Dietrich Bonhoeffer - Eberhard Bethge - E-Book

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Eberhard Bethge

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Beschreibung

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Der evangelische Theologe arbeitete aktiv mit an den Versuchen, das Hitler-Regime gewaltsam zu beseitigen. Im Frühjahr 1943 wurde er verhaftet; im April 1945 erhängte ihn ein SS-Standgericht kurz vor dem Eintreffen der US-Truppen. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Eberhard Bethge

Dietrich Bonhoeffer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Der evangelische Theologe arbeitete aktiv mit an den Versuchen, das Hitler-Regime gewaltsam zu beseitigen. Im Frühjahr 1943 wurde er verhaftet; im April 1945 erhängte ihn ein SS-Standgericht kurz vor dem Eintreffen der US-Truppen.

 

Über Eberhard Bethge

Eberhard Bethge, geboren 1909, evangelischer Pfarrer, Biograph Bonhoeffers und Herausgeber seiner nachgelassenen Werke. Bethge lernte Bonhoeffer kennen, als er 1935 in das von ihm errichtete Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde eintrat, und wurde sein Mitarbeiter, bis 1940 die Gestapo die Arbeit unterband. Inzwischen wuchs eine enge Freundschaft bis zu Bonhoeffers Ermordung 1945. Außerdem kam es zu einer familiären Verbindung durch die Heirat mit seiner Nichte Renate Schleicher, die an den Bonhoeffer-Arbeiten stark beteiligt ist, so auch an dieser Monographie; das erste Kapitel z.B. stammt aus ihrer Feder.

Befreit aus Gestapohaft durch die einrückenden Sowjets, arbeitete Bethge 1945 als Assistent bei Bischof Dibelius und seit 1946 als Studentenpfarrer in Berlin. 1953 bis 1961 betreute er deutsche Auslandsgemeinden in London und verbrachte Perioden als Lecturer u.a. in Harvard, New York und Chicago. Von 1961 bis 1976 leitete er das Pastoralkolleg der Evangelischen Rheinischen Landeskirche in Rengsdorf und war von 1967 bis 1976 Mitglied der Rheinischen Kirchenleitung. Seit 1976 lebte er im Ruhestand nahe Bonn, unterbrochen durch Gastprofessuren in den USA. Eberhard Bethge starb am 18. März 2000.

Perspektiven

Die polnische Publizistin aus der katholischen ZNAK-Gruppe, Anna Morawska[1], sagte in einem Gespräch: «Bonhoeffer ist aufregend, weil er unsere Fragestellung zu denken wagte. Nämlich wie man in der vollzogenen Religionslosigkeit Christus begegnet. Woran sind wir mit Christus, wenn wir uns mitten im Atheismus nicht als Agnostiker verstehen wollen, sondern eine Verehrung für ihn verspüren? Wenn wir die Grenze zwischen so genannten Gläubigen und so genannten Ungläubigen einfach als falsch empfinden? Genau wie wir selbst ist Bonhoeffer in seiner bürgerlichen Situation und als Verantwortlicher für ein großes kulturelles Erbe auf die tief greifenden Umwälzungen nicht vorbereitet gewesen. Trotzdem war er gerade als solcher zur großen Revision bereit.»

Dietrich Bonhoeffer selbst hatte in einem Essay für Mittäter bei der Verschwörung geschrieben: Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, daß wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben. Wenn nur in dieser Zeit nicht Bitterkeit oder Neid das Herz zerfressen hat, daß wir Großes und Kleines, Glück und Unglück, Stärke und Schwäche mit neuen Augen ansehen, daß unser Blick für Größe, Menschlichkeit, Recht und Barmherzigkeit klarer, freier, unbestechlicher geworden ist; ja, daß das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück. Es kommt nur darauf an, daß diese Perspektive von unten nicht zur Parteinahme für die ewig Unzufriedenen wird, sondern daß wir aus einer höheren Zufriedenheit, die eigentlich jenseits von oben und unten begründet ist, dem Leben in allen seinen Dimensionen gerecht werden und es so bejahen.[2]

