Jesu Traum - Christoph Türcke - E-Book

Jesu Traum E-Book

Christoph Türcke

4,5

Beschreibung

Ist über Jesus von Nazareth nicht längst alles gesagt? Wurden nicht jedes seiner Worte und jeder Bericht über ihn bis zum Überdruss interpretiert? Dennoch wagt Christoph Türcke einen kühnen Neuanfang. Mit den Mitteln der Freudschen Traumanalyse rückt er die Geschichte Jesu und des Urchristentums in ein völlig neues Licht. Er zeigt, dass das Christentum ohne ein Jesus-Trauma ebenso undenkbar ist wie der historische Jesus ohne ein Johannes-Trauma. Jesu Traum war der eines Getriebenen. Sein Immoralismus, von Nietzsche bereits erahnt, tritt nun in seiner ganzen Radikalität hervor. Die Dekomposition Jesu als Gottessohn führt zu einer überraschenden Aufwertung seines ergreifend menschlichen Schicksals und gewinnt unversehens verblüffende Aktualität.

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Christoph Türcke

Jesu Traum

Psychoanalyse des Neuen Testaments

»Mihi ipsi scripsi«

Friedrich Nietzsche

2.Auflage 2010

© 2009 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832Springe

[email protected] · www.zuklampen.de

Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover,

unter Verwendung des Gemäldes »Taufe Christi«

von Joachim Patinier, Kunsthistorisches Museum, Wien

Satz: thielen VERLAGSBÜRO, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743342

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Verzeichnis der Abkürzungen

Vorwort

1. Die unfaßbare Kehrtwende: Das Urchristentum

Nachträgliche Weissagung

Heiligung des Schreckens

Abtrünnige Gefolgsleute – anhängliche Gewährsleute

Untot – auferstanden

Allmähliche Verfertigung der Gedanken

»Für unsere Sünden«

Paulus

Von Damaskus zum Kaiser

Beschneidung

Abendmahl

Paulus und Petrus

2. Mosaik aus Störfaktoren: Der historische Jesus

Historisch-kritische Forschung

Nazareth

Johannes der Täufer

Attraktion und Repulsion

Mahlzeiten

Heilungen

Typus

Gleichnisse

Bergpredigt

Immoralismus

Finale

Nachwort

Dank

Christoph Türcke bei zu Klampen

Fußnoten

Verzeichnis der Abkürzungen

Altes Testament

Neues Testament

Briefe des Paulus

Vorwort

Das Abendland ist schon lange nicht mehr christlich. Aber ohne Christentum wäre es nie zur Wiege von Renaissance, Kolonialismus, Aufklärung, Menschenrechten, exakten Wissenschaften, Schwerindustrie und Mikroelektronik geworden, nie zur Keimzelle jener westlichen Welt, die so wirkt, als sei sie das Maß aller Dinge. Aus allen Erdteilen wird zu ihr aufgeschaut. Nirgends ist die Konzentration von Kapital, Know-how und technischen Errungenschaften, nirgends der physische, rechtliche und moralische Bewegungsspielraum für menschliche Individuen größer als im Westen. Statistisch gesehen gibt es etwa zwei Milliarden Christen, gut zwei Drittel davon in Europa und Amerika. Die wenigsten allerdings leben strikt nach christlichen Ritualen und Lehren. Auch wenn man die vor allem in den USA erstarkenden fundamentalistischen Kirchen und Sekten mitzählt, gilt: Die erdrückende Mehrheit westlicher Christen nimmt ihre Religion nur noch als zeremoniellen Dienstleister für Taufe, Kommunion, Konfirmation, Heirat, Beerdigung und zu hohen kirchlichen Feiertagen in Anspruch, ohne von der Bibel, der Liturgie, dem Katechismus oder den Dogmen noch irgendeine zusammenhängende Kenntnis zu haben. Zurückgeblieben sind ein paar Wissensbruchstücke und einige verwaschene Überzeugungen über eine höhere Macht und ein Leben nach dem Tod, die die meisten gern für sich behalten, um sie keiner peinlichen Befragung auszusetzen. Ansonsten richten sie sich, wie andere Gläubige und Ungläubige auch, nach den profanen Gesetzmäßigkeiten und Mächten ein, die ihren Alltag tatsächlich bestimmen.

