf großflächige Blutergüsse hatte und mein Schädel teilweise deformiert war – bei einer Zangengeburt nichts Ungewöhnliches. So wie ich aussah, musste sich meine Mutter anfangs überwinden, mich in den Arm zu nehmen, wie sie mir reuevoll beichtete.

Diese Geschichte ging mir noch lange nach und half mir, das tiefe Gefühl, ich sei »ruiniert«, zu erklären. Vor allem, wenn ich ein neues Projekt »gebar« oder der Öffentlichkeit ein neues Werk präsentierte, kamen traumatische Erinnerungen an meine Geburt zum Vorschein, die tief in meinem Körper verborgen waren. Allein schon diesen Zusammenhang zu verstehen, schenkte mir Frieden. Außerdem bewirkte es eine unerwartete Annäherung zwischen meiner Mutter und mir.

Zeitgleich begann ich, auch die Beziehung zu meinem Vater wieder aufzubauen. Mein Vater, ein ehemaliger Unteroffizier bei der Marine und eine Zeit lang Bauarbeiter, lebte seit der Scheidung meiner Eltern in einer kleinen heruntergekommenen Wohnung und hatte sich nie die Mühe gemacht, diese herzurichten. Altes Werkzeug, Bolzen, Schrauben, Nägel und Rollen mit Isolier- und Klebeband lagen überall verstreut. Zwischen den Bergen von rostigem Eisen und Stahl sagte ich ihm, wie sehr ich ihn vermisst hätte. Doch die Worte schienen einfach zu verpuffen. Er wusste gar nichts mit ihnen anzufangen.

Ich hatte mich immer nach einer innigen Beziehung zu meinem Vater gesehnt, nur wusste weder er noch ich, wie wir sie herstellen könnten. Dieses Mal jedoch blieben wir im Gespräch. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte und dass er ein guter Vater sei. Ich teilte mit ihm meine Erinnerungen an das, was er für mich getan hatte, als ich noch klein war. Ich konnte spüren, dass er mir durchaus zuhörte, obwohl sein Verhalten – Achselzucken, das Thema wechseln – das Gegenteil zu belegen schien. Wir verbrachten viele Wochen mit Reden und Erzählen. Bei einem gemeinsamen Mittagsimbiss sah er mir mit einem Mal direkt in die Augen und sagte: »Ich hätte gar nicht gedacht, dass du mich je geliebt hast.« Es verschlug mir fast den Atem. Uns beide überkam ein heftiger Schmerz. In diesem Moment brach etwas auf, und dieses Etwas war unser Herz. Manchmal muss das Herz brechen, damit es sich öffnet. Irgendwann kamen wir schließlich an den Punkt, einander unsere Liebe zu zeigen. Jetzt sah ich, welche Wirkung es hatte, auf die Worte der Lehrer zu vertrauen und nach Hause zurückzukehren, um die Beziehung mit meinen Eltern zu heilen.

Es gelang mir zum ersten Mal, solange ich denken konnte, die Liebe und Fürsorge meiner Eltern an mich heranzulassen. Nicht so, wie es meinen Erwartungen entsprochen hatte, sondern so, wie sie sie mir geben konnten. Etwas in mir öffnete sich. Es spielte keine Rolle, inwieweit sie mich lieben konnten oder nicht. Worauf es ankam, war, wie ich das annehmen konnte, was sie zu geben hatten. Sie waren die gleichen Eltern wie immer. Was sich verändert hatte, war etwas in mir. Ich entdeckte meine Liebe zu meinen Eltern regelrecht neu – ich erlebte wieder Gefühle, wie ich sie als Baby erlebt haben musste, bevor es zum Bruch in der Bindung an meine Mutter kam.

Die frühe Trennung von meiner Mutter, zusammen mit ererbten Traumata aus meiner Familiengeschichte (drei meiner Großeltern hatten schon früh die Mutter verloren und Nummer vier in sehr frühem Alter den Vater, woraufhin die Mutter von Nummer vier von ihrer Trauer beherrscht blieb), all das hatte zu der geheimen Sprache der Angst beigetragen, die in mir entstanden war. Endlich hatten die Worte allein, hilflos und ruiniert samt den damit verbundenen Gefühlen keine Macht mehr über mich. Mir wurde ein neues Leben geschenkt, und die wieder aufgelebte Beziehung zu meinen Eltern spielte dabei eine wichtige Rolle.

