Diesseits vom Jenseits - Gabriela Kasperski - E-Book + Hörbuch

Diesseits vom Jenseits Hörbuch

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Die Recherche zu einem Fall führt Paul Blom, Anwalt für Wirtschafts- und Erbrecht, auf den Zürcher Friedhof Enzenbühl. Dort platzt er nicht nur versehentlich in die Vorbereitungen für eine Beerdigung, sondern wird auch vom Friedhofsgärtner Matteo Lazzarone für den Praktikanten Krasinski gehalten. Statt den Irrtum aufzuklären, erscheint Blom am nächsten Tag zum Dienst. Er taucht ein in den Friedhofsalltag: Jeder Stein, jede Skulptur birgt hier eine Geschichte. Blom freundet sich mit der alten Dame an, die täglich die Gräber ihrer Verflossenen besucht, er entscheidet eigenmächtig, Wildblumen statt Begonien zu pflanzen. Und er gerät mit der jungen Historikerin und Podcasterin Ruby Kosa aneinander. Auch sie stellt Nachforschungen an: Im Grabstein einer wohlhabenden Londoner Familie soll ein Goldschatz versteckt sein! Als zwei angebliche Restauratoren auftauchen und Ruby fast von der einstürzenden Kapellendecke erschlagen wird, wissen Blom und Kosa: Sie sind nicht die einzigen Besucher, die weder zum Trauern noch zur Grabpflege auf den Friedhof kommen. Wer weiß noch von dem Totengold und hat keinerlei Skrupel, die letzte Ruhe zu stören?

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Zeit:7 Std. 16 min

Sprecher:Alexis Kara

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Gabriela Kasperski

Diesseits vom Jenseits

Der erste Fall für Friedhofsgärtner Paul Blom

Kriminalroman

atlantis

Für Franz

Wenn ich denn einst tot bin,

vom Klagen lasse ab.

Statt Rosen und Zypressen

pflanz Gras mir auf mein Grab.

Und wenn es dämmert, schlaf ich

ganz ruhig, bis tief in die Nacht.

So denk an mich, mein Liebstes,

Und wenn nicht, dann vergiss.

 

Ich spüre nicht den Regen.

Ich sehe nicht, ob’s tagt.

Ich höre nicht die Nachtigall,

die in den Ästen klagt.

Niemand wird mich wecken,

die Welt wird blass und geht.

An dich denk ich vielleicht.

Und vielleicht auch nicht.

 

Requiem von Christina Rossetti (1848)

Prolog

Paul Blom betrachtete das handgeschriebene Schild an der Holztür der Friedhofskapelle: »Betreten verboten, bröckelnder Verputz«. Am Morgen war es so wenig da gewesen wie das herausgebrochene Stück Gips, das aus einer Mulde für Bauschutt ragte. Anstatt den Hauptweg wählte er den Pfad in Richtung Sumpfweide. Die Bank lag etwas versteckt hinter dem Stamm, die Baumkrone erhob sich hoch in den Himmel, die Zweige glichen mit Blättern gespickten Lianen, deren Spitzen das Brackwasser des Teichs berührten. Eine winzige geschwungene Brücke führte über einen Bach zu einer Sommerwiese.

Paul setzte sich und band die Wanderschuhe neu. Er amtete den Duft ein, eine Mischung aus frisch gemähtem Gras, Kiefern und Lindenblüten. Allmählich wurde es dunkel.

»Auf dem Friedhof machen die Toten die Nacht zum Tag«, hatte Matteo Lazzarone gesagt. Er war ein Vierteljahrhundert jünger und Pauls Chef.

Paul verspürte einen Hauch. Vernahm ein Rascheln, glaubte ein Blitzen zu sehen, luzide Umrisse. Ein Reh? Die Friedhofskatze? Oder doch eher eine Nebelschwade. Ernsthaft, im Juni? Da war es wieder. Etwas irrlichterte die Büsche entlang bis zum Weinberg. Die Blätter bewegten sich wellenförmig, und auf dem Kiesweg davor lagen säuberlich nebeneinander drei Eierschalen. Sie waren zu groß für Vogeleier, der ganze Friedhof rätselte über ihre Herkunft. Frau Havel vermutete Herrn Traub als Urheber.

»Ein Vandale, der junge Mann«, hatte sie geschimpft.

Herr Traub war fünfundachtzig, Frau Havel neunzig. Sie mochte Wildblumen, er mochte Begonien. Sie besuchte die Grabstätten ihrer verflossenen Liebhaber, er saß neben dem Weinstock seiner Frau. Sie plauderte, er schwieg.

Paul ließ die Eierschalen, wo sie waren, marschierte zum Grünen Heinrich, einem eingezäunten Stück Land mit Holzhütte und Werkzeug, und schulterte einen Spaten. Auf der Allee, die sich terrassenförmig an den Hügel schmiegte, zögerte er. Wieder verspürte er den Hauch. Eiskalt diesmal … Die Toten kommen aus den Gräbern, die verlorenen Seelen rächen sich. Knapp zwei Wochen Friedhof und ich werde zum Dichter, dachte er und ging ein wenig schneller.

Die Gräber links und rechts waren frisch bepflanzt, und die Begonien standen stramm.

Eine einzige Ruhestätte fiel aus dem Rahmen, sie gehörte Leopold, Frau Havels allerbestem Freund, wie sie sagte. Zwischen den zarten, millimeterkleinen Keimen von Wildblumen standen ein halb leeres Glas und eine Flasche: »Servus« prangte auf dem Etikett. Paul glaubte, die Hand zu sehen, wie sie ihm zuprostete, ihm Mut zusprach für den schattigen Weg in Richtung unterer Eingang. Er war auf der einen Seite gesäumt von Bäumen und auf der anderen von einer Wiese mit vereinzelten Grabmälern, die zum Kunstwerk erklärt worden waren und den Sprung in die Ausstellung und damit in die Ewigkeit geschafft hatten. Allesamt waren sie mit Flechten und Moos oder orangen Pilzsporen überzogen, ein verrostetes Kreuz, eine bröcklige Vase, ein keltischer Kreis. Ein schlafendes Kind auf dem Schoß seines Vaters.

