Dieses alberne Herzklopfen - Jessica Martin - E-Book

Dieses alberne Herzklopfen E-Book

Jessica Martin

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Beschreibung

Durch den Unfall seines Vorgesetzten und besten Freunds wird Vince' geordnetes Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Und dann bekommt er auch noch jemanden vor die Nase gesetzt, den er auf den Tod nicht ausstehen kann: Jakob, der jüngere Bruder des Geschäftsführers, studiert noch und versteht überhaupt nichts von den Abläufen in der Firma – außerdem geht er Vince viel zu sehr unter die Haut und sieht zu allem Überfluss auch noch unverschämt gut aus. Doch Vince muss ihm wohl oder übel unter die Arme greifen, wenn er seinen Job behalten will. Jakob lernt allerdings überraschend schnell und findet sich erstaunlich gut in seiner neuen Rolle ein. Vince muss feststellen, dass es gar nicht so schlimm ist, mit Jakob zur Abwechslung mal an einem Strang zu ziehen. Wenn nur das alberne Herzklopfen nicht wäre…

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Seitenzahl: 356

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Juli 2023

© 2023 by Jessica Martin

Verlagsrechte © 2023 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Eching

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock; AdobeStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: Amazon KDP

Lektorat: Debora Exner

ISBN-13: 978-3-95823-999-9

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*den Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Durch den Unfall seines Vorgesetzten und besten Freunds wird Vince‘ geordnetes Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Und dann bekommt er auch noch jemanden vor die Nase gesetzt, den er auf den Tod nicht ausstehen kann: Jakob, der jüngere Bruder des Geschäftsführers, studiert noch und versteht überhaupt nichts von den Abläufen in der Firma – außerdem geht er Vince viel zu sehr unter die Haut und sieht zu allem Überfluss auch noch unverschämt gut aus. Doch Vince muss ihm wohl oder übel unter die Arme greifen, wenn er seinen Job behalten will. Jakob lernt allerdings überraschend schnell und findet sich erstaunlich gut in seiner neuen Rolle ein. Vince muss feststellen, dass es gar nicht so schlimm ist, mit Jakob zur Abwechslung mal an einem Strang zu ziehen. Wenn nur das alberne Herzklopfen nicht wäre…

Immer dieses alberne Herzklopfen

Kapitel 1

Er sieht so herrlich genervt aus, dass es mir schwerfällt, mich auf das Dokument auf meinem Monitor zu konzentrieren und nicht ständig zu ihm rüberzusehen. Allein sein theatralisches Seufzen und frustriertes Schnaufen sind die Standpauke wert, die ich mir ohne Zweifel von Hagen werde anhören dürfen. Gleich nachdem er aufgehört hat zu lachen.

Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass diese dreißig Minuten Verzögerung, die sein Bruder mittlerweile in meinem Büro sitzt, keine Auswirkung auf spätere Termine haben. Was das über meinen Charakter aussagt, darüber möchte ich lieber nicht nachdenken.

»Was für ein wichtiger Termin ist das bitte, dass du Hagen nicht mal Bescheid geben kannst, dass ich hier warte? Seit... mittlerweile mehr als eine halbe Stunde.«

»Einer halben«, verbessere ich, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

»Was?«

Er klingt irritiert, daher speichere ich seufzend das Dokument und blicke ihn an. Mit seiner ausgewaschenen Jeans und dem legeren Poloshirt wirkt er hier völlig deplatziert. Zudem würde es sich wohl niemand außer ihm trauen, mit dieser frisch-gevögelt Frisur ins Büro zu kommen. »Es heißt: seit mehr als einer halben Stunde. Dativ. Du hast den Nominativ benutzt, was Unsinn ist.«

Jakob kneift die Augen zusammen und seine Nasenflügel blähen sich auf, aber ich hatte auch nicht erwartet, dass er meinen Hinweis zu würdigen weiß. »Du hältst dich für superschlau, was?«

»Immerhin spreche ich korrektes Deutsch.«

Bevor er etwas entgegnen kann, öffnet sich Hagens Bürotür und er streckt den Kopf um die Ecke. »Sag mal, Vince, ist mein – ah, endlich.« Er lächelt, als er seinen Bruder erblickt. »Ich dachte schon, du hast mich versetzt.«

Jakob springt vom Besucherstuhl auf. »Was? Ich warte hier schon eine Ewigkeit. Vincent hat gesagt, dass du einen wichtigen Termin hast.«

Alarmiert blickt Hagen mich an. »Hatte ich einen Termin?«

Ich kann mir das Grinsen nicht mehr verkneifen, daher sehe ich schnell zum Monitor und rufe alibimäßig den Kalender auf. »Hm. Nein. Da muss ich mich wohl verguckt haben.«

Jakob schnaubt. »Sicher doch. Vielleicht solltest du dich mal nach einer neuen Sekretärin umsehen«, sagt er an seinen Bruder gewandt, blickt mich dabei aber fies grinsend an.

»Arschloch«, knurre ich.

Hagen wirft mir einen warnenden Blick zu, dann schnappt er sich seine Jacke. »Vincent ist der beste Assistent, den ich mir wünschen könnte.« Er zwinkert mir zu und das Lob geht runter wie Öl. »Wann muss ich zurück sein?«

»Spätestens zum Leitungskreis.«

»Alles klar. Vergiss nicht, auch Pause zu machen, wenn du schon nicht mit uns essen gehen willst.«

»Jaja«, murmle ich, sperre aber meinen PC und folge ihnen in den Flur. Die beiden schlagen den Weg zum Fahrstuhl ein, während ich in unsere kleine Büroküche gehe und meine Tupperdose aus dem Kühlschrank hole. Als mein Essen seine Runden in der Mikrowelle dreht, nehme ich mir eine frische Tasse Kaffee und blicke auf den Parkplatz hinunter.

Jakobs Klapperkiste steht völlig schief in der Lücke ganz hinten in der Ecke, die nie jemand nutzt, weil man gefühlt hundertmal rangieren muss, um da reinzukommen. Selbst mit seinem kleinen Dreitürer musste er garantiert ganz schön kurbeln, aber da ansonsten alle Plätze besetzt sind, blieb ihm wohl nichts anderes übrig.

Als die Mikrowelle piept, wende ich mich grinsend ab und gehe dann mit meinem Mittag zu meinem Schreibtisch zurück.

Eine Stunde später kommt Hagen ins Büro zurück. Er wirft mir einen tadelnden Blick zu, dann hängt er seine Jacke an die Garderobe und baut sich vor meinem Schreibtisch auf.

»Was ist?«, frage ich scheinheilig und lehne mich auf dem Stuhl zurück.