In den folgenden Monaten befasste ich mich damit, die neuen zarten Bande zu meiner Mutter zu intensivieren. Ihre Liebe, die ich zuvor als zudringlich erlebt hatte und die mir auf die Nerven gegangen war, wirkte auf einmal beruhigend und bestärkend auf mich. Außerdem war mir das Glück vergönnt, meinem Vater bis zu seinem Tod noch 16 Jahre lang nahe sein zu können. In der Demenz, die seine vier letzten Lebensjahre bestimmte, erteilte er mir die vielleicht tiefgreifendste Lektion in Sachen Verletzlichkeit und Liebe, die mir je zuteil geworden ist. Wir begegneten uns an jenem Ort jenseits der Gedanken, jenseits des Geistes, wo nichts als innigste Liebe wohnt.

Auf meinen Reisen begegneten mir viele große Lehrer. Rückblickend jedoch war es mein Auge – mein angeschlagenes, halb blindes, mich in Angst und Schrecken versetzendes Auge –, das mich einmal um die halbe Welt, zu meinen Eltern, durch das Dickicht familiärer Traumata und schließlich zu meinem Herzen zurückführte. Mein Auge war zweifellos der größte Lehrer von allen.

Irgendwann hatte ich auf meinen Reisen aufgehört, an mein Auge zu denken oder mich zu sorgen, ob es besser oder schlechter werden würde. Ich löste mich von der Erwartung, wieder klar sehen zu können. Irgendwie war das nicht mehr wichtig. Nicht lange danach kehrte mein Sehvermögen zurück. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich war nicht einmal mehr darauf angewiesen. Ich hatte gelernt, dass für mich alles in Ordnung sein konnte – ganz gleich, wie es meinem Auge ging.

Heute liegt meine Sehkraft bei 20/20, ist also praktisch normal, obwohl mein Augenarzt felsenfest davon überzeugt ist, dass ich wegen meiner Netzhautvernarbungen eigentlich nichts sehen dürfte. Er nimmt es einfach kopfschüttelnd zur Kenntnis und spekuliert, dass die Lichtsignale irgendwie abprallen und an der Fovea, dem zentralen Bereich der Retina, vorbeigeleitet würden. Wie bei vielen Berichten rund um Heilung und Transformation erwies sich auch bei mir das, was zunächst wie ein schlimmes Unglück wirkte, als Segen. Es liegt schon eine gewisse Ironie des Schicksals darin, dass ich die fernsten Winkel des Planeten nach Antworten durchforsten musste, um herauszufinden, dass die größte Heilungsressource in mir selbst vorhanden war und nur darauf wartete, entdeckt zu werden.

Letztlich geschieht Heilung im Inneren. Glücklicherweise führten mich meine Lehrer zu meinen Eltern und zu mir selbst zurück. Auf dem Weg dorthin entdeckte ich die Dinge in Familiengeschichte, die mir Frieden schenkten. Aus Dankbarkeit und meiner neu gewonnenen Freiheit heraus habe ich es mir nun zur Aufgabe gemacht, anderen zu helfen, diese Freiheit für sich selbst zu entdecken.

Meine Eintrittskarte in die Welt der Psychologie war die Sprache. Schon als Student und später in der klinischen Praxis konnte ich Tests, Theorien und Verhaltensmodellen nicht viel abgewinnen. Ich hörte stattdessen Sprache. Ich entwickelte Zuhörtechniken und brachte mir selbst bei, zwischen den Zeilen zu lesen, wenn ich mir die Beschwerden meiner Klientinnen und Klienten anhörte. Ich lauschte auf das, was sich unter ihren alten Geschichten verbarg. Ich lernte, wie ich ihnen helfen konnte, die spezifischen Worte zu identifizieren, die zum Ursprung ihres Schmerzes führten. Und obwohl die Theorie kursiert, dass uns in Verbindung mit traumatischen Erlebnissen die Sprache abhandenkäme, konnte ich immer wieder unmittelbar erfahren, dass diese Sprache sich nie verliert. Sie lebt in unserem Unbewussten weiter und wartet darauf, wiederentdeckt zu werden.