Paul verlangsamte seinen Schritt, er hatte sein Ziel erreicht. Es war eine weibliche Skulptur aus verwittertem Stein, mit einem so leeren Ausdruck in den Augen, dass er schauderte, trotz der dreißig Grad.

Als sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte, hob er seine Hände und ließ sie langsam über ihren Rücken gleiten, von oben nach unten und wieder zurück. Dabei fiel ihm ein feines Loch auf, daneben ein zweites und ein drittes. Jemand war vor ihm da gewesen. Die Jagd nach dem Totengold hatte gerade erst begonnen.

Erster Teil

Zehn Tage zuvor

Erstes Kapitel

Wie jeden Morgen steckte Paul Blom den Beutel mit der Asche in die Hosentasche. Er wog weniger als ein halber Apfel. Milu war einundzwanzig Wochen alt geworden, zu jung, um offiziell ein Mensch zu sein. Er und seine Ex-Frau hatten sich die Asche geteilt. Sie hatte ihm ein Video geschickt, in dem ihre erste Tochter und Milus Halbschwester alles in den Wind gepustet hatte, auf einer Segeljacht, irgendwo im Mittelmeer. Milu ist nun ein Windengel geworden, hatte sie geschrieben. Was hast DU gemacht?

Nichts, hätte Paul antworten müssen, ich bin immer noch auf der Suche. Er wusste nicht, wonach. Einem Ort. Nach etwas für immer.

In der Wohnküche ließ er sich einen Espresso heraus und dann gleich noch einen, mit afrikanischen Bohnen, wegen des Dufts. Er trank im Stehen, die Gitarre im Blick, das letzte Geschenk seiner Mutter. Sie lehnte neben dem alten Klappbett an der Wand. Klappbett und Gitarren, das waren die beiden einzigen Dinge, die mit ihm von Dublin hergereist waren. Er faltete die Decke zusammen und rollte das Gestell in den winzigen Wirtschaftsraum. Für Hausbesichtigungen war es einfacher, wenn er nur die Küche bewohnte. Einst waren viele gekommen, ein Acht-Zimmer-Smarthouse in bester Lage, nun nahm das Interesse ab. Der Makler verzweifelte, und nur Paul kannte den Grund, warum die Käufer kurz vor der Unterschrift wieder absprangen.

»Du musst loslassen«, sagte seine Ex-Frau bei ihren seltenen Telefonaten. Sie teilten die Erinnerung an das Blut in der Badewanne. Die Spur auf der Treppe. Ihren Zusammenbruch in der Garage. Paul war nie mehr da unten gewesen, das Auto stand bei jedem Wetter draußen.

Nach einem weiteren Espresso fühlte er sich wach. Er schlief schlecht, mehr als drei, vier Stunden schaffte er nicht.

Er klappte das Laptop zu und steckte es in den Rucksack, schlüpfte in die Lederschuhe, ein elegantes Paar. Davon besaß er mehrere, er hatte nicht riskieren wollen, dass sie nicht mehr lieferbar wären.

Im Vorbeigehen berührte er die Kleiderstange. Der Bügel rutschte einige Zentimeter und stieß die anderen an, eine klirrende Symphonie. Ich sollte neue Kleidung kaufen, dachte er, irgendetwas. Mehr Anzüge für Tage wie diesen. Er vermied den Blick in den Spiegel, er wusste, was ihn erwartet hätte. Dunkle Hose, dunkler Rollkragenpulli, viel zu warm für die Jahreszeit. Dunkles Haar, nicht mehr so dicht.

Draußen stieg er ins Auto. Ein olivgrüner Jaguar, ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Er fuhr nicht gerne mit den Öffentlichen, er brauchte das Alleinsein vor der Arbeit. Die Verliebten aus dem Mehrfamilienhaus gegenüber ging vorbei, eilig, Hand in Hand. Sie wirkten jung und glamourös.

»Hi, Paul.«

Seit er ihr mal mit Bargeld ausgeholfen hatte, duzten sie sich. Die Frau hieß Mirka. Dass sie schwanger war, fiel ihm heute zum ersten Mal auf. Bald würden sie zu dritt über die Straße spazieren. Er blieb stehen und blickte ihnen einen Moment lang nach, bevor er die Kopfhörer in die Ohren steckte und seine Playlist anwählte. Er stellte sie lauter als üblich: Chris Rea, Jim Croce, manchmal Bette Midler und The Dubliners oder als Tribut an seinen verstorbenen Dad die St. Georges’ Brass Band.

Häuser zogen vorbei, größere, kleinere, Autos, Busse. Eine S-Bahn. Bei der Durchgangsstraße wartete er auf den Moment, um sich einzufädeln. Achtzehn Minuten Fahrzeit, sagte die Uhr, als er vor dem Haus am See ankam. Das war mehr als gestern, aber besser als sonst.

Oben in der Kanzlei roch es nach Sandelholz, der Bildschirmschoner zeigte ein Tal in Grün, die Schreibtische waren diagonal ausgerichtet, alle noch leer, seine Mitarbeiter waren keine Frühaufsteher. Bis auf Jelena Nikolic, die in seinem Büro einen weiteren Espresso hinstellte. Sie trug eine weiße Bluse unter dem taillierten Jackett. Eine Kette baumelte am Brustansatz. Ihr blondes Haar war rechtsgescheitelt, und sie blinzelte, wegen der Kontaktlinsen. Bei ihnen trugen die Männer Brille, die Frauen keine. Einen Master mussten Frauen und Männer vorweisen. Jelena strebte einen zweiten an. Sie war kompetent, Generation Y. Sie wünschte ihm einen guten Morgen und versorgte ihn mit den gewünschten Unterlagen und einigen Memos.

»Außerdem sind die neuen Visitenkarten gekommen. Du wolltest ja welche aus umweltfreundlichem Karton.«

Paul Blom – Wirtschaftsrecht, Steuerrecht, Erbrecht stand da in schnörkelloser Schrift. Dazu sein Titel: RA Dr. jur. LL. M.

Lizenziat und Dissertation hatte er an der Uni Zürich erworben, den Master of Law in den USA. Nicht um sein Englisch aufzubessern, wie die meisten Berufskollegen, sondern wegen des Netzwerks. Es hatte sich gelohnt. Danach hatte er seine Kanzlei gegründet. Blom & Partner – objektiv, unbestechlich, fair. Einen Partner hatte es nie gegeben.