Das in der westlichen Welt praktizierte Christentum ist, aufs Ganze gesehen, hohl und morsch. Nicht so das in der westlichen Welt sedimentierte Christentum. Es gehört zum Fundus dieser Welt. Einst, als es noch groß und mächtig war, hat es die Weichen zur europäisch-nordamerikanischen Moderne gestellt. Mehr als ein halbes Jahrtausend ist das her. Das Christentum von damals ist bloß noch die Ablagerung einer vergangenen Zeit, gleichsam der festgetretene, beruhigte Untergrund, auf dem sich das unruhige Leben der Moderne abspielt. Und solange der Untergrund tatsächlich ruhig blieb, ließ er sich bequem ignorieren. Seit jedoch ein neuer Ost-West-Konflikt Platz gegriffen hat, worin »Osten« nicht mehr mit Sozialismus assoziiert wird, sondern mit einem Islam, der forsch in die westliche Welt eindringt und deren Grundüberzeugungen in Frage stellt, stehen auch die christlichen Fermente dieser Welt erneut zur Debatte. Das authentische westliche Gegenstück zur Koranlesung ist nun einmal die Bibellesung, nicht die Dichterlesung; das zum Ramadan die christliche Fastenzeit, nicht die Schlankheitskur; das zum Freitagsgebet der Sonntagsgottesdienst, nicht die Gymnastikstunde; das zum Propheten Mohammed heißt Jesus von Nazareth, nicht Michael Jackson oder Madonna.

Und so geschieht etwas, was niemand voraussehen konnte: Durch die neue Präsenz des Islam in der westlichen Welt wird deren christlicher Untergrund wieder aufgerührt. Gerade Zeitgenossen, die auf Aufklärung und Gedankenfreiheit pochen und durchaus nicht zum christlichen Glauben zurückwollen, sehen sich durch die islamische – zum Teil islamistische – Offensive genötigt, sich zu jenem abgelagerten Christentum, um das sie sich lange nicht kümmern mußten, erneut zu positionieren. Dadurch aber kommt es sozusagen wieder hoch und gewinnt eine neue, diffuse, gewissermaßen desedimentierte, in ihrer Tragweite noch schwer absehbare Präsenz. Sitzt es womöglich viel tiefer im vegetativen Nervensystem der westlichen Welt, im Empfindungs-, Vorstellungs- und Denkhaushalt ihrer Individuen, als bisher gedacht? Friedrich Nietzsche hat das ja schon vor mehr als hundert Jahren vermutet: »Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!«1 Und nun stellt der neue Ost-West-Konflikt tatsächlich die »Eingeweide« der westlichen Welt mit nie gekannter Dringlichkeit zur Debatte und schürt den Verdacht, daß der Geist des Christentums sie weit stärker durchweht und bläht, daß er für den Stoffwechsel der High-Tech-Welt weit konstitutiver ist, als die hektische Oberfläche ihres Alltags zu erkennen gibt. Um hier Klarheit zu gewinnen, bedarf es einer neuen Eingeweideschau auf der Höhe wissenschaftlicher Methodik, anders gesagt, einer Tiefenhermeneutik mit Fingerspitzengefühl für mentale Verdauungsprozesse und Ablagerungen.

Doch halt: Um die christlichen Eingeweide der westlichen Welt analysieren zu können, muß man erst einmal einen tiefen Blick in die Eingeweide des Christentums tun. Ja, auch das Christentum hat Eingeweide. Unter der Haut seiner wahrnehmbaren Gestalten pulsiert sein vegetatives Innenleben. Anders gesagt: Hier schweifen seine Wünsche. Wünschen ist die primitivste, affektivste, aber auch intensivste Form von Denken, und das Christentum ist auf eine geradezu inständige Weise wishful thinking. Seine ältesten erhaltenen Zeugnisse, die neutestamentlichen Schriften, sind allerdings nur die Außenseite seines inneren Wunschlebens. Es verhält sich damit ganz ähnlich wie beim Traum. Was wir als Traum erleben und erzählen, ist nur dessen Fassade. Das Entscheidende spielt sich dahinter ab. Dort wirken die sogenannten latenten Traumgedanken. Das sind jene Wunschkräfte, die den Traum konstituieren und sich dabei in seinem manifesten Inhalt sowohl ausdrücken als auch verstecken. Ihre Entdeckung war eine der bahnbrechenden Leistungen Sigmund Freuds. Er hat ein ganzes Instrumentarium entwickelt, um den Wunschherd des Traums zu erschließen. Seine Methode wird sich in diesem Buch als verblüffend hilfreich erweisen, um an den Wunschherd des Christentums heranzukommen und das, was daraus aufstieg, als geschichtsträchtige und -mächtige Wachtraumgebilde wahrzunehmen.2 Genau genommen gibt es hier zwei Wunschherde. Sie flackern ineinander, sind aber wohl zu unterscheiden. Der eine glühte in den Hinterbliebenen Jesu und bewog sie, ihren gekreuzigten Herrn und Meister als auferstanden zu verkünden. Der andere brannte in Jesus selbst. Der eine bewirkte den christlichen Traum von Jesus, der andere Jesu Traum. Die neutestamentliche Wissenschaft hat ihre Quellentexte zwar bis zum Überdruß ausgelegt und ausgelaugt, aber bis zu den latenten Traumgedanken des Christentums ist sie noch kaum vorgedrungen.

