Philosophie der Musik - Christoph Türcke - E-Book

Philosophie der Musik E-Book

Christoph Türcke

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Beschreibung

Ein Buch wie eine große Oper: In fünf Akten mit vorangestellter Ouvertüre und neun Intermezzi bringt der Philosoph Christoph Türcke das in die Vorzeit der Menschheit zurückführende Geheimnis der Musik auf die Bühne der Erkenntnis. Zugleich ist sein meisterlich geschriebenes Werk ein exemplarischer Durchgang durch die Musikgeschichte von Knochenflöten und Dithyrambenchören über mittelalterliche Choräle und die Wiener Klassik, Wagner und Mahler bis zu Zwölftonmusik, Jazz und Rap. Noch die neueste Musik lässt sich nur durch die Vergegenwärtigung ihrer frühesten Anfänge verstehen. Was ist das für ein merkwürdiges, ebenso penetrantes wie scheues Etwas, welches durch unsere Ohren tief in uns eindringt, im Nu erklingt, im Nu verklingt, uns erschüttert, rührt oder erheitert, jedenfalls bewegt und prägt – und sich doch nicht festhalten läßt? Mit dieser Frage hat es die Philosophie der Musik zu tun: mit einem Geheimnis, das nach erhellenden Worten verlangt. Erhellend heißt nicht auflösend. Wer das Geheimnis der Musik auflösen möchte, wird scheitern. Geheimnislose Musik wäre zudem ohne jeden Zauber. Sie hätte uns nichts mehr zu sagen. Ihr Geheimnis erhellen heißt seine Ausstrahlung maximieren, es in das Wechselspiel von Sensorik und Motorik, Vorstellung und Denken barrierefrei einfügen. Je heller, je aufgeklärter es durch die Worte wird, desto mehr läßt es auch von seinem Innenleben erahnen, an das Worte nicht heranreichen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Christoph Türcke

Philosophie der Musik

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Widmung

Zueignung

Am Eingang

Einlaß

Ouvertüre: Naturkonzert

Bioakustik

Evolution

Nischen

Anderer Planet

Just sounds

1. Akt: Hominidenmusik

Verhirnung

Holistische Lautformen

Lautzerlegung und Kombination

Triebumkehrung

Ritualisierung

Imago – mentaler Raum

Lautverdichtung

Name

Ololygé

Entklanglichung

Satzbildung

Kadenz

Kontrapunkt

Exzeß

Intermezzo 1: Venusbergmusik

Intermezzo 2: Adornos Fragment über Musik und Sprache

2. Akt: Instrumente und Bühnen

Älteste Musikinstrumente

Intermezzo 3: Mahlers Knochenflöte

Tieropfer

Wettstreit der Instrumente

Dithyrambos

Tragödienentstehung

3. Akt: Von der

mousik

ē

zur Musik

Metrik – Rhythmik

Extreme des Tragischen

Intermezzo 4: Tragödie à la Nietzsche und Wagner

Komödie

Platons Aulos

Intermezzo 5: Mikrotonalität

Herauslösung

Intermezzo 6: Absolute Musik

Platonischer Reizschutz

4. Akt: Tonalität als christliche Engführung

Parusieverzögerung

Intermezzo 7: Romantik

Reinheitsantinomie

Intermezzo 8: Stockhausens

Gesang der Jünglinge

Jubilatio

Jubilus – Accentus

Klangantinomie

Massenandacht

Musikalisches Pfingstwunder

Terzdrang

Motette und Messe

Kanon und Krebs

Fuge

Intermezzo 9: Alphabet und Globalisierung

Sonate

Der schreiende Jesus

5. Akt: Revivals

Der Untergrund christlicher Musik

Oper

Der Zenit schmelzenden Gesangs

Gestenmusik

Jazzursprung

Adornos Jazzkritik

Rap

Coda: Die Prinzessin auf der Erbse

Dank

Literatur

Personenregister

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

Für Berthold

Zueignung

Siebzehnjährig überdehnte ich mir die linke Hand beim Üben der Dezimen in Max Bruchs Violinkonzert. Eine Geigerkarriere kam nicht mehr in Betracht. Und selber Musik ausdenken und aufschreiben statt nur die von anderen zu spielen? Das war mir nicht gegeben. Doch Musik lebt auch davon, daß ihrer Klangerzeugung und Hörempfindung Wortventile geöffnet werden. Daß das etwas für mich sein könnte, ging mir allerdings erst nach weiteren zweimal siebzehn Jahren auf, als mein alter Klassenkamerad Hinrich Bergmeier, mit dem ich einst im Schulorchester gesessen hatte, mich einlud, auf der von ihm geleiteten Musikbiennale Hannover zum Thema LeSacre zu sprechen. Mein Vortrag nahm unversehens die Form eines Exposés an. Aber es dauerte weitere siebzehn Jahre, bis ich mich an seine Ausarbeitung wagte. Schon das Exposé war allerdings verwachsen mit meinem Bruder Berthold, der, im Unterschied zu mir, selber Musik ausdenkt und aufschreibt. Bereits als Jugendlicher hatte er mich, den neun Jahre Älteren, kompositorisch Unproduktiven und weitgehend auf klassisch-romantische Musik Beschränkten, mitgenommen auf seine Erkundungen zeitgenössischer Musik, der improvisatorisch-jazzinspirierten ebenso wie der zwölftönig komponierten. Damit brachte er mich an meine musikalischen Grenzen, aber in gewisser Weise auch an die Grenzen der Musik; dorthin, wo sie sich zaghaft vom Geräusch abhebt; dorthin, wo sie den sozialen Lärm klanglich über sich hinausführt; dorthin, wo sie ins nicht mehr Hörbare oder noch nie Gehörte übergeht und als Botin des Unerhörten erahnbar wird. Um diese Grenzerfahrung geht es im folgenden. Ich kann sie von Berthold nicht trennen – und daher auch nicht dieses Buch.

Am Eingang

Was ist das für ein merkwürdiges, ebenso penetrantes wie scheues Etwas, welches durch unsere Ohren tief in uns eindringt, im Nu erklingt, im Nu verklingt, uns erschüttert, rührt oder erheitert, jedenfalls bewegt und prägt – und sich doch nicht festhalten läßt? Mit dieser Frage hat es die Philosophie der Musik zu tun: mit einem Geheimnis, das nach erhellenden Worten verlangt. Erhellend heißt nicht auflösend. Wer das Geheimnis der Musik auflösen möchte, wird scheitern. Rätsel mögen lösbar sein; echte Geheimnisse, wie etwa der Beginn von Zeit, Welt und Leben, sind es nicht. Geheimnislose Musik wäre zudem ohne jeden Zauber – platt. Ließe sich restlos in Worte fassen, was Musik ist – sie hätte uns nichts mehr zu sagen. Ihr Geheimnis erhellen heißt seine Ausstrahlung maximieren, es dem seelischen Haushalt so einfügen, daß es darin keine abgespaltene Existenz führt, sondern in das Wechselspiel von Sensorik und Motorik, Vorstellung und Denken barrierefrei eingeht. Je heller, je aufgeklärter es durch Worte wird, desto mehr läßt es auch von seinem Innenleben erahnen, an das Worte nicht heranreichen: vom wortlosen Einverständnis, das zwar niemand herbeizuzwingen vermag, aber in jeder Liebesregung ersehnt wird, zu den unerläßlichen Fermenten jeden humanen Miteinanders gehört – und in der Musik einen unübertroffenen Vorboten hat.

Das Geheimnis der Musik enthält freilich die unromantische Frage, der alle Bequemen auszuweichen suchen: Wo kommt die Musik her; wie ist sie entstanden? Ohne sich ihr zu stellen, kann man vom Geheimnis der Musik nicht ernstlich handeln. Wer hier nicht kneift, hat allerdings unversehens ein Mammutprojekt am Hals, ist nämlich genötigt, sich ebenso auf älteste wie auf neueste Musik einzulassen, ohne die schier endlose Spanne dazwischen auszublenden. Das ist kaum zu leisten. Man hat die Wahl, entweder in ungeheuren Stoffmassen zu versinken, oder straff gespannte Fäden strukturierender Selektion durch sie zu ziehen. In dieser Not habe ich mich für straffe, musterbildende Fadenkreuze entschieden. Ein Längsfaden durchzieht – sozusagen als Basso continuo – die gesamte Geschichte der Musik chronologisch. An gewissen Knotenpunkten wird er von Querfäden durchkreuzt. Sie verlassen die Chronologie und stellen durch verschiedene Musikepochen und -kulturen hindurch Verbindungen her, die zeitlich und räumlich weit Auseinanderliegendes zu Paketen überraschender Zusammengehörigkeit schnüren. Im Duktus einer Oper würden sie etwa den Arien- und Balletteinlagen entsprechen, die den Plot unterbrechen und seinem Verlauf doch erst Fülle geben. Nicht von ungefähr ist dies Buch wie ein Opernabend aufgebaut. Man kann es allerdings auch als musikarchäologische Expedition nehmen, die zunächst zu Grabungen in entlegenen Zeiten und Gegenden führt, sich dann zu zentralen Hochkulturen vortastet und an jeder Forschungsstelle deutlicher werden läßt, in welchem Maße das Ausgegrabene zum nach wie vor unberuhigten Untergrund der Gegenwartsmusik gehört. Das allerdings hat wenig mit eurozentrischem Opernsound zu tun, desto mehr mit dem Hervorgang der Musik aus Geräusch und Schrei, die aus ihr denn auch nie ganz verschwinden. Liebend gern hätte ich dies Vorhaben kleiner dimensioniert und war ständig auf seine Verknappung aus. Daß es nur einen Bruchteil der Highlights der Musikgeschichte behandelt und es allen leicht macht, die bemängeln wollen, was ich alles unerwähnt ließ – geschenkt.

Einlaß

Räsoniert nicht über Musik; kommt und hört sie, bewegt euch zu ihren Klängen, laßt euch von ihnen durchströmen und beflügeln! Das klingt gut, ist aber nicht der Weisheit letzter Schluß in einer High-Tech-Welt, wo man ständig von künstlich erzeugten Geräuschen und Klängen umgeben ist, so daß man kaum mehr weiß, wie man die unerträglichen, die erträglichen und die erwünschten unter ihnen auseinanderhalten, wie man zwischen ihnen auswählen – und vor allem, wie man ihrer zudringlichen Allgegenwart entrinnen soll. In Musik absaufen ist fies. Dagegen hilft Denken. Es erträgt keine Dauerbeschallung, sucht Ruhe und trachtet Musik mit jener Stille zu umgeben, in der sich die Poren für Unerhörtes öffnen können.