In der östlichen Welt wird Bonhoeffer wegen dieser resoluten Einstellung auf die Situation des Blickes von unten begierig studiert; in der westlichen Welt diskutiert man ihn zustimmend oder ablehnend vorwiegend wegen 50 Seiten Theologie, niedergeschrieben im Tegeler Gefängnis. Diese Seiten «haben einen Einfluss auf das gegenwärtige religiöse Denken ausgeübt, der in keinem Verhältnis zu ihrem Umfang steht und der um so erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, wie viel von diesem Denken fragmentarisch geblieben ist», schrieb 1973 ein englischer Theologe.[3]

Außerdem ist Bonhoeffer zu einem Märtyrer in einem deutschen Konzentrationslager geworden, und dies um einer politischen Verschwörung willen. Es gibt sicher zeitgenössische Theologen, die eine größere systematische Vollendung ihres Werkes erreicht haben; aber sie starben eines natürlichen Todes. Und es gibt Christen, deren Protest gegen die Abgötterei der Hitlerzeit in einem kirchlich einleuchtenderen, gängigen Vorstellungen entsprechenderen Martyrium geendet hat; aber sie hinterließen keine aufregend geschriebene Theologie.

Wir besitzen also ein unabgeschlossenes Werk von Bonhoeffer: zunächst die frühen, oft schwer lesbaren theologischen Bücher, die heute in vielen Sprachen erschienen sind; dann die Dokumente, die im kirchlichen und politischen Kampf entstanden; endlich die späten Fragmente aus Tegel. Und wir besitzen das Bild eines tätigen Lebens, das mit 39 Jahren durch die Hand des Henkers endete.

Die Elemente dieses Werkes und Lebens bilden nun eine Brücke zwischen Ost und West und zwischen getrennten Konfessionen. Die Wirkung trat erst nach dem Tod des Autors ein. Zehn Jahre später begann man überall in der Welt nach ihm und seinem Werk zu fragen.

Dieses Phänomen ist bemerkenswert. Denn Bonhoeffer hat sich in seinem Leben nicht sonderlich um Publizität gekümmert.

Die letzten Lebensjahre und das Ende vollzogen sich in einem vollständigen Inkognito. Überall kannte man nach 1945 Männer wie Niemöller, Wurm, Dibelius, Lilje. Nur innerste Kreise wussten von dem Kirchenkämpfer, Ökumeniker und Verfasser der Nachfolge, Bonhoeffer.

Wer war er, das heißt, wie verlief sein Leben? Wer ist er, das heißt, was ist sein weiter wirkendes Werk?

Gustave Flaubert behauptete: «L’homme c’est rien, l’œuvre c’est tout.» (Der Mensch ist nichts; das Werk ist alles.) Wir werden diese Aussage hier nicht anerkennen und die Behauptung beinahe umdrehen. Das Abgebrochene in Bonhoeffers Werk gehört zu seiner Faszination. Sein Wesen ist ohne die Begegnung mit ihm nicht erfahrbar. Er hat das Unabgeschlossene von Beruf und Werk selbst als sein Geschick anerkannt: Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, daß unser Leben – im Unterschied zu dem unserer Eltern – fragmentarischen Charakter hat […]. Wo gibt es heute noch ein geistiges «Lebenswerk»? Wo gibt es das Sammeln, Verarbeiten und Entfalten, aus dem ein solches entsteht? […] Unsere geistige Existenz aber bleibt ein Torso. Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unsres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören (selbst eine anständige «Hölle» ist noch zu gut für sie) und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z.B. an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entfernter Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird […], dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.[4] Im Sommer 1944 hat er in einem Gedicht die Frage «Wer war Bonhoeffer?» beantwortet. Dahinter stehen seine Herkunft, die Macht seines Einflusses, seine Niederlagen und seine Frömmigkeit:

Wer bin ich?