1.Die unfaßbare Kehrtwende: Das Urchristentum

Nachträgliche Weissagung

Das Christentum beruft sich auf Jesus. Daraus folgt allerdings nicht, daß er es eingesetzt hat. Wie sich zeigen wird, lag ihm eine solche »Stiftung« völlig fern. Wohl aber hat er das Christentum ausgelöst. Als er in der Gegend um seinen Heimatort Nazareth auftrat und umherzog, bildete sich eine kleine Schar um ihn, bestehend aus ein paar Fischern vom See Genezareth und einigen, die sich ihnen anschlossen: Verwandten, Freunden, Neugierigen, Abenteurern, Desorientierten, Entwurzelten; man kann es nicht so genau auseinanderhalten. Eine schwer aufzuhellende Gemengelage einfachen Volks umgab ihn, war sein Resonanzboden und seine Begleitung in den wenigen Monaten oder Jahren, als er durch Galiläa und schließlich hinauf nach Jerusalem zog. Auf diese kleine Schar – gewiß mehr als zwölf Personen, aber vielleicht nicht mehr als dreißig, wer weiß – haben Jesu Worte und Taten und sein furchtbares Ende eine offenbar kaum zu überbietende Wirkung ausgeübt. Was sich vor ihren Augen und Ohren abspielte, war in doppeltem Sinne ungeheuer. Zum einen überstieg es ihr Fassungsvermögen; zum andern drückte es sich ihnen so tief ein, daß sie ihr Lebtag daran laborierten. Und nur weil sie damit nicht fertig wurden, gibt es das Christentum.

Bewältigungsversuche eines Überwältigten hat Jean Améry seine autobiographischen Aufzeichnungen über Exil, KZ und Tortur genannt.3 Auch diejenigen, die Jesus zurückgelassen hatte, waren auf ihre Weise Überwältigte. Als sie begannen, sich in seinem Namen zu versammeln, wie er das Brot zu brechen und den Weinkelch herumzureichen, dabei seine Worte zu wiederholen, seine Taten zu memorieren und allmählich das Finale seines Lebens zu rekonstruieren, da waren das notdürftige Versuche, in den Wust ihrer eigenen unbewältigten Vergangenheit eine gewisse Folge und Ordnung zu bringen und so die Fassung wiederzugewinnen, die ihnen das Ende dieses ungewöhnlichen Menschen vollends geraubt hatte. Wie war es denn gewesen, als er gefangen genommen wurde? »Und sie verließen ihn und flohen alle«, steht bei Markus (14, 50). Die Gefolgsleute Jesu hatten nicht den geringsten Anlaß, etwas für sie derart Peinliches nachträglich zu erfinden. Sie hatten ihren Meister ja nicht als neutrale Schaulustige nach Jerusalem begleitet, um mal zu sehen, was er dort alles anstellen werde, sondern in der hoch gespannten Erwartung, daß »das Reich komme«–jenes göttliche Reich, welches er ihnen in Worten und Taten vor Augen gemalt hatte.4 Sie würden mit ihm dabei sein, wenn es anbräche. Stattdessen wird er verhaftet, verurteilt, gekreuzigt. Das ganze Erwartungskonstrukt, das ihr Leben in den letzten Jahren zusammengehalten hat, zerbricht, und die Erschütterung ist derart, daß keiner der Gefolgsleute zu ihm hält. Sie verstecken sich, tauchen unter, machen sich unauffällig; man weiß es nicht so genau. Erst nach dem Tod Jesu tritt jedenfalls jener eigenartige Gesinnungswandel ein, der sie zusammen auftreten und behaupten läßt, er sei auferstanden – bereits eingetreten in jenes Reich, von dessen Kommen er geredet hatte. Und erst im Licht dieser Behauptung wird dann nach und nach das Leben dessen erzählt, der da auferstanden sein soll.

Das ergibt natürlich keine Berichte, die modernen Vorstellungen von historischer oder journalistischer Sorgfalt auch nur entfernt genügten. Vielmehr entsteht eine neue Ausdrucksform: das Evangelium, wörtlich übersetzt, die gute Botschaft. »Gut« heißt dabei so viel wie »rettend«. Besagte Botschaft soll nämlich nicht nur davon überzeugen, daß Jesus auferstanden ist, sondern den Hörern bedeuten, daß sie vital davon betroffen sind. Wer an die Auferstehung Jesu glaubt, wird an ihr teilhaben, und zwar nur, wer an sie glaubt. Nur für seine Getreuen, die in seinen Bahnen wandeln, hat er die Bahn ins göttliche »Reich« gebrochen. Nur sie wird er holen und zu sich entrücken, wenn er in Kürze wiederkehren und das Ende der alten Welt, das mit seiner Auferstehung bereits angebrochen ist, endgültig besiegeln wird. Alle andern sind verloren. Wie ungeheuer prätentiös und exklusiv diese Botschaft daherkam, hört man ihr nach zwei Jahrtausenden Christentum kaum mehr an. Die Zeitgenossen hingegen hatten durchaus ein Ohr dafür, zumal sie von diesem Jesus, wenn sie nicht zufällig Verbindung zu seinem Jüngerkreis oder zur Gerüchteküche um ihn hatten, rein gar nichts wußten. Die Botschaft von ihm hatte nur eine Chance, wenn ihr zweierlei gelang: ihn als wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut glaubwürdig zu machen, der in Galiläa aufgetreten und nach Jerusalem gezogen war; und zugleich als den Menschen schlechthin, den einzig rettenden, in dessen Erdenleben sich an allen Ecken und Enden bereits seine Auferstehung abzeichnete – als die Quintessenz, auf die seine irdische Geschichte hinauslief.