Seine Mundwinkel zucken, so schwer fällt es ihm, sich das Lachen zu verkneifen. »Du hast ihn absichtlich warten lassen.«

Ich muss mich wirklich bemühen, mir meine Belustigung nicht anmerken zu lassen, aber ich hatte schon immer ein besseres Pokerface als mein bester Freund. »Habe ich das?«

Leise lachend verdreht er die Augen und schüttelt den Kopf. »Dir ist klar, dass andere Assistenten für so was gefeuert werden.«

»Tatsächlich?« Jetzt muss ich doch lachen. Wir wissen beide, dass er mir niemals kündigen würde, nur weil ich seinen Bruder ein bisschen geärgert habe. Gleichzeitig weiß er auch, dass ich grundsätzlich professionell bin und mir das bei keinem anderen erlauben würde. »Ach, komm schon, was hat es denn geschadet?«

Soweit ich weiß, hat Jakob seit heute Semesterferien, in denen er vermutlich sowieso nur rumgammelt und das Geld verprasst, das er als stiller Gesellschafter fürs Nichtstun bekommt. Aber ich kann ja schon froh sein, dass er nur hin und wieder in die Firma kommt und noch nicht täglich hier arbeitet. Sobald er sein Studium beendet hat, wird er seine Pflicht erfüllen müssen und mit Hagen zusammen die Geschäfte der GmbH leiten, schließlich haben sie die Firma gemeinsam geerbt, aber bis dahin ist noch mindestens ein Jahr Zeit. Außerdem wird er seinen eigenen Assistenten bekommen.

»Es war trotzdem nicht in Ordnung, ihn grundlos warten zu lassen. Und mich gleich mit.«

»Tut mir leid«, sage ich brav und verkneife mir das Augenrollen, immerhin ist Hagen mein Boss. »Kommt nicht wieder vor.«

»Warum glaube ich dir das nicht?«, murmelt er immer noch mit amüsiert funkelnden Augen, woraufhin ich grinsend mit den Schultern zucke, und deutet dann leise lachend auf die Ablage, in der die Post von heute liegt. »Was Wichtiges dabei?«

»Zwei Verträge«, antworte ich und reiche ihm die Unterlagen. »Den Link zu den elektronischen Akten habe ich dir per Mail geschickt. Außerdem hat der Betriebsrat angerufen und bittet um einen Termin.«

Leise stöhnend blättert Hagen einen der Verträge durch. »Immer noch wegen dieser Stammzellspender-Registrierungsaktion? Ich hab doch gesagt, dass sie das organisieren und den großen Besprechungsraum dafür nutzen können. Sie sollten das doch mit dir absprechen.«

»Ja, wir haben einen Termin gefunden und der Raum ist reserviert, aber nun wollen sie, dass die Probenentnahme als Arbeitszeit zählt.«

Hagens Kopf ruckt hoch und er blickt mich entgeistert an. »Was?«

Schulterzuckend nicke ich. »Sie sind der Meinung, da es für einen guten Zweck ist und wir damit eventuell einem Kollegen helfen können, sollte keiner ausstempeln müssen.«

»Hm.« Einen Moment lang schweigt er, dann klappt er den Vertrag wieder zu und blickt mich an. »Wie lange dauert denn dieser Test – oder was die da machen – jeweils?«

»Weiß ich nicht, kann ich aber rauskriegen.« Ich schnappe mir meinen Block und mache eine entsprechende Notiz.

Hagen nickt. »Gut. Sag mir Bescheid und dann vereinbar halt einen Termin mit dem BR. Aber nicht mehr vor meinem Urlaub.«

»Alles klar. Wann genau fahrt ihr los? Donnerstag?«

»Nein, Mittwochnachmittag noch. Dreizehn Uhr bin ich hier weg, sonst macht Lucy mich einen Kopf kürzer. Sie will zum Abendessen in einem Restaurant an der Promenade sitzen.« Wir grinsen uns an, denn wir wissen beide, dass Lucy ihre Drohung wahr machen würde. Da es jedoch der erste Urlaub seit ihren Flitterwochen ist, wäre Hagens Liebste verständlicherweise zu Recht angepisst, sollte die Arbeit für eine verspätete Abfahrt nach Italien sorgen. »Sonntagabend sind wir zurück.«

»Gut, weiß ich Bescheid.« Sicherheitshalber blocke ich den Mittwoch im Terminkalender, damit er auch wirklich pünktlich in seinen Kurzurlaub starten kann. Als einziger aktiver Geschäftsführer hat er davon sowieso viel zu wenig, aber es war auch nicht geplant, dass er so plötzlich schon die Leitung übernimmt.

Jakob und Hagen haben die Firma vor knapp drei Jahren geerbt, als ihr Vater nach einem Herzinfarkt viel zu früh von uns gegangen ist.

Der Schock saß tief, aber inzwischen läuft alles wieder in geordneten Bahnen und Hagen hat sich an seinen neuen Job als Geschäftsführer der Brinkmann Business Services GmbH gewöhnt. Und ich mich daran, dass er jetzt mein Boss ist, denn auch das war so nicht geplant.

Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren die besten Freunde. In der fünften Klasse haben wir uns kennengelernt und sind seitdem durch dick und dünn gegangen. Wir haben zusammen Abi gemacht und dann an der gleichen Uni BWL studiert. Ich war als Kind öfter mit seiner Familie im Urlaub als mit meiner eigenen. Selbst seine Frau hat er durch mich kennengelernt, denn Lucy war im Studium meine Mitbewohnerin. Daher haben wir – obwohl Hagen eine eigene Wohnung hatte – anderthalb Jahre quasi zusammengewohnt. Ich war sein Trauzeuge und er meiner.

Trotzdem wäre es uns nie in den Sinn gekommen, dass ich für ihn arbeite, schließlich habe ich eher aus der Not heraus vor vier Jahren als Assistent für Hermann Brinkmann hier angefangen. In meinem alten Job konnte ich nicht mehr bleiben, sondern brauchte dringend einen Neuanfang. Hagens Vater hat nicht eine Sekunde gezögert und mir die freie Stelle angeboten.

Als er achtzehn Monate später gestorben ist, konnte ich Hagen nicht einfach hängen lassen, also bin ich geblieben.

Anfangs hatten wir ziemliche Probleme, Freundschaft und Arbeit zu trennen. Er hat getrauert und war mit der plötzlichen Verantwortung für die Firma überfordert, wollte nach außen hin jedoch souverän wirken. Ich hingegen hatte Schwierigkeiten, ihn als sein bester Freund zu trösten und gleichzeitig als sein Assistent seinen Frust abzubekommen.