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinliche Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

 

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott![5]

Kindheit

In Amerika wurde nach einem Vortrag über Bonhoeffer einmal gefragt: «Dietrich Bonhoeffer muss einen sehr großen Einfluss auf seine Familie gehabt haben, wie wirkte sich dieser Einfluss denn aus?» Die Antwort, dass seine sieben Geschwister ihn mindestens ebenso beeinflusst hätten wie er sie und dass alle acht Kinder vor allem unter dem gleichen starken Einfluss der Eltern gestanden hätten, verwunderte. Man hatte sich einen Helden vorgestellt, der innerhalb wie außerhalb seiner Familie als Weltverbesserer wirkte. Bei Bonhoeffer reichte der Einfluss der Familie wohl über das übliche Maß hinaus. Diese große Familie hatte einen ungewöhnlichen Zusammenhalt, und das offene, großzügig geführte Haus seiner Eltern war und blieb ein bestimmendes Zentrum nicht nur für die engste, sondern auch für die weitere Verwandtschaft und viele gleich gesinnte Freunde.

 

Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau als sechstes Kind der Familie geboren. Er hatte eine Zwillingsschwester Sabine. Die drei ersten Kinder waren Söhne: Karl-Friedrich und Walter, beide Jahrgang 1899, Klaus, Jahrgang 1901. Es folgten Ursula und Christine in den Jahren 1902 und 1903. Nach den Zwillingen Dietrich und Sabine wurde dann im Jahre 1909 als Letzte noch Susanne geboren.

Der Vater, Karl Bonhoeffer, war Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er folgte 1912 einem Ruf nach Berlin und übernahm damit den in Deutschland angesehensten Lehrstuhl für dieses Fach. Von hier aus wurde der Name Karl Bonhoeffer über die deutschen Grenzen hinaus bekannt. Allerdings ist Karl Bonhoeffer wohl auch dafür verantwortlich, dass die Psychoanalyse von Freud und Jung damals kaum in die Berliner Fakultät eindringen konnte. Sein Kollege auf dem Heidelberger Lehrstuhl, Robert Gaupp, erklärte das folgendermaßen: «Es mag vielleicht auffallen, dass ein Mann, der als feinsinniger, mit hervorragender Einfühlung begabter Psychiater uns das wohl Beste über das Wesen der hysterischen Symptombildung gegeben hat, im Streit der Geister über die Lehren von Freud, Adler, Jung und anderen ‹Psychoanalytikern›, soweit ich sehe, nirgends ausführlicher und grundsätzlich Stellung genommen hat. ‹Psychoanalyse› heißt unvoreingenommene ‹Analyse der seelischen Erkrankung eines Menschen mit allen Mitteln einfühlender Psychologie bei sorgfältigster Beobachtung›. In dieser einfühlenden Psychologie und sorgfältigsten Beobachtung war Bonhoeffer wohl keiner überlegen. Aber er kam aus der Wernickeschen Schule, deren Orientierung sich immer am Gehirn vollzog und die Loslösung vom hirnpathologischen Denken nicht gestattete. […] Das Intuitive war ihm nicht fremd, das beweist sein ganzes Lebenswerk. Aber es drängte ihn nicht, ins Reich des Dunklen, Unbeweisbaren, der kühnen, phantasievollen Deutungen vorzudringen, wo so viel zu behaupten und so wenig wirklich sicher zu beweisen ist […].»[6]

Dietrich Bonhoeffer hat sich mit Freud nie ausführlich befasst, was sicher vor allem dem Einfluss des Vaters zuzuschreiben ist.

Karl Bonhoeffer war ein Mann von Autorität; sowohl in der Charité – der Berliner Universitäts-Klinik –, bei Assistenten und Studenten, als auch zu Hause. Er sprach leise und nicht sehr viel, doch was er sagte, merkte man sich. Gelobt und getadelt wurde sparsam, aber mit Gewicht. Er wirkte beherrscht und erwartete das auch von seinen Kindern. Nüchternheit und Abgewogenheit zeichneten ihn aus. Phrasen waren ihm ein Gräuel; man hatte sich sachlich, aber auch klar und möglichst kurz, ohne Umschweife auszudrücken. Die Kinder gewannen dadurch an Urteil, unterlagen aber sicher auch mancher Hemmung. Dietrich Bonhoeffer schreibt später: Manche verderben sich selbst dadurch, daß sie sich mit Mittlerem abfinden und so vielleicht schneller zu Leistungen kommen; sie haben eben weniger Hemmungen zu überwinden. Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, daß man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten. […] Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte […]. Hinter das, was man sich selbständig erarbeitet hat, kann man aber nie mehr zurück. Das ist für andere und auch für einen selbst vielleicht manchmal unbequem, aber das sind dann eben die Unbequemlichkeiten der Bildung.[7]