Wenn antike Erzähler einem markanten Ereignis– Sieg oder Niederlage, Tod oder Geburt, Dürre oder Unwetter – besonderen Nachdruck und höhere Bedeutung verleihen wollten, so haben sie ihm nicht selten eine Vorgeschichte angedichtet: es einem Seher, Propheten oder Priester so in den Mund gelegt, als hätte er es schon angekündigt, ehe es eintraf. Vaticinium ex eventu (nachträgliche Weissagung, wörtlich: »Weissagung vom Ereignis aus«) nennt man dieses Verfahren. Seine Anwendung war beliebt, aber nicht obligatorisch. Im Evangelium hingegen bekommt es einen neuen, geradezu systematischen Status. Es wird zum Konstruktionsprinzip. Nicht so, daß zu jedem berichtenswerten Ereignis eine Vorankündigung erfunden wird. Oft firmieren die historischen Ereignisse selber als Vorankündigungen. Nachdem für die Hinterbliebenen Jesu als beschlossene Sache gilt, daß ihr Herr auferstanden sei, werden die Begebenheiten seines Lebens in der Rückschau so dargestellt, als weissagten sie bereits diesen eventus. Er ist der archimedische Punkt der Konstruktion. Von ihm aus und auf ihn hin sind die Worte und Taten Jesu von Anfang an zusammengetragen worden, längst ehe sie im Markusevangelium ihren ersten großen schriftlichen Niederschlag fanden – etwa vierzig Jahre nach Jesu Tod.

Ein Evangelium mußte zwei Anforderungen genügen: Zum einen so viele Begebenheiten des Lebens Jesu sammeln wie möglich; je mehr davon, desto plastischer und greifbarer die historische Gestalt. Zum andern diese Begebenheiten auferstehungskonform darstellen, will sagen, sie so zurechtrücken, daß sich in jeder von ihr der rettende Auferstandene avant la lettre zeigt. In den Worten eines anerkannten Neutestamentlers: »Der historische Jesus begegnet uns im NT [= Neuen Testament], der einzigen wirklichen Urkunde über ihn, eben nicht, wie er an und für sich gewesen ist, sondern als der Herr der an ihn glaubenden Gemeinde.« »Und die Hoheit Jesu tritt dann am deutlichsten zutage, wenn seine ersten Jünger schon meinten, seine Worte abschwächen und korrigieren zu müssen, weil sie ihn anders nicht ertragen konnten.«5 Die Theologensprache hat für solche Korrektur zugunsten der »Hoheit« so schöne Namen wie »Kerygma«, »Christologie« oder »Soteriologie« erfunden. Umgangssprachlich würde man schlicht von »Fälschung« sprechen. Selbstverständlich sind die Evangelien nach den Kriterien seriöser Historik Geschichtsfälschungen. Nur daß sich diese Fälschungen einen Haufen Steine in den Weg legen, indem sie respektvoll Worte und Begebenheiten aufbewahren, die sich als ausgesprochen fälschungsunfreundlich erweisen, weil sie einen historischen Eigensinn haben, der sich nur mit viel Mühe oder gar nicht auferstehungskonform zurechtbiegen läßt. So gewiß bei der Komposition der Evangelien Betrug im Spiel ist – er wird immer wieder von Anfällen historischer Redlichkeit unterlaufen. Warum so kompromittierende Sätze wie »Und sie verließen ihn und flohen alle«? Offenbar, weil es so gewesen ist. Historische Ereignisse und auferstehungskonforme Deutung kommen in keinem der Evangelien zu voller Übereinstimmung, nicht einmal im Johannesevangelium, das den historischen Jesus bis an den Rand der Unkenntlichkeit stilisiert. Es ist zu simpel, die Evangelien auf pure Betrugsabsicht zu reduzieren. Sie sind vielmehr in jener Grauzone von Idealbildung, Selbsttäuschung und Täuschung entstanden, von der keine Menschenseele ganz frei ist, sobald es ums Lebensentscheidende, um Schmerz und Lust, Tod und Liebe geht.