Deshalb ist Sprache für mich ein höchst wirkungsvolles Heilungsinstrument. Soweit ich zurückdenken kann, war Sprache schon immer meine Lehrmeisterin. Sie ermöglichte es mir, Dinge und Erlebnisse einzuordnen und zu verstehen. Schon als Jugendlicher schrieb ich Gedichte, und ich lasse noch heute alles stehen und liegen (nun ja, fast alles), wenn ein dringendes Mitteilungsbedürfnis in mir aufwallt und Worte geboren werden wollen. Wenn ich mich diesem Strom überlasse, bekomme ich Erkenntnisse geschenkt, zu denen ich sonst keinen Zugang hätte. In meiner eigenen Entwicklung war der Schritt, die Worte allein, hilflos und ruiniert einschätzen zu können, essenziell.

Die Heilung eines Traumas kann man in vieler Hinsicht damit vergleichen, ein Gedicht zu verfassen. Bei beidem spielen die zeitliche Abfolge sowie die richtigen Worte und Bilder eine große Rolle. Stimmt all das, kommt etwas Bedeutsames in Gang, das regelrecht körperlich spürbar ist. Damit Heilung stattfinden kann, braucht es den richtigen Zeitpunkt. Kommt ein Bild vorschnell, sehen wir es vielleicht nicht. Fallen die Worte, die uns trösten, zu früh, sind wir vielleicht noch nicht bereit, sie an uns heranzulassen. Treffen die Worte nicht ganz ins Schwarze, können wir vielleicht nichts mit ihnen anfangen.

Als Dozent und Workshopleiter bringe ich die Erkenntnisse und Methoden, mit denen ich in meiner Ausbildung als Traumatherapeut in Berührung kam, mit meinem Wissen um die entscheidende Rolle von Sprache zusammen. Das Ergebnis ist ein Verfahren, das sprachliche Schlüssel als Wegweiser verwendet.1 Es geht dabei um Schlüsselelemente, die unsere Sprache durchziehen. Mithilfe bestimmter Fragen helfe ich, die Ursache von physischen und emotionalen Symptomen aufzudecken, die dafür sorgt, dass Menschen in diesen Symptomen stecken bleiben. Die zentralen Elemente der Sprache aufzudecken, bringt nicht nur das Trauma ans Licht, sondern zeigt auch, welche Werkzeuge und Bilder für die Heilung nötig sind. Ich konnte immer wieder beobachten, wie sich mithilfe dieser Methode tief in uns verwurzelte Gefühle von Depression, Angst und innerer Leere mit einer einzigen Erkenntnis schlagartig ändern können.

Das Medium für diese Transformation ist Sprache, die tief in uns verschüttete Sprache unserer Sorgen und Ängste. Sehr wahrscheinlich hat diese Sprache unser ganzes Leben lang in uns gewohnt. Vielleicht geht sie auf unsere Eltern zurück oder sogar auf Generationen vor unserer Zeit mit unseren Urgroßeltern. Unsere Schlüsselsprache besteht darauf, Gehör zu finden. Wenn wir verfolgen, wohin sie führt, und wir uns die Geschichte anhören, die aus ihr spricht, vermag sie unsere tiefsten Ängste aufzulösen.

Auf unserem Weg dorthin begegnen uns wahrscheinlich verschiedene Familienmitglieder – bekannte wie unbekannte. Einige sind schon seit Jahren tot. Mit manchen sind wir vielleicht nicht einmal direkt verwandt, aber ihr Leiden oder auch ihre Grausamkeit können das Schicksal unserer Familie in eine bestimmte Richtung gelenkt haben. Vielleicht decken wir sogar das eine oder andere Geheimnis auf, das sich in Geschichten verbirgt, die eigentlich schon längst nicht mehr in uns herumspuken sollten. Aber wohin uns diese Erkundungen auch führen: Sie bringen uns an einen neuen Punkt in unserem Leben – an einen Punkt, an dem wir freier sind und in Frieden mit uns selbst.

In diesem Buch schöpfe ich immer wieder aus den Geschichten der Menschen, mit denen ich in meinen Workshops, Trainings und Einzelsitzungen gearbeitet habe. Die Details zu den einzelnen Fallbeispielen sind real. Zum Schutz der Privatsphäre der Betroffenen habe ich jedoch ihre Namen und andere Merkmale geändert, anhand derer man sie identifizieren könnte. Ich bin diesen Personen zutiefst dankbar dafür, dass sie mir erlaubt haben, an der geheimen Sprache ihrer Ängste teilzuhaben, dankbar für ihr Vertrauen in mich und dafür, dass sie mir gestatten, das Wesentliche hinter ihren Worten herauszuhören.