Mittlerweile haben wir uns zusammengerauft und es läuft fantastisch. Wir sind ein eingespieltes Team, verstehen uns nahezu blind, was uns beiden die Arbeit ungemein erleichtert. Daher ist es auch kein Problem, dass er mal für ein paar Tage nicht im Büro ist. So schaffe ich es, die Verträge Korrektur zu lesen, ein paar Präsentationsunterlagen für anstehende Akquisegespräche vorzubereiten und endlich mal Hagens Ablage leer zu räumen. Ich wette, dass ich dort einige Dokumente und Akten finde, die ich vermisse.

Tatsächlich läuft der Rest der Woche ziemlich unspektakulär ab. Am Freitagnachmittag räume ich gerade meinen Wochenendeinkauf weg, als mein Handy klingelt. In der Erwartung, dass es ein Werbeanruf ist, schließlich ist Hagen im Urlaub und alle anderen Freunde habe ich vor Jahren schon vergrault, lasse ich die Mailbox rangehen.

Keine Minute später klingelt mein Handy jedoch erneut, sodass mein Kaffee wohl doch warten muss und ich die Kanne in die Spüle stelle. Genervt blicke ich auf das Display und als ich sehe, wer mich da so dringend erreichen will, nehme ich den Anruf eilig an.

»Lucy?«

Für gewöhnlich ruft Hagen mich an oder schleift mich zum Essen zu ihnen, daher wappne ich mich für das Schlimmste. Lucy schnieft, was meine Befürchtung bestätigt, dass etwas passiert sein muss. »Hallo, Vince. Hagen liegt im Krankenhaus. Er hatte einen Unfall.«

»Was ist passiert? Geht's dir gut?« Mit angehaltenem Atem lasse ich mich auf einen Küchenstuhl fallen.

»Mir geht es gut. Er ist mit so einem dämlichen Bananenboot gefahren. Du weißt schon, diese riesigen aufblasbaren Dinger, die von einem Motorboot durchs Wasser gezogen werden?«

»Ja, hab ich schon mal gesehen.«

»Mit so was ist er gefahren. Der Typ am Strand war nervig und hat nicht lockergelassen und Hagen hatte so gute Laune, weil wir endlich mal im Urlaub sind, dass er sich hat überreden lassen.«

Ich nicke, auch wenn sie es nicht sehen kann, denn das passt absolut zu meinem besten Freund. »Und das Bananending ist mit dem Boot kollidiert?«

»Nein, aber sie waren echt schnell und eine Welle hat sie dann umgeworfen. Wir haben das die ganze Zeit schon beobachtet. Offenbar ist genau das der Spaß dabei. Aber...« Lucy fängt an zu weinen, was es mir schwer macht, sie zu verstehen. »Hagen ist so heftig aufs Wasser geknallt, dass er sich mehrere Rippen gebrochen und den Rücken geprellt hat. Außerdem befürchten sie, dass er eine Gehirnerschütterung hat.« Sie schnieft laut. »Er kriegt kaum Luft. Liegt im Moment noch auf der Intensivstation. Die Ärztin sagt, es ist nicht akut lebensbedrohlich, aber schlimm genug. Sie wollen ihn beobachten, bevor sie ihn vielleicht Sonntag oder Montag in ein Krankenhaus nach Deutschland fliegen können. Je nachdem, wie es ihm dann geht.«

»Scheiße.«

»Ja. Kannst du laut sagen. Unser erster Urlaub seit Jahren und mein Mann verbringt ihn auf der Intensivstation. Zu allem Überfluss muss ich nun das Auto zurückfahren, während er sich ausfliegen lässt.«

Ich muss unweigerlich über Lucys sarkastische Art, mit der Situation umzugehen, schmunzeln. »Was kann ich tun? Ich kann mit dem Zug zu dir kommen und das Auto fahren.«

»Unsinn. Ich schaffe das schon. So kann ich wenigstens die Musik hören, die mir gefällt.« Sie seufzt. »Aber könntest du mit Jakob reden? Dafür sorgen, dass er für Hagen einspringt? Ich weiß, dass das nicht optimal und er völlig unvorbereitet ist, aber er ist nun mal sein Stellvertreter.«

»Kein Problem. Ich rede mit ihm, sobald wir aufgelegt haben«, verspreche ich, auch wenn ich noch keinen blassen Schimmer habe, wie ich die Sache angehen soll. »Hast du seine Mutter schon informiert?«

»Noch nicht. Ich will erst noch mal mit der Ärztin sprechen, bevor ich Frauke anrufe. Du weißt, dass sie es nicht gut aufnehmen wird, und mir ist es lieber, ihr erst Bescheid zu geben, wenn ich all ihre Fragen beantworten kann.«

»Okay, verstehe. Dann übernehme ich Jakob und du ihre Mutter.« Auch wenn ich absolut keine Lust habe, mich gleich noch mit Hagens kleinem Bruder abzugeben, ist es allemal besser, als ihre Mutter zu übernehmen, die seit dem Tod ihres Mannes extrem mit einer Depression zu kämpfen hat. Mir ist klar, dass sie nichts dafür kann und es nicht fair ihr gegenüber ist, aber ich halte es nie länger als ein paar Minuten mit ihr in einem Raum aus, ohne selbst wieder in dieses schwarze Loch gezogen zu werden. »Mach dir keinen Kopf, wir kriegen das schon hin«, ermutige ich Lucy und mich gleichermaßen.

»Danke, Vince. Ich hoffe, dass Hagen in einigen Tagen oder einer Woche zumindest wieder so fit sein wird, dass er Jakob telefonisch helfen kann, aber die Ärztin hat schon prophezeit, dass er mehrere Wochen im Bett bleiben muss, weil er sich vor Schmerzen kaum wird bewegen können.«

»Oh Mann, das wird ihm nicht gefallen. Aber die Hauptsache ist doch, dass er wieder gesund wird. Alles andere findet sich schon.«

Die Achterbahn der Gefühle lässt sie wieder schniefen, aber ich kann es vollkommen nachvollziehen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn das gewohnte Leben von einer Minute auf die andere auf den Kopf gestellt wird. »Du hast recht.« Sie atmet ein paarmal hörbar durch. »Sagst du mir Bescheid, wie Jakob reagiert? Ob er zustimmt? Ich will gleich wieder zum Krankenhaus zurück, Hagen zumindest Waschzeug bringen.«

»Mache ich«, versichere ich sofort. »Halt mich auf dem Laufenden, wie es ihm geht und wann ihr zurückkommt, ja?«

»Natürlich. Sobald ich weiß, wann sie ihn ausfliegen, plane ich meine Rückfahrt.«

»Gut. Halt die Ohren steif.«

Lucy schnaubt. »Was anderes wird mir nicht übrigbleiben.«

»Auch wieder wahr. Na gut, ich fahre dann mal zu Jakob und werde die Bombe platzen lassen.«

Sie kichert. »Warum habe ich gerade das Gefühl, dass dir das auch ein bisschen Spaß machen wird?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest«, entgegne ich empört. Jakob und ich werden nie beste Freunde werden und unter normalen Umständen hätte ich tatsächlich ein wenig Freude daran, ihn aus der Fassung zu bringen. Aber ich bin kein Unmensch. Was ihm bevorsteht, wird kein Zuckerschlecken. Für keinen von uns, da ich derjenige bin, der in den nächsten Wochen mit ihm zusammenarbeiten muss.