Halbwegs aufgeklärte christliche Theologen räumen heute anstandslos ein, daß die Evangelien zur Idealbildung neigen. Nehmen wir etwa die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus, der mit seinen Eltern wie alljährlich nach Jerusalem zum Passahfest gezogen war, ihnen dort abhanden kam und schließlich im Tempel wiedergefunden wurde, wie er »mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und sie befragte. Alle aber erstaunten über seine Einsicht und seine Antworten.« (Lk 2, 46f.) Man muß keine nennenswerte Überzeugungsarbeit mehr dafür leisten, daß das eine Legende ist. Das vaticinium ex eventu liegt auf der Hand. Es wird erfunden, daß die Eltern Jesu jährlich zum Passah nach Jerusalem reisten – wozu ein Zimmermann aus Nazareth schwerlich Anlaß und Mittel gehabt haben dürfte–, um schon dem Zwölfjährigen (die Zwölf ist die heilige Zahl der Stämme Israels) eine besondere Begabung für etwas unterstellen zu können, was später dem Erwachsenen offenbar mehrfach gelungen ist: Schriftgelehrte in größtes Erstaunen zu versetzen. Und indem der Tempel zur Bühne dieses Auftritts wird, bekommt die Szene zudem den Status eines kindlichen Präludiums zu jener historischen Begebenheit, mit der Jesus gegen Ende seines Lebens mehr als nur Erstaunen ausgelöst hat: der Tempelaustreibung.6 Oder nehmen wir die Geschichten, wo Jesus Tote auferweckt: die namentlich nicht genannte Tochter des Jairus, die wie zufällig auch gerade zwölf Jahre alt war (Mk 5, 35ff.), oder einen historisch nicht nachweisbaren Lazarus (Joh 11). Eine überschwengliche Phantasie hat hier die Heilkraft, die Jesus offenbar an gewissen Krankheiten bewies,7 zur Fähigkeit überdehnt, Tote wiederzubeleben, als hätte er gelegentlich vorab schon einmal Kostproben seiner eigenen, finalen Auferstehung gegeben. Man riecht förmlich die fromme Flunkerei in solchen »Proben«. Die Evangelisten haben sich nicht gescheut, sie zu erzählen, als wären sie wahr, haben daraus aber wenigstens keine Hauptbeweisstücke zu machen versucht. Weil Jesus schon in seinem Erdenleben sporadisch Tote auferweckte, ist seine und unsere finale Auferweckung verbürgt: Auf diesen Schluß den gesamten christlichen Glauben zu gründen, wagten sie dann doch nicht. Offenbar war ihnen nicht ganz wohl bei diesen Geschichten. Vielleicht spürten sie auch den theologischen Pferdefuß darin. Einer Auferweckung, die die Betroffenen lediglich ins irdische Leben mit all seinen Widrigkeiten zurückholt, fehlt ja gerade das im christlichen Sinn Rettende: die endgültige Überwindung von Leid und Tod.

Wenn man bei den Evangelien von Idealisierung spricht, meint man: Die ungewöhnliche historische Gestalt Jesu ist durch Überhöhung und Übertreibung noch weit ungewöhnlicher dargestellt worden, als sie je war. Daran Abstriche zu machen, fällt Theologen heute nicht mehr schwer, solange sie sagen können: Mag die Idealisierung auch zum Evangelium gehören wie das Klappern zum Handwerk – sie ist nicht sein Anfangsimpuls. Idealbildung trat zum Evangelium erst hinzu, als es schon da war. Hervorgegangen jedoch ist es aus einem grundstürzenden, beispiellos radikalen Gesinnungswandel. Man bedenke: Die abtrünnigen Gefolgsleute Jesu sind zu den beharrlichsten Gewährsleuten seiner Auferstehung geworden. Das ist der urevangelische Impuls: eine schlechterdings unfaßbare Kehrtwende. Warum sollten Menschen, die ihren Meister schmählich im Stich gelassen haben, nachträglich ihr Leben dafür riskieren, daß sie ihn als Auferstandenen verkündigen? Hier versagt alle Psychologie. Die Kehrtwende der Abtrünnigen konnte allein durch höheres Eingreifen bewirkt werden: dadurch, daß Jesus sich ihnen tatsächlich als auferweckt, als rettender »Herr«, »Christus« und »Sohn Gottes« mitgeteilt hat.