Unerhörtes erschließt sich primär vom Gehör aus; aber das Hören gehört nicht zur Primärschicht des Erlebens. Ob Embryonen schon etwas erleben, ist zweifelhaft. Und solange Föten ihr Nervensystem erst ausbilden, ist ihr Erleben noch wenig konturiert. Wie weit sie schon etwas riechen oder schmecken, ist umstritten. Gewiß sehen sie noch nichts. Die Augen sind ihnen noch nicht aufgegangen. Wohl aber sind sie empfindlich für Temperatur und hoch empfindlich für Erschütterungen. Die Bewegungen des mütterlichen Organismus, sein Stoffwechsel, seine Stimme: dies alles teilt sich ihnen durchdringend mit. Wahrnehmen und Erschüttertwerden sind anfangs kaum geschieden. Föten hielten diese Erschütterungen gar nicht aus, wären sie nicht von einer schützenden Fruchtblase umgeben. Erschütterungen bedrohen das werdende Leben aber nicht nur. Es lechzt auch nach ihnen. Wie es Nahrung braucht, braucht es belebende Impulse, etwa jene leicht zitternden, die von der Stimme der Mutter ausgehen. Längst ehe es darin eine bestimmte Tonhöhe, ein Timbre, eine Lautstärke wahrzunehmen vermag, hat es sie als diffuse Gesamtkörpervibration empfunden. Allmählich bildet es ein Empfangsorgan für die akustische Dimension dieser Vibration aus, über das man viel zu wenig staunt: das Gehör. Allerdings entfaltet es sich erst nach der Geburt vollständig: in Räumen, die ungleich größer sind als der Mutterleib. Da erweist es sich als ein Frühwarnsystem gegen die umfassenden Erschütterungen durch Naturgewalten. Noch bevor sie zuschlagen, vermag es aus ihnen gewisse Vorboten herauszumerken: Geräusche, Töne, Klänge. Sie werden vom Trommelfell, dem Gehörzentrum im Innenohr, ins Nervensystem gefiltert. Die Schwingungen, die es dabei moderiert und modelliert, heißen Schallwellen.

Schall ist ebenso flüchtig wie inhomogen. Er wird von einer Schallquelle in Impulsen ausgesendet, die jäh aufschwellen und abflauen. Dauert die Flaute zwischen ihnen lang genug, so wird jeder einzelne Impuls als ein separater Schlag wahrgenommen. Wird die Flaute winzig klein, so ist das Gehör nicht mehr in der Lage, die Impulse als ein Nacheinander aufzufassen. Ab einer Frequenz von ca. fünfzehn Hertz beginnt es, sie als kontinuierliche Töne zu hören. Je höher die Frequenz, desto höher der Ton, desto unmerklicher sein Vibrieren, bis er schließlich bei ca. fünfzehntausend Hertz den Bereich jeglicher Hörbarkeit verläßt. Schallwellen sind also schlagbasiert: etwas genuin Rhythmisches. Erst von einer bestimmten Frequenz an geht ihre Rhythmik in Melodik über – und bleibt als Vibrieren darin gleichwohl erhalten. Jeder frei schwingende, als kontinuierlich wahrgenommene Naturton behält einen rhythmischen Untergrund; und jeder ist von einem ganzen Spektrum sogenannter Obertöne überwölbt, die nicht eigens erklingen, aber mitzittern. Sie werden als Timbre oder Intensitätsgrad des jeweiligen Tons wahrgenommen, nicht als separate Impulse und Töne neben ihm. Sie verschaffen ihm allererst seinen je eigenen Charakter.

Geräusche, Töne, Klänge sind Schallcharaktere. Das Gehör von Wirbeltieren ist seit Jahrmillionen auf sie eingestellt. Es merkt sie aus dem Erschütterungsvolumen von Naturbewegungen heraus. Etwas qualitativ anderes ist es hingegen, aus diesen Charakteren wiederum deren konstitutive Bestandteile herauszufiltern; etwa ihren rhythmischen Untergrund und ihre Obertonfrequenzen. Das gelang erst menschlicher Aufmerksamkeit, Mathematik und Physik. Da ist etwa die von Heinrich Hertz entdeckte und nach ihm benannte Schwingungseinheit. Man kann sich darauf einigen, den Ton mit der Schwingung von 440 Hertz pro Sekunde a zu nennen und von ihm aus ein ganzes Instrumentarium zu stimmen. Ebenso kann man seine Obertonreihe berechnen – dank einer fortlaufenden Multiplikation. Der erste Oberton, die nächsthöhere Oktave, schwingt mit 2 × 440 Hertz; der zweite, die Quinte darüber, mit 3 × 440; der dritte, die darauf aufgesattelte Quarte, mit 4 × 440; die darauf folgende große Terz mit 5 × 440 etc. Das Verhältnis vom Grundton zum ersten Oberton ist 1:2, vom ersten zum zweiten Oberton 2:3, vom zweiten zum dritten 3:4, vom dritten zum vierten 5:6 etc. Je entfernter vom Grundton, desto geringer werden die Abstände zwischen den Obertönen, desto unmerklicher wird ihr Mitzittern mit ihm, bis sie schließlich jede akustische Unterscheidbarkeit verlieren und nur noch mathematisch auseinanderzuhalten sind. Ende offen.

Die Obertöne, die in einem Naturlaut mitzittern, und die Intervallverhältnisse zwischen ihnen: sie gehören ihm von Natur aus an. Ihre Hervorhebung ist hingegen ein kultureller Eingriff. Egal, ob er durch mathematische Berechnung oder durch intelligente Blas- oder Greiftechnik geschieht, die aus einem Ton dessen Obertöne herauskitzelt, ohne ihn selber erklingen zu lassen – stets wird dabei Naturmaterial für menschliche Zwecke präpariert. Zahlen stellen Naturverhältnisse dar. Geschickte Griffe formen Naturlaute. Die ihnen entsprechenden Begriffe legen Natur aus. Aber sie sind nicht Natur. Die Obertonreihe selbst weiß zum Beispiel nichts von der siebentönigen Skala, die sich in die europäische Musikkultur so tief eingesenkt hat, als wäre sie «eine Forderung der Natur».[1] Mit größter Selbstverständlichkeit nennt man da den gleichen Ton, wenn er ein Register höher oder tiefer wiederkehrt, den achten (= die Oktave) – und nimmt ihn zugleich als den ersten Ton der nächsten nach oben oder nach unten fortlaufenden Siebentonserie. Das Siebentonschema (das sogenannte «diatonische»[2]) ist von der Acht bis hinunter zur Eins (von der Oktave bis zur Prim) derart nachhaltig durchstrukturiert worden, daß man kaum mehr anders als durch seine Terminologie verständlich machen kann, wie die Obertonreihe tickt, obwohl diese schon von der Terz an nicht mehr glatt ins Schema paßt. Man behalf sich mit zusätzlichen Unterteilungen in große und kleine Terz, große und kleine Sekunde, doch spätestens vom sechsten Oberton an, der zwischen kleiner Terz und großer Sekunde liegt, zeigte sich, daß auch diese Zusätze nicht ausreichen, um die Obertonreihe naturgetreu wiederzugeben. Dennoch gibt das Siebentonschema eine durchaus erhellende Darstellung und Vorstellung von dem, was es nicht angemessen erfaßt. Eine bessere zeichnet sich nirgends ab.

Das gilt auch für die natürliche Staffelung der Obertöne. Diese umgeben den jeweils erklingenden Ton wie am Königshof die Vasallen den Herrscher. Oktave, Quint, Quart, Terz sind die vornehmsten akustischen Höflinge, die dem Grundton den stärksten Widerhall geben, wenn auch immer nur mitklingend, nie selbst hervortretend. Dennoch ist die menschliche Stimme am ehesten in ihre Richtung gedriftet, als sie sich dazu gedrängt fühlte, ihren Lauten wiederholbare Intervallkonturen zu geben. Das heißt freilich nicht, daß sie in ihren steinzeitlichen Anfängen sogleich fähig oder überhaupt nur willens gewesen wäre, obertongemäße Intervalle zu artikulieren. Niemand exerzierte sie vor; niemand hörte sie aus ihrem Vibrationskontext klar heraus; niemand behandelte sie als vorbildlich. Sie machen sich lediglich vage geltend: als Zittern unterhalb jeder distinkten Tonwahrnehmung – in jener vegetativen Dimension, wo sich die Differenz zwischen akustischem und taktilem Erschüttertwerden, die mit dem Gehör in die Welt kam, wieder verliert.

In dieser Tiefenschicht spielt sich gelegentlich Entscheidendes ab – nicht nur bei Menschen. Die Geschichte vom weinenden Kamel, ein deutscher Dokumentarfilm von 2003, zeigt, wie es einer Nomadenfamilie in der Wüste Gobi gelingt, daß ein neugeborenes weißes Kamel, das vom Muttertier zunächst abgewiesen wurde und daher vom Verhungern bedroht ist, schließlich doch ans mütterliche Euter gelassen wird. Manchmal, so weiß die Überlieferung dieser Nomaden, hilft in solchen Fällen das Singen einer rituellen Weise zu den Klängen einer Pferdekopfgeige. Das ist eine mit dem Bogen gestrichene, zweisaitige Kastenspießlaute, die am oberen Halsende in einen hölzernen Pferdekopf ausläuft. Ihre Töne erzittern in einer Weise, die sie zum Referenzinstrument der mongolischen Kultur hat werden lassen. Die Nomadenfamilie scheut weder Kosten noch Mühe, um einen der raren Pferdekopfgeiger herbeizuholen. Die Schwingungen und Klangfarben seines Instruments mögen physikalisch bequem analysierbar sein. Aber wie sie sich mit dem Gesang der hochbetagten Familienältesten so vereinen können, daß die Kamelmutter ihr Kind tatsächlich ans Euter läßt und es wärmend umgibt, das erklärt keine Physik. War die Stute so gerührt von der Melodie, daß sie ihr Verhalten änderte? Das wäre kurzschlüssige Projektion romantischer Menschlichkeit aufs Kamel. Gewiß hat es die Tonmelange von Geige und Stimme wahrgenommen, aber nur als akustische Firnisschicht einer Gesamtvibration, von der es so subtil-spezifisch erschüttert wurde, daß sich eine Blockade (wir wissen nicht, was für eine) in ihm löste. Sich in Tönen lösen, sich durch Töne lösen: das ist die große Verheißung der Musik, aber kein ausschließlich akustischer Vorgang. Seine Schwingungen setzen sich, gelegentlich auch bei Tieren, bis in die vegetative Dimension des Leibes hinein fort, wo die Hörwahrnehmung sich zu diffuser Gesamterschütterung despezifiziert.

Authentische Musik ist Erschütterungskultur, die bis ins Subakustische hinabreicht. Wo sie wirklich rührt, rührt sie auch an den Gleichgewichtssinn, der große Affinität zu Tönen hat. Sein Organ sitzt im Innenohr, im sogenannten knöchernen Labyrinth, in offenkundiger Nähe zum Gehör, gewissermaßen als Vor-Ohr, als die für den ganzen Organismus unspezifische zentrale Auffangstation für Erschütterungen aller Art; nicht nur für Schallwellen. Auch innere Körperreize, Gravitation und Beschleunigung, Tast- und Seheindrücke haben eine Vibrationsdimension, kommunizieren mit dem Gleichgewichtssinn, gehen ihm allerdings unterschiedlich nahe. Er verhält sich zu ihnen ähnlich wie ein Ton zu seinen näheren und ferneren Obertönen. Als eine Art Vor-Sinn der Sinne gehört er zum Fundus von Wahrnehmung und Bewußtsein, ist permanent beschäftigt mit dem Ausbalancieren biorhythmischer Impulse und ebenso auf Dämpfung von Schwingungsmißverhältnissen aus wie auf die Auflösung balancehemmender Verfestigungen.

Für diesen Wahrnehmungs- und Bewußtseinsuntergrund suchte Arnold Schönberg ein Wort, als er vom «Unterbewußtsein»[3] sprach, aus dem er seine Musik aufsteigen fühlte und auf das sie durchdringend einwirken sollte: als tiefenseelische Macht mit vegetativer Resonanz und lösender Kraft. Stefan Georges Gedichtzeile «Ich löse mich in tönen»[4] hatte ihn elektrisiert. Sie findet sich an einer Schlüsselstelle seines Zweiten Streichquartetts, das in den letzten beiden Sätzen eine Sopranstimme hinzugezogen hat und sie auf eine Weise aufsteigen läßt, die eine der großen Zäsuren der abendländischen Musikgeschichte anzeigt. Nicht abwegig, daß er den von Pferdekopfgeigentönen unterlegten rituellen Gesang, der das Kamel bewog, sein Neugeborenes anzunehmen, unter authentische Musik gerechnet hätte, auch wenn er nach europäischen Musikkriterien bloß als primitives Gekrächze und Geschrammel anmutet. Aber was taugen diese Kriterien, wenn sie sich durchdringenden Klängen in den Weg stellen? Genau das taten sie ja in Schönbergs Fall. Deshalb griff er sie frontal an. Was sie als Mißklang seiner Musik einstufen, weicht lediglich von verengten, erstarrten Hörgewohnheiten ab, so seine These. Die Klangwelt selbst kennt keine Dissonanz. Die Obertonreihe ist ein großes Konsonanzspektrum.

Nun läßt sich zwar schlecht bestreiten, daß alles, was in einem Ton mitzittert, sich konsonant zu ihm verhält; heißt consonare doch zunächst ganz unspezifisch «mitklingen». Ist aber auch alles gleichermaßen konsonant? Hier schwankt Schönberg. «Die vollkommenste Konsonanz (nach dem Einklang) ist der in der Obertonreihe am frühesten, deshalb am stärksten klingende Ton: die Oktav. Die nächstvollkommene die Quint, dann die große Terz.» Auch die Quart rechnet er «zu den vollkommenen Konsonanzen», wenn auch mit einer «Sonderstellung».[5] Woraus folgen müßte: Je entfernter vom Grundton, desto unvollkommener konsonieren die Obertöne. Aber das sagt er nicht, nennt vielmehr die stärkeren Obertöne «dem Ohr vertrauter», die schwächeren «fremder» (17), den Unterschied zwischen ihnen «nur graduell und nicht wesentlich», weshalb sich mit «der wachsenden Fähigkeit des analysierenden Ohrs» die Möglichkeit eröffne, «sich auch mit den fernliegenden Obertönen vertraut zu machen und damit den Begriff des kunstfähigen Wohlklanges so zu erweitern, daß die gesamte naturgegebene Erscheinung darin Platz hat» (18).

Schönberg erachtet sein Werk also als den entscheidenden Durchbruch zur gleichrangigen Konsonanz. Er wähnt sich zwar nicht schon am Ziel der Musikgeschichte, weiß vielmehr, daß auch er noch vom Siebentonschema aus wahrnimmt und denkt, das durch zusätzlich eingefügte Halbtöne lediglich zu einem Zwölftonschema gedehnt, aber nicht überwunden wurde. Aber er wähnt sich auf der Zielgeraden. Eines Tages, so ist er überzeugt, wird dies Schema «ebenso aufgehen in eine höhere Ordnung, wie die Kirchentonarten in der Dur- und Molltonart aufgegangen sind. Ob dann Viertel-, Achtel-, Drittel- oder (wie Busoni meint) Sechsteltöne kommen, oder ob man direkt zu einer 53tönigen Skala übergehen wird, die Dr. Robert Neumann berechnet hat, läßt sich nicht voraussagen.» (23/26) Denn «jedes Material kann kunstfähig sein, wenn es so weit klar ist, daß man es seinem mutmaßlichen Wesen entsprechend bearbeiten kann, aber doch nicht so klar, daß der Phantasie nicht noch in den unerforschten Bezirken Raum bliebe, um sich durch die Mystik mit dem Weltall in Verbindung zu setzen». (26)

Musik als mystische Konsonanz mit dem Weltall: darunter tut Schönberg es nicht. Er behauptet zwar nicht, diese Konsonanz schon voll realisiert zu haben, besteht sogar auf der Weiterverwendung der Begriffe Konsonanz und Dissonanz, «obwohl sie unberechtigt sind» (18); aber nur, um ihren Gegensatz ad absurdum zu führen und zu zeigen, daß in den europäischen Dur-Moll-Harmonien selbst schon deren Auflösung steckt. Ihre innere Drift treibt sie weg von den Grundtönen, auf denen sie basieren, und läßt sie geradewegs auf Tonverbindungen hinauslaufen, die sie eigentlich als «dissonant» von sich ausschließen müßten. Deshalb schreibt Schönberg ausgerechnet in jenen Jahren, wo er von diesen Harmonien Abschied nimmt, seine Harmonielehre. Sie soll den Abschied rechtfertigen, die verabschiedeten Harmonien als die unerläßliche Bodenstation erweisen, die ihm sein kühnes Abheben von ihr allererst ermöglicht hat – und allen, die ihm folgen wollen, als Lehrbuch dienen, damit sie das Niveau kennen, das keinesfalls unterschritten werden darf, wenn die Expedition über die Dur-Moll-Konsonanzverhältnisse hinaus wirklich in ein höheres Stadium führen soll.

Schönberg selbst hat es dabei auf das Höchste abgesehen: alle Dissonanz aus der Welt hinauszukomponieren und die Musik zur mystischen Konsonanz mit dem Universum zu bringen. Erst auf dieser Höhe wären ihre Tonverbindungen in vollem Einklang mit der Obertonreihe und folglich rundum natürlich. Jedes Tonsystem hingegen, das noch Dissonanzen kennt, selbst jedes, das noch zwischen «vollkommenen» und weniger vollkommenen unterscheidet und die entlegensten, schwächsten Obertöne den stärksten noch nicht ganz gleichgestellt hat, ist nach dieser Auffassung noch unnatürlich, artifiziell. Natürlichkeit ist nicht etwa ein subalternes, kunstloses Stadium der Musik, sondern ihr Gipfel; alle Komponierkunst hingegen, die ihn nicht erreicht hat, krankt noch an Künstlichkeit. Eine bemerkenswerte Umwertung. Bei aller Verehrung für Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Brahms, Mahler, bei aller Hochschätzung der Erweiterungen des harmonischen Raums, des Klangfarben- und Ausdrucksregisters, mit denen sie die Musik beschenkt haben – letztlich sind sie für Schönberg unterhalb des Gipfels geblieben. Er hat sie als seine Propheten und Wegbereiter erachtet, sich aber als den Messias, mit dem die Realisierung vollkommener Konsonanz allererst ins Stadium der Erlebbarkeit getreten ist.

Allerdings behielt sein messianisches Gebaren stets eine demütige Kehrseite. Nie hörte er auf, seinen Wegbereitern dankbar zu sein. Als Lehrer behandelte er vorrangig deren Harmonik und Kontrapunktik. Sie blieben aber auch seiner eigenen Musik eingeschrieben; nicht nur als unhörbare Substruktur, aus der er seine Kompositionen hervortrieb, sondern auch als klanglicher Untergrund, der, zumal im Spätwerk, immer häufiger als etwas Unerledigtes durch seine Zwölftonreihen hindurchschimmerte. So ist das Paradox, daß Schönbergs Harmonielehre angelegentlich entfaltet, wovon er sich als Komponist gerade verabschiedet, auch ein Sinnbild der paradoxen Situation, in die die Kunstmusik zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt geraten ist. Bis dahin boten Bühne und Konzertsaal vornehmlich zeitgenössische Werke dar. Natürlich wurden sie kontrovers aufgenommen und debattiert. Aber daß sie es waren, die im Fokus der Aufführungspraxis standen, verstand sich von selbst. Rechtfertigungsbedürftig war eher die Wiederaufnahme von Werken vergangener Epochen. Warum soll man die wieder ausgraben? Das war die Frage, die etwa dem zwanzigjährigen Felix Mendelssohn entgegenschlug, als er 1829 Bachs Matthäuspassion einem fast hundertjährigen Vergessen entriß und erneut zur Aufführung brachte.

Um 1910 kehrte sich das Verhältnis um. Rechtfertigungsbedürftig wurde das Zeitgenössische, während die Konzertprogramme sich auf ein immer wieder gespieltes klassisch-romantisches Repertoire zu versteifen begannen, in das Gegenwartsmusik nur noch in kleinen Dosen eingestreut wurde; entweder so geschickt, daß das Publikum sie mitschlucken mußte und ihr nicht durch späteres Betreten oder früheres Verlassen des Saals entrinnen konnte, oder, wie bei Uraufführungen von Opern, als Ausnahmen in einem traditionsdominierten Regelbetrieb. Trotzdem wird natürlich bis heute ständig Zeitgenössisches aufgeführt. Täglich gehen Unmengen neuer Pop- und Unterhaltungsmusik über den Äther und die Bühnen und bieten Unkonventionelles dar: ungebärdige Rhythmen, extreme Lautstärken, elektronische Klangspektren, ungewohnte Geräusche und Sprechgesänge. Doch wie durch geheime Verabredung fast immer ganz brav im Rahmen herkömmlicher Dur-Moll-Tonalität. Stücke, die ihn radikal sprengen, sind von Unverkäuflichkeit bedroht. Meistens zeugen sie von ernsthafter Kunstambition. Eine gewinnorientierte Musikindustrie kann sie sich gewöhnlich nur über Querfinanzierung oder Subventionierung leisten. Wenn prominente Instrumental- und Gesangsvirtuosen der Kunstmusikszene betonen, wie sehr ihnen zeitgenössische Werke am Herzen liegen, so meinen sie solche kunstambitionierten – und bestätigen, daß permanenter Einsatz für sie nötig ist, wenn sie im Musikbetrieb wenigstens Achtungserfolge erzielen sollen. Dessen Herz zu erobern – wer glaubt noch, daß ihnen das vergönnt wäre? Günstigstenfalls nehmen sie die Gestalt von Wurmfortsätzen an, die über die etablierte Dur-Moll-Tonalität in beglückender Weise hinausragen. Aus ihnen besteht heutzutage hervorragende Musik. Eine höhere Ordnung, in der die vorangegangene aufgeht, repräsentieren sie nicht. Das liegt nicht nur an der Harthörigkeit derer, die sich ihr nicht gebührend öffnen mögen, sondern auch an überspannten Vorstellungen von der Dehnbarkeit des Gehörs, denen die Kunstmusik im 20. Jahrhundert für einige Zeit aufsaß.

«Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden», heißt es bei Immanuel Kant.[6] Auch die Obertonreihe bleibt ein krummes Holz. Selbst durch größte Kompositionskraft läßt sie sich nicht zu vollkommener Weltharmonie gleichberechtigter Intervalle strecken. Das Naturgefälle, mit dem sie um den jeweiligen Grundton gravitiert, mit näheren stärkeren und ferneren schwächeren Obertönen: es macht die tonimmanente Schwerkraft aus, die sich ebensowenig abschütteln läßt wie die Schwerkraft dichter Körper. Lebewesen können sie lediglich lockern und sich eigene Spielräume in ihrem Kraftfeld verschaffen. Musik ist ein solcher Spielraum. Seine Eröffnung war allerdings ein viele Jahrtausende währender Prozeß mit ungelenken Anfängen. Gewiß haben frühe Steinzeitmenschen, als sie sich gedrängt fühlten, Stimmlaute in unterschiedliche Längen und Höhen zu ziehen, nicht sogleich zielbewußt die nächstliegenden Obertöne (Quint, Quart, Terz) fokussiert. Obertöne sind zwar in Tönen enthalten, aber bloß als Mitklänge und vage empfundene Vibrationen. Sie in distinkte, explizit artikulierte Töne zu verwandeln und rituell festzuhalten: das mußte mühsam gelernt werden. Warum sich dieser Mühe unterziehen, wenn kein Druck dazu nötigte?

Präzises Artikulieren von Tonabständen (Intervallen) ist weder eine Naturnotwendigkeit noch ein Wert an sich. Nur in wenigen Weltgegenden, etwa im Mittelmeerraum und im Abendland, entstand ein nachhaltiges Bedürfnis danach; und auch das erst zu den besonderen Bedingungen der kleinasiatisch-altgriechischen Hochkultur.[7] Woran aber sollte sich der Drang nach Intervallschärfe orientieren, wenn nicht an den dominanten Obertönen, vornehmlich Quint und Quart? Das heißt nicht, daß diese Töne immer sogleich präzise getroffen oder andere Intervalle strikt gemieden worden wären. Tonhöhen waren ungleich weniger fixiert und wurden viel häufiger gleitend durchlaufen als heute. Nirgends jedoch war es dem Homo sapiens bisher beschieden, seinen klanglichen Spielraum am Obertongefälle vorbei zu entfalten; immer nur in dessen natürlichem Kraftfeld. Auch Kulturen, die es nie in explizite Tonfolgen übersetzten und andere Tonskalen entwickelten als die europäischen, sind von seinem Magnetismus affiziert, etwa vom Oktavabstand als elementarer Orientierungsmarke und der Quint als primärem Fluchtpunkt der Intervallbildung. Nicht alles, was ein Magnet anzieht, wird eins mit ihm. Manches kommt ihm näher, manches bleibt ihm ferner. Die Obertöne zwingen nicht dazu, den Oktavraum durch die Siebenzahl zu strukturieren. Aber dort, wo er durch andere Zahlen, etwa die Fünf oder die Sechs, organisiert wird oder durch Tonfolgen, die auf keine Zahl genau festgelegt sind, ist das magnetische Kraftfeld der Obertonreihe keineswegs verschwunden. Seine Spielräume werden nur anders genutzt.

Die 53tönige Skala des von Schönberg hoch geschätzten «Dr. Robert Neumann» hingegen war darauf aus, dieses Kraftfeld vollständig zu entkräften. Sie ist ein typisches Ingenieurskonstrukt des 20. Jahrhunderts, ausgetüftelt in der Überzeugung, das menschliche Ohr lasse sich für all ihre Bruchrechnungen von Minimalintervallen schärfen, wenn man es nur lange und intensiv genug daran gewöhnt. Dahinter stand der Glaube, die kompositorische Gleichstellung der Obertöne könne, wenn sie nur ernsthaft genug betrieben werde, in absehbarer Zeit an den Punkt gelangen, wo ihr Eigengefälle sich in der höheren Konsonanz der Weltenharmonie aufhebt. Diesen Glauben hat Schönberg wie kein anderer kultiviert. Er ist durch ihn zu einem epochalen musikalischen Umbruch beflügelt, aber auch verleitet worden, diesen Umbruch als finalen Durchbruch zur Weltkonsonanz zu überschätzen und das Wegkomponieren der Dissonanz als seine musikalische Weltmission zu verkennen. Schönbergs höhere Konsonanz existiert nur als Utopie. Als solche ist sie hoch inspirativ. Aber sie durch menschliche Kompositionskunst herstellen zu wollen ist vermessen. Die Dissonanz bleibt Stachel und Stimulus der Musik. Sie läßt sich ebensowenig ganz wegarbeiten wie die Schwerkraft. In Mitteleuropa mag anderes als dissonant empfunden werden als in Zentralafrika, aber die unterschiedlichen Empfindlichkeitsspielräume, welche verschiedene Kulturen für unerwünschte und erwünschte Klänge ausbildeten, haben eine gemeinsame psychosomatische Basis. Es gibt Lautstärken, Tonhöhen und Klangfarben, die kein Gehör, egal, in welcher Kultur, als Wohlklang aufnehmen kann.

Die Musik des Schönberg-Kreises ist selber als Dissonanz in die Welt getreten, als Aufschrei gegen das Leerlaufen der europäischen Kultur am Vorabend des ersten Weltkriegs.[8] Doch ebenso war sie vom europäischen, industriell unterlegten Machbarkeitshype des «Weiter, Höher, Schneller» durchdrungen. Sie wollte hinaus aus dem europäischen Zwangskorsett, aber auf der Linie des europäischen Fortschrittsglaubens. «[I]n 150 Jahren wird meine Musik ebenso verständlich sein wie heute die Musik von Mozart», glaubte Schönberg 1931 und wünschte sich noch 1947, «dass man meine Melodien kennt und nachpfeift»;[9] sie in nicht allzu ferner Zukunft also genauso pflegt wie einst das tonal gestimmte Konzertpublikum seine Klassiker; nur eine Etage höher. Das konnte nichts werden. Auch bei bestem Willen und hoher Gewöhnung bleibt der Nachpfeifbarkeitsgrad Schönbergscher Tonreihen für Laien gering. Zudem hat Musik sich anders globalisiert, als von der radikalen Avantgarde vorgesehen: nämlich im Sog einer globalen Kulturindustrie, die primitive und artifizielle, sakrale und profane, populäre und gelehrte Musik gleichermaßen in sich hineinzieht, einerseits separate Nischen mit je eigener Kundschaft aus ihnen macht – man kann heute Popmusik studieren, ohne von traditioneller eine Ahnung zu haben –, andrerseits ein unablässiges Crossover zwischen ganz heterogenen Nischenmusiken fördert, woraus sich wiederum eine Fülle neuer Nischen ergibt.

Die Kulturindustrie ist ebenso nivellierend wie promiskuitiv, ein Nischendschungel mit kaum zu überschätzender Sogkraft. Aber sie ist nicht allmächtig. Wie keine Kompositionskunst das Naturgefälle der Obertonreihe ganz wegbekommt, so auch keine Kulturindustrie das Niveaugefälle zwischen verschiedenen Musikkulturen und -nischen. Wer sie alle für gleichwertig und nur noch ihre wertfreie Beschreibung für zulässig erklärt, hat sich der kulturindustriellen Gleichschaltungsdynamik schon ergeben. Zu deren Konditionen ist es allerdings schwieriger denn je, Kriterien für musikalische Qualitätsunterschiede zu gewinnen, daher um so dringlicher, sich ein Sensorium für jene Anfangszustände zu erarbeiten, als Musik noch zu den Notmaßnahmen gehörte, mit denen sich Hominidenkollektive gegen die Übermacht der Naturgewalt zur Wehr setzten und dabei jene Handlungsspielräume etablierten, die man im Rückblick Kultur nennt.

Das Gefälle zwischen Musikkulturen gründet in ihrem unterschiedlichen Verhältnis zur Natur. Sie ist es, die in Musik nachzittert, und daran, wie sie in Tönen aufgefangen wird, zunächst im Widerhall von Schock und Grauen, später im Vibrieren von Faszination, Wohlgefallen, Zuneigung oder Jubel, läßt sich am ehesten ermessen, was den Kern musikalischer Authentizität ausmacht: das Durchmachen, Gestalten und Transfigurieren von Erschütterung. Ohne Erschütterungssublimierung können Tonfolgen nicht ergreifen, rühren, zarte Schauder auslösen, und ohne Rückbesinnung auf die archaischen Ernstfälle sublimierter Erschütterung ist ein Gespür für die historische und seelische Tiefendimension der Musik kaum zu gewinnen. Deshalb ist eine Mentalarchäologie der Musik so wichtig, die sich um die Spuren der unwiederbringlich verlorenen akustischen Anfangszustände kümmert und dazu anleitet, das nicht mehr Hörbare zu imaginieren. Sich in dieser Imagination zu üben: das macht auch empfänglich für das Unerhörte in der hörbaren Musik, der vergangenen wie der gegenwärtigen.

Fußnoten

1 Riemann 1893, 1

2 Zur Diatonik siehe unten, S. 245

3 Schönberg 31922 [1911], 18. Das ist nicht ganz dasselbe wie das «dynamische Unbewußte», dessen Analyse sich sein Wiener Mitbürger Sigmund Freud gewidmet hatte. Aber die Überschneidungen sind erheblich. Freud wie Schönberg versuchten, dem sogenannten Un(ter)-bewußten akustisch beizukommen; der eine mit redender Medizin, der andere mit musikalischer Erschütterung. Am gemeinsamen tiefenseelischen Fundus von Musik und Sprache wird dieses Buch denn auch nicht vorbeikommen (siehe unten, S. 64 ff., 95, 123, 394 f., 489 ff.), wenn es auch der interessanten psychoanalytischen Bestrebung, die Tiefenwirkung der menschlichen Stimme bis ins Vorgeburtliche hinein zu verfolgen und ihre klangfarblichen und rhythmischen Valeurs für die Behandlung von Störungen in ganz früher Kindheit fruchtbar zu machen (Leikert 2007, 463 ff.), keinen eigenen Raum geben kann.

4 George 2003 [1907], 569

5 Schönberg 31922 [1911], 19. Weitere Zitatnachweise im Text.

6 Kant 1968 [1784], 41

7 Siehe unten, S. 248

8 Insgesamt war die Avantgardemusik freilich viel variantenreicher; homogen nur im Verlangen, aus der geschlossenen Dur-Moll-Tonalität auszubrechen, sehr heterogen aber, was den Weg hinaus betrifft. Nicht jeder ihrer Wege, der nicht zur Zwölftontechnik drängte, ist deshalb schon halbherzig und inkonsequent gewesen. Manche sind einfach vergessen worden. Komponistinnen wie Ethel Smyth und Marie Herz werden überhaupt erst wirklich entdeckt. Die Variationsbreite der avantgardistischen Weichenstellungen und deren Verwicklungen ins politische und kulturelle Zeitgeschehen findet in Volker Hagedorns 2022 erschienener Erzählung Flammen eine fulminante Darstellung.

9 Strobel 1951, 211; Rufer 1959, 137 (Brief vom 12. 5. 1947 an Hans Rosbaud)

Ouvertüre: Naturkonzert

Bioakustik

Bernie Krause studierte zunächst Geige und Komposition, wurde dann Gitarrist, machte in Boston und New York Karriere als Studiomusiker, begann in den 1960er Jahren mit Synthesizern zu experimentieren und traf bei einem Kurs über elektronische Musik auf den Organisten Paul Beaver. Bald bildeten die beiden ein Duo, arbeiteten gemeinsam an der elektronischen Erweiterung des Klangspektrums, führten den Synthesizer in Pop und Film ein, lieferten Soundtracks zu Kinoklassikern wie Rosemary’s Baby, Apocalypse Now oder Lovestory und machten eigene Langspielplatten. Gleich die erste sollte sich für Ökologie engagieren. Dazu brauchte man allerdings echte Naturgeräusche, und weil Beaver «um seinen blauen zweireihigen Kammgarnanzug und seine eleganten Halbschuhe» besorgt war, zog Krause allein in die Wildnis, schaltete «an einem wunderschönen Herbsttag des Jahres 1968 im Schutzgebiet Muir Woods» sein Mikrophon ein, stellte seinen Recorder auf volle Lautstärke, «um nichts zu versäumen», setzte seine Stereokopfhörer auf – und erlebte etwas, was «einer göttlichen Offenbarung gleichkam».[1]

«Die Umgebungsgeräusche wurden in winzige Einzelheiten aufgelöst, die ich mit meinen Ohren allein niemals wahrgenommen hätte – das Geräusch meines Atems, die sachte Bewegung meines Fußes, der eine bequeme Position sucht, ein Schniefen, ein Vogel, der neben mir auf dem Boden landet, Laub aufwirbelt und dann mit seinen Flügelschlägen die Luft in kurzen, raschen Stößen bewegt, als er alarmiert wieder abhebt.» (23) «Wie ein Fernglas holten Mikrofone und Kopfhörer das Geräusch in unmittelbare Nähe und offenbarten mir Einzelheiten, die für mich vollkommen neu waren.» (22) «Klangverstärkung ermöglichte mir, die Sprache der Wildnis auf eine Weise zu dechiffrieren, wie es mir nur mit musikalisch geschultem, ‹kultiviertem› Zuhören nicht möglich gewesen wäre.» (24) «Man könnte meinen, ich hätte die Welt der Musik für die Welt der Naturgeräusche aufgegeben. Aber ich habe sie dort erst wirklich entdeckt.» (25) Krause wurde zum Konvertiten. Erst in der Bioakustik fand er zu sich selbst. Sie eröffnete ihm, wonach er in der Kunstmusik vergeblich gesucht hatte, und schien ihm ein für allemal zu beweisen, daß nicht erst der Homo sapiens zur Musik gefunden hat. Der «Klangteppich der Biophonie» war längst vor ihm da und «die erste Musik, die unsere Spezies vernahm» (245). Die Tierwelt ist ein großes Orchester und macht seit Millionen von Jahren in ganz wörtlichem und authentischem Sinn – Musik.

Und warum behauptete etwa Eduard Hanslick, einer der markantesten Musiktheoretiker des 19. Jahrhunderts, das strikte Gegenteil? Nun, zum einen verstand er unter Musik kaum mehr als die europäisch-abendländische; zum andern hatte er keine Ahnung von Bioakustik. Deshalb vermochte er die Natur lediglich als Lieferanten «des rohen Materials» zu erachten, «welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme Erz der Berge, das Holz des Waldes, der Tiere Fell und Gedärm sind alles, was wir vorfinden, um den eigentlichen Baustoff für die Musik, den reinen Ton, zu bereiten.» Besagter Ton «ist erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu Melodie und Harmonie, den zwei Hauptfaktoren der Tonkunst. Beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes. – Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir Melodie nennen, vernehmen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten Anfängen; ihre sukzessiven Schallerscheinungen entbehren der verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduktion auf unsere Skala.» Erst recht gilt das von der Harmonie. «Hat jemand in der Natur einen Dreiklang gehört, einen Sext- oder Septimakkord?» Nur der Rhythmus «existiert schon vor und außer dem Menschen», etwa im «Galopp des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel». Die Musik jedoch hat «keinen isolierten Rhythmus als solchen, sondern nur Melodie und Harmonie, welche rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der Rhythmus weder Melodie noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der Rhythmus, das einzige musikalische Urelement der Natur, ist auch das erste, so im Menschen erwacht, im Kinde, im Wilden am frühesten sich entwickelt. Wenn die Südsee-Insulaner mit Metallstücken und Holzstäben rhythmisch klappern und dazu ein unfaßliches Geheul ausstoßen, so ist das natürliche Musik, denn es ist eben keine Musik.»[2]

Das klingt heutigen Ohren sehr nach eurozentrischer Überheblichkeit und Unempfänglichkeit für Naturlaute. Zudem gibt es längst Geräte, die vieles von dem messen, was Hanslick für unmeßbar hielt. High-Tech-Mikrophone vermögen die Geräusche von Boden, Wasser und Wind, das Summen und Zirpen von Insekten, die Kantilenen der Vögel so täuschend echt aufzunehmen, daß gelegentlich Vögel, denen man ihre eigenen Lautfolgen vorspielt, den Recorder für einen Rivalen halten und sich auf ihn stürzen. Sonagraphen sind in der Lage, die Lautstärke, Tonhöhe und -dauer von Schall mit hoher Präzision grafisch darzustellen. Sonagramme bestätigen zwar Hanslicks These, daß keine Lautfolge aus Vogelkehlen sich genau in die melodisch-harmonische Skala der abendländischen Tonalität fügt. Nicht einmal der Kuckuck intoniert immer exakt die kleine Terz, die man seinem Ruf unterstellt. Doch spricht das nicht gegen die Vögel, sondern für die Beschränktheit der tonalen Skala.

Die meisten Vögel haben ein Grundrepertoire lebensnotwendiger, immer wiederkehrender Rufe: etwa um Gefahren (bei Jungvögeln auch Hunger) zu signalisieren, um ein Revier zu markieren, einen Geschlechtspartner zu umwerben, Kampf- und Paarungsbereitschaft anzuzeigen; und einen Überschuß, der dieses Repertoire variiert, ausschmückt, weiterentwickelt – gelegentlich weit über Primärfunktionen wie Gefahrenanzeige, Reviermarkierung oder Partnersuche hinaus. Grundrepertoire und Überschußpotential sind allerdings oft nicht scharf trennbar. Stare etwa sind nicht nur berühmt dafür, Lautfolgen aller Art, natürliche wie künstliche, tierische wie menschliche, in kürzester Zeit zu adaptieren; sie bringen auch eine irritierend komplexe Grundfigur hervor, die sonagraphisch inzwischen detailliert dargestellt worden ist: «Zunächst ein oder zwei abfallende Pfeiftöne aus einem Repertoire von zwei bis zwölf unterschiedlichen Formen; anschließend ein ruhigeres, kontinuierliches Trillern, in das oft Imitationen verschiedener Vögel aus dem Revier des Vogels eingebaut werden», gefolgt von «einer Reihe rascher Klicklaute», die sich «mit einem Rasseln oder Rätschen ohne deutliche Unterbrechungen» verbinden; schließlich kommt «ein kräftiger, geräuschhafter, aber klarer Abschluss» aus «hohen Quietschlauten, die viele Male wiederholt werden».[3] Was ist da Repertoire, was Kür?

Noch schwieriger ist diese Unterscheidung beim Sumpfrohrsänger. Daß er oft und gerne Vögel seiner europäischen Umgebung imitiert, war schon länger bekannt. Dann aber reiste ihm eine belgische Ornithologin in seine ostafrikanischen Winterquartiere nach und entdeckte: Diejenigen seiner Lautgebilde, die man in Europa nicht als Imitationen zuordnen konnte, hat er fast alle seiner afrikanischen Umgebung entlehnt. Es sind sogar Elemente dabei, die er nur auf dem Weg nach oder von Ostafrika aufgeschnappt haben kann. Es ist der einzige Vogel, «der seinen Zugweg wie eine ‹Songline›» wiederzugeben vermag. Er hat so gut wie «keine eigenen Gesangssilben», allerdings eine sehr eigene Art, in der er «Imitationen kurzer Fragmente anderer Vogelgesänge mit extremer Geschwindigkeit heraussprudeln lässt» (207).

Dazu befähigt ihn die Syrinx. Diesen Namen trägt in der griechischen Mythologie eine arkadische Nymphe. Laut Ovid floh sie vor dem begehrlichen Gott Pan und verwandelte sich in höchster Not, als er sie packen wollte, so daß er «statt des Nymphenleibes nur Schilfrohr» ergriff. «Indes er dort seufzte, erzeugten die Winde, die das Schilf bewegten, einen sanften, klageähnlichen Ton», und «von der Süße dieses Klangs ergriffen» verband er «zwei Rohre verschiedener Länge mit Wachs» zu einem Instrument und «bewahrte in ihm den Namen des Mädchens».[4] Das ist die Panflöte, genannt Syrinx.

In der Anatomie heißt so der Stimmkopf: das Lautbildungsorgan der Vögel. Es ist ein Gipfelpunkt der Evolution. Es macht die Vögel allen andern Lebewesen stimmlich überlegen, vor allem dadurch, daß das Tympanum, jener Hohlraum, durch den bei der Lautbildung Luft in Richtung Schnabel nach oben gepreßt wird, beiderseits von Membranen flankiert ist, die ihrerseits von einem feinen Muskelgeflecht umgeben und durch es derart modulierbar sind, daß sie im Nu ganz verschiedenartig schwingen und höchst variable Klänge erzeugen können: blitzartige Riesenintervalle, jähe Übergänge zwischen Pfeifen, Zwitschern, Trillern, Schnarren, Rasseln und Schlagen. Manche Vogelarten sind sogar in der Lage, die Membranen der beiden Seiten unabhängig voneinander in Schwingung zu versetzen und sich zweistimmig zu artikulieren. Nicht alle können das. Manche pressen nur ein relativ bescheidenes Grundrepertoire mit wenig Überschuß durch die Syrinx. In musikalischer Terminologie könnte man sagen: Da ist viel starres Thema und wenig Variation. Beim Star hingegen spielen Thema und Variation vielfältig ineinander. Ähnlich bei der Nachtigall. Dank ihrer Sonderrolle als nächtlicher Solist, der bei Mondschein lange, wehmütig erscheinende Klangfolgen intoniert, hat sie stets besondere menschliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen und gilt in Europa als Inbegriff der Musikalität.

Beim Schilfrohrsänger schließlich und bei der in Nordamerika verbreiteten Spottdrossel (Mocking bird) sind Thema und Variation kaum mehr unterscheidbar. Jedes Thema ist gewissermaßen schon seine eigene Durchführung, hat «keine eigenen Gesangssilben», und ist dennoch eine ganz eigene Kombination von aufgeschnappten Lauten. Die ausladenden Lautfolgen, mit denen zur Balzzeit das männliche Tier das weibliche umwirbt, haben zwar allem Anschein nach die Funktion der Paarungsanbahnung. Doch wenn das Weibchen seine Einwilligung signalisiert hat, das Männchen es besteigt – und dabei unablässig weiter zwitschert, auch nach vollbrachter Tat, was heißt da noch Funktion?[5] Männliche Spottdrosseln machen den Eindruck, als würden sie nicht zwitschern, um etwas zu erreichen, sondern alles Mögliche anstellen, um zwitschern zu können. Die Hopi-Indianer «glaubten, dieser Vogel schenke allen anderen Geschöpfen ihre Namen und Laute» (218). Ähnliches erzählen die Aborigenes vom Leierschwanz. Er «habe allen Tieren ihre verschiedenen Stimmen gegeben und das Stimmengewirr entwirrt» (266). Auch er ist eine Art Universalzwitscherer und wurde, wie die Spottdrossel, von den Indigenen als die Verkörperung der Gesamtheit aller Naturlaute verehrt, aus der jede Kreatur die ihr gemäßen empfangen haben soll.

Wie nie zuvor sind durch die Bioakustik Tierlaute in kleinste Einheiten zerlegt worden: in immer wiederkehrende Motive oder Phrasen – und davon Abweichendes. Wenn man dafür «Grundrepertoire» und «Überschuß» sagt, verwendet man bereits Evolutionsterminologie. Schon die ersten Einzeller hatten ein Repertoire, nämlich ihren Stoffwechsel: jene ständige Einfuhr, Verarbeitung und Ausscheidung bestimmter winziger Nährstoffe, durch die sie sich stabil erhielten. Organismen haben nur Bestand durch ihr Repertoire; aber sie bestehen nicht nur aus ihm. Enthielten sie nicht auch ein Überschußpotential, so wäre die Naturgeschichte über Einzeller nie hinausgelangt. Zur Zellteilung, Zellfusion und Mutation, auf der der enorme Reichtum der Artenvielfalt beruht, wäre es nie gekommen. Dazu bedurfte es der Fähigkeit zur Abweichung. Sie existiert zunächst bloß latent. Ob und wie es tatsächlich zur Abweichung kommt, hängt von einem Geflecht äußerer Umstände und innerer Dispositionen ab und ist nicht vorhersehbar. Aber ohne sie gäbe es keine Anpassung an die Umwelt. Organismen gleichen sich nicht nur der Übermacht äußerer Bedingungen an, sondern tun das stets auf eigene Art und Weise. Deshalb ist jede Spezies anders als die andere. Ohne Abweichung, Überschuß, Spontaneität ginge das gar nicht. Organische Anpassung ist nie nur funktional, stets auch eigensinnig. Nur deshalb gibt es Naturevolution.

Evolution

Das hat Charles Darwin nicht immer deutlich genug hervorgehoben. Arten, die unfähig sind, sich der Umwelt anzupassen, gehen unter, sagte er. Aber folgt daraus auch sein Umkehrschluß, daß die Anpassung die treibende Kraft, ja das Prinzip der Evolution sei, aus dem sich Die Entstehung der Arten und ihre vielfältige Verzweigung erklären lasse? Zwar darf man Arten, denen es gelingt, ihre Größe, Gestalt, Farbe, Behaarung, Fortpflanzungsorgane, Greif- und Beißwerkzeuge so auf ihre Umgebung einzustellen, daß sie überleben, womöglich sogar ihren Lebensraum erweitern, als fit (= passend) erachten. So wie Menschen bei der Tierzucht verfahren, wenn sie allein diejenigen Tiere sich fortpflanzen lassen, die ihnen besonders viel Fleisch, Milch, Fell, Leder etc. geben, so schien es Darwin, daß auch die Natur als ganze «natürliche Zuchtwahl»[6] betreibe; nur in ungleich größerem Umfang und Zeitraum. Allerdings setzt sie nicht, wie menschliche Züchter, bestimmte Einzelzwecke, zu denen bestimmte Organismen nützlich sein sollen. Natur ist für Darwin überhaupt kein Subjekt, sondern «bloß die vereinte Tätigkeit und Leistung der mancherlei Naturgesetze» (415): sozusagen das organische Weltaggregat. Es weiß nicht, was es tut, aber es betreibt ständig Selektion, sorgt für den Untergang aller Arten, die fortbestandsunfähig sind, und läßt die fitten übrig: diejenigen, die sich in hohem Maße auf ihre Umgebung eingestellt haben. Zweifellos ist ihre erfolgreiche Anpassung Teil ihres Verhaltens. Aber ist sie deswegen auch allgemeines Naturprinzip? Hat «die vereinte Tätigkeit und Leistung der mancherlei Naturgesetze» es eigens auf universale Anpassung abgesehen? Als subjektloses Weltaggregat kann sie doch gar keine Absichten haben. Dennoch hat Darwin ihr eine tierzuchtähnliche Generalintention unterstellt, als arbeite sie insgesamt auf fitness als allgemeine Lebenstüchtigkeit hin – auf Nützlichkeit als solche.

Das brachte ihn angesichts der «geschlechtlichen Zuchtwahl» (419) allerdings in Schwierigkeiten. Wie sollte er sich etwa Hirschbrunft und Vogelbalz erklären? Unter nützlicher Anpassung ließ sich weder der Aufwand verbuchen, den es Hirsche kostet, jährlich ein neues Geweih zu schieben und anstrengende Kämpfe mit Rivalen um die Hirschkühe des Rudels auszutragen; noch die Prachtgefieder und komplizierten Lautfolgen, mit denen die Männchen vieler Vogelarten die Weibchen umtanzen. Da aber auch menschliche Tierzucht gelegentlich ästhetischen Gesichtspunkten folgt, räumte er ein: Wenn «der Mensch imstande ist, seinen Bantam-Hühnern in kurzer Zeit eine elegante Haltung und Schönheit je nach seinen Begriffen von Schönheit zu geben, so kann ich keinen genügenden Grund zum Zweifel finden, daß weibliche Vögel, indem sie Tausende von Generationen hindurch den melodiereichsten oder schönsten Männchen, je nach ihren Begriffen von Schönheit, bei der Wahl den Vorzug geben, nicht ebenfalls einen merklichen Effekt bewirken können» (420).

Hier erscheint plötzlich nicht mehr die Natur als ganze mit der natürlichen Zuchtwahl befaßt, sondern nur noch eine relativ kleine Gruppe: die Weibchen bestimmter Arten. Sie fungieren nicht als das schöne Geschlecht, wohl aber als das schön machende, das fähig ist, der eigenen Art gewünschte Eigenschaften anzuzüchten. Ihrem Schönheitssinn passen sich die Männchen an, wenn sie ihren Brunft- oder Balzaufwand betreiben, mit dem Ergebnis, daß die fittesten von ihnen nun – die Schönsten sind. Wie aber soll sich fitness als Schönheit mit fitness als Nützlichkeit, Zähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit reimen? Darwin ahnte, daß das nicht geht – und brach die Erörterung von Brunft, Balz und «geschlechtlicher Zuchtwahl» flugs wieder ab, um sein Evolutionskonzept nicht durch «Begriffe von Schönheit» zu durchkreuzen.

Die Biologie aber schleppt seither Darwins ästhetische Hypothek mit sich herum. Wenn Schönheit in der Tierwelt vorkommt, aber nicht umstandslos fitness sein kann, was ist sie dann? Das Gegenteil davon, behauptete Amotz Zahavi, nämlich ein selbstverursachtes «Handicap»[7]. Hirsche, die sich mit dem Schieben und Tragen von sperrigen Geweihen plagen und ernsthafte Verletzungen beim Brunftkampf riskieren; Mandarinerpel, Fasanen-, Pfauen- oder Birkhähne, die ein üppiges schillerndes Prachtgefieder entwickeln, das ihre Beweglichkeit verringert und sie für Feinde besser sichtbar macht; Drosseln, Rohrsänger, Leierschwänze, die sich in balzenden Lautfolgen verausgaben und allen, die Appetit auf sie haben, verraten, wo sie sich gerade aufhalten: sie alle nehmen besondere Anstrengungen, Unannehmlichkeiten, Gefahren auf sich und bekunden damit, was auf dem Heiratsmarkt «ernste Absichten» hieße. Das imponiert den Weibchen; sie finden das Handicap «schön». Je mehr sich ein Mann für eine Frau krummlegt, desto glaubwürdiger erscheint seine Werbung. Doch Hirschbrunft und Vogelbalz richten sich nicht nach den Regeln menschlicher Partnerschaftsanbahnung. Sie sind Manifestationen artspezifischer Stoffwechselprozesse und Hormonverarbeitungsformen.

In manchen Arten geht dabei die Proteinmenge, die die weiblichen Tiere in die Produktion von Eiern oder in die Ernährung von Embryonen leiten, bei den männlichen mit fast mathematischer Genauigkeit in die Produktion aufwendiger Geweihe und Gefieder.[8] Für sich genommen ein völlig dysfunktionaler Vorgang. Fortpflanzung ginge auch ohne ihn. Dennoch kehrt sich dabei lediglich etwas nach außen, was sich beim weiblichen Geschlecht eher nach innen konkretisiert: die Proteinverarbeitung, an der alle Tiere laborieren und die bei keiner Art und keinem Geschlecht rein funktional verläuft. Die Zahl, Konsistenz oder Farbe von Fasanen- oder Pfaueneiern sind ebensowenig ein Resultat purer Nützlichkeit wie die Tragezeit von Hirschkühen. Sie alle enthalten eine Prise Eigensinn. Sie hätten auch ein wenig anders ausfallen können. Umgekehrt gehört selbst noch die Pracht von Geweihen und Gefiedern dem Nützlichkeitskontext von Paarung und Brutpflege an. Sie ragt über ihn hinaus, ist aber nicht einfach dysfunktional.

Darwin sah hier jedoch nur ein Entweder-Oder. Da er die allgemeine Zuchtwahl von den Konkurrenz- und Effizienzstandards der damals noch jungen kapitalistischen Produktionsweise aus dachte – die fittesten Unternehmen setzen sich durch und expandieren unablässig –, so blieb ihm für die spezielle Zuchtwahl in Brunft und Balz nur deren Kontrapunkt: der bürgerliche Kunst- und Kulturbetrieb, der als die Sphäre funktionsloser Schönheit dem in die Tretmühle industrieller Nützlichkeit eingespannten Bürgertum Entspannung und Erbauung bieten sollte. Balz bekam das Ansehen eines Schönheitswettbewerbs mit Damenwahl. Dabei ist oft schwer auszumachen, ob die Bevorzugung eines bestimmten Männchens ein souveräner weiblicher Wahlakt ist, oder ein annähernd ausgeglichenes Geben und Nehmen, oder bloß die Hinnahme des zudringlichsten Bewerbers. Feststellen läßt sich lediglich, daß die weiblichen Tiere sich mehrheitlich besonders empfänglich für exponierte männliche Balzdarbietungen zeigen, die von Menschen als schön empfunden werden. Aber daß in den Weibchen selbst ein Schönheitssinn steckt, der die Männchen zur Ausbildung von Prachtgefiedern oder virtuosen Lautgebilden stimuliert, läßt sich durch keine Beobachtung ermitteln. Entsprechendes gilt für all die Vogelarten, die sich in ihren Lautkapazitäten so weit über ein einfaches Grundrepertoire hinausschwingen, daß sie gelegentlich den Eindruck machen, als hätten sie sich von einzelnen situationsbedingten Rufen wie denen zur Anzeige von Gefahren, Paarungs- und Kampfbereitschaft völlig emanzipiert und zwitscherten bloß noch, um zu zwitschern. Sie sind im Nützlichkeitskontext zu ihrer virtuosen Lautproduktion gelangt. Ob ihr überschießendes Zwitschern tatsächlich eine Klangkomposition, also Musik ist, oder ein unter physiologischem Druck produziertes Klanggebilde, das Menschen wie Musik empfinden, läßt sich durch Bioakustik nicht entscheiden.

Um so interessanter wird dadurch ein berühmtes Zitat von Immanuel Kant. «Was wird von Dichtern höher gepriesen, als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bei dem sanften Licht des Mondes? Indessen hat man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgend ein lustiger Wirt seine zum Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen.»[9]

Des Betrugs innewerden kann hier allerdings zweierlei heißen. Entweder hört man dem angeblichen Nachtigallengesang an, daß er stümperhaft nachgemacht ist – und ist verstimmt. Oder aber man bemerkt, daß im Gebüsch statt einer Nachtigall ein «mutwilliger Bursche» sitzt. Aber wenn der den Nachtigallenton vollkommen trifft, was soll daran verstimmen? Warum soll ein rundum nachtigallenmäßiger Gesang seine Schönheit verlieren, nur weil man gewahr wird, daß ein Mensch ihn erzeugt hat? Weil, so Kant, zur Schönheit dieser Szene gehört, daß sie als Naturszene wahrgenommen wird: nicht nur als isoliertes akustisches Ereignis, sondern eingebunden in eine Haltung, die er «Interesse an der Schönheit der Natur» (395) nennt.[10] Diese Haltung ist freilich allein Naturwesen möglich, die nicht bloß Natur sind: Menschen. Menschen bringen einerseits alles Mögliche hervor, was sie in der Natur nicht vorfinden: Werkzeuge, Kleider, Behausungen, Sitten, Mitteilungsweisen etc. Andrerseits ist all dies Hervorgebrachte naturbasiert und nur herstellbar, soweit die Eigenschaften der Natur das zulassen. Menschliche Zwecksetzung ist Naturgestaltung; aber die Natur als ganze verfolgt keine erkennbaren Zwecke.

Und doch fügt sich, etwa im Aufbau von Mineralien und Organismen und der Vielfalt ihrer Arten, eine Fülle von Naturpartikeln derart stimmig zu umfassenden Biotopen zusammen, als ob in ihnen eine zwecksetzende Instanz am Werk wäre. Doch eine solche ist nicht auffindbar. Um so wundersamer die Stimmigkeit. Sie macht für Kant das Naturschöne aus. Es erregt ein Staunen, das sich nicht einmal nüchternste Naturforscher immer verkneifen können, denn es ist nicht auf eine punktuelle Irritation beschränkt, die durch Erklärung oder Ursachenforschung alsbald wieder verfliegt. Woher diese Stimmigkeit? Sie hört nicht auf, auf eine höhere göttliche Weisheit zu verweisen, obwohl diese durch nichts zu beweisen ist. Im Schönen wird der Anschein von etwas erlebbar, was sich als objektiv existent gar nicht ermitteln läßt. Es ist gewissermaßen Wirkung ohne nachweisbare Ursache. Das Staunen darüber löst sich durch geistige Tätigkeit nicht auf; es wird durch sie zur ästhetischen Erfahrung. Kein Schönes ist ohne Staunen – ein dankbares, demütiges Staunen. Denn zum Schönen gehört seine Unverfügbarkeit. Man kann sich auf es einstimmen, aber nicht erzwingen, daß es sich mitteilt.

So auch in Kants Naturszene mit Mondschein, Gebüsch und Nachtigall. Ihr gegenüber ist Nachmachen etwas Respektloses. Es profaniert sie. Ihr Zauber liegt ja gerade darin, daß es ein kleines, unscheinbares Tier ist, welches diese berückend schönen Lautfolgen hervorbringt. Der «mutwillige Bursche» im Gebüsch mag sie noch so gekonnt imitieren. Doch all sein Know-how legt nicht offen, was die Nachtigall zu ihren Tönen befähigt. Es erschließt den Naturvorgang nicht; es äfft ihn nach. Dagegen war Kant mit Recht allergisch. Das Naturschöne der Kunstfertigkeit unterzuordnen ist ebenso gewaltsam wie das Umgekehrte: die Kunst auf einen Wurmfortsatz des Naturschönen zu reduzieren. Das Naturschöne kann zwar nicht anders als durch die Filter menschlicher Kunstfertigkeit wahrgenommen werden. Aber seine besondere Würze ist seine Verschiedenheit von ihr. Deshalb teilt sich das akustische Naturschöne zwar nur durch musikalische Wahrnehmungsgewohnheiten hindurch mit. Es entzückt dank seiner musikähnlichen Stimmigkeit. Aber es ist keine Musik.

Dennoch heißen in vielen Sprachen bestimmte Vogelarten «Singvögel». Das ist mehr als nur eine Benennung: ein Statement. Es unterstellt der Lautäußerung dieser Vögel musikalische Qualität. Die Assoziation von Vogel und Gesang sitzt fest in der modernen Umgangssprache. Und sie enthält noch darüber hinaus eine Einschätzung, die weltweit verbreitet ist: Die Vögel, die den Namen Singvogel verdienen, singen schön. Das scheint ähnlich unstrittig zu sein wie die Schönheit von Sonnenauf- und -untergängen. Woher dieser kulturübergreifende, geradezu anthropologisch anmutende Konsens? Er gehört zum «ästhetischen Apparat»[11], wie Helmut Lachenmann jenen Verbund kulturell eingeübter Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Notations-, Aufführungs- und Vermarktungsweisen nennt, der einer Gesellschaft so in Fleisch und Blut übergegangen ist, als wäre er natürlich. Dieser Apparat hat freilich sein eigenes Irritationspotential. Wie können Leute, die zu seinen Konditionen aufgewachsen sind, die die melodisch-harmonischen Standards des Abendlands mit der Muttermilch eingesogen haben und sich in einer Umgebung von seichten Dreiklängen pudelwohl fühlen, Vogelgesang schön finden? Er ist doch genuin atonal; nähert sich der Dur-Moll-Tonalität gelegentlich zwar an, hält sich aber an keine ihrer Regeln. Warum stört das die Normalverbraucher von «Klassik, Pop etc.» nicht? Und warum finden umgekehrt diejenigen, die besagten ästhetischen Apparat für eine sensorische Erstarrung, eine ästhetische Verarmung, eine Ertaubung gegenüber den Feinheiten der Wahrnehmungswelt halten, dennoch, daß Singvögel schön singen?

Lachenmann ist das beste Beispiel dafür. Seine «Hilfsdefinition von Schönheit» ist «Verweigerung von Gewohnheit»[12]. Als Komponist und Autor ist er unablässig mit dieser Verweigerung beschäftigt – damit, die Apparatstarre aufzubrechen und hörbar zu machen, wogegen sie abstumpft. Doch auf Vogellaute hält er große Stücke, wie überhaupt auf Naturlaute. Musik sei für ihn zunehmend ein «meteorologisches Phänomen», sagte er in der Diskussion anläßlich der Hamburger Uraufführung seiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Nicht die Geräusche und Töne von Wind, Wetter und Nachtigallen stoßen ihn ab, sondern das, was Kants «munterer Bursche» im Gebüsch verkörpert: eine künstliche Musik, die respektlos bei den Naturlauten schmarotzt und sie apparatkonform simuliert. Wer hingegen der echten Nachtigall wirklich lauscht, so Lachenmann, der hört auch, wie atonal sie singt. Das ergibt einen paradoxen Befund: Nachtigallengesang schön finden gehört zum herrschenden ästhetischen Apparat. Aber wer diesen Gesang apparatkonform wahrnimmt, hat nicht richtig gehört.

Nischen

Richtig hören lernen beginnt also mit einer neuen Aufmerksamkeit für Naturlaute. Die gewinnt man im High-Tech-Zeitalter aber nicht mehr an der Apparatur vorbei, weshalb Krause vorschwebt, daß man mit Hilfe akustischer Hochleistungsgeräte fähig wird, durch die Apparatur gleichsam hindurchzuhören – die Apparatur sozusagen gegen sich selbst zu kehren. Das entspricht durchaus Lachenmanns Grundsatz «Komponieren heißt: ein Instrument bauen».[13] Wer in der Altsteinzeit musizieren wollte, mußte zunächst Instrumente dafür herstellen: Blasinstrumente aus Knochen, Schlagwerk aus Haut, Saiteninstrumente aus Därmen. Erst allmählich kristallisierten sich in verschiedenen Weltgegenden, je nach Klima, Landschaft, Flora und Fauna, bestimmte Instrumente als besonders geeignet heraus und wurden dort zum Klangboden des ästhetischen Apparats. Je weiter aber sich das Instrumentarium von den ursprünglich zu seiner Herstellung verwendeten Naturstoffen entfernte – von Knochen und Holz zu Metall und Kunststoff –, desto mehr entfernte sich auch sein Klang von den Naturlauten. Und dann kam mit dem Synthesizer eine Kehrtwende. Er ermöglichte, alle Arten von akustischen Ereignissen elektronisch zu produzieren; unerhört neue und uralte, ganz naturferne und ganz naturnahe. Daß man gerade mit naturfernsten High-Tech-Geräten der Natur besonders nahe kommen kann: diese Entdeckung ließ Krause zum Bioakustiker werden. Synthesizer genügten ihm dafür allerdings nicht. Er machte sich an die Entwicklung hochsensibler Mikrophone.

Die Recorder, mit denen er anfangs in die Wildnis zog, hatten zwar Studioqualität. Doch filterten sie bestimmte Geräusche oder Tierlaute lediglich aus ihrer Umgebung heraus. So klingt Wind, Regen, eine Grille, Spottdrossel, Nachtigall, ein Reh, ein Jaguar. Jeder dieser Klänge wurde separat festgehalten und archiviert. Aber dadurch wurden alle isoliert, sterilisiert – herausgeschnitten aus ihrer konkreten Klanglandschaft. Und so begann Krause, ganz im Sinne von Lachenmanns Devise, sich sein eigenes Instrument zu bauen. Er wurde zum Entwickler subtiler Mikrophonsysteme mit möglichst getreuer Aufnahmefähigkeit für komplexe Szenarien wie etwa das eines dämmernden Morgens im Urwald von Simbabwe. Da «erklangen die fein abgestimmten Rufe eines Ensembles von Kap-Sperlingskäuzen, die sich wie träge Kaliforniermöwen anhörten, einer Afrika-Zwergohreule mit ihrer leisen, langsamen Folge kurzer gurgelnder Rufe, von Natalfrankolinen mit ihren rasch aufeinanderfolgenden Kuss-Quiek-Lauten, die den Rhythmus unterstrichen, von Fleckennachtschwalben mit einem schnellen Auf und Ab von Pfeiftönen mittlerer Lautstärke – drei bis fünf Wiederholungen nacheinander –, von Sudanhornraben, die schrille, sich wiederholende Tschilpsequenzen singen, von Bartheckensängern mit ihrer melodiösen dreinotigen Phrase, gefolgt von einem hohen Tschilpen; von Rotscheitel-Cistensängern, die gedehnte, hohe bis mittelhohe Sequenzen singen; von einem Weißflankenbatis mit seinem bedächtigen, quasi um Halbtonschritte absteigenden Stakkatogesang; und dazu noch, neben rund dreißig weiteren Vogelspezies, Paviane sowie Dutzende Insektenarten. Der akustische Moment war so reich an kontrapunktischen und fugenartigen Elementen, dass einem spontan komplizierte Kompositionstechniken von Johann Sebastian Bach in den Sinn kamen (wie in seinem Präludium und Fuge a-Moll).»[14]

Die Klanglandschaft, die Krause hier schildert, existiert nicht mehr. Sie war die Signatur eines naturbelassenen Biotops, dessen Flora und Fauna sich seit Jahrtausenden aufeinander eingespielt hatten. Fast viertausend solcher Biotope hat Krause bei seinen Weltreisen aufgenommen. Die Hälfte davon ist inzwischen zerstört. Was aber geschieht, wenn Menschen in den Bestand solcher Habitate eingreifen? In der kalifornischen Sierra Nevada erprobte eine auf Ökologie bedachte Firma «die Methode des selektiven Holzeinschlags». Sie «habe keine negativen Folgen für das Habitat; nur hie und da würden ein paar Bäume gefällt, die große Mehrheit der gesunden alten Mammutbäume bliebe verschont» (76). Krause machte im fraglichen Gebiet vor und nach dem Einschlag zu den gleichen Konditionen Klangaufnahmen und übersetzte sie in Sonagramme. Vor den Fällarbeiten stellten «der Kiefernsaftlecker (eine Spechtspezies), die Bergwachtel, die Schwirrammer, die Dachsammer, die Lincolnammer, das Rubingoldhähnchen und zahlreiche Insekten» ein dichtes Klanggewebe her. Im Jahr darauf war das Gebiet akustisch verödet. Noch zwei Jahrzehnte später hatte sich «die bioakustische Vitalität» des Habitats «nicht wieder eingestellt» (78). Optisch fiel der selektive Holzeinschlag kaum auf. Kein Photo, kein Film hätte seine Tiefe sichtbar machen können. Um so krasser war er zu hören.

Die hochtechnologische Dokumentation von Klanglandschaften empfiehlt sich nicht nur als ökologische Testmethode. Auch evolutionstheoretisch ist sie brisant; erweist sie doch, daß das «Orchester-Szenario» der Fauna «geradezu einem evolutionären Ablauf folgt». Und zwar «geben die Insekten den Grundrhythmus vor. Die Frequenzen schwirrender Flügel und die Häufigkeit des Zirpens sind meist je nach Spezies vorgegeben, aber sie verändern sich fast unmerklich, weil sie sich unaufhörlich den von außen einwirkenden Kräften wie der Temperatur, dem Sonnenlicht und dem Wetter anpassen. Sobald die einzelnen Positionen im Audiospektrum belegt sind, gesellen sich Lurche und Reptilien hinzu und übernehmen klangfreie Nischen. Dann treten die Vögel dem Chor bei, gefolgt von den Säugetieren. Schließlich findet jede Stimme einen Kanal oder ein Zeitfenster für ihren Auftritt. Wenn nichtmenschliche Lebewesen zum Überleben auf ihre Stimme angewiesen sind, benötigt jedes eine Nische, in der es störungsfrei Gehör findet.» (254)

Was für ein Perspektivwechsel. Darwin und seine Nachfolger nahmen Naturevolution unter optisch-olfaktorisch-haptischem Primat wahr. Unter akustischem stellt sie sich deutlich anders dar. Die buchstäblich Tonangebenden sind nämlich nicht die Großen und Starken, sondern Kleine und Schwache: Insekten. Sie waren längst da, ehe es Lurche, Reptilien und Vögel gab, und lassen Aristoteles’ Bemerkung «Das Älteste ist das Geehrteste»[15] unversehens in neuem Licht erscheinen. Tatsächlich sind alle später entstandenen Tierarten, wenn sie denn je akustisch durchdringen wollen, genötigt, die durch das Insektenzirpen bereits belegten Frequenzen zu respektieren und sich zu andern Klangspektren hin zu entwickeln: mit erheblichen Auswirkungen auf die Ausbildung ihres Hals- und Rachenraums und damit auf ihre gesamte Kopf- und Körperform samt Ernährungsweise. Je größer die Artenvielfalt wurde, desto mehr waren die späteren Arten gedrängt, sich körperlich auf die verbliebenen akustischen Frequenzen einzustellen, und mit jeder neu entstehenden wurde der Freiraum kleiner – nischenhafter.

Der akustische Respekt gegenüber den Kleinen und Schwachen entstammt freilich keiner moralischen Haltung. Er kommt aus eigenem Selbsterhaltungsbedürfnis. Aus menschlicher Perspektive mutet er gleichwohl wie ein protomoralisches Naturszenario an – wie eine Anlage der Natur zur Moral hin, könnte man frei nach Kant sagen. Gelten doch im Medium des Klangs andere Prioritäten als die von Muskelkraft, Körpergewicht, Greif- und Beißorganen. Hier können die Kleinen nicht einfach von ihren Plätzen verscheucht werden. Die Großen und Starken müssen sich ihnen anpassen. Fit sind sie in dem Maße, wie sie eine akustische Nische finden. Daran wird etwas deutlich, was generell für evolutionäre Anpassung gilt. Sie ist nicht bloß Angleichung an eine übermächtige Umgebung, sondern ebenso eine Ausgestaltung von Nischen. Und je größer der Nischenfindungsdruck ist, desto mehr begünstigt er auch die Findigkeit und die Verfeinerung der Ausgestaltungskräfte. Gerade mit dem Engerwerden der Nischen öffnen sich Ventile, man könnte auch sagen, Freiheitsgrade der Ausdifferenzierung von Eigensinn, der bei Reptilien, Vögeln, Säugetieren ganz verschiedene Gestalt angenommen hat.