Die Kinder sahen den Vater vor allem bei Tisch, wo es etwas feierlich zuging und sie nur, wenn sie gefragt wurden, etwas sagen durften. An den Wochenenden, bei Geburtstagen und Festen konnte er dann aber auch ganz für sie da sein.

Auf das, was er versprach, konnte man sich unbedingt verlassen. Seine Tageseinteilung hielt er selbst bei großer Belastung pünktlich ein. Er war immer mittags um zwei Uhr zum Essen zu Hause. Hielt er dann nachmittags im Haus Sprechstunde, wurde von den Kindern absolute Rücksichtnahme verlangt. Das Arbeitszimmer des Vaters war stets tabu und höchstens mit besonderer Erlaubnis der Mutter zu betreten. Karl Bonhoeffer war Schwabe. Aus Holland eingewandert (van den Boenhoff aus Nimwegen), waren die Bonhoeffers seit 1513 in Schwäbisch Hall ansässig. In der Haller Kirche gibt es noch etliche Gedenksteine der Bonhoeffers. An einigen Häusern der Stadt findet man das Bonhoeffer’sche Wappen, wie es im Wappenbrief 1590 bestimmt war: ein Löwe, der eine Bohnenranke in der Tatze hält. Dietrich Bonhoeffer trug einen Siegelring mit diesem Wappen.

Im Hause Bonhoeffer lernte man, sich seine Fragen oder Bemerkungen sehr genau zu überlegen. Peinlich war das fragende Hochziehen der linken Augenbraue des Vaters, erlösend, wenn es von einem freundlichen Lächeln begleitet war, vernichtend, wenn der Ausdruck ernst blieb.

Emmi Bonhoeffer

Erst Dietrich Bonhoeffers Großvater, Friedrich Bonhoeffer, hatte Schwäbisch Hall verlassen. Er war Landgerichtspräsident in Ulm geworden. Von großer Bescheidenheit und allem Auffälligen abgeneigt, war er ein leidenschaftlicher Naturliebhaber und -kenner.

Friedrich Bonhoeffers Frau, Dietrichs Großmutter Julie, geb. Tafel, spielte in Dietrichs Leben noch eine große Rolle. Sie starb erst 1936, fast 94 Jahre alt. Bei den Tafels, ebenfalls Schwaben, gab es ein revolutionäres Element. Als Burschenschafter und Demokraten waren einige Tafels zeitweise aus Württemberg ausgewiesen worden. Swedenborgianer und Auswanderer gehörten zur Familie. Auch Julie war von kritischem Sinn und resolutem Charakter. Sie engagierte sich in der Frauenfrage. Hitler war ihr von Anfang an zuwider. Als am 1. April 1933 beim Boykott jüdischer Geschäfte SA-Wachposten vor dem Berliner Kaufhaus des Westens standen, ließ sie sich am Betreten des Geschäftes nicht hindern.

Dietrichs Mutter Paula, geb. von Hase, kam aus einer preußischen Familie. Ihr Vater, Karl-Alfred, war Hofprediger bei Wilhelm II. gewesen, gab dieses Amt allerdings nach einem Konflikt mit dem Kaiser auf. Er wurde dann Konsistorialrat und Professor für praktische Theologie. Sein Leben war stark bestimmt vom Vorbild seines Vaters, des bekannten Jenaer Kirchen- und Dogmengeschichtlers Karl-August von Hase. Pauline, geb. Härtel, eine Tochter des Leipziger Musik-Verlegers, war Karl-Alfreds Mutter.