»Du hast noch zehn Minuten bis zu deinem ersten Termin«, sagte Jelena. »Soll ich dich erinnern? Nichtanerkennung des Erbscheins. Die Töchter des Toten aus erster Ehe gegen die Witwe. Es geht um den Zweitwohnsitz an der Nordsee, der Mann hat alles selbst gebaut, viel Handarbeit, viel Herzblut.«

Eine heikle Sache, menschliche Arbeit zu beziffern und Heuchelei von rechtmäßigem Anspruch zu unterscheiden. Paul hatte das Mandat akzeptiert, weil er den Toten gemocht hatte. Einmal hatte er ihn in dem Haus am Meer besucht. Was er da gezimmert hatte, war beeindruckend gewesen.

»Und dann … unser Liebling.« Jelena lächelte. »Eine Zeitung wollte ein Interview.«

Es ging um den Starkoch. Sie hatten vor einigen Wochen gewonnen, beim Bezirksgericht, in erster Instanz. Jelena war beteiligt an dem Erfolg. Sie hatte den ausschweifenden E-Mail-Verkehr gemanagt und ihm den Rücken freigehalten.

Paul überlegte. »Mach du das. Es wird ein Berufungsverfahren geben.«

Sie bekam große Augen. »Du überträgst mir das Mandat?«

Es war an der Zeit, Briefe verschicken konnte der neue Praktikant. Außerdem bewegte sie sich sicher im Rampenlicht, das Paul scheute. »Du hast die Führung, ich bleibe im Hintergrund.«

Ihr Erstaunen irritierte ihn. Hatte er sie übersehen? Die Andeutungen fielen ihm ein, die Überstunden, ihre kreativen Vorschläge, die er nie kommentiert hatte.

»Okay. Gerne.« Sie strahlte. »Wird gemacht.«

»Was ist denn noch?«, fragte er, als sie bei der Glastür verharrte.

»Der Kongress … du fährst in drei Tagen.«

Paul hatte den Termin verdrängt. »Wie lange bin ich weg?«

»Eine Woche. Da ist ein Weekend im Anschluss. Ein Relax-Programm.«

»Sag es ab.« Die Aussicht auf endlose Referate, den endlosen Austausch in den Pausen und die endlosen Feierabenddrinks war nicht verlockend.

Sie zögerte. »Connecticut soll schön sein im Frühling. Ich könnte dich besuchen. Wir könnten …«

Ich kann nicht, dachte er. »Danke, Jelena.«

Sie las seinen Blick, war enttäuscht.

Er schlüpfte aus dem Pulli, Hemd und Anzugjacke hingen bereit. Zum Schluss zog er den Aschebeutel um. Er fühlte sich weich in seiner Hand an, wie Seide, es raschelte ein wenig.

Als er am Schreibtisch saß, um sich in die Akte der Witwe zu vertiefen, waren seit seiner Ankunft keine zehn Minuten vergangen. Eine Mail kam herein. Der enthusiastische Dank des Starkochs war mit einer Essenseinladung verbunden – er würde sie zurückziehen, wenn er die Vorladung fürs Obergericht bekäme. Es war eine wüste Steuersache, was der Koch nicht wahrhaben wollte. Steuerhinterziehung galt in seiner Welt als Kavaliersdelikt.

Jelena rief an.

»Entschuldige, dass ich noch mal störe. Ich habe den Anruf eines Anwalts in der Leitung. Es ist dringend, er braucht deine Hilfe.«

Ein Laut entfuhr ihm. »Wir nehmen doch keine neuen Klienten mehr.«

Wenn sie erstaunt über seine unerwartet heftige Reaktion war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Er sagt, er kennt dich von früher.« Sie nannte einen Namen.

Die Erinnerung überfiel Paul aus dem Hinterhalt, unvermittelt und so mächtig, dass er die Augen schließen musste. Gedankensplitter ploppten auf.

Regen auf gesprungenem Asphalt. Apple Pie. Schorf am Schienbein.

»Stell ihn durch. Und schieb die Witwe auf später.«

***

»Paul, bist du das?« Die Stimme klang immer noch so wie in der dritten Klasse.

»Iain? Iain O’Reilly?«

»What’s the story? Dich zu finden, war schwieriger als eine Partie gegen den Schachweltmeister. Kostet ein Guinness, oder zwei, ein ganzes Fass.« Das Lachen am anderen Ende wollte gar nicht mehr aufhören.

»Wieso rufst du an?«, fragte Paul.

Kurze Stille. »Das ist alles, nach fast vierzig Jahren? Dabei waren wir unzertrennlich, dieselben Trikots, dieselben Mädchen …«

»Wir waren zehn«, sagte Paul.

»Wir waren wild. Ich am Bass, du an der Gitarre. Spielst du noch?«

Paul berührte die immer raue Stelle am Zeigefinger. »Nein.«

»Zürich, hä? Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, hat dich deine Mutter mitgenommen, in dieses Tessin.« Aus Iains Mund klang der Name des italienischen Teils der Schweiz wie ein Schimpfwort. »Ich habe dir Briefe geschrieben, irgendwann dann E-Mails. Sag nicht, dass sie im Ärmelkanal hängen geblieben sind.«

Natürlich hatte Paul sie bekommen. Die Briefe mussten in einer der Kisten liegen. »Entschuldige, Iain. Das Leben, du weißt …«

Es kam ihm so vor, als stünden sie auf dem Schulhof und Iain würde die Matheprüfung zerknüllen. Weil er zwei Noten schlechter abgeschnitten hatte als Paul.

»Du hast in Dublin studiert«, sagte Paul.

»In Durham. Fängt auch mit D an.«

»Aber du lebst in Dublin.«

»In London. Ich bin ausgewandert, wie du.«

»Mit deiner Freundin?«

»Frau.«

»Eileen?«

»Karen.«

»Oh. Natürlich, Karen … Karen? Wirklich?«

»Yes, Sir. Hab sie mir geangelt. Lucky me.«

»Und du hast eine Kanzlei, Kinder?«

»Das ganze Programm, wobei nur die Kinder mir gehören, die Kanzlei nicht. Angestellt mit Haut und Haar. Bin wegen Karen da gelandet und hängen geblieben, nach der zweiten Tochter hat sie sich selbstständig gemacht. Ein Pilates-Studio. Viel Arbeit, wenig Ertrag. Und du?«

»Keine Karen, keine Kinder. Aber viel Kanzlei.«

»Ich hab’s gesehen … deine Webseite ist beeindruckend.« Iains Lachen klang angestrengt.