Teil I

Das seelische Erbe unserer Familie

1 Traumata – Was sich in unserer Familiengeschichte verbergen kann

Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.

WILLIAM FAULKNER: REQUIEM FÜR EINE NONNE

Ein gut dokumentiertes und wohl vielen bekanntes Kennzeichen eines Traumas ist das Unvermögen, das Erlebte zu artikulieren. Was nicht nur heißt, dass uns die Worte dafür fehlen, sondern es geschieht dabei auch etwas mit unserem Gedächtnis. Bei einem traumatischen Ereignis können Denkprozesse so wirr werden und durcheinandergeraten, dass wir Erinnerungen nicht mehr mit dem Ereignis in Verbindung bringen, auf das sie zurückgehen. Stattdessen werden Erinnerungsfetzen – Bilder, körperliche Empfindungen, Worte – in unserem Unbewussten gespeichert und können später durch alles reaktiviert werden, was auch nur im Entferntesten an die ursprüngliche Erfahrung erinnert. Und sind sie erst einmal aktiviert, ist es so, als würde eine unsichtbare Rückspultaste betätigt, was uns dazu bringt, Aspekte des ursprünglichen Traumas in unserem Alltag zu reinszenieren. Wir ertappen uns dabei, auf bestimmte Menschen, Ereignisse oder Situationen unbewusst in einer Weise zu reagieren, die aus der Vergangenheit stammt.

Sigmund Freud identifizierte dieses Muster bereits vor mehr als 100 Jahren. Die traumatische Reinszenierung oder der »Wiederholungszwang«, wie Freud es nannte, ist ein Versuch des Unbewussten, Unbewältigtes noch einmal durchzuspielen, um dieses Mal alles »richtig zu machen«. Dieser unbewusste Drang, Ereignisse aus der Vergangenheit von Neuem zu durchleben, könnte in Familien wirksam sein, wenn sich unbewältigte Traumata in späteren Generationen wiederholen.

Auch Freuds Zeitgenosse C. G. Jung glaubte, dass das, was unbewusst bleibt, sich nicht einfach auflöse, sondern in unserem Leben erneut auftauche, und zwar als Schicksal, Glück oder Unglück. Alles, was nicht bewusst sei, würde als schicksalhaft erlebt. Mit anderen Worten: Es ist wahrscheinlich, dass wir unsere unbewussten Muster so lange wiederholen, bis wir den Lichtstrahl der bewussten Wahrnehmung auf sie richten. Sowohl Jung als auch Freud konstatierten, dass alles, was zu schwierig zu verarbeiten sei, nicht einfach verblasse, sondern in unserem Unbewussten gespeichert würde.

Freud und Jung beobachteten beide, wie Fragmente blockierter, unterdrückter oder verdrängter Lebenserfahrungen sich in den Worten, Gesten und Verhaltensweisen ihrer Patientinnen und Patienten niederschlugen. Noch Jahrzehnte später sahen Therapeuten »freudsche Versprecher«, nach bestimmten Mustern ablaufende Unfälle oder auch Traumbilder als Verweise auf Unaussprechliches und Undenkbares im Leben der Betroffenen.

Durch die neueren Fortschritte bei den bildgebenden Verfahren wurde es möglich, die Hirn- und Körperfunktionen zu entschlüsseln, bei denen es im Falle überwältigender Vorfälle zu »Fehlzündungen« kommt oder diese Funktionen kollabieren. Bessel van der Kolk, ein niederländischer Psychiater und bekannt für seine Erforschung von posttraumatischem Stress, erklärt, dass bei einem Trauma das Sprachzentrum abgeschaltet wird, und mit ihm der mittlere präfrontale Kortex – jener Teil des Gehirns, der für das Erleben des gegenwärtigen Moments zuständig ist. Er beschreibt den sprachlosen Terror des Traumas als die Erfahrung, dass einem die Worte fehlen – was bei Bedrohung oder Gefahr häufig passiert, wenn die Bereiche im Gehirn, die für das Erinnern zuständig sind, nur eingeschränkt funktionieren. »Wenn Menschen ihre traumatischen Erfahrungen noch einmal durchleben«, sagt van der Kolk, »beeinträchtigt dies die Stirnlappen, worauf Probleme mit dem Denken und Sprechen entstehen. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich selbst oder auch anderen gegenüber genau zu kommunizieren, was sich gerade abspielt.«2