Die Mutter seiner Mutter, Clara, geb. Gräfin Kalckreuth, hat Dietrich nicht mehr kennen gelernt. Aber die Tradition der Kalckreuths war ein wichtiges Element in der Bonhoeffer-Familie. Clara war sehr musikalisch gewesen und hatte bei Franz Liszt und Clara Schumann Klavierstunde gehabt. Mehr noch als die Musik waren für die Kalckreuths die bildenden Künste bestimmend, nachdem Claras Vater Stanislaus den militärischen Beruf seiner Vorfahren mit der Malerei vertauscht hatte. Bilder von ihm kann man in der Münchener Pinakothek finden; Arbeiten seines Sohnes Leopold in der Hamburger Kunsthalle. Auch im Bonhoeffer-Haus hingen natürlich viele Bilder dieser beiden Kalckreuths, dazu ihrer Lehrer, Freunde und Schüler, wie Lenbach und Achenbach.

Paula, lange Zeit das jüngste der Hase-Kinder, war optimistisch und kontaktfreudig, lebhaft, voller Einfälle und dabei energisch; unlösbare Probleme gab es für sie kaum. Als Kind und junges Mädchen setzte sie sich zuweilen temperamentvoll über die damals übliche Etikette hinweg. Dazu gehörte, dass sie es erreicht hatte, das Lehrerinnen-Examen ablegen zu dürfen.

Die christliche Erziehung, die Paula erhalten hatte, war ihr wichtig, und sie gab sie auf ihre eigene Art weiter. Die Kirche spielte für sie keine große Rolle – das änderte sich allerdings später, als die Bekennende Kirche die einzige Institution war, die dem Hitler-Regime einen gewissen Widerstand entgegensetzte –, aber sie sorgte dafür, dass den Kindern Bibel und Kirchenlieder, die sie schätzte, bekannt wurden. Sie unterrichtete die älteren Kinder in den ersten Schuljahren selbst, zusammen mit gleichaltrigen Kindern von Bekannten aus der Nachbarschaft, die jüngeren hatten eine Hauslehrerin, aber den Religionsunterricht übernahm die Mutter.

Das Hauptziel der Erziehung lag darin, die Kinder zu verantwortlichen Menschen heranzubilden. Die Mutter sah hierin einen christlichen, der Vater einen humanistischen Wert. Die Maximen, die sich aus diesem Ziel ergaben, wurden natürlich nicht immer streng behauptet, aber sie galten bei Bonhoeffers ebenso selbstverständlich wie in den Häusern, mit denen man Umgang pflegte.

So wurde sehr früh von den Geschwistern erwartet, immer die Gefühle und Bedürfnisse der anderen mitzubedenken. Lob und Tadel bezogen sich fast ausschließlich auf diesen Bereich. Dies Bedenken-der-anderen wurde eine wichtige Komponente in Dietrich Bonhoeffers Theologie.

Diese Norm verlangte von den Kindern viel, aber sie gab ihnen auch Sicherheit. Ebenso wie man den anderen ernst nahm, wusste man sich selbst ernst genommen und seine eigenen Belange beachtet. Allerdings riefen diese Maßstäbe manche, oft witzig geäußerte Kritik an anderen wach und konnten beim Heraustreten aus diesem Kreis in eine Welt, in der diese Maßstäbe nicht galten, auch Ängste erzeugen.

Die Eltern legten großen Wert darauf, dass die Kinder Bewegungsfreiheit hatten und sich jedes seinen Anlagen nach entfalten konnte. Zerrissene Kleider oder eingeschlagene Fensterscheiben spielten keine große Rolle. Die Kinder hatten reichlich Platz im Haus und außer der Mutter noch sorgfältig ausgesuchte Erzieherinnen, die sich darum bemühten, sie zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Mutter hatte viel Phantasie; sie arrangierte bewegte Feste und sorgte für immer neue Anregungen mit Spielen, Geschichten, Aufführungen und Ausflügen.

