Dimensionen psychotherapeutischen Handelns - Gerd Rudolf - E-Book

Dimensionen psychotherapeutischen Handelns E-Book

Gerd Rudolf

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Beschreibung

Fragen der Psychodynamischen Psychotherapie Nahbar: Erfahrener Therapeut im dialogischen Austausch mit einer jungen Therapeutin Begegnung: Das Menschenbild in Psychotherapie, Philosophie und Literatur Seine gesamte Laufbahn über hat sich Gerd Rudolf, der Begründer der Strukturbezogenen Psychotherapie, mit Aspekten des psychotherapeutischen Denkens und Handelns beschäftigt. Fragen des Menschseins trieben ihn persönlich um. In diesem Buch fasst er seinen therapeutischen Ansatz sowie sein diagnostisches Handeln zusammen. In Erinnerung an die gehaltenen Seminare und erlebten Supervisionen webt Rudolf Dialoge mit einer jüngeren Therapeutin ein. Außerdem verknüpft er die Beschreibung psychotherapeutischen Denkens mit den Aussagen philosophischer AutorInnen, die in besonderer Weise geeignet sind, ein Licht auf die conditio humana zu werfen. Ergänzend bezieht Rudolf ein, was SchriftstellerInnen zu allen Zeiten über den Menschen und seine Situation gedacht haben – und was PsychotherapeutInnen von diesem Verständnis für ihre Arbeit nutzen können. Das Buch richtet sich an erfahrene sowie vor allem an angehende PsychotherapeutInnen. Diese stehen vor der Aufgabe, eine wissenschaftlich fundierte Vorstellung davon zu entwickeln, "wie Menschen sind", was sie krank machen kann und vor allem, wie PatientInnen ihr Gleichgewicht wiederfinden, Fehlentwicklungen korrigieren und nachreifende Entwicklungen vollziehen können.

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Seitenzahl: 164

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Cover for EPUB

Gerd Rudolf

Dimensionen psychotherapeutischen Handelns

Menschsein in Therapie und Philosophie

Schattauer

Impressum

Prof. em. Dr. med. Gerd Rudolf

E-Mail: [email protected]

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Schattauer

www.schattauer.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltungskonzept: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © shutterstock/Skye Studio LK

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg

Lektorat: Volker Drüke

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40153-0

E-Book ISBN 978-3-608-11996-1

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20618-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