Heiligung des Schreckens8

So die theologische Sprechweise am Nervenpunkt der Entstehung des Christentums. Hier muß die Eingeweideschau ansetzen. Die »unfaßbare Kehrtwende«: ist sie wirklich so unfaßbar und beispiellos? Schauen wir einmal über den Tellerrand des Christentums hinaus und werfen einen Seitenblick auf ein uraltes, in allen Kulturen geläufiges Phänomen: das Heilige. Dessen Allerweltsdefinition könnte etwa so lauten: »Heilig« ist jene höhere Macht, der zu Ehren alle Völker – auf ihre je eigene Weise– Opfer darbringen, Säulen, Häuser und Standbilder errichten, Tänze und Gesänge aufführen, Festkleider anlegen oder Selbstkasteiungen veranstalten. Das hebräische qados, das wir mit »heilig« zu übersetzen pflegen, heißt wörtlich allerdings »abgetrennt«, »dem gewöhnlichen Gebrauch entnommen«. Das griechische hagios läuft fast aufs Gleiche hinaus. Es heißt »geweiht«. Orte, Personen, Dinge »weihen« bedeutet so viel wie sie aus dem Alltagsverkehr herausnehmen, herausheben, herauslösen – sie im originären Wortsinn absolut, unbedingt, unvergleichlich machen. Einen ganz ähnlichen Bedeutungsradius hat das polynesische tabu, wörtlich »ausgezeichnet«, erst in zweiter Linie »unantastbar«, »unberührbar«–was wiederum die primäre Bedeutungsschicht des lateinischen sanctus ist. Etwas antasten, berühren heißt so viel wie es in die Zusammenhänge des Alltags hineinziehen, es vergewöhnlichen, entweihen, profanieren. Etwas Heiliges profanieren ist so viel wie die Weltordnung antasten – das Schlimmste, was man tun kann, weswegen das Heilige denn auch furchtbar auf den Frevler zurückschlägt.

Wo das Heilige als das Ehrfurchtgebietende, Gute, Fromme, Tugendhafte vorgestellt wird, ist es bereits in dicke kulturelle Watte eingehüllt, wie Rudolf Otto gezeigt hat. Der Ehrfurcht, so seine nahezu tiefenpsychologische Einsicht, geht in der Geschichte der menschlichen Gefühle etwas weit Elementareres voraus: Furcht und Schrecken. Das Abgetrennte, Absolute, Unbedingte, Unvergleichliche manifestiert sich überall dort auf authentische Weise, wo es mit unvergleichlicher Gewalt erschütternd durch Mark und Bein geht. Das echte Heilige wühlt auf. Seine Erfahrung ist die Erfahrung schlechthin. Ottos Kronzeuge ist das Alte Testament, etwa »der ›Gottesschrecken‹, den Jahveh ausströmen ja senden kann, wie einen Dämon der den Menschen lähmend in die Glieder fährt und der ganz verwandt ist dem deîma panikón (dem panischen Schrecken) der Griechen«. Die Grundschicht des Heiligen wäre somit die »des mysterium tremendum, des schauerlichen Geheimnisses«, »das durch Art und Wesen meinem Wesen inkommensurabel ist und vor dem ich deshalb in erstarrendem Staunen zurückpralle«.9

Die Menschheit hat den Schrecken freilich nicht für sich allein gepachtet. Die ganze Tierwelt laboriert daran. Wo immer sie konnte, hat sie ihn zu fliehen versucht. Und doch ist er ihr nie zum Mysterium geworden. Dazu hat er auf bestimmte Weise bearbeitet werden müssen, und die Bearbeitung zeigt überall dort ihre ersten Ansätze, wo Organismen gelernt haben, Einfluß auf ihren natürlichen Fluchtimpuls zu nehmen. Nichts erträgt ein Nervensystem so schlecht wie den Schock: den unvorbereiteten Einbruch eines Reizschwalls, den es nicht zu kanalisieren und abzuführen vermag. Und je größer und verzweigter ein Nervensystem, desto empfindlicher ist es für Schocks. Sie bekommen die Intensität traumatischen Schreckens. Der wirkt auf Nervenzellen wie ein kategorischer Imperativ: als etwas strikt zu Meidendes oder zu Fliehendes. Nur gelingt die Flucht nicht immer. Manchmal ist es zu spät. In solchen Situationen höchster Not sind einige Tierarten darauf verfallen, durch Stillstand statt durch Bewegung zu fliehen. Sie stellen sich tot und versuchen, sich ihrer Umgebung bis zur Unkenntlichkeit anzugleichen. Der Hase macht sich dem Erdboden gleich, in den er sich duckt, die Spannerraupe dem Ast, auf dem sie hockt, die Scholle nimmt gar die Farbe des Meeresgrunds an. Mimikry nennt man das. In ihr hemmt sich der Fluchtimpuls selbst – um des Überlebens willen.