Jedes Kind bekam Unterricht in Klavier, Gesang, Geige oder Cello. Am Samstag gab es Hausmusikabende, wo man gemeinsam musizierte oder zuhörte, wenn ein Kind etwas neu gelernt hatte. Dietrich wurde schon früh ein guter Klavierspieler; als Begleiter seiner Mutter und Geschwister leistete er bald Erstaunliches, sodass er und seine Eltern, als er etwa vierzehn Jahre alt war, an eine Ausbildung zum Pianisten dachten. Auch als Erwachsener hat er sehr viel Klavier gespielt und mit Vorliebe Kammermusik gemacht, häufig zusammen mit seinem Schwager Rüdiger Schleicher und seinem Bruder Klaus, die Geige und Cello spielten. In den letzten Jahren, bevor er ins Gefängnis kam, entdeckte er mit Eberhard Bethge zusammen, den er beim Singen begleitete, die Hugo-Wolf-Lieder, aber auch die geistlichen Gesänge von Heinrich Schütz. Sie brachten, gerade in den aufregenden Widerstands- und Kriegszeiten, zeitweise ein paar Stunden täglich mit dieser Musik zu, ja, mit der ganzen Familie wurden Schütz-Kantaten im Hause Schleicher eingeübt.

So großzügig das Haus Bonhoeffer auch geführt wurde, hütete man sich doch, die Kinder zu verwöhnen. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie längere Strecken liefen, um den Groschen für die Straßenbahn zu sparen. Über ihr Taschengeld hatten die Kinder genau abzurechnen, wobei Klaus auf die Idee verfiel, Fehlendes unter «Almosen» aufzuführen.

Vom heutigen Standpunkt aus würde diese Erziehung wohl als «autoritär» gelten, denn gegen das Wort der Eltern gab es keinen Widerspruch. Für damalige Verhältnisse war sie eher liberal. Die Eltern versuchten, vom Kind her zu denken und ihm für Verzichte einen Ausgleich zu schaffen. Sie hatten Humor, sie konnten geflissentlich das Vergehen eines Kindes übersehen, erwarteten allerdings auch, dass das Kind eine kleine Ungerechtigkeit ohne Wehleidigkeit hinzunehmen imstande war. Dennoch war den Kindern deutlich, dass man sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren hatte, gleich ob es andere oder einen selbst betraf.

Die Maßstäbe, nach denen Bonhoeffer erzogen worden ist, bilden den Hintergrund seiner Ethik.

 

Berlin wurde und blieb für Bonhoeffer die bestimmende Stadt: das kaiserliche, das republikanische und das zögernd nationalsozialistisch gewordene Berlin; das liberale und das kirchliche, das konservative und das weltoffene Berlin mit seinen akademischen und proletarischen Bezirken, seinen Konzerthäusern und Museen; das Berlin der Straßenkämpfe und später das Berlin der Konspiration.

Vier Jahre wohnte die Familie in der Brückenallee, dicht beim Tiergarten. Dann wechselte sie in den Stadtteil Grunewald und bezog das Haus Wangenheimstraße 14, in dem die Bonhoeffers bis 1935 gelebt haben.

Hier war ein regelrechtes Professorenviertel entstanden. In der Nähe wohnten der Physiker Max Planck, der Theologe Adolf von Harnack, die Mediziner Wilhelm His und Oskar Hertwig, der Historiker Hans Delbrück.

Klaus Bonhoeffer befreundete sich eng mit einem der Delbrück-Söhne, Justus, und heiratete später dessen Schwester Emmi.

Auch durch die neue Schule, das humanistische Grunewald-Gymnasium, entstanden für die Kinder neue Freundschaften wie die mit den Geschwistern Dohnanyi, die später zwei Bonhoeffer-Geschwister heirateten: Hans von Dohnanyi Christine und Grete von Dohnanyi Karl-Friedrich. Gerhard Leibholz, aus jüdischem Haus, der später Sabine heiratete, kam durch den Konfirmanden-Unterricht in diese Freundesrunde. Dietrich wuchs, obwohl er jünger war, bald in diesen Kreis hinein und blieb mit ihm auch später eng verbunden; ja, sein Schicksal wurde schließlich durch ihn bestimmt.