Es kommt allerdings nicht zu einem kompletten Verstummen: Die Wortsplitter, Bildfragmente und Impulse, die nach einem traumatischen Ereignis fortbestehen, tauchen wieder auf und äußern sich gleichsam in einer Geheimsprache, und zwar in Form der Leiden, die wir spüren. Nichts geht verloren. Die einzelnen Komponenten sind lediglich umgeleitet worden.

Ein neuer Trend in der Psychotherapie lenkt den Fokus zunehmend nicht mehr nur auf die Traumata des Individuums, sondern begreift Ereignisse in der Familien- oder Sozialgeschichte ebenfalls als Teil des Gesamtbilds. Tragödien unterschiedlicher Art und Intensität – verlassen zu werden, Suizid und Krieg oder der frühe Tod eines Kindes, Elternteils oder Geschwisters – können Schockwellen größter Verzweiflung auslösen, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Aktuelle Entwicklungen der Zellbiologie, Neurowissenschaft, Epigenetik und Entwicklungspsychologie zeigen, wie wichtig es ist, mindestens drei Generationen der Familien zu untersuchen, um zu verstehen, wie sich wiederholende Traumata und Leidensmuster entstanden sind.

Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefert die folgende Geschichte. Als ich Jesse kennenlernte, hatte er seit über einem Jahr keine Nacht mehr durchgeschlafen. Seine Schlafstörung zeigte sich in seinen dunklen Augenringen, aber die Leere seines Blicks verwies auf etwas noch tiefer Liegendes. Jesse war gerade erst 20, wirkte jedoch mindestens zehn Jahre älter. Er sank auf mein Sofa, als versagten ihm die Beine.

Jesse erklärte, dass er super sportlich und an der Sporthochschule ein glatter Einserkandidat gewesen sei, doch seine anhaltenden Schlafstörungen hätten eine Abwärtsspirale von Depressionen und Verzweiflung ausgelöst. In der Folge musste er seine Ausbildung abbrechen und auf das Baseball-Stipendium verzichten, auf das er so hart hingearbeitet hatte. Er war verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihm helfen würde, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Im Laufe des letzten Jahres war er bei drei Ärzten, zwei Psychologinnen, in einer Schlafklinik und bei einem Naturheilkundler gewesen. Kein Einziger davon, erzählte er mit monotoner Stimme, hätte ihm wirklich helfen können. Jetzt sei das Ende der Fahnenstange erreicht, erzählte Jesse mit auf den Boden gerichtetem Blick.

Als ich nachhakte, ob er eine Idee hätte, was der Grund für seine Schlaflosigkeit sein könnte, schüttelte er den Kopf. Er hatte, wie er erklärte, nie Schlafprobleme gehabt. Eines Nachts, es war unmittelbar nach seinem 19. Geburtstag, schreckte er um halb vier morgens aus dem Schlaf auf. Ihm war eiskalt, er zitterte und ihm wurde nicht mehr warm, was auch immer er versuchte. Drei Stunden später und mit mehreren Decken bedeckt lag Jesse noch immer hellwach. Da war nicht nur die Kälte und Müdigkeit, sondern ihn packte auch eine seltsame Angst, die er noch nie zuvor erlebt hatte: die Angst, dass etwas Schreckliches passieren könnte, wenn er es zuließe, wieder einzuschlafen. Nach dem Motto: Wenn ich einschlafe, wache ich nicht wieder auf. Jedes Mal, wenn er spürte, wie er kurz vor dem Eindösen war, katapultierte ihn die Angst mit einem Ruck wieder zurück in den Wachzustand. Dasselbe wiederholte sich auch in der nächsten Nacht und in der übernächsten. Binnen kurzer Zeit wurde Schlaflosigkeit für ihn zu einer allnächtlichen Tortur. Jesse wusste, dass seine Angst irrational war. Er fühlte sich jedoch hilflos, ihr ein Ende zu bereiten.