Es gibt jedoch eine Spezies, die über solche Mimikry hinausgelangt ist. Sie hat ihren Fluchtimpuls nicht nur bis zum Stillstand gelähmt, sondern ihn aktiv in die Gegenrichtung umgebogen. Sie hat, mit andern Worten, die Flucht nach vorn angetreten und etwas vollkommen Widersinniges begonnen: beim Schrecklichen Zuflucht vor dem Schrecken zu suchen. Doch erst mit diesem Widersinn ist Sinn in die Welt gekommen. Erst dadurch ist der Schrecken doppelbödig geworden: nicht mehr bloß furchtbare Naturgewalt, sondern zugleich die Macht, die davon erretten soll. Nur was rettet, stiftet Sinn. Das gilt von den rohsten Anfängen menschlichen Kults bis hinauf in den feinsten Monotheismus. Schrecken als solcher aber rettet nicht. Er ist einfach nur furchtbar. Erst durch die Wendung der Flucht von ihm weg zu ihm hin wird er zum sinnstiftenden Mysterium. Das Heilige ist also nicht, wie Otto glauben machen wollte, die übernatürliche göttliche Macht, die aus unerforschlichem Ratschluß für gut befand, sich der Menschheit erst einmal im Schrecken zu bekunden, ehe sie zartere Töne anschlug. Umgekehrt: Das Heilige ist gewendeter, geheiligter Schrecken – eine elementare Interpretationsleistung gepeinigter Nerven, die ihm nicht anders zu entrinnen wußten, als daß sie ihn in bestimmter Weise guthießen.

Wenn es eine »unfaßbare Kehrtwende« in der Naturgeschichte gibt, dann ist es die Umwendung des natürlichen Fluchtimpulses. Gewiß, die Spezies, die dieses Kunststück vollbrachte, verfügt über das größte Gehirn – nicht absolut, wohl aber im Verhältnis zum Körpervolumen. Ihre Körper sind am meisten von Nervenzellen durchzogen, also buchstäblich die nervösesten, schreckempfindlichsten. Aber so wenig Durst schon für ein Getränk sorgt, so wenig bürgt Schreckanfälligkeit schon für ein Mittel zu ihrer Linderung. Woher der Homo sapiens die Kraft und Ausdauer nahm, um seinen natürlichen Fluchtimpuls gegen sich selbst zu wenden, ihn in originärem Wortsinn reflexiv zu machen; und wie er es vermochte, daraus eine Überlebensstrategie zu machen, die derart erfolgreich war, daß er schließlich als »Krone der Schöpfung« erscheinen konnte: das wird sich nie zureichend erhellen lassen. Insofern ist die Wendung des Schreckens ein Mysterium: unfaßbar.

Durchaus faßbar hingegen ist die Verlaufsform dieser Wendung, zumal sie nie bloß eine innere Umkrempelung des Gefühlshaushalts war, sondern stets handfeste äußere Erscheinungsformen hatte. Je älter sie sind, desto »physiologischer« die Umwendungspraxis, die sich in ihnen manifestiert. Begonnen haben dürfte sie nahezu reflexhaft: durch Wiederholung des traumatischen Schreckens, mit dem das Nervensystem nicht fertig wurde. Indem er aus eigenem Antrieb wieder und wieder veranstaltet, gewissermaßen in eigene Regie genommen wurde, konnten sich allmählich neuronale Bahnen bilden, um ihn abzuleiten. Oder erlebnistheoretisch gesagt: Durch absichtliche Wiederholung konnte der Schrecken in den Alltag integriert werden, nach und nach seine Unvergleichlichkeit und Unerträglichkeit verlieren, aus etwas schlechterdings Fremdem in etwas Vertrautes übergehen. Die Anfänge davon kennen wir nicht. Man kann sie sich kaum diffus und roh genug vorstellen. Dennoch haben sie eine rekonstruierbare Physio-Logik. Sie besteht darin, selbst noch einmal zu tun, was einem getan wurde. Das durch Überfälle wilder Tiere traumatisierte Kollektiv fällt seinerseits über einige der Seinen her, um das Trauma loszuwerden. Den erschütternden Lärm von Erdbeben und Unwettern sucht es durch wiederholtes eigenes Kreischen und Lärmen zu bewältigen. Historisch greifbar wird solche Umwendung durch Wiederholung freilich erst in einem Spätstadium – dort, wo sie über ihre reflexhaften Anfänge weit hinaus und längst zu festen Verlaufsformen geronnen ist: denen des Opfers.

Über Opfer wundert man sich viel zu wenig. Zunächst sind es ja blutige Opfer. Sie werden nicht freiwillig dargebracht, sondern, wie eine kulturübergreifende Sprachregelung besagt, um den »Zorn« höherer Mächte zu »besänftigen«. Aber was tut man da eigentlich? Man schlachtet imaginären Mächten etwas vom Kostbarsten hin, was man hat. Um Angst und Schrecken loszuwerden, begeht man selber etwas Schreckliches. Das wäre nur absurd und unbegreiflich, ließe sich darin nicht der Kunstgriff der Fluchtumwendung erkennen, der den Homo sapiens zum erfolgreichsten Tier auf Erden hat werden lassen. Hominidenkollektive, die immer wieder den Zwang verspüren, die kostbarsten Lebewesen – und das heißt im Klartext: ihresgleichen – gemeinschaftlich zu schlachten, beginnen die Fluchtumwendung zu ritualisieren und üben so die Heiligung des Schreckens ein. Otto bietet eine unübertreffliche Formel für diesen Vorgang: »Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.«10 Aber er hat von seiner Funktionsweise so gut wie nichts begriffen.