Als die Familie in die Wangenheimstraße zog, war bereits Krieg. Karl Bonhoeffer hat in seinen Lebenserinnerungen Eindrücke aus jenen Tagen beschrieben: «An einen kommenden Krieg glaubte man nicht recht, wenn auch die Einkreisung durch die Triple-Entente als unheimlich empfunden wurde. Ich erinnere mich allerdings aus dem Winter 1913/14 in einer Gesellschaft mit einigen Generalstäblern das beunruhigende Gefühl bekommen zu haben, daß man mit einer kriegerischen Auseinandersetzung bald zu rechnen habe […]. Als besonders eindrucksvoll aus jener erregten Zeit ist mir in Erinnerung der Abend am Tage der englischen Kriegserklärung, an dem wir mit den drei Jungen Unter den Linden waren. Die in den Tagen zuvor gesteigerte Mitteilsamkeit der auf den Straßen, vor dem Schloß und vor den Regierungsgebäuden sich bewegenden Menge war einer düsteren Schweigsamkeit gewichen, die ein außerordentlich bedrückendes Bild ergab.»[8]

In sein Silvestertagebuch trug Karl Bonhoeffer 1916 ein: «Wir stehen heute in Erwartung der ohne Zweifel ablehnenden Antwort der Entente. Ein Friedensvorschlag Amerikas, der sich dem unsrigen anschloß, wird mit Mißtrauen betrachtet, weil wir Einmischung Amerikas in etwaige Friedensverhandlungen fürchten bei der engen englisch-amerikanischen Verbindung […]. Zu eigenem Urteil ist man bei der zensurierten Presse nicht fähig, und was politisch geschieht, hat so häufig den Charakter der mangelnden organischen Notwendigkeit, daß man beunruhigt ist. Der dauernde Appell an den gutgläubigen Untertanenverstand, der nur zu retrospektiven Betrachtungen zugelassen ist, hat nichts Erhebendes.»[9]

Inzwischen waren Vettern der Bonhoeffer-Kinder gefallen oder schwer verwundet worden. 1917 rückten freiwillig die Brüder Karl-Friedrich und Walter ein. Am 23. April wurde Walter verwundet. Drei Stunden vor seinem Tod am 28. April diktierte er den letzten Brief im Feldlazarett: «Meine Lieben! Heute hatte ich die zweite Operation, die allerdings viel weniger angenehm verlief, weil tiefere Splitter entfernt wurden. […] Meine Technik, an den Schmerzen vorbeizudenken, muß auch hier herhalten. Doch gibts jetzt in der Welt interessantere Sachen als meine Verwundung. Der Kemmelberg mit seinen möglichen Folgen und das uns heute als besetzt gemeldete Ypern gibt uns viel zu hoffen. An mein armes Regiment darf ich gar nicht denken. So schwer waren für es die letzten Tage. Wie mags den andern Fahnenjunkern gehen? Voll Sehnsucht denke ich an Euch alle, Ihr Lieben, Minute um Minute der langen Tage und Nächte Euer noch so weit entfernter Walter.»[10]

Die Mutter schien gebrochen; es dauerte lange, bis sie sich von diesem Schlag erholte. Zehn Jahre lang trug der Vater nichts mehr in sein Silvesterbuch ein, das er bisher regelmäßig geführt hatte.

Der Tod des Bruders und der große Schmerz der Mutter haben den damals zwölfjährigen Dietrich tief beeindruckt.

Auch Klaus kam am Ende des Krieges als Siebzehnjähriger noch kurz in den Westen.

 

Dass die Kriegserlebnisse zu Dietrichs Entschluss, Pfarrer und Theologe zu werden, beitrugen, ist anzunehmen. Vielleicht hat auch die Tatsache, dass er damit ein ganz anderes Feld als die Brüder betrat, in dem er sich als Jüngster selbständig bewähren konnte, ihn bei der Berufswahl mitbestimmt. Der Entschluss wurde endgültig, als er zu Beginn der Unterprima Hebräisch als Wahlfach nahm. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt.