»Hast du nicht gesagt, dass es schwierig war, mich zu finden?«

Iain lachte noch mehr, noch angestrengter. »Egal. Und Luisella? Macht sie immer noch in Oper?«

Pauls Mutter Luisella hatte vor ihrer endgültigen Abreise aus »Zähneklapper-Dublin«, wie sie es nannte, im Park ihres Viertels ein Konzert gegeben. Sie hatte es ihm überlassen, seinen sturzbetrunkenen Dad hinterher nach Hause zu schleifen; Paul war damals sechs gewesen, und zehn, als sein Vater starb. Dreizehn, als ihn Luisella bei den O’Reillys, die als Pflegefamilie eingesprungen waren, abgeholt und ins Tessin verpflanzt hatte. Neunzehn, als sie von einer Tournee nicht mehr zurückkam.

»Was hast du gesagt? Grüß sie von mir. Luisella Rossellini, ein Ereignis.«

Er wusste offenbar nicht, dass sie keinen Kontakt mehr hatten. »Wieso rufst du an?«

»Sorry, ich stehle dir deine Zeit. Ich hätte auch … wenn nicht …« Iains Stimme hatte sich verändert, er wirkte nervös. »Es ist eine ganz einfache Sache, ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Trotzdem ist es heikel, weißt du.«

Paul wappnete sich. »Erzähl.«

Das Luftholen am anderen Ende verhieß eine lange Geschichte. »Ein Klient von mir, ein alter Apotheker namens Kruger, ist kürzlich verstorben, in seiner Villa an der Old Church Road, in Fulham, das ist unweit von Westminster. Bauchspeicheldrüsenkrebs, es ging nur wenige Wochen. Krugers Urgroßvater wurde reich mit Hustensaft, Jacob’s Magic Juice. Originell, nicht wahr? Zu der Zeit, 1890, also Ende des 19. Jahrhunderts, war London eine Jauchegrube. Mit dem Saft hat Jacob Kruger, ein eingewanderter Ostjude aus Galizien, den Bronchialkatarrh der halben Stadt geheilt, darunter war auch eine der Töchter von Queen Victoria. Louise. Kein Witz, das Kind der berühmten Königin, sie hatte ja sechs. Der Saft wurde danach zu einem Verkaufsschlager, über drei Generationen hinweg. Bis mein Freund Jacob – die Erstgeborenen der Familie heißen alle gleich –, bis also der vierte Jacob das Rezept vor einigen Jahren einem Pharma-Multi verkauft und den Erlös in Immobilien investiert hat. Er dachte, er wäre smart. Aber … Baupfusch, Fehlplanung, du kennst das. Der Grund für diesen verdammten Krebs, davon bin ich überzeugt. Seine Frau, Alba, ist vor zwei Jahren gestorben. Die Fonds der drei längst erwachsenen Kinder wurden aber nicht angetastet, jedes kriegt seinen Anteil. Dazu noch ein Haus in bester Lage, es ist ein Vermögen wert.«

»Moment«, sagte Paul. »Lass mich zusammenfassen. Ein Familienerbe, das auf magischem Hustensaft beruht, wird unglücklich in Immobilien investiert und ist nun weg. Der Rest ist aber glasklar geregelt.« Er wertete Iains Schweigen als Zustimmung. »Wieso rufst du mich dann an?«

»Es stellte sich heraus, dass es eine Sache gab. Eine einzige Sache, die Jacob für sich behalten wollte. Nichts wirklich Schlimmes, nichts, bei dem man ihn belangen könnte, mehr menschlich, du weißt.«

»Nein. Was meinst du damit?«

»Zu Beginn wusste ich nur, dass absolut niemand davon erfahren sollte, gar niemand, und schon gar nicht seine Kinder. Nur ich, als sein Vertrauter. Traurig, wenn dein einziger Freund dein Anwalt ist. Aber was will man machen? Ich bin loyal, wärst du auch, oder? Auf jeden Fall hatte es eine gewisse Hektik zur Folge. Beweise mussten vernichtet werden, Papiere mussten verschwinden.«

»Was für Papiere?«

Iain druckste herum. »Brisante.«

»Und wieso hat er es nicht früher gemacht, wenn sie so brisant waren?«

»Ich glaube, er hielt sich für unsterblich! Er klebte am Leben wie eine Klette am Hosenbein und war überrascht, dass es zu Ende ging. Ein tragischer Trugschluss, passiert allen von uns. Ich hätte ablehnen können. Nur, konnte ich das, angesichts des Todes?« Iain gab die Antwort gleich selbst. »Siehst du, alter Ire. Ich weiß, warum ich dich anrufen wollte und niemand anderen. Dass ich alles … im einzig intakten Cheminée der Villa, einem Gebäude aus der viktorianischen Zeit, an dem immer nur das Nötigste renoviert wurde … in einem winzigen Zeitfenster, notabene, denn die jüngste Tochter – Alice, die vorübergehend eingezogen war, um den Vater zu pflegen – holte gerade ein Medikament in der Apotheke vorne. Wir mussten fertig sein, bevor sie zurückkam. Wie gesagt … was wollte ich noch mal?«

Er fand den Bogen nicht mehr.