»Ach komm, ihr beide seid wie Feuer und Wasser«, antwortet Lucy amüsiert, bevor sie ernst wird. »Ich habe zwar nie verstanden, wieso ihr euch so spinnefeind seid, aber ihr werdet das Kriegsbeil für ein paar Wochen begraben müssen. Er wird dich brauchen, Vince. Und die Firma ihn.«

Seufzend lehne ich mich zurück und lasse den Kopf in den Nacken fallen. »Keine Sorge. Wir werden uns zusammenreißen und das schon hinkriegen.«

»Na gut. Ich vertraue dir.« Ich höre ihr an, dass sie das Telefonat beenden und zu ihrem Mann zurückwill.

»Ich melde mich, wenn ich mit Jakob gesprochen habe, ja?«

»Alles klar. Danke.«

»Jederzeit, Liebes. Sag Hagen gute Besserung.«

Als wir aufgelegt haben, verabschiede ich mich von meinem Kaffee, ziehe Schuhe und Jacke an und mache mich dann auf den Weg zu Jakobs Wohnung. Kurz überlege ich, ihm zu schreiben und ihn vorzuwarnen, dass ich unterwegs bin, aber vermutlich würde das einen Rattenschwanz an Fragen nach sich ziehen und am Ende macht er sich dann nur noch mehr Sorgen, daher verwerfe ich die Idee.

Dafür gehe ich auf der Fahrt zu Jakobs Wohnung in Gedanken sämtliche Möglichkeiten durch, wie ich die schlechten Nachrichten formulieren soll, doch als ich vor seiner Wohnungstür stehe, wird mir klar, dass es keine wirklich guten Worte für das gibt, was er gleich verdauen muss.

Unweigerlich frage ich mich, ob die Polizisten, die damals an meiner Tür geklingelt haben, ähnlich nervös waren. Sicherlich waren sie zumindest darin geschult, wie man Leuten schlimme Nachrichten überbringt, und hatten auch die Möglichkeit, die Unterstützung durch einen Seelsorger in Anspruch zu nehmen. Jakob und ich müssen da jetzt allein durch, daher atme ich noch mal tief durch und drücke auf den Klingelknopf.

Kapitel 2

»Ja?«, ertönt seine Stimme aus der Gegensprechanlage und ich lehne mich automatisch vor.

Mir wird flau im Magen, denn diese Situation wühlt so viele böse Erinnerungen hoch, dass ich am liebsten umdrehen und wieder nach Hause fahren will. Da das nicht geht, versuche ich, stark zu bleiben. »Hallo. Ich bin's. Vincent. Kann ich bitte raufkommen?«

Einen Moment lang herrscht Stille, dann scheint Jakob seine Stimme wiederzufinden. »Vincent?«

»Ja«, antworte ich geduldig. Ich war zuletzt bei seinem Einzug vor sechs Jahren hier und kann daher verstehen, warum er überrascht ist, trotzdem möchte ich es einfach nur hinter mich bringen.

»Was willst du denn?«

»Erzähle ich dir gleich. Lässt du mich bitte rein?«

Geraschel ist zu hören, dann summt der Türöffner und ich atme noch mal tief durch, bevor ich die Treppe in den zweiten Stock erklimme. In Jogginghose und T-Shirt steht Jakob in der offenen Tür und starrt mich misstrauisch aus blauen Augen und mit zusammengezogenen Brauen an.

»Hallo«, grüße ich, wobei mein Herz heftig klopft. Ich weiß nicht, ob er mir meine Nervosität ansieht oder sich denken kann, dass ich nicht auf ein Kaffeekränzchen vorbeikomme, denn er schluckt schwer und greift Halt suchend nach der Tür.

»Was ist passiert?« Seine Stimme zittert, während er sich regelrecht an das Holz klammert.

»Gehen wir besser rein«, sage ich und hoffe, dass ich beruhigender klinge, als ich mich fühle. Er nickt zumindest und lässt mich in den Flur, bevor er die Tür schließt und sich dagegen lehnt.

»Also?«

»Dein Bruder hatte im Urlaub einen Unfall.« Ich habe kaum ausgesprochen, da wird Jakob kreidebleich.

»Oh Gott, nein«, keucht er und beginnt zu zittern, sodass ich automatisch eine Hand an seinen Oberarm lege, für den Fall, dass ihm die Beine versagen. »Ist er...?«

»Nein, nein, keine Sorge«, beeile ich mich zu versichern. »Aber er ist verletzt und liegt im Krankenhaus.«

»Wie schlimm ist es? Was ist passiert?«

Ich sehe mich kurz um und orientiere mich, dann dirigiere ich Jakob ins Wohnzimmer. Es ist chaotisch, aber wir finden Platz auf dem Sofa, sodass ich ihm von Lucys Anruf und dem Gesundheitszustand seines Bruders berichten kann. Nachdem ich ihm mehrmals versichert habe, dass Hagen den Unfall überleben wird, beruhigt Jakob sich etwas. Zwar bin ich mir nicht sicher, wie er die anderen Neuigkeiten aufnehmen wird, trotzdem mache ich es kurz und schmerzlos.

»Die Firma braucht einen Geschäftsführer, bis Hagen wieder fit genug zum Arbeiten ist.«

Jakobs Augen werden riesig. »Oh Gott, du meinst doch wohl hoffentlich nicht mich.«

»Du bist Gesellschafter und Hagens Stellvertreter«, verdeutliche ich schulterzuckend.