Hier muß Sigmund Freud weiterhelfen. Ohne von Ottos religionspsychologischer Studie Notiz zu nehmen, hat er, nahezu zeitgleich, nämlich gegen Ende des ersten Weltkriegs, an Kriegstraumatisierten einen peinigenden Wiederholungszwang entdeckt, der den Betroffenen im Traum »immer wieder in die Situation seines Unfalls zurückführt, aus der er mit neuem Schrecken erwacht«.11 Freud hat sogleich bemerkt, daß solche Träume Selbstheilungsversuche sind. Besagte Kriegsteilnehmer haben durch neben ihnen einschlagende Geschosse oder den Anblick zerfetzter Kameraden deshalb ein so tiefsitzendes Trauma davongetragen, weil ihr Nervensystem jäh davon überrascht wurde. Es konnte sich nicht genügend darauf einstellen; dazu fehlte ihm die nötige Angst. Angst haben heißt ja eine bestimmte Gefahr erwarten. »Ich glaube nicht,« sagt Freud daher, »daß die Angst eine traumatische Neurose erzeugen kann; an der Angst ist etwas, was gegen den Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt.«12 Und so versucht das Nervensystem, den Schrecken, auf den es sich nicht genug vorbereiten konnte, sozusagen nachzubereiten: durch nachträgliche Angstentwicklung – dergestalt, daß der Traumatisierte die unbewältigte Schrecksituation im Traum immer wieder halluziniert.

Das Leiden an solchen Traumata ist zermürbend, zumal die Selbstheilungsversuche, die das Traumleben der Betroffenen unternimmt, gewöhnlich nicht ausreichen, um sie zu kurieren. Sie bedürfen zusätzlicher therapeutischer Hilfe. Ihr Leiden ist, verglichen mit den Anfängen der Menschheit, freilich schon etwas kulturell weich Eingebettetes. Es ist bloß noch der Traum, worin es voll ausbricht. Im Wachzustand ist es halbwegs unter Kontrolle. Der Traum aber verweist stets in die Vergangenheit; nicht nur in die eigene Kindheit, an die das Traumleben immer wieder anknüpft, sondern auch in die Kindheit der Menschheit. Der Traum ist »primitive Denktätigkeit«13, sagt Freud und meint damit: Was Menschen heute in der Regel nur noch im Schlaf tun, nämlich Bilder, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Lust- und Schmerzempfindungen zu halluzinieren, das war vor sehr langer Zeit bei ihren altsteinzeitlichen Vorfahren auch im Wachzustand die Regel. Halluzination ist die primitivste Form des Denkens. Stimmen hören, Gestalten sehen, Gerüche riechen, für die ersichtliche äußere Ursachen fehlen und die allen andern in unmittelbarer Umgebung verborgen bleiben: das ist heute das klinische Kriterium für eine Psychose. Sie ist definiert als krankhafte Unfähigkeit, zwischen Wahrnehmung äußerer Reize und innerer Vorstellung zu unterscheiden. Doch genau diese Differenz hat die Menschheit in ihren Anfängen unendlich mühselig lernen müssen. Innere Bilder, Vorstellungen, Gedanken sind ja nicht fertig vom Himmel gefallen. Sie haben von der Außenwelt und ihrer Wahrnehmung erst einmal abgelöst werden müssen. In der ersten, sich über viele Jahrtausende erstreckenden Ablösephase kann es gar nicht anders gewesen sein, als daß Inneres und Äußeres noch nahezu ununterschieden aneinanderklebten, wie es auch als sicher gelten darf, daß Naturwesen nicht aus Spaß die Anstrengung auf sich nehmen, von ihren Wahrnehmungen etwas so unerhört Neues abzuzweigen wie innere Vorstellungen. Die ungeheure Nervenarbeit, die da zu leisten war, deutet darauf hin, daß es etwas Ungeheures zu bewältigen gab, wie ja heute noch die Halluzinationen des alltäglichen Träumens, wenn auch zumeist in harmlosem Kleinformat, damit beschäftigt sind, unerledigte Reize zu bewältigen. Nicht von ungefähr nannte Freud die Traumtätigkeit »Traumarbeit«14.

Wenn alles Denken anfangs halluzinatorisch war, so heißt das umgekehrt auch: Es gibt kein elementareres und sinnlicheres Denken als die Halluzination. Allerdings folgt daraus nicht, daß unsere Altsteinzeitvorfahren genau so gedacht haben, wie wir träumen. Der Traum ist nur noch Halluzinationsrückstand