»Du wolltest erzählen, was du mit den brisanten Papieren angestellt hast.«

»Ach so, das.« Iain musste husten. »Was man so tut in einem Kamin.«

»Du hast sie verbrannt?«, fragte Paul. »Wenn da juristische Dokumente darunter waren, kann es dich die Lizenz kosten.«

»Was tust du so moralisch?« Iain wurde hektisch. »Einen Quatsch kann mich das. Es waren vor allem persönliche Briefe. Über fünfundzwanzig Jahre alt. Handgeschrieben, sie hatten nichts mit der Familie zu tun. Ich schwöre, Paul, lauter privater Kram.«

»Also doch nicht so brisant?«

»Jetzt warte. Es hat auch alles prima geklappt, nur kurz bevor wir fertig waren, war da plötzlich all der Ruß. Der Kamin war verstopft, es glomm und qualmte, eine Riesenaufregung, das Personal lief zusammen, die Feuerwehr rückte mit Tatütata an. Jacob hat mir ein Zeichen gegeben, den Rest um Gottes willen verschwinden zu lassen.«

»Aha. Hast du es mitgenommen?«

»In einem Faltordner, und dann im gasbetriebenen Feuer des Herds bei mir zu Hause verbrannt, einige Stunden später. Es waren nur noch einige wenige Zettel. Am nächsten Tag habe ich den Ordner wieder zurückgebracht, damit alles seine Richtigkeit hatte. Es hätte auch überhaupt keine Probleme gegeben, hätte die älteste Tochter, Gertrud, Jahrgang 1970 wie wir, nach Jacobs Tod nicht alle Unterlagen, jedes einzelne Dokument, jeden Beleg durchgelesen.«

»Und dabei …?«

»Ein kleiner Fetzen Papier.«

»… der dir entgangen ist?«

»Frag mich nicht, wie das passierten konnte, das macht Karen schon die ganze Zeit.«

»Du besprichst die Fälle mit deiner Frau?«

»Sie war ja früher auch in der Kanzlei.«

Es wurde heikel. »Was steht denn auf dem Papier?«

»Es ist ein Kaufbeleg, aus dem Jahr 1997, ausgestellt am 15. Juni, also praktisch vor einem Vierteljahrhundert. Über dreihundertfünfzig Franken.«

Paul ließ die Informationen erst mal sacken. »Franken? Ein Beleg aus der Schweiz?«

»Darum ruf ich dich an, falls du dich darüber gewundert hättest. Ein Beleg aus Zürich. Datum und Ort sind deutlich zu lesen. Es hat mich ehrlich gesagt nicht groß erstaunt, Jacob war ab und zu aus beruflichen Gründen in der Schweiz. Wegen der Pharmafirma, die die Hustensaftlizenz gekauft hat.«

»Die Pharmaindustrie ist in Basel beheimatet, nicht in Zürich.«

»Was Jacob im Detail gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis, wie gesagt, er war verschwiegen, keine Silbe zu viel kam aus seinem Mund. Ganz anders als ich.«

Ein wahres Wort, dachte Paul.

»Mich hätte dieser Beleg auch nicht gestresst. Ich finde, es gibt jede Menge Erklärungen, wofür Jacob in der Schweiz Geld ausgegeben haben könnte. Essen, Schokolade, Geschenke … was Menschen halt so kaufen, wenn sie shoppen. Nur Gertrud, die Rädelsführerin der Geschwister, wie sich zeigte, denkt bei der Schweiz an Paradeplatz, namenlose Konten, an Bankgeheimnis. Und dabei war das Schließfach …«

Paul unterbrach Iain. »Ein Schließfach?«

»Hab ich das nicht erwähnt? Ich hatte den Schlüssel bei mir aufbewahrt, genauso wie mit Jacob verabredet. Nach seinem Tod stehen wir, Gertrud und ich, – Raphael, ihr Bruder, ein Schauspieler, und Alice fehlen –, wir stehen mit dem Schlüssel vor dem Schließfach. Gertrud öffnet, und darin ist der Familienschmuck. Ein Collier, ein Ring, eine Uhr. Drei Stück. Auch hier, für jedes Kind etwas. Wie bei der Queen.«

»Ich schätze, auch da gibt es ein Problem.«

Iain am anderen Ende schnaufte auf. »Gertrud denkt, da müsste mehr sein. Sie will das Zeug haben. Sonst geht sie zur Polizei.«

»Und mit Zeug meint sie was? Bargeld? Aktienpapiere?«

»Nein. Gold.« Iain holte Luft.

»Gold«, wiederholte Paul.

»Gold. Drei Barren. Royal Louise 85, Größe 25/10/8, jeder etwa fünfzehn Kilogramm schwer. Sie gehören zu den teuersten Goldbarren der Welt. Einer soll sechs Millionen wert sein. Das Pfund ist allerdings auf einem historischen Tief.«

»Trotzdem wäre es sehr viel Geld.«

»Das es nicht gibt. Rein virtuell, wie eine Kryptowährung.« Iains Stimme bekam eine hysterische Note. »Diese Gertrud, ich sag’s dir, attraktiv wie der Teufel, Apothekerin wie der Vater, findet es einen Skandal, dass Jacob mich engagiert hat. Und dabei … alles Hirngespinste. Der Kindertraum vom Goldschatz, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, so ein Blödsinn. Die drei Barren sind auf keiner Inventarliste aufgeführt, Jacob hat mir nie davon erzählt, ich habe sie nie gesehen. Die existieren nicht.« Letzteres hatte er geschrien.

»Wie kommt Gertrud dann darauf?«

»Jetzt fängst du auch noch an. Völliger Humbug, absolut nicht glaubwürdig, haltlose Gerüchte.« Er schnappte erneut nach Luft. »Ich kenne jedes Versteck, jeden Winkel. Ich habe sogar … tausend Pfund in schottischen Scheinen, in einer Nachtmütze, ich habe sie sichergestellt.«

»Und das hat Gertrud gemerkt?«

»Sie wurde zur Furie. Stell dir vor, sie behauptet, dass die Zahl auf dem sichergestellten Beleg, die dreihundertfünfundfünfzig, ein Code sind, dass ich Jacob geholfen habe, die Goldbarren in die Schweiz zu transferieren und da zu verstecken. Nun warten sie in irgendeinem geheimen Schließfach nur darauf, dass ich mich daran bereichern kann, sobald genügend Zeit nach seinem Ableben vergangen ist.«

Es ging ums Geld. Es ging letztlich immer ums Geld.

»Bist du dabei, Paul?«, fragte Iain in Pauls Schweigen hinein. »Ich habe dir gerade ein Foto vom Beleg geschickt.«

»Ich bin kein Goldjäger.« Und doch spürte Paul ein gewisses Interesse. Ein Londoner Goldschatz, das klang aufregender als die Erbstreitigkeiten, die er üblicherweise betreute.