Biographisches Vorspiel

1 Entwicklungslinien psychodynamischen Denkens und Handelns

1.1 Psychotherapie: zwischen Medizin, Psychologie und Philosophie

1.2 PsychotherapeutIn werden

1.3 Lebensgeschichte und Identität

1.4 Psychotherapeutisches Denken in den Vorgenerationen

1.5 Die Entwicklung psychotherapeutischer Identität im Spiegel der Lindauer Psychotherapiewochen

1950–1965

1966–1980

1981–1990

1991–2000

1.6 Berufspolitische Aspekte der Psychotherapie

1.7 Psychotherapie als wissenschaftlich begründete Praxis

1.8 Das psychodynamische Konzept von Störung und Behandlung

1.9 Die Vielfalt psychotherapeutischer Ansätze

1.10 Psychodynamische Psychotherapie: eine Entwicklung

2 Das diagnostische System OPD und seine therapeutischen Konsequenzen

2.1 OPD: die Konfliktdynamik

2.2 Die Diagnostik der Beziehungsdynamik nach OPD

Patient erlebt sich vs. Patient erlebt andere

2.3 Die Diagnostik des OPD-Strukturniveaus

2.4 Die Bedeutung struktureller Störungen für das Erleben der Patienten

3 Zur Praxis psychodynamischer Diagnostik

3.1 Die diagnostische Begegnung

3.2 Das Entgegennehmen der Beschwerden

3.3 Die Erkrankungsgeschichte und ihre diagnostische Bewertung

3.4 Die Beziehungs- und Sozialgeschichte

3.5 Biographische Entwicklungsbedingungen

3.6 Aspekte des inneren Erlebens

3.7 Diagnostische Abwägung von Konflikt und Struktur

3.8 Fazit der psychodynamischen Diagnostik

3.9 Das psychodynamische Verständnis: eine kurze Zusammenfassung

3.9.1 Konflikt und Abwehr

3.9.2 Struktur und Identität

4 Prinzipien des therapeutischen Handelns

4.1 Die therapeutische Situation

4.2 Das therapeutische Verstehen

4.3 Die frühe Entwicklung der Persönlichkeit

4.3.1 Oralität, Intentionalität, Bindung, Struktur

4.3.2 Analität und Aggression

4.3.3 Psychosexuelle Identität

4.4 Diagnostische Synopsis

4.5 Therapieziele und therapeutische Zusammenarbeit

4.6 Besonderheiten der strukturbezogenen Psychotherapie

5 Aspekte der Psychosomatik

5.1 Psycho-somatische Wechselbeziehungen

5.2 Die Abwägung körperlicher, psychischer und sozialer Einflüsse

5.3 Das Rätsel Schmerz: eine therapeutische Episode

5.4 Psychosomatische Aspekte der Gesundheit

6 Der philosophische Hintergrund der Psychotherapie

6.1 Aspekte der Sinngebung

6.2 Zur Geschichte des selbstreflexiven Denkens: das Konzept der Achsenzeit

6.3 Philosophie und Psychoanalyse: K. Jaspers und A. Mitscherlich

6.4 Entwicklungslinien der Psychotherapie in der Bundesrepublik

6.5 Lebensbewältigung durch schriftstellerische Leistungen

6.6 Philosophische und wissenschaftliche Perspektiven

7 Was den Menschen ausmacht: Versuche einer Synopsis

Literatur

Weiterführende Literatur

Sachverzeichnis

Zum Geleit

In Zeiten, die aufgrund zunehmenden Wissens über neurobiologisch relevante Prozesse zu simplifizierender biologischer Erklärung menschlicher Psyche und Verhaltens verführen, sind Bücher, die den Blick der Medizin und der Psychologie, der Psychiatrie und der Psychotherapie erweitern statt einengen, von unschätzbarer Bedeutung. Dies umso mehr, wenn der Autor nicht nur auf mehr als ein halbes Jahrhundert Medizin- und Psychotherapie-Geschichte reflektierend zurückschaut, sondern die Geschichte der Psychosomatischen Medizin und der Psychotherapie weichenstellend mitgeprägt hat. 2015 hat Gerd Rudolf mit »Wie Menschen sind« eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht vorgelegt, die nicht nur an Psychotherapeuten, sondern an alle psychologisch und therapeutisch interessierten Zeitgenossen adressiert war; diese Betrachtungen der vielen Seiten des Menschen hat Rudolf jetzt mit Aspekten eigener Biographie weitergeführt und mit den Gedanken ihm wichtiger Philosophen in Beziehung gesetzt. Mit seiner bemerkenswerten Erzählkunst vermittelt er über tradierte psychotherapeutische Entwicklungs- und Persönlichkeitskonzepte hinaus auch komplexe Zusammenhänge in einfacher, weithin verständlicher Sprache. Dieser Verzicht auf eine elaborierte Spezialsprache und die Klarheit seiner Beschreibungen zeichnen den Wissenschaftler Rudolf seit seinen frühesten Publikationen aus und haben ihn zu einem der meistgelesenen Autoren des psychosomatischen Fachgebietes werden lassen. Wenn er jetzt im beginnenden 9. Lebensjahrzehnt – verschränkt mit interessanten Erinnerungen und biographischen Reflexionen – einen Rück- bzw. Überblick seines psychotherapeutischen Denkens und Handelns vorlegt, ist ihm die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums gewiss. Dabei dürften es wohl mehr die »hinterherdenkenden« als die alles schon immer wissenden LeserInnen sein, die sich von den Gedankengängen Rudolfs angezogen fühlen. Aber dass auch frühere »Bedenkenheinis« in ihrer Entwicklung zu klaren, auch mutig-innovativen Positionen kommen können, kann als eine Grundfigur im Rudolf’schen Denken angesehen werden.

Der abgesetzte Autobiographie-Teil findet sich in dritter Person (Erik) und weithin in Form eines Dialoges mit einer (zumindest partiell fiktiven) in psychotherapeutischer Ausbildung stehenden, später therapeutisch tätigen Nichte Anne gestaltet; der so geführte Dialog kommt ohne die in Autobiographien nicht seltene Gespreiztheit aus. Die Einführung der dritten Person Erik allein signalisiert die Fähigkeit zu Relativierung, Distanzierung, auch Selbstironie. Das transgenerationale Gespräch mit der Nichte macht Freude beim Lesen und Abwägen der unterschiedlichen Aspekte und Argumente. Es ist durchweg unterhaltsam und oft argumentativ stark, zum Beispiel wenn Erik der Nichte gegenüber die Deutungslust in der Therapie als Imponier-Moment des Therapeuten erklärt. Die Nichte Anne ihrerseits erscheint durchaus nicht als ahnungslos-dumpfe Anfängerin, sondern als eine Art Alter Ego, die berechtigte Gegenüberlegungen einbringt. Man könnte es als Ausdruck alter Lateiner Weisheit ›Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst‹ verstehen. In jedem Fall repräsentiert Anne eine kluge und sicher empathische Therapeutin. Der Leser/die Leserin wird in den Dialog hineingezogen; so schaut man dem Autor quasi beim Schreiben, sprich: Nachdenken als einem kreativen Prozess zu.

An späterer Stelle seines Buches reflektiert Rudolf mit spürbarer Begeisterung auch die Aussagen und die Psychologie von Schriftstellern wie Philosophen, beschreibt viele Beispiele von Aristoteles bis Tolstoi und gibt reichlich Anregungen nachzulesen. Mit seiner Philosophie-Freude eröffnet er einen Horizont gedanklicher Weite und kreativer Lebensgestaltung. Aber er macht philosophisch-psychotherapeutisch auch klar: Der Mensch ist nicht nur das handelnde, sondern auch das erleidende Wesen und das menschliche Leben findet sich zwischen schicksalhaftem Erleiden und verantwortetem Handeln. Mit Bezug auf Karl Jaspers formuliert Rudolf: »Wer die Freiheit des Handelns beansprucht, muss auch die Möglichkeit des Irrtums und des Scheiterns akzeptieren.« Er findet eine schöne Parallelisierung des Schreibens zum therapeutischen Prozess: »Auch Patienten sind in gewisser Weise Autoren, die in der Therapie ihren Lebensroman erzählen und die Therapeuten können sich fragen, was den Patienten bewogen hat, seine Geschichte genau so und nicht anders darzustellen und was noch alles dahinterliegt. Der erzählte Lebensroman des Patienten ist eine gewissermaßen offiziöse Version der eigentlichen verborgenen, zunächst meist verschwiegenen, vielleicht auch weitgehend verdrängten Geschichte, die den Patienten krank werden ließ oder sich in Lebenskatastrophen entladen hat.«

Der biographisch-dialogische Erzählmodus wirkt authentisch; er unterstreicht zugleich die Glaubwürdigkeit der strenger wissenschaftlichen Teile des Buches. Es überrascht nicht, dass für Gerd Rudolf Zuhören, klarifizierendes Nachfragen und das Eintreten in eine therapeutische Beziehung zusammengehören mit dem Versuch, den Patienten auf mehreren Ebenen/Achsen zu verstehen und all dies zudem wissenschaftlich zu erforschen und zu ordnen. Das resultierende wissenschaftliche Diagnose- und Therapieverständnis fand Ausdruck in der Operationalisierten Psychodynamische Diagnostik (OPD), die über 25 Jahre hinweg von Rudolf in großer Arbeitsgruppe erfolgreich und maßgeblich mitentwickelt wurde. Die OPD gehört heute zum Ausbildungsstandard für PsychotherapeutInnen und auch für die Psychiatrie-FachärztInnen.

In der eigenen jahrzehntelangen Behandlung psychiatrischer, auch neurologischer Patienten und Patientinnen, die oftmals langzeitig, ja lebenslang erforderlich ist, ist mir der mehrdimensionale Diagnostikansatz, wie er sich in der OPD findet, sehr wichtig geworden. Die somatische oder auch psychiatrische Diagnose ist für Patientinnen immer nur die eine Seite der Medaille, der Umgang mit ihr im sozialen Umfeld und in Beziehung zu anderen Menschen und sowie die Nutzung der Ressourcen die andere Seite, wenn Genesung (recovery) gelingen soll. Als Psychiater/Psychotherapeut mit psychoanalytischer Ausbildung (Psychoanalytiker) und einem sozialpsychiatrischen Praxisschwerpunkt (u. a. in der Behandlung schizophren oder affektiv erkrankter Menschen) war mir die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Sicht hin zu einer strukturbezogenen Psychotherapie in sehr vielen Behandlungen hilfreich. Dies gilt auch für die weitere Konzeptualisierung einer Psychotherapie bei psychotischen Erkrankungen wie auch in der Behandlung von vielen anderen, früher oft als »nicht therapie-geeignet« angesehenen Störungsbilder. Das Rudolf’sche Konzept modifizierter psychodynamischer Therapie bietet eine große Anschlussfähigkeit. Das gilt des Weiteren auch für die in Deutschland zuwanderungsbedingt immer wichtiger werdende Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen nach Krieg, Folter, Flucht und Migration. In diesem Band formuliert Rudolf hierzu erste Gedanken.

Es spricht für sich, dass Rudolf als einer der profiliertesten Psychoanalytiker der letzten Jahrzehnte gerade Karl Jaspers hohe, gleichwohl reflektierte Wertschätzung zuteilwerden lässt, obgleich dieser Zeit seines Lebens unmissverständlich eine kritische Einstellung zur Psychoanalyse vertreten hat. Jaspers Achsenzeit-Theorem wie seine Korrespondenzen u. a. mit A. Mitscherlich schildert Rudolf interessant. Bekanntermaßen präsentiert die Universität Heidelberg speziell im zurückliegenden Jahrhundert eine bemerkenswerte psychiatrische, psychotherapeutische und philosophische Kompetenzdichte, die u. a. mit Namen wie K. Jaspers, H.-G. Gadamer, A. Mitscherlich, W. Bräutigam, V. von Weizsäcker verbunden ist. Ihren Gedankenspuren und auch denen anderer »Vordenker« gemeinsam mit Gerd Rudolf ein wenig nachzugehen und sich die unterschiedlichen Bilder und Seiten des Menschen vor Augen zu führen, macht einen weiteren besonderen Reiz dieses kleinen, aber inhaltsreichen Buches aus.

Dr. med. Norbert Mönter,

Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse; aktuell leitend im Berliner Gesundheitszentrum für Flüchtlinge (www.gzf-berlin.org)

Vorwort

Dieser relativ kurz gefasste Text befasst sich mit Aspekten des psychotherapeutischen Denkens und Handelns, ein Thema, das mich seit meinen 20er-Jahren bis heute durchgängig beschäftigt. Das diagnostische Handeln und der therapeutische Ansatz waren dabei stets einer – im weiteren Sinne – psychodynamischen Logik verpflichtet. In Erinnerung an die Seminare und Supervisionen, die ich mein Lebtag gerne gegeben habe, wurden in den Text auch Dialoge mit einer (fiktiven) jüngeren Therapeutin einbezogen.

Psychotherapeuten1 sind entgegen mancher Klischeevorstellung recht individuelle Menschen, die in unterschiedlichen Vorberufen und verschiedenen therapeutischen Ausbildungen sozialisiert sind; es gibt heute zahlreiche junge Psychologinnen, eine begrenzte Zahl psychotherapeutisch tätiger Ärztinnen und Ärzte, psychotherapeutisch interessierter Psychiater, psychosomatisch orientierte Gynäkologinnen und andere mehr. Sie absolvieren ihre Selbsterfahrung bei LehrtherapeutInnen, die unterschiedlichen therapeutischen Gruppierungen angehören, und erfahren eine Ausbildung in einem der anerkannten therapeutischen Verfahren. Mit ihren Patienten gemeinsam erarbeiten sie psychodynamische oder lerntheoretische Erklärungen für die Entwicklung der jeweiligen Persönlichkeit und ihrer Symptombildungen. Das Verständnis des psychotherapeutischen Geschehens stützt sich auf unterschiedliche psychodynamische oder behaviorale Konzepte, die das Krankheitsgeschehen im Kontext einer therapeutischen Beziehung interpretieren und Möglichkeiten der Neuorientierung anbieten.

Warum aber sollte sich jemand nach langer Berufstätigkeit und vielen Veröffentlichungen nochmals aufmachen, dieses psychotherapeutische Thema zu diskutieren? Foucault (1996) sagt dazu: »Ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.« Gibt es aber in einer medienzentrierten Welt überhaupt noch Menschen, die sich die Mühe machen, Fachbücher zu lesen? Daher der Kompromiss-Vorschlag: ein recht kurz gefasstes Buch, anhand dessen wir gemeinsam diskussionswürdige Punkte des psychotherapeutischen Denkens und Wissens reflektieren können.

Darüber hinaus ist es mir dieses Mal ein Anliegen, die Beschreibung psychotherapeutischen Denkens und Handelns mit den Aussagen philosophischer Autoren zu verknüpfen, die in besonderer Weise geeignet sind, ein Licht auf die Conditio humana, das Wesen des Menschlichen, zu werfen und damit das psychotherapeutische Denken und Handeln nochmals tiefergehend begründen können. Meine besondere Wertschätzung gilt dabei der Persönlichkeit und dem Werk des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers, aus dessen enorm umfangreichem Werk und aus seiner sehr speziellen Lebensgeschichte ich zu allen Zeiten viel gelernt habe. Es hat mich nie gestört, dass er der Psychotherapie und speziell der Psychoanalyse skeptisch gegenüberstand. Das soll uns heute nicht mehr stören, weil er uns unabhängig davon als Psychotherapeuten, als Bürger unseres Staates und als nachdenkliche Menschen zu allen Zeiten seines Lebens viel zu sagen hatte.

In »Was ist Philosophie?« schreibt Jaspers 1926: »Der Sinn des Philosophierens ist Gegenwärtigkeit. Wir haben nur eine Wirklichkeit, hier und jetzt. Jeder Tag ist kostbar: Ein Augenblick kann alles sein.«

Das könnte auch ein Psychotherapeut gesagt haben, der gemeinsam mit dem Patienten dessen zentrales Problemthema im Hier und Jetzt der therapeutischen Situation reflektiert und daraus Konsequenzen für dessen künftiges Handeln ableitet. Die »Gegenwärtigkeit«, von der Jaspers im philosophischen Sinne spricht, und das »Hier und Jetzt« des therapeutischen Geschehens können eine psychotherapeutische Einsicht, aber auch philosophische Erkenntnis zur Verfügung stellen, die »alles« sein kann, insbesondere Ausgangspunkt einer Neuorientierung im Erleben und im Handeln, etwas, worauf letztlich jede Psychotherapie abzielt.

Bildhaft-anschaulich hat der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint (1970) eine solche therapeutische Situation des Neubeginns beschrieben, in der eine körperlich eher gehemmte und unbeholfene Patientin nach langer analytischer Behandlung von der Couch springt, einen gekonnten Purzelbaum auf dem Teppich hinlegt, ihre Therapie hiermit für beendet erklärt und betont, sie könne nun endlich anfangen zu leben. Das sei ihr jetzt möglich, nachdem sie verstanden habe, warum sie bis dahin nicht den Mut hatte, verändernde Entscheidungen zu wagen.

So sagt auch der Philosoph W. Schmid (1996): »Erfahrungen sind es, aus denen das Subjekt immer wieder als ein anderes hervorgeht.« Das ist, im Sinne von Jaspers, eine »Einsicht, die alles sein kann«. An solchen Punkten begegnen sich philosophisches und psychotherapeutisches Nachdenken: Als Konsequenz der Einsicht ist Handeln erforderlich, aber als Voraussetzung des Handelns muss zuvor Einsicht erarbeitet werden. Psychotherapie bietet eine Möglichkeit, beides zu entwickeln, und Philosophie kann dazu beitragen, Einsicht in das eigene Leben zu gewinnen und dafür selbst die Verantwortung zu übernehmen. Damit beschäftigt sich dieses relativ kurze Büchlein.

Gerd Rudolf, im Sommer 2022

Biographisches Vorspiel

Sind die Dinge nicht, wie sie sind, ob man nun über sie nachdenkt oder nicht? Manche Menschen nehmen es, wie es ist, andere müssen hinterherdenken, und manche tun das von klein auf. In seinem Schulzeugnis der ersten Klasse des Gymnasiums heißt es über den zehnjährigen Erik: »Er sieht Probleme, wo andere Sextaner keine sehen; muss mutiger und froher werden!«

Da haben wir den Schlamassel: ein mutloses, unfrohes Kind, das deshalb gelegentlich in seiner Familie »Bedenkenheini« genannt wird, weil er Probleme sieht, an denen man in seinem Alter mutig und froh vorbeisehen sollte. Das heißt freilich nicht, dass es keine Probleme gäbe, aber Kinder sollten nach den Aussagen der damaligen Erwachsenen »das Denken den Pferden überlassen, weil diese die größeren Köpfe haben«.

Immerhin war zeitgleich mit Eriks Geburt der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Das bedeutete, dass sein Vater wenige Wochen nach der Geburt dieses seines ersten Kindes zum Militärdienst eingezogen wurde und dort, bis auf einzelne, verwundungsbedingte Heimatsurlaube während der folgenden sieben Jahre für ihn verschwunden blieb. Die noch recht junge Mutter lebte mit dem Neugeborenen in einer ihr bis dahin fremden Stadt, in der der Vater seine erste berufliche Anstellung erhalten hatte bzw. erhalten hätte, wenn er nicht von einem Tag zum andern zur Wehrmacht eingezogen worden wäre. Ihren Mann sah die junge Mutter noch wenige Male durch den Zaun des Militärlagers, später verwundet in einem Militärlazarett und bei wenigen Kurzurlauben. Auf das Getrenntsein von Mann und Eltern reagierte sie depressiv, woraufhin das Baby Ernährungsstörungen entwickelte, die in der Kinderklinik stationär behandelt werden mussten. Die Trennungsempfindlichkeit der Mutter hatte noch weitere Hintergründe. Sie selbst hatte die eigene Mutter im Alter von zwei Jahren bei einer Grippeepidemie verloren, so hing sie sehr an ihrem Vater. Zudem waren bald nach Beginn des Krieges der Mann ihrer Schwester und der Mann ihrer Schwägerin gefallen. Schließlich wurde die eigene Wohnung durch einen Luftangriff völlig zerstört.

Da sich anfangs des Krieges die Front rasch auf ihre Heimatstadt zu bewegte, musste sie verschiedentlich mit dem Kind zu Verwandten nach Süddeutschland flüchten. Ihr zweites Kind, wie so viele Kriegskinder, während eines kurzen Fronturlaubs des Vaters gezeugt, wurde während eines Bombenangriffs im Klinikkeller geboren. Als die Bombardierungen weiter zunahmen, floh sie mit dem fünfjährigen Erik und dessen inzwischen einjährigem Bruder in die Alpenregion, wo die drei zur Untermiete in einem sehr kleinen Zimmer wohnten, so lange, bis die Amerikaner einmarschierten und es ihr schließlich möglich wurde, auf der Ladefläche eines Lastwagens zu den eigenen Eltern zurückzukehren. Dort lebten in einem für vier Personen gebauten Haus zwölf Menschen, acht Erwachsene und vier Kinder. Als der kriegsverletzte Vater ein Jahr nach Kriegsende aus der Gefangenschaft entlassen wurde, waren es 13. All diese Menschen versuchten, sich mit den erlebten Verlusten und der anhaltenden Mangelsituation abzufinden und sich eine lebbare soziale Realität zu schaffen, was mit erheblichen Verleugnungen der problematischen Gegenwart und erst recht der katastrophalen Vergangenheit einherging. Es war Konsens, das Vergangene als definitiv vergangen anzusehen, nicht darüber zu reden, keine Fragen zu stellen und sich zu freuen, wenn es etwas zu essen gab.

Erik hat die ihm gestellte Aufgabe, mutig und froh in die Welt zu schauen und sich keine Gedanken zu machen, offenbar nie so recht bewältigt. Er versuchte sein Leben lang, hinterherzudenken und zu verstehen, was in Menschen vorging, die über sich selbst und ihre Situation nicht sprechen konnten, obwohl ihnen das, was sie bewegte, ins Gesicht geschrieben stand. Aus einer solchen Erfahrung kann man, wenn man schließlich erwachsen geworden ist, einen therapeutischen Beruf machen, der das Ziel hat, zu verstehen, wie Menschen sind und ihnen Mut zu machen, sich auszudrücken, damit sie nicht an dem Ungesagten ersticken.

Ob Erik irgendwann wirklich mutiger und froher wurde, ist schwer einzuschätzen, jedenfalls blieb er dabei, sich Gedanken zu machen, was in der Familie aber niemand bemerkte, aber gelegentlich offenkundig wurde, etwa wenn der Deutschlehrer seine Aufsätze ansprach. Erik bevorzugte freie Themen und schrieb etwa über »Das Rauschen der Zeit« oder »Was ist Verantwortung?«. Bei einer solchen Gelegenheit schaute ihn sein Deutschlehrer, Dr. Singer, ein leiser melancholischer Literat, ernsthaft an und fragte: »Woher hast du das, aus dem Lexikon?« Erik war entrüstet: »Wir haben kein Lexikon, wir sind ausgebombt.« »Soso«, sagte Dr. Singer«, »und was liest Du sonst so?« »Meine Großmutter hat eine sehr alte Bibel«, sagte Erik.« »Und was liest Du in der Bibel?«, fragte Dr. Singer, und Erik hatte schon wieder das Gefühl, sich schämen zu müssen. »Im Alten Testament(1) finde ich das Buch Kohelet ganz gut«, sagte er. »Es fängt pessimistisch an: Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Viel Wissen, viel Ärger.« Aber dann sagt er z. B. auch: »Zwei sind besser als einer, denn wenn einer hinfällt, richtet der andere ihn auf.«

»Jaja«, sagte Dr. Singer und zwirbelte seinen Kinnbart, als er zum Pult zurückging, »manche Autoren des Alten Testaments waren antike Philosophen«. Die Kameraden grinsten. Für Erik gab es seitdem jemanden, der es gut fand, dass sich manche Leute, er z. B., über Dinge Gedanken machte, die seine Altersgenossen nicht interessierten. Zum Glück gab es noch einen Mitschüler, der ihm ähnlich war, wenn auch etwas mutiger und froher. Der schwärmte für Dichtung und Malerei und lernte nebenbei Griechisch. Erik und er beschlossen, später Psychiater zu werden, gemeinsam ein Buch über den Menschen zu schreiben und miteinander die berühmte Züricher Klinik Burghölzli zu leiten. Dazu ist es aber offensichtlich nicht gekommen, der eine leitete später eine psychiatrische, der andere eine psychosomatische Klinik. Mit Mitte 70 schickten sie sie einander unverabredet ein Buch zu. Das des Freundes trägt den Titel »Welch Meisterwerk ist der Mensch«, meines hieß »Wie Menschen sind«. Offenbar bleiben Autoren bei einem Thema, das sich ihnen schon früh in ihrem Leben aufgedrängt hat.