Ich hörte genau zu, als er sprach. Mir fiel dabei ein ungewöhnliches Detail auf: Ihm war unmittelbar vor der ersten Episode extrem kalt gewesen, »eiskalt«, wie er sagte. Ich erfragte diesen Punkt genauer, ob jemand in seiner Familie – gleich, auf welcher Seite – etwas Traumatisches erlebt hätte, bei dem Frieren, Einschlafen oder das Alter von 19 Jahren eine Rolle spielten.

Daraufhin offenbarte mir Jesse, dass seine Mutter ihm erst kurz zuvor von dem tragischen Tod des älteren Bruder seines Vaters erzählt hatte – ein Onkel, von dessen Existenz Jesse bis dahin gar nichts gewusst hatte. Onkel Colin war 19 Jahre alt, als er nördlich von Yellowknife in den Nordwest-Territorien Kanadas beim Überprüfen von Überlandleitungen in einen Schneesturm geriet und erfror. Spuren im Schnee zeigten, dass er um sein Überleben gekämpft hatte. Man fand ihn schließlich mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegend vor, nachdem er durch Unterkühlung bewusstlos geworden war. Sein Tod war ein so tragischer Verlust, dass die Familie nie wieder seinen Namen aussprach.

Nun, drei Jahrzehnte später, durchlebte Jesse unbewusst Aspekte von Colins Tod – vor allem die entsetzliche Angst davor, sich dem Wegdämmern des Bewusstseins zu überlassen. Für Colin bedeutete Loslassen Tod. Für Jesse muss sich das Einschlafen ganz ähnlich angefühlt haben.

Diese Verbindung herzustellen, war für Jesse ein Wendepunkt. Nachdem er verstanden hatte, dass seine Schlaflosigkeit auf ein Ereignis zurückging, das 30 Jahre zurücklag, bot sich ihm endlich eine Erklärung für seine Angst vor dem Einschlafen. Damit konnte der Heilungsprozess beginnen. Auf Wegen, die sich Jesse in unseren Sitzungen erarbeitet hatte (und die in diesem Buch an späterer Stelle noch ausführlicher beschrieben werden), schaffte er es, sich von dem Trauma zu befreien, das sein Onkel durchlitten hatte. Er war diesem Onkel zwar nie begegnet, hatte sich dessen grauenvolle Angst jedoch unbewusst zu eigen gemacht. Jesse wurde nicht nur von der Schlaflosigkeit befreit, die sich wie ein dichter Nebel anfühlte, sondern entwickelte auch eine tiefere Verbundenheit mit seiner Familie – seiner heutigen wie auch der von früher.

Die Wissenschaft ist heute imstande, bestimmte biologische Marker zu identifizieren, die belegen, dass Traumata von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können – und weitergegeben werden. So erklären sich Geschichten, wie die von Jesse. Rachel Yehuda, Professorin für Psychiatrie und Neurowissenschaft an der Mount Sinai School of Medicine in New York, gehört zu den weltweit führenden Expertinnen für posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Yehuda führte zahlreiche Untersuchungen zu neurobiologischen Hinweisen auf PTBS bei Holocaust-Überlebenden und deren Kindern durch. Vor allem ihre Erkenntnisse zum Cortisol (dem Stresshormon, das dem Körper nach einer traumatischen Erfahrung hilft, zum Normalzustand zurückzukehren) und seinen Auswirkungen auf die Hirnfunktionen haben das Verständnis und die Behandlung von PTBS weltweit revolutioniert. (Menschen mit PTBS durchleben bestimmte mit einem Trauma verbundene Gefühle und Körperempfindungen noch einmal von vorn, obwohl das Trauma längst der Vergangenheit angehört. Zu den Symptomen gehören Depressionen, Angstzustände, Gefühlstaubheit, Schlaflosigkeit, Albträume, beängstigende Gedanken und Schreckhaftigkeit oder die Neigung, »aus der Haut zu fahren«.)