Iain schnaufte auf. »Da sich im Netz kaum etwas Stichhaltiges finden lässt, habe ich einen Historiker darauf angesetzt herauszufinden, ob das Gold wirklich existiert. Marten Jong, er hat eine Firma namens Past Public History, aber ich kann ihn nicht hetzen, Wissenschaftler sind da eigen. Das Einzige, mit dem ich im Moment weiterkomme, ist dieser Beleg. Du musst bitte herausfinden, was es damit auf sich hat. Es sieht nach einer harmlosen Quittung aus, andrerseits befand sie sich in den Unterlagen, die ich verbrennen sollte. Also musste es für Kruger eine Bewandtnis haben.«

Tatsächlich. Als Paul das Bild vergrößerte, konnte er die schwarz geschriebene Nummer erkennen, darüber handgeschrieben ein Ausstellungsdatum, 15. Juni 1997. Daneben einen Stempel mit den Anfangsbuchstaben eines Firmenlogos, darunter das Wort BLUMEN in geschwungener Schrift, wobei das Papier an der Stelle ausgerissen war.

»Es dürfte sich um ein Blumengeschäft handeln. Der Name ist nicht lesbar.«

Iain schnappte nach Luft. »Über dreihundert Franken … 1997? Wem schenkt man so teure Blumen? Wenn ich Karen, ich sollte auch wieder mal, bei einem Stand auf dem Heimweg … für zehn Pfund, maximal. Aber fast dreihundert Pfund?«

Eine beredte Stille.

»Hatte er eine Geliebte?«, fragte Paul. »Eine Zürcher Geliebte?«

Paul war, als ob er Iains Lockenpracht fliegen sehen könnte. »Ich wusste es, du bist mein Mann. Darum wich mir Jacob aus, wenn wir darauf zu sprechen kamen. Es ging nicht um eine Steuersache, sondern um eine Frau, die er mir verschwiegen hat. Und dabei habe ich immer gesagt, ich kann dich bei allem Gemauschel decken, wenn ich die Wahrheit weiß.«

Eine Stimme ertönte im Hintergrund, eine zweite, Streit, eine knallende Tür.

»Ich muss aufhören. Hier bricht das Chaos aus.« Iains Stimme war eine Oktave höher gerutscht. »Die Kinder sind aufgestanden, ich sollte mich um sie kümmern, Karen ist schon lange weg.«

Paul wollte schon auflegen, aber Iain ließ nicht locker. »Hilfst du mir?«

Zweites Kapitel

»Du musst nicht alles Geschwätz glauben, Mum.« Ruby Kosa stand im Waschsalon ihrer Mutter Olga, der sich an der Fulham Road in London befand, und stellte die Tasse auf den Tresen, dass der Tee nur so überschwappte und eine milchige Spur auf ihren Doc Martens hinterließ. Eigentlich war sie auf dem Weg zur Suppenküche, wo sie zur Mittagessenausgabe erwartet wurde. »Warum sollte die Familie Kruger ein heimliches Mausoleum auf einem verlotterten, verwitterten, vergessenen jüdischen Friedhof haben? Und den Ort mit aller Macht geheim halten?«

»Hör zu, Rubylein!« Olga raffte ihre Arbeitsschürze und lächelte das Lächeln, das meist einen Rattenschwanz an Folgen nach sich zog. »Die Krugers … die sind mindestens so schillernd wie die Addams Family. Ich sage nur, da sind Geschichten vergraben, goldene Geschichten, die du in klingende Münze …«

»Stopp!«, unterbrach Ruby. »Das denkst du dir alles aus, weil du findest, ich solle Bestseller schreiben und den Nobelpreis gewinnen. Eine billige Masche, Mum.«

»Würde ich nie tun, skarbie.« Das war polnisch und hieß mein Schatz. »Aber Bücher sind nun mal was Besseres als dein Podcast.« Mit ihrem Akzent klang das Wort nach »potthässlicher Ast«.

»Es ist nicht mein Podcast, Mum. Ich mach den für PPH, das ist mein Arbeitgeber, wie du wohl weißt. Es ist ein Auftrag. Ich kann mir die Jobs nicht aussuchen.«

»Aber das ist unter deiner Würde. Du bist eine Sensation. Ende zwanzig und schon zwei Masterstudien in der Tasche.«

»Nur den in Geschichte. Den anderen muss ich erst hinkriegen. Und dafür brauche ich Geld.« Ruby war erst gerade von einem Feldforschungssemester in Passau zurückgekommen, bei dem es um die Restaurierung einer Abtei an der Donau ging. Es hatte ihr Deutschkenntnisse gebracht und ihr Erspartes vernichtet. Anstatt die fällige Masterarbeit in ihrem anderen Studienfach Archäologie zu schreiben, musste sie jobben.

»Ich gebe dir welches, mein Kind.« Olga hatte die Hand an der Registrierkasse. Sie lebte in der Illusion, Ruby das Leben zu finanzieren. Dass es seit der Wirtschaftskrise umgekehrt war, ignorierte sie.

»Schon gut, Mum.«

»Jetzt bist du beleidigt, ich seh es dir an. Hör zu. Dein Podcast ist … interessant.«

»Du hast ihn nicht mal abonniert.«

»Ich mag nun mal lieber Hörspiele. Kannst du nicht ein Hörspiel machen?« Sie zeigte auf ihr altmodisches Radio, das nur noch auf einer Frequenz lief.

»Ein Podcast ist eine Reportage, die man als Audiodatei aufs Handy herunterladen kann. Du hast doch ein Handy.«

»Ich will einfach nichts über Friedhöfe hören.« Das klang endgültig. »Du solltest über das Leben berichten, nicht über den Tod.«

Die Ladentür klingelte. Während Olga einen Kunden bediente, checkte Ruby die Zahlen. DIESSEITSVOMJENSEITS, der Friedhofspodcast, hatte immer noch dieselben dreizehn Abonnenten und eine unterirdische Reichweite. Ein Reinfall, genauso wie sie es prophezeit hatte. Und dabei hatte die Firma PPH – PPH stand für Public Past History – mit Rubys Pitch einen Wettbewerb bei BBC-Radio gewonnen. Die BBC, hallo! Das war der Durchbruch, hatten alle gedacht, und ihr Chef hatte ihr einen Bonus versprochen. Den sie dringend brauchen könnte, da eine von Mums Waschmaschinen ausgefallen war. Kaum hatten sie den Vertrag unterschrieben, hatte die Redaktion eine Kehrtwende gemacht und Rubys Konzept verworfen.