»Ja, aber doch nur auf dem Papier!« Jakob springt vom Sofa und geht hektisch vor dem Couchtisch auf und ab. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen muss.«

»Es gibt Notfallordner mit allen wichtigen Verträgen und Vorgängen. Im Moment steht nichts Akutes an, also hast du etwas Zeit dich einzuarbeiten. Wenn Hagen zurück in Deutschland ist, kannst du ihn sicher anrufen und –«

»Du verarschst mich, oder?«, fällt Jakob mir ins Wort. »Ich kann doch nicht einfach so die Geschäftsleitung übernehmen. Ich studiere noch!«

Verständnisvoll nicke ich, denn seine Panik ist absolut nachvollziehbar und auch berechtigt. Jedoch ändert sie nichts an der Tatsache, dass die Firma nicht wochenlang ohne Führung sein kann. »Ich weiß nicht, wie schnell gebrochene Rippen heilen, aber bis zum neuen Semester ist Hagen bestimmt wieder fit genug.«

Jakob hält inne und starrt mich einen Moment lang blinzelnd an. Dann schüttelt er den Kopf. »Ich kann das nicht, Vincent.«

»Das ist okay«, versichere ich immer noch in beruhigendem Tonfall. »Du lernst es. Dein Bruder hatte damals auch keine wirkliche Ahnung und hat es gemeistert.«

»Aber ich bin nicht mein Bruder. Ich bin kein Einserschüler. Ich kann nicht einfach einen Ordner lesen und weiß, was ich als Geschäftsführer machen muss.« Seine Stimme wird mit jedem Wort lauter, aber auch das Zittern nimmt zu. Er ist aufgebracht, wirkt aber eher verzweifelt als wütend.

»Beruhig dich. Schlaf eine Nacht darüber, dann sieht die Welt schon ganz anders aus.«

»Als ob das hilft. Wir wissen beide, dass ich nicht Manns genug dafür bin, Geschäftsführer zu sein.«

Es ist völlig natürlich, dass er unsicher und überfordert ist, aber mir gefällt es nicht, dass er sich selbst runtermacht. Nur weiß ich nicht genau, wie ich ihn aus der Reserve locken kann. Die Motivation, für die Firma einzuspringen, muss von ihm kommen, sonst macht er es im besten Falle nur halbherzig und das reicht nicht.

»Na gut, wenn du meinst«, sage ich schließlich seufzend, woraufhin er argwöhnisch und auch ein wenig herausfordernd die Augen zukneift, was mich wiederum hoffen lässt, dass er doch nicht so schnell aufgeben wird. »Ich habe keine Ahnung, wie es in einer führerlosen Firma so läuft, aber wir werden es herausfinden, hm? Vermutlich ist es am besten, wir machen alles so wie bisher und verschieben wichtige Entscheidungen? Ein paar Wochen lang wird das schon irgendwie gehen, richtig?«

Jakob presst die Lippen aufeinander und läuft ein paarmal vor dem Fernseher auf und ab. Die Hände in die Hüften gestemmt und mit einem tiefen Seufzer Richtung Zimmerdecke bleibt er schließlich stehen. »Vermutlich kriegst du alles mit, was die Geschäftsführung betrifft?« Als ich nicke, tut er es mir gleich. »Du musst mir helfen.«

»Kein Problem.« Die Entscheidungen muss er letztlich selbst treffen und auch die Personalführung kann ich ihm nicht abnehmen, aber ich kann ihm sämtliche Informationen liefern, die er für fundierte Beschlüsse braucht.

»Okay, ich versuche mein Glück.«

»Wirklich?« Erleichtert atme ich auf. »Sehr gut. Ich bin mir sicher, dass du das gut hinbekommst.«

»Wir werden sehen. Wann muss ich im Büro sein?«

»Montagmorgen wäre ganz gut.«

»Ja, ähm... stimmt, klar. Und... sind diese Notfallordner im Büro oder bei Hagen zu Hause? Ich habe einen Schlüssel zu ihrer Wohnung.«

»Die Ordner sind im Büro.« Ich stehe auf und ziehe mein Handy hervor. »Ich schicke dir Hagens Kalender für nächste Woche. Die meisten Termine können wir sicherlich verschieben, aber vermutlich nicht alle.«

»Ähm... okay. Gut.« Jakob atmet immer noch schwer und läuft wieder im Wohnzimmer herum, aber immerhin hat er sich auf seine neue Aufgabe eingelassen. »Wie viele Leute arbeiten im Moment für die Firma?«

Überrascht, dass er nicht mal das weiß, ziehe ich die Augenbrauen hoch. »Einundvierzig in sechs Abteilungen plus Geschäftsleitung. Ich schicke dir das Organigramm.«

»Danke.« Sichtlich verzweifelt fährt er sich durch seine dunkelbraunen Haare, die nun noch chaotischer in alle Richtungen abstehen und definitiv mal einen Schnitt vertragen könnten. »Weiß meine Mutter schon Bescheid?«

»Lucy will sie anrufen.«

»Okay, besser sie als ich.« Er schüttelt den Kopf und atmet tief durch. »Was noch?«

»An deiner Frisur müssen wir etwas ändern.«

Er fährt zu mir herum und reißt die Augen auf. »Was? Wieso? Was ist denn damit?«

»Du hast keine«, offenbare ich, woraufhin er nach Luft schnappt.

»Wie bitte?« Seine Stimme überschlägt sich beinahe und sein Blick wandert auf meinen Kopf, wobei er die Augenbrauen zusammenzieht, was mich wiederum anpisst, denn an meinen Haaren gibt es absolut nichts auszusetzen. Sie sind schwarz, an den Seiten kürzer geschnitten als das Deckhaar, das ich ordentlich kämme und style, im Gegensatz zu ihm und seinem... Vogelnest.

Skeptisch beobachte ich ihn einen Moment. »Meinst du es wirklich ernst? Die Firma zu leiten, meine ich?«

Er zögert, dann schluckt er. »Was bleibt mir anderes übrig?«

»Du kannst Nein sagen«, erinnere ich ernst. »Du wirst dich dafür rechtfertigen und die Entscheidung mit deinem Gewissen ausmachen müssen. Aber letztlich kann dich niemand zwingen. Nur, wenn du es machst, dann richtig.«

Ein Blick in Jakobs Augen zeigt mir, dass ich zu ihm durchgedrungen bin. »Du hast recht«, murmelt er und nickt vor sich hin. »Ich mach's. Keine Ahnung, was ich tun muss, aber ich mach's.«

»Sehr gut.« Ich muss zugeben, diese Entschlossenheit steht ihm gut. Im Gegensatz zu dem Wirrwarr auf seinem Kopf. »Wenn du es ernst meinst, musst du zumindest auch wie ein Geschäftsführer aussehen.«

»Ich hab mich heute nur noch nicht gekämmt«, entgegnet er trotzig und versucht, die abstehenden Strähnen zu bändigen. »Ich hatte keinen Besuch erwartet.«

Seufzend lehne ich mich gegen ein Sideboard. »Am Montag ist Leitungskreis. Hast du davon schon mal gehört?«

Seine Augen zucken hin und her. »Gehört ja, aber ich weiß nicht, was da passiert.«

Das dachte ich mir. Er hat wirklich keinen blassen Schimmer vom Tagesgeschäft, was meine nächsten Wochen verdammt anstrengend machen wird. »Kein Problem«, sage ich jedoch, denn er sieht aus, als würde er jeden Moment wieder in Panik geraten. »Ich geb dir einen kurzen Abriss: Jeden Montag treffen sich alle Abteilungsleiter mit der Geschäftsführung und besprechen mögliche Probleme und die Ziele für die kommende Woche. Einmal im Quartal werden außerdem die jeweiligen Budgets durchgesprochen.«

Sichtlich überfordert nickt Jakob. »Probleme, Ziele, Budgets, okay. Und was ist meine Aufgabe dabei?«

»Diesen Montag wirst du dich erst mal vorstellen und dir vermutlich einen Überblick verschaffen müssen, wie es in den einzelnen Abteilungen läuft. Ich kann dir die Protokolle der letzten Sitzungen schicken, dann kannst du dich morgen und übermorgen da schon mal einlesen.« Ich wecke mein Handy wieder aus dem Stand-by und speichere mir eine Erinnerung dafür.