Yehuda und ihr Team fanden heraus, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden, die ihrerseits unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten, mit einem ähnlich niedrigen Cortisolspiegel wie ihre Eltern auf die Welt kamen. Dies machte sie anfällig dafür, die gleichen PTBS-Symptome zu erleben wie ihre Eltern. Yehudas Entdeckung eines auffallend niedrigen Cortisolspiegels bei akut Traumatisierten wurde kontrovers diskutiert, widersprach sie doch der langjährigen Vorstellung, Stress erhöhe den Cortisolspiegel. Liegt eine chronische posttraumatische Belastungsstörung vor, kann jedoch die Cortisolausschüttung gedrosselt sein, was wohl zum niedrigen Cortisolspiegel bei den Überlebenden wie auch ihren Kindern beitrug.

Auf einen ähnlich niedrigen Cortisolspiegel stieß Yehuda auch bei Kriegsveteranen und bei Müttern, die eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hatten, nachdem sie in der Schwangerschaft die Angriffe auf das World Trade Center unmittelbar miterlebt hatten. Dasselbe galt für die Kinder dieser Frauen. Yehuda konnte nicht nur feststellen, dass die von ihr untersuchten Personen weniger Cortisol produzierten (ein Merkmal, das sich offenbar auf ihre Kinder übertrug), sondern ermittelte auch, dass neben PTBS auch andere mit Stress verbundene psychiatrische Störungen, das chronische Schmerzsyndrom und das chronische Erschöpfungssyndrom mit einer geringen Cortisolkonzentration im Blut einhergehen.3 Interessanterweise erfüllen 50 bis 70 Prozent der PTBS-Patientinnen und -Patienten auch die diagnostischen Kriterien für eine Depression oder andere Angst- oder Gemütszustandsstörung.4

Yehudas Forschungserkenntnisse demonstrieren, dass die Wahrscheinlichkeit, Symptome einer PTBS zu erleben, dreimal so hoch ist, wenn einer der Eltern eine posttraumatische Belastungsstörung aufweist und dementsprechend unter Depressionen oder Ängsten leidet.5 Yehuda geht davon aus, dass diese Art von transgenerationaler PTBS ererbt sei und sich nicht daraus erkläre, dass wir Erzählungen unserer Eltern zu den durchlittenen Qualen gehört haben.6 Yehuda zählt zu den ersten Forschern, die zeigten, wie die Nachfahren von Trauma-Überlebenden physische und emotionale Symptome von Traumata in sich tragen, die sie nicht selbst erfahren haben.

Genau dieser Fall lag bei meiner Klientin Gretchen vor. Sie litt an einer Belastungsstörung, ihre depressiven und Angst-Symptome blieben unverändert, auch nachdem sie jahrelang Antidepressiva eingenommen sowie an Gesprächs- und Gruppentherapiesitzungen teilgenommen und kognitive Ansätze ausprobiert hatte.

Gretchen sagte mir, sie wolle nicht mehr leben. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie mit heftigsten Gefühlen zu kämpfen gehabt, die ihren Körper durchrüttelten und die sie kaum ertrug. Gretchen war mehrfach in die Psychiatrie eingewiesen worden, wo man ihr eine bipolare Störung in Verbindung mit einer schweren Angststörung attestierte. Medikamente linderten den Leidensdruck ein wenig, ohne jedoch ihren heftigen Suizidwunsch zu mindern. Als Jugendliche hatte sie sich mit brennenden Zigarettenstummeln Selbstverletzungen zugefügt. Heute, mit 39 Jahren, hatte Gretchen genug von alldem. Sie sagte, ihre Depressionen und Ängste hätten sie ihr Leben lang davon abgehalten, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Überraschend nüchtern teilte sie mir mit, vor ihrem nächsten Geburtstag ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Als ich Gretchen so zuhörte, hatte ich stark das Gefühl, dass es in ihrer Familie schwere Traumata gegeben haben musste. In solchen Fällen ist es für mich unabdingbar, genau auf die Wortwahl von Klienten zu achten, um Hinweise auf das traumatische Ereignis zu finden, das hinter ihren Symptomen steckt.

Auf meine Frage, wie sie sich umbringen wolle, sagte Gretchen, sie würde »verdampfen«. So unvorstellbar es für die meisten von uns klingen mag: Sie hatte wirklich vor, in dem Walzwerk, wo ihr Bruder beschäftigt war, in einen Bottich mit geschmolzenem Stahl zu springen. »Mein Körper verglüht dann innerhalb von Sekunden«, sagte sie, den Blick starr auf meine Augen geheftet, »noch bevor er am Boden ankommt.«