»Nach internen Diskussionen sind wir zum Schluss gekommen, dass wir ein reines Audio-Storytime-Format mit Content wollen.«

Was so viel hieß wie ein stinklangweiliger Informationspodcast für die Zielgruppe vierzig plus. Nicht ihr Ding, hatte Ruby gedacht und ihren Chef Marten angerufen, um den Auftrag zurückzugeben. Er war ein netter Typ, trug karierte Hemden und Stricksocken und fror auch im Sommer. PPH war seine Firma, sie machten eigentlich private Ausgrabungen, Restaurierungen und gelegentlich historische Beratungen bei Theaterstücken oder Filmen. Ruby arbeitete als Freelancerin zum Stundenlohn.

»Ich gebe den Auftrag zurück, Marten.«

Er wollte nichts von ihrer Absage wissen. »Niemand außer dir ist vertraut mit solchen Audio-Formaten. Nimm etwas, das du gut kennst, den Highgate-Friedhof zum Beispiel. Da werden auch die langweiligsten Informationen vergoldet.«

Der Highgate war Rubys zweiter Arbeitsort, einer der sieben berühmten Londoner Friedhöfe, der »Magnificent Sieben«. Sie machte Führungen im West- und im Ostteil. Da wimmelte es nur so von toten Promis, von Karl Marx bis Malcolm McLaren. Während in den Siebzigern, zu Zeiten der Sex Pistols, die Katakomben verschandelt worden waren, wollte heute Netflix auf dem Highgate drehen, und Potter-Rowlings neuster Krimi spielte auch da. Es gab unzählige Artikel und Sendungen, niemand hatte auf einen Info-Podcast gewartet.

Marten ließ trotzdem nicht locker. »Wir brauchen neue Kunden, der Podcast ist Gratiswerbung. Das Leben ist doch eine Challenge, wie du sagen würdest, Ruby.«

Sie hatte sich breitschlagen lassen. Hatte Historikerkolleginnen und Friedhofspersonal befragt. Nachdem sie einige Anekdoten ausgegraben hatte, voller Poesie und Melancholie, hatte sie sogar ein wenig Feuer gefangen. In ihrem Auftakt-Speech hatte sie das Lebendige im Tod beschworen, die Grazie der Trauer und die Schönheit des Zerfalls. Sie hatte alles gegeben, und die »Freunde vom Highgate-Friedhof« fanden es auch klasse. Leider waren sie die Einzigen. Der Podcast hatte eine magere Reichweite und kaum Follower generiert. So wie sie es prophezeit hatte.

»Beim zweiten liefern wir was Besseres«, lautete Martens Fazit. »Content und Attraktion, die Quadratur des Kreises. Du schaffst das, Ruby.«

»Mit Insta-Reels und Draw-your-Life-Moderationen hätte ich eine Chance gehabt. Aber so?«

Marten hatte ganz verzweifelt ausgesehen. »Wir haben diesen Vertrag. Wenn wir früher aussteigen, zieht das rechtliche Probleme nach sich. Und blöderweise steht da dein Name als Produzentin drin.«

Auch das noch. Die BBC gegen Ruby … das war eine chillige Ausgangslage, überhaupt kein Erfolgsdruck. Der Abgabetermin für Folge zwei stand bevor, und Ruby hatte nicht mal eine Location. Ihre Gedanken surrten. Der komische Friedhof der Kruger-Family, den Olga erwähnt hatte – vielleicht könnte der was sein. In der Not griff sie nach jedem Strohhalm.

Olga hatte ihren Kunden inzwischen verabschiedet und stellte sich ans Bügelbrett.

»Was ist jetzt mit dem Apotheker und diesem komischen Friedhof, von dem keiner etwas weiß?«, fragte Ruby.

Olga ließ den Dampf zischen. »Wusste ich doch, dass es dich interessiert. Also, pass auf, skarbie. Alice, die jüngste Tochter vom alten Apotheker Kruger, hat die Wäsche abgeliefert. Es war seine letzte. Das Totenbett sozusagen. Unter uns gesagt, kein schöner Anblick. Voll mit Blut und …«

»Mum!«

»Dass sie dabei auch eine Todesanzeige hiergelassen hat«, sie fuchtelte mit dem Bügeleisen in der Luft herum, »hat mich sehr gerührt.«

»Ich dachte, du boykottierst den Laden.«

»Erst seit Gertrud, die älteste Tochter, übernommen hat. Die ist eine gupi barras.«

Das war polnisch für dummes Schaf. Und dabei wirkte Gertrud sympathisch, Ruby kannte sie vom Sehen.

»Früher war ich Stammkundin. Der Hustensirup war von da, und auf die Medikamente haben wir Nachbarschaftsrabatt bekommen, sie aber wollte neulich nichts mehr davon wissen, als ich dein Rezept eingelöst habe.«

»Spinnst du? Wie kommst du dazu, mein Rezept einzulösen? Das ist übergriffig.«

»Es lag hier auf dem Tisch«, verteidigte sich Olga, »und die Apotheke war sowieso auf meinem Weg.«

»Das Rezept steckte in meinem Rucksack.«

»Trotzdem wollte sie keinen Rabatt gewähren.«

»Logisch. Medikamente gibt’s nicht im Ausverkauf.«

»Aber das ist eine schillernde Krankheit, habe ich ihr gesagt. Diese Leute muss man unterstützen. Die Watson Emma hat sie, und der Mozart Amadeus hatte sie und ich glaube der Wałęsa Lech auch. Genau wie Ruby.«

Seit bei Ruby das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert worden war, erzählte ihre Mutter es jedem. Das Chaos hatte einen Namen bekommen. Der Kommentar von Rubys angeblich bester Freundin hatte gelautet: »Das ist ja jetzt angesagt, dieses ADHS. Kann ich auch mal so ein Pillchen haben?«

Ruby hatte sich daraufhin von ihr und ähnlich gelagerten Menschen zurückgezogen. Ihr Freundeskreis hatte sich drastisch reduziert.