Der Vater wollte ihn seinen eigenen Weg gehen lassen und verhielt sich zurückhaltend. Später schrieb er einmal an ihn: «Als Du Dich seinerzeit für die Theologie entschlossen hast, dachte ich manchmal im Stillen, dass ein stilles, unbewegtes Pastorendasein, wie ich es von meinen schwäbischen Onkeln kannte und wie es Mörike schildert, eigentlich doch fast zu schade für Dich wäre. Darin habe ich ja, was das Unbewegte anlangt, mich gröblich getäuscht. Daß eine solche Krise auch auf dem Gebiete des Kirchlichen noch möglich wäre, schien mir aus meiner naturwissenschaftlichen Erziehung heraus eigentlich ausgeschlossen.»[11] Die Mutter hat Dietrichs Entscheidung für den Beruf ihres eigenen Vaters und Großvaters sicherlich weniger negativ gegenübergestanden.

Der Reichtum an Begabungen und Interessen im großen Geschwisterkreis sorgte dafür, dass die Berufswahl bei Dietrich zu keiner Horizontverengung führte, wie man sie Theologen gern nachsagt. Bei dem ungewöhnlich engen Kontakt mit Geschwistern und Schwägern wusste er immer viel von den Welten, in denen diese lebten. Die informierenden Gespräche rissen nicht ab, auch als Dietrich sich später jahrelang mit aller Energie seiner Kirche widmete.

Die drei Brüder waren naturwissenschaftlich interessiert. Karl-Friedrich, Agnostiker, später Professor der Physik und weltweit anerkannt auf dem Gebiet der Chemie des Wasserstoffs und der Reaktionskinetik, war von besonders sensibler Warmherzigkeit. Ihm gegenüber äußerte sich Dietrich später häufig über seinen kirchlichen Weg; deshalb sind die Geburtstagsbriefe an ihn wichtige biographische Quellen. Klaus, das diffizilste, amüsanteste und nach dem Urteil des Vaters auch begabteste der acht Kinder, hatte eigentlich Mediziner werden wollen, wurde dann aber Jurist. Mit ihm reiste Dietrich viel und gern, weil er einen Spürsinn für exotische Winkel und Läden besaß. Walter hatte den Wald und die Tiere genau gekannt, er hatte aber auch erstaunliche Gedichte gemacht. Nach seinem Tod bekam Dietrich Walters Konfirmationsbibel; sie blieb seine Meditationsbibel bis zum Ende. Ursula trieb Sozialpädagogik bei Anna von Gierke; von ihrem Mann, Rüdiger Schleicher, der Jurist war, ließ Dietrich sich gern zu lebhaften philosophischen und theologischen Gesprächen fordern, außerdem liebte er die englische Konversation mit ihm. Christine widmete sich der Biologie; ihr Mann, Hans von Dohnanyi, wurde Dietrichs intensivster Informant über die politische und dann konspirative Welt. Die Zwillingsschwester Sabine ließ ihr Talent zum Modellieren ausbilden; mit ihrem Mann, dem Staatsrechtler Gerhard Leibholz, entstand später eine immer engere Verbindung; auf diesen ging dann im Exil Dietrichs Freundschaft zum Bischof von Chichester, George Bell, über.[12] Die Jüngste, Susanne, teilte Dietrichs kirchlich-theologische Interessen, sie half ihm bei der Kindergottesdienstarbeit in Grunewald; ihr späterer Mann, Walter Dreß, hat mit Dietrich an der Berliner Fakultät promoviert, und zwar als Kirchengeschichtler.

So erweiterte sich das breite Spektrum von Anregungen und Möglichkeiten, das schon die Kinderzeit und die Jugend bestimmt hatte. Die Lust an kindlichen Aufführungen – Dietrich hatte selbst ein Stück nach Wilhelm Hauffs Märchen «Das kalte Herz» erdacht – verwandelte sich in die Pflicht, den Geschwistern zu ihren Hochzeiten ein Polterabendstück zu inszenieren. Die früh gepflegte Leidenschaft des Schachspiels half Dietrich in der Gefängniszelle, die Zeit mit Schachtheorie zu füllen.

Man las viel in der Familie. Den älteren Geschwistern folgend nahm sich Dietrich früh die Klassiker vor – ehe sie ihm durch einen Schulbetrieb verleidet werden konnten. Im Tegeler Gefängnis kehrte er in die Welt des 19. Jahrhunderts zurück, wie seine Familie sie liebte, und schrieb: