Digitale Gefolgschaft - Christoph Türcke - E-Book

Digitale Gefolgschaft E-Book

Christoph Türcke

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Beschreibung

Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter oder Amazon sind die neuen sozialen Magneten - Clanbildner einer sich anbahnenden globalen digitalen Stammesgesellschaft. Während die herkömmlichen sozialen Bindungskräfte von Familien, Institutionen, Parteien, Verbänden und Staaten zunehmend schwinden, entstehen um digitale Plattformen wimmelnde Kollektive, die sich wie Schwärme oder Horden ausnehmen. Ihre Benutzer sind "Follower", Digitale Gefolgschaft hält die neuen Clans zusammen. Der Philosoph Christoph Türcke zeigt in einer brisanten Analyse, wohin die Dynamik der Digitalisierung führt. Sein neues Buch ist ein Augenöffner.
Plattformen knechten ihre Nutzer nicht. Sie saugen sie an. Doch damit machen sie sie abhängiger als jede politisch-militärische Gewalt. Sie entfesseln ihr Wunschleben algorithmisch in einer bestimmten Richtung. Dabei steht das neue Erfolgsmodell der Plattform erst am Anfang seiner Wirkungsmacht. Schon arbeiten die großen Player daran, das Gesundheits-, das Bildungs- und das Verkehrssystem, letztlich die gesamte Wirtschaft nach dem Prinzip der Plattform umzubauen. Auch die Politik gerät in diesen Sog. Donald Trump behandelt die USA nicht nur wie eine Firma. Er macht mit Twitter Politik und sieht in den Bürgern Gefolgsleute oder Gegner. Doch es gibt auch Gegenkräfte und Gegenentwürfe. Sie haben das letzte Wort in diesem Buch, das zeigt, dass der Weg in die digitale Hölle mit lauterverheißungsvollen Errungenschaften gepflastert ist.

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Christoph Türcke

Digitale Gefolgschaft

Auf dem Weg in eine neue Stammesgesellschaft

C.H.Beck

Zum Buch

Wie digitale Gefolgschaft die offene Gesellschaft zerstört: Eine Streitschrift

Während die Bindungskräfte von Familien, Institutionen, Parteien, Verbänden und Staaten schwinden, entstehen um digitale Plattformen wimmelnde Schwärme oder Horden. Ihre Benutzer sind «Follower», digitale Gefolgschaft hält die neuen Clans zusammen. Plattformen knechten ihre Nutzer nicht. Sie saugen sie an. Doch damit machen sie sie abhängiger als jede politisch-militärische Gewalt. Schon arbeiten die großen Player daran, das Gesundheits-, das Bildungs- und das Verkehrssystem, letztlich die gesamte Wirtschaft nach dem Prinzip der Plattform umzubauen. Auch die Politik gerät in diesen Sog. Donald Trump behandelt die USA nicht nur wie eine Firma. Er macht mit Twitter Politik und sieht in den Bürgern Gefolgsleute oder Gegner. Doch es gibt auch Gegenkräfte und Gegenentwürfe. Sie haben das letzte Wort in diesem die Augen öffnenden Buch, das zeigt, dass der Weg in die digitale Hölle mit lauter verheißungsvollen Errungenschaften gepflastert ist.

Über den Autor

Christoph Türcke war Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm erschienen: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation (22012); Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift (22013); Philosophie des Traums (32011); Hyperaktiv. Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur (22012); Mehr! Philosophie des Geldes (22015); Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet (32016).

Inhalt

Einleitung

1. Der High-Tech-Dschungel

Taylorismus

Informeller Sektor und Jobless Growth

Arpanet – Internet

Suchmaschine

«Gefällt mir»

Neue und alte Informalität

Deregulierung

Dekolonisierung

Neue Lernkultur

2. Die Auflösung der Öffentlichkeit

Brechts Rundfunk

Uröffentlichkeit und Agora

Öffentlichkeitsparadox

Öffentlichkeit und Andacht

Unterbrechungslogik

Aufmerksamkeitsdefizit

Iconic Turn

Sein ist Wahrgenommenwerden

Filterlose Öffentlichkeit

Ende der Repräsentation

Öffentlichkeit als Furie

Dauerranking

Mengen-Credo

Lichtblicke

Gegenöffentlichkeit

Digitaler Schwarmsog

3. Digitale Gefolgschaft

Vernetzte Wertschöpfungssysteme

Markt als Plan

Plattform-Staatsgeschäfte

Bitcoin – Blockchain

Netz-Fragmentierung

Follower

Netz-Fundamentalismus

Politikverdrossenheit

Tribalistischer Nationalismus

Deregulierung 2.0

Dataismus

4. Ausblick

3-D-Druck

Personal Producer

Kapitalistische Endzeit

Verstaatlichung vs. Vergesellschaftung

Reruralisierung

Revision der Utopie

Literatur

Einleitung

Die frühen Menschen waren so gut wie nie allein. Ihre Wahrnehmungs- und Gefühlsweise, ihre Sitten und Gewohnheiten bildeten sie gemeinschaftlich aus. Bei fast allem, was sie taten oder erlitten, waren sie von Stammesgenossen umgeben, mit denen sie sich direkt und unkompliziert durch Gesten und vor allem durch Laute verständigten. Die archaische Stammeswelt war akustisch dominiert. Eines Tages aber wurde eine Erfindung gemacht, die zur Auflösung der Stammesverbände führte: die Schrift. Sie erweiterte zwar den Wirkungskreis der Sprache. Texte sind auch dort lesbar, wo man ihren Autor nicht sprechen hört. Aber in Ruhe schreiben und lesen kann jeder nur für sich. Schrift isoliert die Menschen gegeneinander und richtet sich ausschließlich ans Auge. Alphabet und Buchdruck haben dafür gesorgt, daß die optische Wahrnehmung sich von der akustischen abspaltete und allmählich die Herrschaft über das ganze Sensorium antrat.

Doch die Epoche der Schrift geht zu Ende. Telekommunikation und Television haben das Zeitalter einer neuen Gemeinschaftlichkeit eröffnet. Sie potenzieren nicht nur die Reichweite einzelner Organleistungen – wie Fernrohre das Sehen oder Räder das Laufen. Sie dimensionieren den ganzen menschlichen Organismus neu. Sie haben nämlich «das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben». Dank ihrer verbindenden Kraft kann man sich nun auf höchstem Kulturniveau und über den ganzen Globus hinweg wieder so direkt und unkompliziert verständigen wie einst im Stammesverband der Frühzeit. «Die Familie der Menschheit wird wieder zu einem großen Stamm.»[1]

So legte sich in den 1960er Jahren der Medientheoretiker Marshall McLuhan den Gang der Menschheitsgeschichte zurecht – ultramodern, und doch ganz im Trott jenes altehrwürdigen Drei-Phasen-Schemas, das die biblische Tradition tief ins abendländische Denken eingesenkt hat: Es war einmal ein guter Urzustand naturwüchsiger Zusammengehörigkeit (Paradies); dann wurde er durch abweichendes Verhalten verspielt (Sündenfall); doch auf höherem Niveau, angereichert durch alle zivilisatorischen Errungenschaften, die die ausgedehnte Epoche der Trennung mit sich gebracht hat, wird er demnächst wiederhergestellt werden (Rettung). Dies Drei-Phasen-Schema ist derart elementar, daß selbst die beiden radikalsten Kritiker des christlichen Europas im 19. Jahrhundert davon nicht ganz loskamen. Der «höhere» Kommunismus, auf den Karl Marx hinarbeitete, sollte, wie einst der «naturwüchsige» Kommunismus des primitiven Stammesverbands, ohne jedes Privateigentum an Produktionsmitteln funktionieren, aber selbstverständlich auf dem kulturellen Niveau, das in den Jahrtausenden der räuberischen privaten Aneignung gemeinschaftlichen Gutes durchaus erreicht worden war.[2] Der höhere Menschentypus, der Friedrich Nietzsche vorschwebte, sollte wieder so stark und souverän sein wie einst die raubtierhaften Frühmenschen, aber zugleich vollgesogen mit allem kulturellen Raffinement, das die lange Zeit der Dekadenz der Menschheit immerhin beschert hatte.[3] McLuhan bietet von dieser Denkfigur nur noch eine medientheoretische Flachversion: Wie die ursprüngliche Einmütigkeit der archaischen Stammesgesellschaften durch die Trennkraft der Schrift zersetzt worden sei, so werde die telekommunikative Bindekraft einen neuen, höheren Einklang herstellen und die ganze Menschheit «zu einem großen Stamm» machen.

Doch schon die Einteilung der Medien in verbindende und trennende ist schief. Alle Medien verbinden, seien sie nun Träger, Leitungen, Kanäle oder Frequenzen. Stets sind sie durch die Fähigkeit definiert, bestimmte Informationen – Schriftzeichen, Bilder, Töne oder sonstige Konfigurationen von Sinnesreizen – über beträchtliche Entfernungen hinweg zu transportieren. Daß das Medium Schrift die alten Stammesverbände aufgelöst habe, ist Unfug. Umgekehrt: Stammesverbände hatten sich längst zu größeren städtischen Gemeinwesen mit einem höfischen Machtapparat, vielen Untergebenen und Tributpflichtigen ausdifferenziert, als gegen Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends in Mesopotamien die ersten profanen Schrifttäfelchen aufkamen. Auf ihnen waren Bildzeichen für Naturalienmengen eingeritzt, die an den Königshof abzuliefern waren: soundsoviele Rinder, Scheffel Gerste, Krüge Bier etc. Diese Zeichen hatten Vertragscharakter. Sie hielten Abgesprochenes sichtbar fest, gewissermaßen auf tönernen Schuldscheinen, weil auf mündliche Vereinbarungen in Zeiten unübersichtlich anwachsender Gemeinwesen anscheinend nicht mehr genügend Verlaß war. Schriftzeichen sollten die locker gewordene Verbindlichkeit zwischen Tributpflichtigen und Herrschenden wieder festigen.[4]

Wie alle Medien verbinden, haben freilich auch alle etwas Trennendes. Schrift löst Worte von ihrer konkreten Sprechsituation ab und transportiert sie in erstarrter Form in andere Gegenden und Kontexte. Aber auch Ton- oder Bildsequenzen werden nur telekommunikativ übertragbar, indem sie von ihrem Entstehungsort abgelöst und, zerlegt in Impulse, durch Leitungen geschickt werden. Ihre Empfänger können sie nicht wahrnehmen, ohne ihrerseits von ihrer unmittelbaren Umgebung abgezogen zu werden. Schon das alte Telefon riß mit seinem penetranten Klingeln den Angerufenen aus seiner jeweiligen Beschäftigung heraus. Und noch das nahezu lautlose Anschalten eines Fernsehers oder Computerspiels, das Checken von E-Mails oder Facebook-Nachrichten hört nicht auf, unterbrechend auf alles zu wirken, was sonst gerade an Ort und Stelle geschieht.

Zwar erschien es in der Frühzeit des Telefons wie ein Wunder, ferne Stimmen durch eine Leitung als nah zu erleben. Und immer noch macht es staunen, daß Leute, die sich physisch in ganz verschiedenen Erdteilen befinden, per Skype konferieren können, als säßen sie im selben Raum. Faszinierend die Perspektive, nicht nur Konferenzen, sondern womöglich auch medizinische Operationen telekommunikativ durchzuführen. Tröstlich die Vorstellung, mit den Angehörigen auch auf der Reise oder der Flucht in Verbindung zu bleiben. Inspirierend die Aussicht, über Mobiltelefone in kürzester Zeit Massendemonstrationen organisieren und sie so lenken zu können, daß sie nicht sogleich in die Fallen von Polizei oder Militär tappen. Welch eine Ersparnis an Reisen, welch eine Bündelung von Kompetenzen, welch eine Trostspendung, Freundschaftspflege und Gemeinschaftsbildung ermöglicht doch mediale Verbindung! Allerdings nur, indem sie Leitungen für einzelne, voneinander isolierte Sinnesorgane legt und dabei punktuell raumzeitliche Ferne überbrückt. Die Nähe, die so entsteht, ist immer bloß eine sporadische, die sich ein- und ausschalten läßt, aber nicht jene umfassende der wechselseitigen Teilnahme und Einfühlung, die sich nur allmählich in längerem Zusammenleben und -erleben bildet und am dringendsten benötigt, was die neue Technologie am meisten einsparen will: Zeit.

So steht sich die Telekommunikation selbst im Weg. Sie verhindert, was sie verheißt: die Zusammenführung der «Familie der Menschheit» «zu einem großen Stamm». Das mochte der Teleromantiker McLuhan nicht wahrhaben. Dennoch hat er, wie ein blinder Seher, mit seiner Assoziation von Telekommunikation und Stammesgesellschaft einen Geistesblitz gezündet, dessen Relevanz erst allmählich wahrnehmbar wird – seit die große Medieneuphorie des 20. Jahrhunderts verdampft ist und die Mikroelektronik sich zum globalen Alltag ernüchtert hat. Seither ist klar: Die Menschheit wird nicht solidarischer und glücklicher durch Telekommunikation, aber die Telekommunikation wird ständig mächtiger durch die sie entwickelnden Menschen. Sie stiftet keine umfassende menschliche Nähe. Allenfalls trägt sie zu deren Erhaltung über räumliche Trennung hinweg bei. Desto mehr gewinnt sie das Ansehen eines unentrinnbaren Schicksals. Wer sie nicht nutzen möchte, ist verloren. Sie schließt die wenigen, die nicht mitmachen wollen, gnadenlos aus, weil sie darauf angelegt ist, alle einzuschließen.

«Inklusion» ist das Zauberwort. Niemand soll «zurückgelassen» werden. Prominent wurde dieser Gedanke durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Allen Menschen, so heißt es dort, auch denen mit schwersten körperlichen und geistigen Behinderungen, soll «die volle und wirksame Teilhabe [englisch: participation] an der Gesellschaft und Einbeziehung [englisch: inclusion] in die Gesellschaft»[5] zuteil werden. Das klingt unendlich barmherzig, heißt im Klartext aber: Auch die Versehrtesten und Behindertsten sollen vorbehaltlos an allem teilhaben, was die real existierende Gesellschaft ausmacht, auch an sämtlichen ihrer Anforderungen und Zwänge. Wer denen nicht gewachsen ist, dem bietet die Inklusion nirgends mehr einen Schonraum. Wozu auch? Was kann es Besseres geben als ausnahmslos alle in jeder Hinsicht einzubeziehen? Schon wird Inklusion als «Menschenrecht» gehandelt – ohne jede Erinnerung an die Grundbedeutung des lateinischen Wortes inclusio. Im alten Rom hieß es Einschluß – aber nicht in die sanften Arme der Philanthropie, sondern in den Kerker: Einsperrung.

Der Sturm auf die Bastille geschah im Namen der Freiheit. Sie galt, flankiert von Gleichheit und Brüderlichkeit (heute sagt man mit guten Gründen Geschwisterlichkeit), als das vornehmste Menschenrecht. Was hingegen geht in Köpfen vor, die «Einschluß» zu einem Menschenrecht erklären, als ob Gleichberechtigung nur existiere, wenn alle eingeschlossen sind?[6] Da wird bereits in den Koordinaten der Digitalisierung gedacht. Von der aus gesehen ist nämlich jeder, der nicht an ihr teilhat, eigentlich kein Mensch mehr. Also soll jeder ein Recht auf sie haben: in sie eingeschlossen werden. Und wenn jemand diesen Einschluß gar nicht will – das angebliche Menschenrecht als Nötigung empfindet? Dann schließt er sich selbst von der Menschheit aus. Abgehängt von allen digitalen Verbindungen ist über kurz oder lang niemand mehr überlebensfähig. Die Zugehörigkeit zur digitalen Welt wird ebenso unausweichlich, wie es einst die Zugehörigkeit zu einem Stamm war. Es bahnt sich tatsächlich eine globale digitale Stammesgesellschaft an – allerdings nicht so, daß die ganze Menschheit dank Mikroelektronik zu vertraulich-solidarischer Nähe zusammenrückt. «Zu einem großen Stamm» wird sie vielmehr durch Einschluß in eine gemeinsame Hochtechnologie, die zugleich allen Menschen ihre eigenen Vernetzungswege überlassen soll. Noch nie gab es so viel individuelle Wahlmöglichkeiten wie innerhalb des digitalen Labyrinths, aber nirgends zeigt sich ein Ariadnefaden, der hinausführt. Nie gab es so viel Vereinzelung wie im digitalen Stammesgehäuse, aber nie trafen sich so viele einzelne wie auf digitalen Plattformen. Plattformen sind die neuen sozialen Magneten: die Clanbildner im digitalen Stamm. Sie ziehen die herkömmlichen sozialen Bindungskräfte, die vorläufig noch Familien, Institutionen, Parteien, Verbände und Staaten zusammenhalten, in ein neues Kraftfeld globaler elektronischer Trennungs- und Ballungskräfte hinein. Dies Kraftfeld existiert erst wenige Jahrzehnte, aber seine Wirksamkeit ist bereits ungeheuerlich. Es läßt neuartige, um digitale Plattformen wimmelnde Kollektive entstehen, die sich wie Schwärme ausnehmen. Schwärme entstehen, wenn jeder einzelne sich dorthin bewegt, wo es die andern hintreibt. Sie bilden sich in kürzester Zeit, sind aber auch extrem labil. Eine einzige Störung kann dafür sorgen, daß sie wieder auseinanderstieben. Kein Zufall, daß Staaten und Großunternehmen gegenwärtig hohe Summen in die Erforschung von «Schwarmintelligenz» stecken – in der Hoffnung, sie werde sich als die Elementarform jeglicher Intelligenz erweisen und digitalisieren lassen.

Tatsächlich können zu Plattformkonditionen Menschenmassen nicht mehr zu differenzierten Gemeinschaften oder Gesellschaften zusammenwachsen. Sie bleiben ähnlich unterkomplex wie Schwärme oder Horden. Ohne eine Entdifferenzierung der Verständigungsformen, ohne deren tendenzielle Reduktion auf Telegrammstil, auf Zustimmung und Ablehnung, auf «Gefällt mir» und «Gefällt mir nicht» können solche Zusammenballungen gar keinen Bestand mehr haben. Die tonangebenden sozialen Medien (Facebook, Twitter etc.) exerzieren das nicht nur vor; sie zeigen auch an, wie Kollektivbildung im digitalen Zeitalter generell zu verlaufen verspricht: unstet und flüchtig, immer auf dem Sprung und dabei zurückverwiesen auf verkürzte Mitteilungs- und vergröberte Verhaltensweisen, in denen unversehens Züge aus der Frühzeit menschlicher Kollektivbildung wiederkehren, als Hominidenhorden sich zu menschlichen Stämmen und Clans allererst zu formieren begannen und komplexere Gesellschaften noch gar nicht existierten. Gerade die neueste Technologie rührt Ältestes wieder auf. Die Stammesgesellschaft ist nicht nur Vergangenheit; sie droht auch zur Zukunft zu werden. Niemand vermag zwar das Kommende genau vorauszusagen. Aber daß bestimmte Gegenwartspraktiken auf eine bestimmte Zukunft hinauslaufen, wenn sie nicht daran gehindert werden, leidet keinen Zweifel. Wer an dem Ast, auf dem er sitzt, munter weitersägt, wird fallen. Umweltverschmutzung und Erderwärmung werden bei ungebremster Fortsetzung zu einem ökologischen Kollaps führen. Ebenso wird eine digitale Stammesgesellschaft kommen, wenn die Digitalisierung ihre aktuelle Dynamik beibehält. Deren treibende Kräfte heißen Formalisierung und Informalisierung. Sie waren schon längst vor der Digitalisierung wirksam, haben aber durch sie einen epochalen Intensitätsschub bekommen. Seither wuchern sie wie ein Dschungel.

Fußnoten

1

 McLuhan 1992 [1964], 11 und 201

2

 Marx 1976 [1875], 21; Marx 1977 [1894], 849

3

 Nietzsche 1988 [1887], 322f.; Nietzsche 1988 [1889], 264

4

 Türcke 2005, 15ff.

5

 Vereinte Nationen 2008, Artikel 24, 1

6

 «Jeder Mensch hat ein Recht auf ‹Inklusion›, also darauf, ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein», www.inklusion-als-menschenrecht.de, 29.01.​2018.

1. Der High-Tech-Dschungel

Wenn ich «zu einem informellen Abendessen» eingeladen werde, so bedeutet das: Es wird an diesem Abend kein Galamenü geben, keine feste Sitzordnung, weder Tischkarten, Reden noch Vorführungen. Ich darf leger gekleidet erscheinen und mich auf lockere Gespräche mit den Gastgebern und einer überschaubaren Zahl anderer Gäste einstellen. «Informell» heißt so viel wie ungeplant und ungezwungen. Das Wort hat sich umgangssprachlich mit Freizeit und Muße verbunden, jener Sphäre, wo man unbehelligt von beruflich-geschäftlichen Regeln und Förmlichkeiten die Seele baumeln lassen kann.

Das ist freilich nicht sein einziger Bedeutungsraum. Da lief zum Beispiel 1951 in Paris eine vielbeachtete Kunstausstellung. Ihr Titel – Signifikanten des Informellen (Signifiants de l’informel) – gab alsbald einer ganzen Kunstrichtung den Namen: Informel. Gezeigt wurden Arbeiten junger Maler, die sich als neue Vorhut der Avantgardekunst verstanden. Weg von der Abbildung der Gegenstandswelt, die man besser der Fotografie überläßt, hin zu freier, abstrakter Form- und Farbgestaltung: das war zwar auch schon eine Generation früher die Parole gewesen, als die Avantgardekunst entstand. Doch hatten ihre Pioniere damit je ernst gemacht? Hatten sie nicht an die Stelle von gegenständlichen Formen lediglich abstrakte gesetzt, vornehmlich geometrische? Drohte das strenge Markieren solcher Formen nicht genauso leer und starr zu werden wie die Abbildung gegenständlicher Sujets? Dagegen begehrten die jungen Radikalen auf: in Bildern, denen man die innere und äußere Bewegung des Malers, seine Erregung, seinen Kampf mit dem Material direkt ansehen sollte. Der Bildwerdungsprozeß mit all seinen Unvorhersehbarkeiten sollte sicht- und spürbar werden. Form war dabei nur noch als Gerinnungsmittel von Bewegung geduldet, nicht mehr als Rahmen, Struktur oder Behälter von Inhalten.

Die Befreiung der Avantgarde von Geometrie und Tüftelei durch den direkten Niederschlag lebendiger Bewegung im Bild: das war nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches Programm. Das Informel verstand sich nicht etwa als Rückzugsbewegung in den gepflegten Privatraum informeller Geselligkeit, sondern als öffentliche Parteinahme für freie Entfaltung in allen Lebenslagen. Erst Menschen, die nicht mehr in Formen gepreßt, auf Formeln gebracht, unter Regeln gefaßt werden, können sich ungegängelt entwickeln. Das war die Kernbotschaft des Informel.[1] Seine Bilder versuchten, Energie umzusetzen, sie sowohl als Lebensspender wie als Sprengkraft aller verfestigten Formen sichtbar, tastbar, riechbar werden zu lassen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts wirkte das einigermaßen verstörend. Die energiegeladene Abstraktheit dieser Bilder war ebenso zudringlich wie ungreifbar. Das Informelle als Kehrseite, Hinterhof oder Zubehör von Förmlichem, Formalisiertem, Geregeltem: das kannte man. Nun aber kam es als eine eigene Macht daher und kündete von der Auflösung aller Formstrenge. Das war neu und unheimlich. Würde es wirklich zur freien Entfaltung der Individuen führen oder lediglich zum Zusammenbruch aller Strukturen, Maßstäbe und Orientierungen? Waren die Bilder des Informel vielleicht klüger als ihre Maler, nämlich Vorboten eines Verfalls, den letztere gar nicht sehen wollten? Zumindest waren sie energetische, schockierende, vielfältig deutbare Orakel – eines der letzten großen Ärgernisse der Kunstgeschichte.

Doch davon war noch nicht die Rede, als das Adjektiv «informell» aufkam. Es kursierte zunächst, etwa seit den 1920er Jahren, denkbar fern von aller bildenden Kunst, in der Industriesoziologie. Auch dort aber bezeichnete es ein Ärgernis. Zwar hatte die Ingenieurskunst enorme Fortschritte gemacht. Sie konstruierte ständig neue Maschinen, die bestimmte menschliche Bewegungsabläufe mechanisch imitierten und sie ohne Ermüdung, ohne Fehler, viel dauerhafter und effizienter ausführten, als Menschen das je vermochten. Nur mußten sie weiterhin von Menschen bedient werden. Deren Arbeitsweise glich sich wohl oder übel der Bewegungsweise der Maschinen an. Aber hatte sich je jemand darum gekümmert, sie genauso zu berechnen, zu planen, zu formalisieren wie die Maschinenbewegungen selbst?

Taylorismus

Darauf kam erst der amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor. Um die Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte er seine arbeitswissenschaftliche Methode: das exakte Messen der Herstellungszeit industrieller Produkte mit der Stoppuhr; die Zerlegung von Arbeitsvorgängen in einzelne Handgriffe; die Kombination solcher Handgriffe zu optimal beschleunigten Gruppenprozessen ohne jeglichen Leerlauf bei Arbeitern und Maschinen; und großzügige Entlohnung für diejenigen, die diesem Zeit- und Bewegungsmanagement willig folgten oder gar zu seiner Verbesserung beitrugen.[2] Um so bemerkenswerter, daß Taylors Effizienzsteigerungsprogramm keineswegs zu maximalem Erfolg führte. Woran lag das? Offenbar halten Menschen es nicht lange aus, wenn nicht nur einzelne Handgriffe, sondern ihr gesamtes Arbeitsleben im Zeit- und Bewegungsschema von Maschinen verlaufen soll. Sie lassen nach, machen Fehler, werden krank, sträuben sich, streiken. Eine aufwendige industriesoziologische Langzeitstudie, die ebenso akribisch Arbeitsstrukturen und Räume großer Fabriken untersuchte wie Beschäftigte befragte, kam zu Ergebnissen, an denen seither keine Arbeitswissenschaft mehr ganz vorbeisehen kann:[3] Wer versucht, sämtliche Arbeitsabläufe maximal zu formalisieren, verkennt die informellen Faktoren, mit denen jeder Arbeitsprozeß durchsetzt ist. Das Arbeitsklima eines Betriebs zum Beispiel läßt sich mathematisch schlecht berechnen. Aber es muß gut sein, wenn Arbeitsgruppen gut kooperieren sollen. Kollegen, die einander mögen, treten auch eher spontan füreinander ein und helfen sich wechselseitig mit Kleinigkeiten aus. Informelles Gruppenverhalten – wie und mit wem man zusammenarbeitet, die Arbeitspausen verbringt, seinen Arbeitsplatz gestaltet, mit betriebsinternen Konflikten umgeht – hat erhebliche Auswirkungen auf die kollektive Arbeitsleistung. Alle Arbeitsverläufe formalisieren wollen, ist nicht nur vergeblich, sondern auch kontraproduktiv. Das bloße Starren auf Effizienz führt zu einer Menge Ineffizienz.

Das war das Ärgernis. Der Versuch, die gesamte Arbeitssphäre mit mathematischer Präzision zu formalisieren, brachte die Dimension des Informellen nicht nur nicht weg; er ließ sie überhaupt erst deutlich hervortreten. In den USA geschah das geradezu musterhaft. Sie waren nicht nur die Wiege der Arbeitswissenschaft und bereits führend in der Entwicklung nüchtern-technisierter Produktions- und Verwaltungsformen; sie waren auch ein Sammelbecken von Einwanderern verschiedenster Länder, die viele ihrer aus der alten Heimat mitgebrachten Statussymbole, Gebräuche und Umgangsformen abstreifen mußten, wenn sie in der neuen Umgebung Fuß fassen wollten. Stärker als in Europa traten hier herkömmliche Höflichkeitsformen zurück, verschwanden Ergebenheitsfloskeln aus dem Briefverkehr und Titel aus der Anrede, wurden Kleidung und Redeweise freizügiger – nicht nur in Firmen und Behörden, sondern im gesamten öffentlichen Verkehr. Auf diese um sich greifende «Informalisierung»[4] hatte sich jede Betriebsführung einzustellen. Sie mußte einschätzen lernen, in welchem Maße ihr Geschäftserfolg dadurch beeinträchtigt oder gefördert würde, und wie sie den nicht planbaren menschlichen Faktor, die Human Relations, gleichwohl einplanen könnte. So oder so aber war von nun an klar: Man hatte mit dem Informellen als einer unvermeidlichen Begleiterscheinung zu rechnen, die der fortschreitenden technischen Formalisierung aller Lebensverhältnisse ebenso anhaftet wie der Schatten dem Licht.

Früh schon erwies sich das Informelle nicht nur als ein betriebswirtschaftliches, sondern als ein gesamtgesellschaftliches Problem. Besonders heftig drückte es die junge Sowjetunion. Ihr erster Führer, Wladimir Iljitsch Lenin, hatte, als er noch im Schweizer Exil lebte, die Methoden Taylors als Mittel schamloser kapitalistischer Ausbeutung verworfen. Nach der Revolution, 1918, als er zur Macht gekommen war, schwenkte er um und sprach sich für ein Dekret zur Arbeitsdisziplin aus. «In dem Dekret müssen wir unbedingt über die Einführung des Taylor-Systems sprechen, mit andern Worten, über die Nutzung aller wissenschaftlichen Arbeitsmethoden, die dieses System vorantreibt. Ohne es wird es unmöglich sein, die Produktivität zu steigern, und ohne es werden wir nicht in den Sozialismus eintreten.»[5] Ein Zentrales Arbeitsinstitut wurde eingerichtet. Sein Leiter, Alexei Gastev, galt als der «Ovid der Ingenieure, Bergleute und Metallarbeiter». In überschwenglichen Prosagedichten hatte er, noch vor der Revolution, das neue industrielle Rußland mit seinen pfeifenden Fabriken und glühenden Hochöfen besungen und über einen neuen Menschentypus mit «Nerven aus Stahl» und «Muskeln wie Eisenschienen» phantasiert. Er war ein offener Anhänger Taylors und hätte sich ohne Lenins Unterstützung nicht halten können. Sein Institut geriet nämlich alsbald in den Sturm heftiger Debatten. Sollten die Arbeitsabläufe wie in den USA allein von Ingenieuren geplant oder sollten sie nicht vielmehr von der Basis aus «kameradschaftlich» organisiert werden? Sollte die Formalisierung den gesamten Arbeitsprozeß umfassen oder auch Raum für die Gestaltung seiner informellen Dimension durch die Betroffenen lassen? Gastev wollte hier keine Gegensätze erkennen. Woran konnte sich echte sozialistische Kameradschaft besser bewähren als an der Maximierung der Arbeitseffizienz beim gemeinsamen Aufbau der neuen Gesellschaft?

In den kapitalistischen USA gab es immerhin eine klare Konfliktlinie: hier ein privatwirtschaftliches Arbeitsmanagement, dort Gewerkschaften, die dagegen opponierten. In der Sowjetunion waren die Gewerkschaften genauso Staatsorgane wie das Management und hatten nur die Aufgabe, das Management zu «verbessern». Als sich die Partei 1924 auf allgemeine arbeitsorganisatorische Richtlinien verständigte, kam es zu einem Kompromiß, bei dem sich die tayloristischen Vorstellungen Gastevs weitgehend durchsetzten. Die Industrialisierung der Sowjetunion sollte sich an den in den USA entwickelten arbeitswissenschaftlichen Standards orientieren, aber «im Klasseninteresse des Proletariats»[6] erfolgen.

Faktisch blieb die Sowjetunion weit hinter den Taylor-Standards zurück. Doch selbst wenn sie flächendeckend umgesetzt worden wären: Die betriebsinterne Arbeitsplanung war ja nur ein kleiner Teilaspekt bei der Planung der gesamtgesellschaftlichen Produktion. Es genügte nicht, daß die Bewegungen von Arbeitern und Maschinen störungsfrei ineinander übergingen. Die Betriebe, die landwirtschaftlichen ebenso wie die industriellen, mußten mit Rohstoffen und Geräten beliefert und ihre Produkte dorthin weitergeleitet werden, wo Bedarf für sie war. Hier half keine Arbeitswissenschaft, sondern nur Anordnung von höchster Stelle. Zunächst wurde die bäuerliche Bevölkerung angewiesen, alle Lebensmittel über das Existenzminimum hinaus abzuliefern. Im Gegenzug sollte sie aus den städtischen Betrieben Landmaschinen und nützliche Massengebrauchsgüter erhalten. Landesweite Verteilung nach Bedarf statt Kauf und Verkauf nach Geldvermögen: das war das Konzept des Kriegskommunismus. Als es nicht so griff, wie vorgesehen, wurde es verschärft. Im Januar 1919 erging das Dekret: «Die Gesamtmenge an Brot- und Futtergetreide, die zur Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse nötig ist, wird durch Beschlagnahmung bei der Bevölkerung der getreideproduzierenden Gouvernements aufgebracht.»[7] Furchtbares Elend war die Folge. Bauern verhungerten auf ihrer eigenen Scholle, während die beschlagnahmten Naturalien nicht wunschgemäß an ihren städtischen Zielorten ankamen. Ein landesweiter Kampf ums Allernötigste begann. Kleider, Möbel, Schmuck – nichts war zu kostbar, um im Bekanntenkreis oder auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel getauscht zu werden. Selbst strengste staatliche Überwachung brachte den Schwarzmarkt, der als letztes Residuum kapitalistischer Umtriebe gebrandmarkt wurde, nicht zum Erliegen.

So steuerte die Staatsführung schon 1921 um. Statt den Bauern alle Lebensmittel wegzunehmen, die den örtlichen Funktionären nicht als zum Existenzminimum gehörig erschienen, wurde eine «Naturalsteuer» eingeführt. Nach ihrer Entrichtung blieb den Bauern noch ein beträchtliches Quantum an Naturalien zurück. Es stand ihnen nun «in vollem Umfang zur Verfügung» – zum Konsum, zum Verkauf, zur Hortung. Das nannte Lenin Neue Ökonomische Politik.[8] Faktisch war es die Wiederzulassung von Kleinbetrieben, Privateigentum und Markt – also all dessen, was sich einer vollständigen staatlichen Planung entzieht, oder anders gesagt: was zur informellen Dimension im Wirtschaftsleben gehört. Die gesamte Planwirtschaft der Ära Stalins und darüber hinaus fußte stillschweigend auf den Konzessionen der Neuen Ökonomischen Politik. Ebensowenig wie Geld und Kleinhandel verschwand der Schwarzmarkt mit Gütern aus Lagerbeständen oder aus dem Westen. Und der Freundes- und Bekanntenkreis war ohnehin immer auch Naturalientauschbörse. Man half sich wechselseitig aus.

Informeller Sektor und Jobless Growth

Im Westen feixte man, daß alle sozialistischen Überwachungs- und Erziehungsmaßnahmen den Schwarzmarkt nicht zu beseitigen vermochten. Er blieb der dunkle Fleck der Planwirtschaft. Nur ist die Marktwirtschaft alles andere als fleckenfrei. Schwarzarbeit, Waffenschieberei und Drogenhandel gehören zu ihren Muttermalen. In einigen Weltgegenden ist Massenarmut ihre Grundfarbe. In Afrika, Lateinamerika, Südostasien sind Millionen von Menschen durch die Einführung der kapitalistischen Produktionsweise aus vormodernen Familien- und Stammesverbänden gerissen, als Arbeitskräfte auf den Markt geworfen und dort liegen gelassen worden. Sie durchsuchen den Müll nach Verwertbarem, schlagen sich als Schuhputzer, Autowäscher, Parkplatzwächter, Kleinhändler oder Kleinkriminelle durch, bringen es günstigstenfalls zu einem kleinen Laden oder zur Besetzung und Bearbeitung eines Stücks Land, ohne irgend in rechtlich geregelten Arbeits- oder Vertragsverhältnissen zu stehen. Als sich um 1970 abzeichnete, daß solche Verhältnisse durch Verstärkung kapitalistischer Industrialisierung nicht verschwinden, sondern ihr als strukturelle Mitgift hartnäckig anhaften, kam ein origineller Name für sie auf: «informelle Einkommensverhältnisse»[9]. «Informell» stand hier nicht mehr nur für ungeplante Gruppen-, Arbeits- und Verteilungsprozesse, sondern für die Elendszonen, die um die neuen Industriezentren herum ungeregelt wucherten – ohne jede realistische Aussicht, durch staatliche Eingriffe oder Selbstregulierungskräfte des Marktes zu verschwinden.

Elendszonen als «informelle Einkommensverhältnisse» (oder «informellen Sektor») zu etikettieren ist eine schwer erträgliche Soziologenbeschönigung. Sie war aber gar nicht böse gemeint, sondern stand für einen geradezu empathischen entwicklungspolitischen Neuansatz: Nicht länger auf profitable industrielle Großprojekte setzen und hoffen, daß von ihrem Wirtschaftswachstum nach und nach einiges bis in die unteren Bevölkerungsschichten «durchsickert», wie die Wirtschaftsliberalen um Friedrich von Hayek suggerierten. Statt dessen ganz unten beginnen, an die Überlebensstrategien der Armen anknüpfen, sie entkriminalisieren und so weit fördern, daß sie wenigstens zur Deckung des Grundbedarfs an Nahrung, Kleidung und Wohnung führen.

Das Wort «informeller Sektor» ging im Nu in die Fachterminologie ein. Während aber wohlmeinende Hilfsorganisationen damit begannen, die Entwicklungsmöglichkeiten dieses Sektors zu testen und herauszubekommen, ob es ihm überhaupt gut tut, wenn fördernde Institutionen in ihn eingreifen, oder ob er dabei nicht in einen Verwaltungssog gerät, der seinen bescheidenen Entwicklungsspielraum eher verkleinert als vergrößert, da bahnten sich zeitgleich am entgegengesetzten Ende der Welt «informelle Verhältnisse» ganz anderer Art an. Das kalifornische Silicon Valley war die Wiege der mikroelektronischen Hochtechnologie. Um 1970 gelangten die dort entwickelten Computer zur Serienreife. Sie begannen das ganze Arbeitsleben zu durchdringen. Was Taylor einst mit Zeit- und Bewegungsmessung vergleichsweise dilettantisch initiiert hatte, das leisteten Programmierer nun ungleich professioneller. Zahllose Arbeitsabläufe in Produktion, Verwaltung, Dienstleistung und Finanzierung wurden formalisiert und ließen sich durch Computer weitaus besser und schneller erledigen als durch Menschen. Eine Welle von Arbeitslosigkeit überkam die hochtechnisierten Länder, die in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg einen sicheren Weg zu industrieller Vollbeschäftigung eingeschlagen zu haben schienen und nun, fast am Ziel, vor einem neuen Phänomen standen, das in keinen der herkömmlichen Wirtschaftstheorien, weder den marxistischen noch den «bürgerlichen», vorgesehen war: jobless growth (Wachstum ohne Jobs).

Wenn bisher Firmen Arbeitskräfte entlassen mußten, so waren sie in der Krise. Der Absatz stockte, die Aktien fielen. Nun entließen Großfirmen massenweise Beschäftigte, und ihre Gewinne und Aktienkurse stiegen rasant. Computer ersparten ihnen hohe Lohn- und Lohnnebenkosten, und während sie nie gekannte Gewinne machten, begann die Zeit, wo auch die wohlhabendsten Staaten von drastischen Lohnsteuereinbrüchen heimgesucht wurden und versuchten, sie durch erhöhte Kreditaufnahmen auszugleichen. Um so drängender wurden die Effizienzstandards der Mikroelektronik. Wenn intelligente Software zahllose Arbeitsgänge in Produktion und Verwaltung zu beschleunigen und präzisieren und zugleich die Lohnkosten zu senken vermochte, warum sollten dann staatliche Infrastrukturleistungen wie Post, Telefon, öffentlicher Verkehr, Bildung, medizinische Versorgung steuerlich hoch subventioniert werden und nicht genauso wirtschaftlich arbeiten wie General Motors oder IBM?