»Nimmst du dein Medikament regelmäßig, skarbie? Ich habe gerade einen Artikel gelesen …«

»Es reicht!«

»Und was ist mit deiner Kleidung?« Olga zeigte mit dem Bügeleisen auf Ruby. »Dieser Rock ist zu kurz. Und die Strümpfe mit den Löchern … Schneidest du die mit der Nagelschere rein? Während hier ein Sommerkleidchen am Bügel verwaist, wie für dich geschaffen.« Das Eisen zischte schon wieder.

»Es regnet seit Tagen. Der nässeste Juni seit Beginn der Wetteraufzeichnung in London.«

»Ich wollte es nur gesagt haben. Anyways, ich kriege also die Todesanzeige, persönlich an mich gerichtet. Am nächsten Tag stand es auch in der Zeitung, die für unsere Kunden immer bereitliegen. Ein ganzer Artikel über Jacob Kruger.«

Sie stellte das Eisen hin und begab sich an den Tresen, um einen Stapel zu durchsuchen. Olga war stolz darauf, alle wichtigen Zeitungen abonniert zu haben, sie behauptete, die Kunden würden auch deswegen immer wiederkommen. Ihr Waschsalon, Olgas Laundrette, war der Dreh- und Angelpunkt im Quartier: nicht nur Wäscherei, sondern auch Tauschbörse für Geschwätz und Gerüchte. Es war die erste Behausung ihrer Mum gewesen, nachdem sie vor knapp fünfundzwanzig Jahren, mit der kleinen Ruby im Schlepptau, von Warschau nach London gekommen war. Der Hausbesitzer war ein Fuchs und lockte sie seit Jahren mit Verkaufsangeboten, um dann im letzten Moment abzuspringen und stattdessen die Miete zu erhöhen. Olgas Finanzen waren immer in Schieflage gewesen, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie.

»Lass die Anzeige, sag mir lieber, was mit dem unbekannten Friedhof ist.«

»Iss erst etwas. Du bist zu dünn.«

Sie zeigte auf die Rugelach, die polnischen Croissants, die sie nebst Kaffee im Angebot hatte. Zimt und Kakao, eine krasse Kalorienbombe, vermischt mit dem Duft von Bügelwäsche auch auf der Geruchsebene unschlagbar. Leider nicht wirklich gewinnsteigernd. Und für Ruby tabu, zu viel Zucker brachte sie ins Schleudern.

»Nope. Ich gehe. Die in der Gassenküche warten auf mich.«

Olga hasste es, wenn Ruby diesen Job erwähnte, ihr dritter.

»Bleib, ich komme auf den Punkt.« Olga nahm die Todesanzeige von der Pinnwand, eine edle Angelegenheit auf Papier mit Druck und der Illustration eines Friedhofsportals, das Ruby sehr bekannt vorkam.

Sie schnappte nach Luft. »Die Beerdigung war auf dem Highgate-Friedhof?«

»Mit Pomp und Pauken wurde der alte Kruger im Familiengrab beerdigt. Ich war leider verhindert, du konntest ja den Laden nicht hüten, weil du bei dieser Ausgrabung warst. Immer diese Knochen. Ich weiß nicht, was da falsch gelaufen ist.«

Ihre Mutter hatte Rubys Leidenschaft für Gebeine und Vergrabenes nie verstanden, Historie und Restaurierung fand sie Hobbys für Vergangenheitsnerds, und Archäologie hatte für sie was Morbides. Olga hatte Ruby als Bankerin gesehen. Oder als Anwältin. Oder als Frau von Prinz Harry.

»Ich muss los, von dem anderen Friedhof kannst du mir ja nächstes Mal erzählen.« Ruby öffnete die Tür. Das Klingeln der Eingangsglocke begleitete ihren Ab- gang.

»Warte!« Olga eilte ihr nach und zog sie am Ärmel wieder zurück. »Mrs Peek, die mit den Pekinesen, hat gestern eine Bluse vorbeigebracht. Ich nähe, sie isst Rugelach, sie berichtet dies, ich antworte das, eins ergibt das andere, und plötzlich, aus heiterem Himmel, erzählt sie mir …« Olga wechselte auf Polnisch. Ruby verstand es zwar, aber sie hasste es. Von Anfang an hatte sie Englisch gesprochen, das war die Sprache, in der sie träumte, liebte und schimpfte.

»… dass es ein zweites Kruger-Mausoleum gibt, auf dem jüdischen Friedhof an der Fulham Road, keine zweihundert Meter von der Apotheke entfernt. Früher hatten sie vom Hinterzimmer direkte Sicht darauf, jetzt liegt eine Gebäudezeile dazwischen. Und auf diesem Friedhof sollen seit über hundert Jahren die Gebeine des allerersten Kindes der Familie Kruger liegen.«

»Also nicht auf dem Highgate?«

»Da sind sie erst später hin. Nein, das erste Kind wurde 1885 auf dem Fulham-Friedhof beerdigt. Zusammen mit einem Goldschatz.«

»Einem was?«

»Hast du was am Ohr, skarbie? Ein Goldschatz. Wie in Indiana Jones.« Harrison Ford war einer von Mums Lieblingsschauspielern. Ihn von der Bettkante zu schubsen, käme einer Sünde gleich, sagte sie, wenn sie zu viel polnischen Schnaps getrunken hatte.

»Drei Barren Gold, eine ganz seltene Sorte. So groß wie Ziegelsteine.« Olga sah aus wie die Katze, die den Kanarienvogel gefressen hatte. »Das wäre doch was für deinen Podcast. Als sie damals zum ersten Mal das Hörspiel von Tom Sawyer und Huck Finn ausgestrahlt haben, waren die Straßen leer gefegt, und da kommt auch ein Goldschatz vor. Das kannst du deiner Verantwortlichen von der BBC ruhig aufs Butterbrot schmieren.«

***

Erst als Ruby in ihren Doc Martins durch den strömenden Regen zur Bushaltestelle gestapft war, hatte sich ihr Herzschlag so weit beruhigt, dass sie nachdenken konnte. Ein Goldschatz? Dem musste sie nachgehen. Es klang viel zu absurd, um es einfach so zu erfinden.