»Okay.«

Angesichts seines resignierten Tonfalls sehe ich auf. »Hey, du schaffst das schon. Niemand erwartet von dir, dass du deinen Bruder ersetzt.«

Zu meiner Überraschung lacht Jakob. »Ja, das wäre utopisch, hm?« Er klingt eher verbittert, daher war das eindeutig nicht scherzhaft gemeint, doch ehe ich etwas dazu sagen kann, redet er weiter. »Egal, dann lese ich die Protokolle und schreibe mir auf, was die Abteilungsleiter zu sagen haben, und berichte Hagen, wenn er wieder fit genug ist, damit er auch auf dem neusten Stand ist. Das sollte ich schon hinkriegen.«

»Ich sitze mit in dem Meeting und schreibe Protokoll«, erkläre ich sicherheitshalber. »Du solltest dir natürlich trotzdem Notizen machen, aber du musst nicht alles mitschreiben. Das ist mein Job.«

»Stimmt, du bist dann wohl jetzt meine Sekretärin.« Ein gemeines Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich bereue es, ihm überhaupt meine Unterstützung angeboten zu haben.

»Ach, fick dich doch«, knurre ich bereits auf dem Weg aus dem Wohnzimmer. Eigentlich ist es überhaupt nicht meine Art, jemanden dermaßen zu beleidigen, aber Jakob hatte schon immer irgendwas an sich, das mich in Sekundenschnelle auf die Palme bringt. Außerdem ist es Freitagabend und ich bin Lucys Bitte nachgekommen, habe ihn überzeugt und eigentlich bereits seit Stunden Feierabend. Soll er doch zusehen, wie er ab Montag klarkommt.

»Warte, wo willst du hin? Vincent!« Ich schaffe es bis zur Wohnungstür, da schließt er seine Finger um meinen Unterarm und hält mich fest. »Bitte, warte. Es tut mir leid, dass ich dich provoziert habe.«

»Du brauchst meine Hilfe«, erinnere ich, woraufhin er eilig nickt.

»Ich weiß. Und ich bin dir unglaublich dankbar, dass du deine Zeit opferst. Du hättest jetzt bestimmt Besseres zu tun, als über die Arbeit zu reden.«

Eigentlich nicht, aber das muss er nicht wissen. »Verdammt richtig.«

Er lächelt leicht, was eindeutig gezwungen ist. »Also, hast du wieder... einen Freund?«

»Das geht dich absolut nichts an!«, stelle ich klar, denn auf keinen Fall bringen wir diese Unterhaltung auf eine persönliche Ebene. Er mag der Bruder meines besten Freundes sein, aber das heißt nicht, dass Jakob und ich auch befreundet sind. Eigentlich kenne ich ihn kaum noch, da wir uns in den letzten Jahren selten mal länger als ein paar Minuten gesehen haben. Vermutlich konnte ich deswegen ignorieren, wie nervtötend er ist. Die nächsten Wochen werden garantiert verdammt lang.

»Nein, natürlich nicht. Tut mir leid. Ich wollte nur... nett sein.« Seufzend lässt er den Kopf hängen. »Tut mir wirklich leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Das alles hier ist nur so furchtbar surreal. Ich meine, klar, ich springe nur vorübergehend ein. Hagen kommt zurück und muss sich dann um das ganze Chaos kümmern, das ich unweigerlich anrichten werde. Aber es wäre mir lieber, wenn ich die Firma dabei nicht komplett an die Wand fahre. Mit Schmackes. Auch wenn das sicherlich alle von mir erwarten werden...« Er atmet tief durch, dann blickt er verzweifelt zu mir auf. »Ich habe keine Ahnung, was ab Montag auf mich zukommt, und brauche jemanden an meiner Seite, der weiß, was er tut. Und was ich tun muss. Ich... brauche deine Hilfe, Vince.«

Er ist die nervigste Person auf dem ganzen Planeten, aber verdammt, ich kann ihn nicht hängen lassen. Das würde Hagen mir nie verzeihen. Und ich mir dummerweise auch nicht. »Ich versuche, für morgen noch einen Friseurtermin zu bekommen«, sage ich daher, woraufhin er überrascht wirkt. Offenbar war das nicht das, was er erwartet hat, aber so wie er jetzt rumläuft, kann er auf keinen Fall Chef spielen. »Hast du einen Anzug?«

Jakob blinzelt hektisch, dann runzelt er die Stirn. »Ähm... ja?«

»Sicher?«

»Ich habe einen Anzug.«

»Passt er dir und ist er gereinigt?«, hake ich nach, denn gerade unsere beiden älteren Abteilungsleiter werden ihn sonst nicht ernst nehmen. Wenn überhaupt, aber das Problem gehen wir an, sollte es sich stellen.

Als Jakob sich umdreht und in das Zimmer links vom Flur abbiegt, folge ich ihm. Es ist sein Schlafzimmer und ich habe kaum einen Schritt in den Raum gemacht, da bleibe ich wie angewurzelt stehen. Während Jakob eine Schranktür öffnet, blicke ich mich schockiert um. Ich habe keine Ahnung, wofür er den Schrank nutzt. Seine Kleidung lagert er dort wohl kaum, angesichts der Klamottenhaufen, die sich im ganzen Zimmer verteilen.

»Geht der?«, fragte er und zieht tatsächlich einen Anzug hervor. Allerdings sehe ich auf den ersten Blick, dass ihm der vor Jahren mal gepasst hat.

»Die Jacke kriegst du doch nie im Leben über die Schultern«, sage ich amüsiert. »Wann hattest du den denn an? Zu deiner Jugendweihe?«

Jakob presst die Lippen aufeinander und hängt den Bügel wortlos wieder weg. »Ansonsten habe ich nur den von Papas Beerdigung, aber ich hab's nie geschafft, ihn in die Reinigung zu geben.« Seufzend schließt er die Schranktür. »Ich kaufe morgen einen neuen. In der Stadt kriege ich doch sicher irgendwo einen, oder? Ich meine, die anderen habe ich ja auch im normalen Klamottenladen gekauft, da wird es doch immer noch welche geben. In irgendeiner Businessabteilung? Ich frage Felix, ob er mitkommt und mich berät.«

Felix ist Jakobs bester Freund, seitdem die beiden in der gleichen Nacht geboren wurden und ihre Mütter hinterher im gleichen Zimmer lagen. Der Typ ist ganz okay, aber er ist ein Chaot mit dem Stilgefühl eines Neandertalers. Zweifelnd, dass die beiden zusammen etwas Passendes kaufen, mustere ich Jakob noch mal, bevor ich über meinen Schatten springe. »Ich bin morgen früh um zehn Uhr hier.«

»Du musst nicht auch noch deinen Samstag für mich opfern.«

Offenbar muss ich das, aber da ich ihn nicht schon vor Montag demotivieren will, zucke ich nur mit den Schultern und wende mich zum Gehen. Jakob folgt mir.

»Zehn Uhr, wach und angezogen«, wiederhole ich an der Wohnungstür angekommen. »Und gekämmt.«

Er nickt. »Danke, Vince. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

Mit der Hand auf der Türklinke halte ich inne, beschließe dann jedoch, den Spitznamen hinzunehmen, und ziehe die Tür auf.

»Hab noch einen schönen Abend«, sagt er leise. »Also, was davon übrig ist.«

Schmunzelnd über sein Gestammel sehe ich über die Schulter. Er steht an den Türrahmen gelehnt, hat die Arme um sich geschlungen und sieht durch und durch erschöpft aus. »Bis morgen.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen und diesmal ist es echt. »Bis dann.«

Mit dem mulmigen Gefühl, dass da mehr auf mich zukommt, als ich im Moment sehe, mache ich mich auf den Heimweg.

Kapitel 3

Jakob steht schon am Straßenrand bereit, als ich am nächsten Morgen wie vereinbart um zehn Uhr vorfahre. Er blickt von seinem Handy auf und stößt sich von der Laterne ab, an der er lehnt. Er sieht müde aus, aber zumindest ist er pünktlich.

Ich halte an der Bordsteinkante, Jakob öffnet die Beifahrertür und beugt sich ins Wageninnere. »Hey. Zu welchem Laden fahren wir? Nur, falls wir uns verlieren.«

Verwirrt runzle ich die Stirn. »Was? Wie sollen wir uns denn verlieren?«

Eindeutig bereits jetzt schon frustriert, atmet er tief durch. »An einer roten Ampel, zum Beispiel.«

»Ich hatte nicht vor, dich an einer roten Ampel auszusetzen«, antworte ich halb amüsiert, halb irritiert, woraufhin er wiederum verwirrt aussieht.

»Du willst mich fahren?«

»Ja.«

»Bringst du mich hinterher auch nach Hause?«

»Ja, natürlich.« Ich habe keine Ahnung, wieso er sich so ziert, aber er steigt endlich ein, also schüttle ich nur innerlich den Kopf und deute auf die Becherhalter in der Mittelkonsole. »Der rechte ist für dich. Ich weiß nicht, wie du ihn trinkst, daher sind Kaffeesahne und Zucker im Handschuhfach. Nicht kleckern.«

Jakob ist gerade dabei, sich anzuschnallen, und hält in der Bewegung inne. »Du hast mir Kaffee besorgt?«

»Ich habe mir Kaffee besorgt«, korrigiere ich mittlerweile um Geduld bemüht, während ich mich in den fließenden Verkehr einfädle. »Und weil ich Anstand habe, habe ich dir einen mitgebracht.«

»Das letzte Mal durfte ich in deinem Auto nichts essen oder trinken.«

Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal bei mir mitgefahren ist. Das muss gut und gerne zehn Jahre her sein. »Da warst du ein Teenager und wolltest fettiges Fast Food auspacken.«

Er murmelt irgendwas vor sich hin, öffnet dann aber das Handschuhfach und holt mindestens fünf Kaffeesahnedöschen hervor. Ich bereue es schon, ihm den Kaffee mitgebracht zu haben, aber die Rotphase reicht gerade so, dass der Pappbecher randvoll ist und Jakob den Plastikdeckel wieder drauf drücken kann, bevor ich anfahren muss.

»Wie willst du den denn jetzt kleckerfrei trinken?«, knurre ich, doch er ignoriert mich und wühlt erneut im Handschuhfach herum. Verdammt, wenn er da jetzt noch Zucker reinkippt, saut er mir das ganze Auto ein.

Er seufzt. »Entspann dich, ich hab hier gerade... ah, da.« Mit einem triumphierenden Grinsen zieht er einen in Folie verpackten Trinkhalm hervor, der sicher mal an irgendeinem Saftpäckchen geklebt hat und schon ewig da drin liegen muss. »Der ist sogar noch aus Plastik«, stellt Jakob eindeutig amüsiert fest. Nachdem er den Trinkhalm ausgepackt hat, beugt er sich vor, steckt ihn in die Öffnung des Deckels und schlürft seinen Kaffee tatsächlich mit diesem uralten Plastikhalm.

Ich schüttle nur den Kopf und ordne mich in die Spur Richtung Innenstadt ein. Immerhin kleckert er nicht und ist beschäftigt.

Als er genug abgetrunken hat, um den Becher in die Hand nehmen zu können, setzt er sich damit zurück und zieht sein Handy wieder aus der Hosentasche. »Danke übrigens für die Protokolle. Hast du die zu Hause auf deinem privaten Rechner gespeichert oder hast du einen Dienstlaptop?«

Ich vermute, dass er diese Frage im Hinblick auf den Datenschutz stellt, was mich tatsächlich beeindruckt, denn ich hätte nicht erwartet, dass er an so was denkt. »Weder noch. Ich war vorhin kurz im Büro.«

Einen Moment lang herrscht Stille, dann räuspert Jakob sich. »Extra wegen der Protokolle oder weil du samstags generell ins Büro gehst?«

»Nein, am Wochenende arbeite ich nicht.« Zumindest nicht regelmäßig. »Aber es war keine große Sache. Liegt doch auf dem Weg zu dir.«

»Okay. Danke. Tut mir leid, dass ich dir Umstände mache.«

»Tust du nicht«, antworte ich automatisch, auch wenn es genau genommen nicht ganz die Wahrheit ist. Da er jedoch der Bruder meines besten Freundes und Geschäftsführer der Firma ist, von der ich mein Gehalt bekomme, ist es schon okay.

Jakobs leises Schnauben zeigt mir, dass er mir nicht glaubt, was ich aber ignoriere. Auch weil ich gerade ins Parkhaus der Einkaufspassage biege und versuche, dabei nicht – wie bereits viele andere vor mir – die beiden mordsmäßigen, mit Lackspuren in sämtlichen Farben dekorierten Pfeiler zu touchieren. Ich gehe sehr gern hier einkaufen, eigentlich immer, wenn ich etwas anderes als Lebensmittel brauche, aber wer auch immer diese viel zu enge Kurve konzipiert hat, sollte definitiv keine weiteren Parkhäuser entwerfen.

Jakob scheint es ähnlich zu sehen, denn er schüttelt den Kopf. »Wer sich diese Einfahrt ausgedacht hat...«, murmelt er und nimmt mir den Parkschein aus der Hand, während ich die Schranke passiere.

Es scheint rammelvoll zu sein, so lange, wie ich nach einem Parkplatz suchen muss. Auf dem offenen Oberdeck werde ich nach gut zehn Minuten endlich fündig.

»Ich bin immer noch der Meinung, dass ich es auch allein geschafft hätte, mir 'nen Anzug zu kaufen«, brummelt Jakob auf dem Weg zur Ladenzeile.

Vielleicht hat er damit recht, mir ist es trotzdem lieber, dabei zu sein, nur um sicherzugehen, dass er in den nächsten Wochen passend gekleidet ist. »Du wirst mehr als einen Anzug brauchen«, verdeutliche ich sicherheitshalber.

Er blickt mich mit einem ganz eindeutig gespielt schockierten Ausdruck an. »Wirklich? Ich kann nicht wochenlang den gleichen Anzug tragen? Das habe ich ja gar nicht gewusst. Wie gut, dass ich dich dabeihabe und du mir das gesagt hast.«

Seufzend schüttle ich den Kopf, denn was will er mit solch kindischem Verhalten bezwecken? Außer mich zu provozieren, was leider funktioniert. »Gern geschehen.«

»Kommst du dann auch mit in die Umkleidekabine und hilfst mir beim Anziehen? Ich krieg das mit den Knöpfen noch nicht so gut hin.«

»Besser du übst es selbst, sonst wirst du das nie allein schaffen. Ich kann nicht jeden Morgen zu dir kommen und dich anziehen.«

Jakob schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Hast du nicht immer darauf bestanden, dass du keine Sekretärin, sondern der persönliche Assistent des Geschäftsführers bist?«

»Bin ich. Aber nicht dein Kindermädchen.«

»Komisch, du benimmst dich aber so.«

Mittlerweile wirklich angepisst bleibe ich stehen und fahre zu ihm herum. »Was willst du eigentlich von mir?«

Er bleibt ebenfalls stehen und verschränkt die Arme vor der Brust. »Das Gleiche könnte ich dich fragen, Mann. Denkst du wirklich, ich bin zu blöd, allein einen Anzug zu kaufen? Oder auch mehrere? Ich bin siebenundzwanzig, verdammt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir Kleidung kaufe.«

Ich will etwas erwidern, weiß aber leider nicht, was, denn er hat verdammt noch mal recht, was mich noch mehr wurmt als seine schnippische Art. »Na schön, dann mach's allein«, schnauze ich schließlich, wütend auf mich selbst, weil ich überhaupt hier bin, und drehe mich um. »Bis Montag.«

»Was zum Teufel!?«, höre ich ihn keuchen, dann umfasst er mein Handgelenk und zerrt mich unsanft zurück. Im nächsten Moment finde ich mich quasi Nasenspitze an Nasenspitze mit ihm wieder und blicke in seine blauen, nun vor Verärgerung funkelnden Augen. »Du spinnst wohl?«, knurrt er und tritt einen Schritt zurück, hält mich aber weiter fest. »Ich wollte selbst fahren, aber nein, ich sollte ja unbedingt in dein Auto steigen. Da lässt du mich jetzt nicht hier stehen, sondern fährst mich nachher gefälligst nach Hause.«

Verflucht, damit hat er ebenfalls recht. Außerdem steht ihm diese selbstbewusste Ansage ziemlich gut. Trotzdem gebe ich ihm die Genugtuung nicht, das zuzugeben, sondern zucke betont gelangweilt mit den Schultern und entziehe ihm meinen Arm. »Okay, dann warte ich eben in irgendeinem Café.«

Jakob schnaubt eindeutig belustigt und verdreht kopfschüttelnd die Augen. »Zeig mir den Klamottenladen, in den du mich bringen wolltest.«

»Na schön. Da drüben ist ein Übersichtsplan.«

»Mach's nicht komplizierter, als es sein muss, Vincent«, brummelt Jakob, dreht sich um und tritt aus dem Durchgang auf den Hauptweg des Centers. »Kommst du?«

»Okay.«

Schweigend gehen wir nebeneinander die Ladenzeile entlang zum Herrenausstatter meines Vertrauens. Als wir vor dem Geschäft stehen, zögert Jakob einen Moment und blickt mich kurz fragend an, bevor er in den Verkaufsraum tritt.

»Was ist los?«, will ich irritiert wissen.

Er schüttelt den Kopf. »Nichts, nur... hier hast du deinen Hochzeitsanzug gekauft, oder?«

Ich muss schlucken, als der Schmerz für einen Moment so präsent ist wie schon eine Weile nicht mehr. »Ich kaufe hier alle meine Anzüge«, bringe ich hervor, woraufhin Jakob mich wieder nur mustert und dann nickt.

Er wendet sich zu den Ständern voller Businesssakkos und -hosen um und bläst die Backen auf. »Okay, ähm... schwarzer Anzug, weißes Hemd, langweilige Krawatte, das ist Hagens Bürooutfit, oder?«

»Ja, genau, aber wir haben da keine so strenge Kleidervorschrift. Ein hellblaues oder hellgrünes Hemd geht auch oder ein dunkelblauer Anzug.«

»Alles klar.«

Gute zehn Minuten gehe ich hinter ihm her von Ständer zu Ständer, während er verschiedene Bügel nimmt und die Kleidung betrachtet, doch entweder kann oder will er sich nicht entscheiden, denn bisher hat er alles zurückgehängt.

»Was hast du denn gegen diesen Anzug?«, will ich schließlich genervt wissen, denn das Slimfit-Modell, das er sich gerade angesehen hat, würde seinen Zweck absolut erfüllen und ihm, weil er ein Hänfling ist, sicher auch gut stehen.

Jakob blickt mich nur kurz an, zuckt mit den Schultern und schaut sich noch mal im Laden um. »Ich denke nicht, dass ich hier was Passendes finde. Ich gucke unten noch mal in dem großen Klamottenladen. Die haben da auch eine Businessabteilung.«