Psychodynamisch denken - tiefenpsychologisch handeln - Gerd Rudolf - E-Book

Psychodynamisch denken - tiefenpsychologisch handeln E-Book

Gerd Rudolf

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Beschreibung

• Der "neue Rudolf" – ein kurzgefasster Leitfaden für "Meisterschülerinnen und -schüler" • Bewährte psychodynamische Grundlagen für eine professionelle psychotherapeutische Heilkunst • Stets im Vordergrund: Die innere Einstellung zum Patienten und die adäquate therapeutische Haltung Ein kurz gefasstes, leicht verständliches, auf immenser therapeutischer Erfahrung und wissenschaftlicher Kompetenz beruhendes und dazu praxisrelevantes Psychotherapiebuch – wer hätte sich das zu Beginn seiner Aus- und Weiterbildung und im Verlauf seiner Berufspraxis nicht gewünscht? Gerd Rudolf ist ein Nestor der Psychotherapieforschung und -lehre, seine "Strukturbezogene Psychotherapie" gilt als Meilenstein der psychotherapeutischen Literatur. Mit diesem neuen Buch richtet er sich an psychodynamisch orientierte Therapeutinnen und Therapeuten, speziell an die oft noch sehr jungen Kolleginnen und Kollegen in Ausbildung. Vor dem Hintergrund eines Psychologie- oder Medizinstudiums und oft mit wenig Erfahrung im Umgang mit Patienten stehen sie vor der Aufgabe, die psychischen Erkrankungen der ihnen zugewiesenen Patientinnen und Patienten unter psychodynamischen Gesichtspunkten zu verstehen und einen Behandlungsplan zu entwerfen und zu verwirklichen. Der "neue Rudolf" unterstützt tiefenpsychologische Therapeutinnen und Therapeuten in ihrem Verständnis der Patientenpersönlichkeit und holt sie in ihren praktischen therapeutischen Fähigkeiten ab. Das Buch ist kein Manual, es geht nicht um "Skills" oder Techniken: Im Vordergrund stehen die innere Einstellung und die Haltung der psychotherapeutisch Tätigen. Entsprechend Rudolfs Forschungs- und Behandlungsschwerpunkt liegt dabei ein besonderer Akzent auf den strukturellen Störungen, die sich nicht als Resultat mehr oder weniger aktueller Konflikte manifestieren, sondern die aufgrund von Entwicklungsdefiziten oder Traumata die gesamte Persönlichkeitsstruktur eines Menschen bestimmen. Wieder ein außergewöhnliches Werk, erfreulich kurz gefasst, verständlich und mit großer Leidenschaft für eine professionelle und empathische psychotherapeutische Heilkunst geschrieben. Dieses Buch richtet sich an - Ärztliche und psychologische Psychodynamische Psychotherapeuten, besonders für junge Therapeuten in der Ausbildung hilfreich

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Seitenzahl: 230

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Gerd Rudolf

Psychodynamisch denken – tiefenpsychologisch handeln

Praxis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Mit einem Geleitwort von Lars Hautenund Fotografien von Gerd Rudolf

Impressum

Besonderer Hinweis

Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.schattauer.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Fotos im Buch von © Gerd Rudolf

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Gemäldes von Jacopo Pontormo:

»Studie zweier stehender Frauen« (um 1515)

Lektorat: Ruth Becker

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40015-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11524-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20417-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Die Verfahren: Unterschiede und Ähnlichkeiten

1 Positionierung der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

1.1 Tiefenpsychologisch fundierte und Analytische Psychotherapie im Vergleich

1.2 Methodische Zugänge zum Menschen

1.3 Wie viel psychoanalytische Fundierung benötigt die TP?

1.4 Exkurs: Annemarie Dührssens Beitrag zur Ausgestaltung der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

1.5 Die theoretischen Grundlagen der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

1.6 Die TP im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie

1.7 Integration: Bereicherung oder Verwässerung?

1.8 Zur Situation der Tiefenpsychologisch fundierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Diagnostik – eine vorsichtige Annäherung

2 Prinzipien der psychodynamischen Diagnostik

2.1 Die Begegnung mit dem Patienten

2.2 Annäherung durch Verstehen

2.3 Diagnostik als interpersoneller Prozess

2.4 Diagnostische Rückmeldung und Behandlungsvereinbarung

2.5 Das diagnostische Gespräch: Ein Fallbeispiel

2.6 OPD-Konflikte, Grundkonflikte, Strukturniveau

2.7 Der Antrag auf Kostenübernahme

2.8 Exkurs Psychotherapieforschung: Prognose und Behandlungsplanung

Therapie – den unbekannten Weg wagen

3 Therapeutisches Handeln

3.1 Das therapeutische Selbstverständnis

3.2 Therapeutische Technik – therapeutische Kunst

3.3 Therapeutische Zielsetzungen

3.4 Persönliche therapeutische Kompetenzen

3.5 Exkurs Psychotherapieforschung: Die therapeutische Arbeitsbeziehung

3.6 Das Material der Therapie: Die Geschichten der Patienten

3.7 Der Zugang zu den psychodynamischen Knotenpunkten

3.8 Therapeutische Interventionen

3.9 Die Phasen des Therapieverlaufs

3.10 Das Behandlungsergebnis

Struktur – was uns trägt

4 Spezielle Aspekte der Strukturbezogenen Psychotherapie

4.1 Psychoanalytische Bemühungen um schwierige Patienten

4.2 Entwicklungspsychologische Grundlagen der Persönlichkeit und der strukturellen Störung

4.3 Von der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik zur Strukturbezogenen Psychotherapie

4.4 Die Merkmale struktureller Störungen und ihre diagnostische Erfassung

4.5 Die therapeutische Haltung in der Strukturbezogenen Psychotherapie

4.6 Unterschiedliche therapeutische Positionen

4.7 Die Förderung struktureller Fähigkeiten

4.8 Strukturbezogene Interventionen

4.9 Strukturelle Aspekte bei speziellen Störungsbildern der Persönlichkeit

4.10 Die Beendigungsphase Strukturbezogener Psychotherapie

Therapeut und Gutachter: zwei Rollen

5 Noch einmal zum Schluss: Der Bericht an den Gutachter

Forschung – Mühe und Ertrag

6 Eine Auswahl thematischer Schwerpunkte in Veröffentlichungen der eigenen Arbeitsgruppe

6.1 Methodik, Instrumente

6.2 Biografie, soziale Entwicklung

6.3 Gender, Emotionen, Angst

6.4 Diagnostik, Indikation

6.5 Körper, Psychosomatik

6.6 Psychodynamische Psychotherapien

6.7 Therapeutische Beziehung

6.8 Struktur, strukturelle Störung

6.9 Strukturbezogene Psychotherapie

6.10 Ergebniseinschätzung, Qualitätssicherung

6.11 Psychotherapeuten

6.12 Buchveröffentlichungen

Literatur finden – gewusst wo

7Weitere Literatur

Sachverzeichnis

In dankbarer Erinnerung an Hildegard Horn, analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, mit der gemeinsam ich seit Ende der Neunzigerjahre bis zu ihrem viel zu frühen Tod (2016) zahlreiche theoretische Fragen der Psychotherapie diskutieren, sie in ihrer praktischen Anwendung erproben und daraus Konzepte herleiten konnte.

Geleitwort

Werte Leserinnen und Leser,

wenn Sie diese Zeilen lesen, werden Sie sich vielleicht wundern. Gewöhnlich ist es so: Der junge Autor bittet den älteren Professor um ein Geleitwort, um seinen Text quasi zu adeln, ein wenig »Eminenzbasierung« einzuheimsen. Hier ist es anders herum. Der allseits respektierte und einflussreiche Professor lässt seinen Text kommentieren von einem Vertreter der nachfolgenden Generation. Schon dieser merkwürdige Umstand verrät Ihnen etwas über den Autor. Es enthält eine augenzwinkernde Selbstironie und eine gehörige Portion Innovation, wenn Professor Rudolf nicht die Bestätigung bei anderen »Altvätern« einholt, sondern interessiert die kritische Rückmeldung derjenigen einholt, die seine Theorie heute anwenden und morgen vielleicht weiterentwickeln werden. Traditionen auf den Kopf stellen, um etwas Neues herauszuschütteln, beschreibt gut den bisherigen Schaffensweg von Gerd Rudolf. Seine Arbeiten zur Strukturbezogenen Psychotherapie stellen bahnbrechende Innovationen in der Behandlungstechnik dar. Dabei ging es ihm aber nicht darum, den bereits etablierten »Schulen« in der Psychoanalyse (Rudolf würde vielleicht von »Kirchen« sprechen) eine weitere Richtung hinzuzufügen. Sondern es ging ihm darum, das psychodynamische therapeutische Handeln so zu erneuern, dass damit auch bislang als nicht behandelbar geltenden Patienten1 geholfen werden kann. Dazu musste das psychodynamische Störungsverständnis quergedacht und immer auch an der Empirie abgeglichen werden.

Noch vor 15 Jahren bedeutete es oft einen Kampf mit den Gutachtern, schwerer (strukturell) gestörten Patientinnen eine Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie anzubieten. Ausgangspunkt war häufig ein Missverständnis zwischen psychoanalytischem Gutachter und tiefenpsychologischer Therapeutin, was denn eigentlich mit dem Begriff »strukturelle Störung« gemeint sei. Die Gutachter hatten oft einen kategorialen Strukturbegriff, gingen also davon aus, dass die Behandlerinnen irgendwie den »Charakter« der Patientinnen verändern wollten. Die Therapeutinnen hingegen folgten einem eher dimensionalen Strukturbegriff, zielten darauf ab, mit ihren Patientinnen grundlegende strukturelle Entwicklungsdefizite in der Behandlung auszugleichen. In diesem ungleichen Kampf konnten sich die Behandlerinnen nur wenig auf etablierte psychodynamische Konzepte berufen. Eigentlich waren es nur Rudolf und die OPD-2, die argumentativ zur Seite standen.

Das hat sich grundlegend geändert. Seit einigen Jahren enthält beinahe jedes psychodynamische Lehrbuch einen Satz wie »Seit gut zehn Jahren ist die Strukturbezogene Psychotherapie in Deutschland untrennbar mit dem Namen Gerd Rudolf verbunden«. Hier hat ein historisch sehr langer Prozess seinen vorläufigen Schlusspunkt gefunden. Freud selbst zielte in seinem Beitrag zum Budapester Kongress 1919 darauf ab, die Psychoanalyse auch breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Allerdings lieferte er mit seiner Metapher von »Gold und Kupfer« zugleich eine Argumentationsgrundlage für psychoanalytische Traditionalisten, mit der Veränderungen der Methodik über viele Jahrzehnte erschwert wurden. Bereits die technischen Innovationen von Ferenczi und Rank von 1924 erlitten das Schicksal, mangels Linientreue als falsch eingeordnet zu werden. So war es erst nach dem Zweiten Weltkrieg möglich, eine wirklich demokratische, also allen Bevölkerungsschichten zugängliche Psychotherapie zu installieren. Annemarie Dührssen nutzte ein historisch einmaliges Zeitfenster, um die Psychotherapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu etablieren, damit die Psychotherapie allen Bevölkerungsschichten und im Prinzip auch allen Störungsbildern zugänglich zu machen. Möglich war dies nur, indem statt auf die »reine Lehre« auf eine empirische Evidenz rekurriert wurde.

Damit war aber nicht nur ein Gewinn für die Psychotherapie als solche verbunden, es war auch ein Problem geschaffen worden. Wenn nun im Prinzip alle Menschen mit seelischen Belastungen in Psychotherapie gehen konnten, dann kamen im Behandlungszimmer auch Menschen an mit Störungen, die bis dato als unbehandelbar, weil unanalysierbar, galten. Was war zu tun mit Patienten, die nicht brav den Ödipuskomplex als Zentrum ihrer Neurose aufzuweisen hatten, dennoch aber erhebliches seelisches Leid erlebten? Wie konnte man Menschen mit sogenannten »Frühstörungen« therapeutisch helfen? Um das Indikationsspektrum der Psychotherapie zu erweitern, bedurfte es einer Veränderung der behandlungstechnischen Voraussetzungen. Exemplarisch genannt sei hier die »Göttinger Gruppe« um Heigl, Heigl-Evers und Ott: Das von ihnen vorgeschlagene »Prinzip Antwort« war seinerzeit eine in der psychoanalytischen Community heiß umkämpfte technische Innovation, die uns Jüngeren inzwischen recht selbstverständlich einleuchtet. In den folgenden Jahrzehnten wurde fleißig nachgedacht und geforscht, um die Methoden den Patienten anzupassen (statt umgekehrt die Patienten nach ihrer Eignung für die Methode auszuwählen). Diese Prozesse sind verbunden mit »großen Namen« wie Kernberg, Rudolf und Fonagy. Getragen allerdings wurden diese Prozesse von mutigen Therapeutinnen (in Deutschland vor allem TPler), welche ihre Behandlungskonzepte der Kritik einer traditionell ausgerichteten Psychoanalyse auszusetzen hatten. Und von mutigen Patientinnen, welche ihren Behandlern das Vertrauen entgegenbrachten, dass ihre doch erheblichen Störungen behandelbar wären, auch wenn die Behandler sich auf konzeptionell dünnem Eis bewegten.

Dieser Prozess ist vollzogen. Oder, wie ein verhaltenstherapeutischer Kollege es ausdrückte: »Diese Burg habt ihr geschliffen.« Die deskriptiven Diagnosesysteme DSM-5 und ICD-11 bieten die Möglichkeit, mit ihren hybriden Strukturmodellen Störungen so abzubilden, dass sie mit einer TP-Behandlungskonzeption erreichbar sind. Die Reformen der Psychotherapie-Richtlinien von 2009 und 2017 tragen dem Rechnung insofern, als dass die Behandlung struktureller Störungen auch mit den Mitteln der TP als richtlinienkonform festgeschrieben wurden. In aller Deutlichkeit legt der 11. »Faber/Haarstrick-Kommentar Psychotherapie-Richtlinien« aus, dass in der TP strukturelle Störungen behandelbar sind, sofern sich das Behandlungskonzept auf eine von vier Konzeptionen stützt: Strukturbezogene Psychotherapie nach Rudolf, Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP), Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT) oder Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM).

Seit ungefähr 15 Jahren lerne ich von Professor Rudolf, was ich mir einfallen lassen kann, wenn ich mit Patienten in Beziehung trete, deren Problematik vor allem als strukturelle Störung daherkommt. Angefangen von »Die Struktur der Persönlichkeit« (2002) über die »Strukturbezogene Psychotherapie« (2004) bis hin zu »Psychodynamische Psychotherapie« (2010) habe ich oft Hinweise zur Behandlungstechnik, aber darüber hinaus auch Trost und Hoffnung aus seinen Werken ziehen können. Über die konkrete Problematik hinaus war Rudolf für mich auch in einer weiteren Perspektive eine Orientierung, sei es auf der Ebene der verschiedenen Auflagen des Lehrbuches »Strukturbezogene Psychotherapie« (Rudolf 2004b), sei es auf der Ebene der soziohistorischen Verortung in seinen Büchern »Wie Menschen sind« (Rudolf 2015b) oder »Psychotherapie in sozialer Verantwortung« (Rudolf & Rüger 2016).

Seit über 10 Jahren lehre ich Strukturdiagnostik nach OPD-2 und Behandlungstechnik nach Rudolf am Berliner ppt-Institut. Es suchen mich zahlreiche Patientinnen und Supervisanden zu diesem Thema auf. Je länger ich die Methode der »Strukturbezogenen Psychotherapie nach Rudolf« anwende und lehre, desto unspezifischer finde ich sie. Das hat den Hintergrund, dass es in der Praxis sehr selten »reine« Konfliktstörungen oder »reine« Strukturstörungen gibt. Diese Einsicht ist nicht neu – bereits Adler (1932) erkannte dies, und Rudolf belegte es 2010 empirisch. (Nebenbei bemerkt ist es dieser Umstand, welcher den Praktiker gegenüber der RCT-fixierten Forschung skeptisch bleiben lässt.) Wir wenden demnach die Methode der »Strukturbezogenen Psychotherapie« zwangsläufig auch bei Patientinnen an, deren Störungen aus einer Misch-Ätiologie erklärbar sind.

Dabei scheint mir ein Aspekt der Strukturbezogenen Psychotherapie besonders erwähnenswert, weil er weit über das Anwendungsfeld der strukturellen Störungen hinaus wertvoll ist. Rudolf legt mit der Strukturbezogenen Psychotherapie zwar einen »Leitfaden« vor, aber eben kein Manual. Es sind weniger technische Anweisungen als eine systematische Anleitung zur therapeutischen Haltung, welche die Anwendung der Methode zu erfolgreichen Behandlungen führt.

Innerhalb der sehr genau beschriebenen und empirisch belegten sowie theoretisch erklärten Haltung ist es insbesondere die »Positionierung« – hinter, gegenüber, neben –, welche die Besonderheit des Ansatzes ausmacht.

Sich hinter den Patienten stellen, sich dem Patienten gegenüber stellen, sich neben den Patienten stellen ist mehr als eine technische Anweisung für spezielle Interventionen. Es kreiert eine völlig neue Konstellation in der therapeutischen Beziehung. So, wie die »intersubjektive Wende« in der Psychoanalyse zu einem Paradigmenwechsel geführt hat (von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie), so hat die Strukturbezogene Psychotherapie das Potenzial, einen weiteren Paradigmenwechsel in der Sicht auf die therapeutische Situation einzuleiten: von der dyadischen zur triadischen Situation. »Die Störung als etwas Drittes begreifen« ist eine mächtige therapeutische Innovation, die weit über das enge Indikationsfeld der strukturellen Störung hinaus weist.

Ich stelle mir vor, dass diese Worte bei Rudolf Skepsis auslösen werden – wie oben beschrieben ist er kein »Kirchengründer«. Es wäre also die Aufgabe der folgenden Generation, darauf zu achten, dass aus dem Paradigma kein Dogma wird. Für den Moment jedoch ist vor allem die TP Professor Rudolf zu großem Dank verpflichtet. Es ist nicht ganz einfach, eine selbstbewusste Haltung zu finden, solange die TP als »kleine Schwester« der Psychoanalyse betrachtet wird. Bücher wie das vorliegende sind es, die dazu einen erheblichen Beitrag leisten. Indem die Eigenheit des Verfahrens nicht nur einfach behauptet wird, sondern indem klar und deutlich beschrieben wird, wie es funktioniert und was man warum macht.

Darum haben wir auf dieses Buch gewartet: Weil für jeden etwas dabei ist, weil es jeder mit Gewinn lesen kann. Die Kandidaten in Ausbildung können es als Wegbegleiter und Leitfaden in der Entwicklung ihrer Therapeutenpersönlichkeit verwenden. Bereits in TP ausgebildete Therapeutinnen können eine Rück- oder Neuorientierung finden. Analytiker können anhand dieses Buches besser verstehen, was wir eigentlich tun (und dass das nicht dasselbe ist wie eine »kürzere AP«), um sich mit der TP besser auf Augenhöhe verständigen zu können. Verhaltenstherapeutinnen werden anhand der TP besser begreifen, was mit »psychodynamisch« eigentlich gemeint sein könnte. Das große Projekt in den psychoanalytisch begründeten Verfahren, die Neukonstruktion einer »Psychodynamischen Psychotherapie« setzt voraus, dass sich die derzeit getrennten Verfahren AP und TP in einen Dialog auf Augenhöhe begeben können. Das große Projekt der psychodynamischen Verfahren, sich im Kanon der wissenschaftlich überprüften Verfahren zu behaupten, setzt einen Dialog auf Augenhöhe zwischen VT und PDT voraus. Mit anderen Worten: Das Buch hat das Potenzial, im »Schulenstreit« zu vermitteln.

Nicht zuletzt aber kommt dieses Buch vor allem den Patienten zugute. Beinahe die Hälfte aller Patienten suchen mehr oder weniger gezielt eine TP auf. Das vorliegende Buch reiht sich ein in die noch sehr schmale Riege derjenigen Bücher, die sich speziell um eine sachliche, professionelle und empirisch validierte Konzeption der TP bemühen.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern ebenso viel Freude bei der Lektüre, wie ich sie hatte. Erfreute Therapeutinnen führen zu gesundenden Patienten. Ich wünsche den Lesern, dass sie die gleichen Erfahrungen machen mögen, die auch ich durch Gerd Rudolfs Gesamtwerk erleben durfte: Ermutigung darin, auch in schwierigen psychotherapeutischen Konstellationen nach sinnvollen, konzeptionell begründbaren und vor allem wirksamen Behandlungskonzepten zu suchen.

Dieses Buch leistet einen großen Beitrag zu jenem Prozess in der Werdung von Therapeutinnen, die Rudolf 2016 mit folgendem Satz umriss: »Gute Therapeuten statt richtiger Identitäten!«

Berlin, im Oktober 2018

Lars Hauten

Vorwort

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie spielt hierzulande eine wichtige Rolle in der psychotherapeutischen Versorgung. Der theoretische Hintergrund des Verfahrens und die therapeutische Praxis wurden in zahlreichen Werken von lexikalischem Format (z. B. Boll-Klatt & Kohrs 2014, Reimer & Rüger 2012 oder Wöller & Kruse 2015) ausführlich beschrieben. Welche Gründe könnte es geben, ein weiteres – noch dazu relativ kurzgefasstes – Buch zum Thema vorzulegen?

Es sind im Wesentlichen persönliche Eindrücke, die mich dazu motivieren. Zum einen meine Erfahrungen als Therapeut: Seit Anfang der siebziger Jahre habe ich tiefenpsychologisch therapeutisch gearbeitet und mich dabei von den breiten Anwendungsmöglichkeiten des Verfahrens überzeugen können.

Zum zweiten sind da meine Erfahrungen in der Psychotherapieforschung zu nennen, die ebenfalls in den siebziger Jahren in Berlin begonnen und in den neunziger Jahren in Heidelberg mit jeweils langjährigen Therapiestudien fortgeführt wurde, hierzu gehört auch die Arbeit an der OPD-Entwicklung.

Und zum dritten die Erfahrungen als Supervisor, der, 1974 ernannt, bis heute mit nicht nachlassenden Interesse in dieser Funktion tätig ist und nicht zuletzt die Erfahrungen als Gutachter/Obergutachter, der Abertausende von »Berichten zum Antrag« lesen und kommentieren durfte.

Vor diesem Hintergrund gilt mein zentrales Interesse der Situation von Therapeutinnen und Therapeuten, speziell der oft noch sehr jungen Therapeuten in Ausbildung, die, meist vor dem Hintergrund eines Psychologiestudiums und oft mit wenig Erfahrung im Umgang mit Patienten (und begrenzter Selbsterfahrung) nun vor der Aufgabe stehen, die psychische Erkrankung der ihnen zugewiesenen Patienten unter psychodynamischen Gesichtspunkten zu verstehen und einen tiefenpsychologischen Behandlungsplan zu entwerfen und zu verwirklichen. Das ist eine schwierige Aufgabe, nicht nur für Anfänger, sondern, wie die Berichte von Niedergelassenen oft genug erkennen lassen, auch für andere Therapeuten, die sich, mit unterschiedlichen Vorerfahrungen, als »tiefenpsychologisch fundiert« definieren.

Mein Anliegen ist es, diese Therapeuten dort abzuholen, wo sie gegenwärtig stehen, und von da ausgehend mit ihnen gemeinsam die psychodynamische Denkweise und Arbeitstechnik zu reflektieren. Das geschieht letztlich auch im Interesse ihrer Patienten, für die ich mir wünsche, dass sie eine therapeutische Chance bekommen, auch wenn sie häufig in schwierigen inneren und äußeren Konstellationen gefangen sind. Dazu wiederum braucht es gut ausgebildete und menschlich kompetente Therapeuten.

Nach einführenden Abschnitten über die tiefenpsychologische Position in der Bandbreite psychodynamischer Therapien (Kapitel 1) sind alle übrigen Abschnitte des Buches ausdrücklich auf das Ziel ausgerichtet, tiefenpsychologische Therapeutinnen und Therapeuten in ihrem Verständnis der Patientenpersönlichkeit, vor allem aber in ihrer inneren Einstellung und ihrer therapeutischen Haltung sowie in ihren praktischen therapeutischen Fähigkeiten zu unterstützen. Meinem Interesse folgend, werden dabei die strukturellen Störungen und ihre Behandlung besonders beachtet. Den Abschluss bildet ein Literaturüberblick aus Veröffentlichungen der eigenen Arbeitsgruppen, gegliedert nach Themen, deren Verständnis für tiefenpsychologisches Denken und Arbeiten wichtig ist.

Mein Dank gilt den zahlreichen jungen Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Instituten, deren Behandlungen und Abfassung von Fallberichten ich auch in den letzten Jahren als Supervisor begleiten durfte. Besonderen Dank schulde ich L. Hauten, mit dem sich eine zunehmend intensive Diskussion über therapeutische Konzepte und praktisches Handeln in unterschiedlichen Psychotherapien ergeben hat. Umso mehr freue ich mich, dass er sich als Vertreter der jüngeren Generation bereit erklärt hat, ein Geleitwort zu diesem Buch zu schreiben. Für praktische Hilfen in EDV-technischen Fragen danke ich Chr. Horn und G. Rehwinkel; Frau Dr. Urbani für die Betreuung des Buchprojekts im Verlag. Als Lektorin war mir auch dieses Mal Frau Becker eine zuverlässige und geduldige Begleiterin. Besonderen Dank schulde ich auf Verlagsseite Herrn Dr. Bertram, der das Risiko auf sich genommen hat, noch einmal dieses Büchlein eines in die Jahre gekommenen Schattauer-Autors zu verlegen.

Heidelberg, im Oktober 2018

Gerd Rudolf

Die Verfahren: Unterschiede und Ähnlichkeiten

1 Positionierung der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

1.1 Tiefenpsychologisch fundierte und Analytische Psychotherapie im Vergleich

In diesem Buch soll das praktische Handeln von tiefenpsychologischen Psychotherapeuten im Mittelpunkt stehen. Dabei interessiert speziell die Frage, welche Themen in welchen therapeutischen Situationen auf welche Weise angesprochen werden können und welche therapeutischen Haltungen und Konzepte dem zugrunde liegen. Diese Fragen sind eng verbunden mit den angestrebten Therapiezielen. Diese wiederum hängen von der Art der vorliegenden Störungen und dem gewählten methodischen Vorgehen ab. Die Vorstellung einer hilfreichen therapeutischen Beziehung, eines produktiven therapeutischen Prozesses und eines wünschenswerten Behandlungsergebnisses lassen sich nur im Rahmen eines klar definierten therapeutischen Konzeptes formulieren.

Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie werden aufgrund ihrer Herkunft aus der Psychoanalyse als »psychodynamische Psychotherapien(1)« zusammengefasst. Strittig ist am ehesten, ob es sich dabei um zwei Verfahren handelt, wie es aus dem Sprachgebrauch der Psychotherapie-Richtlinien hervorgeht oder um zwei methodische Varianten des gleichen Verfahrens, wie es der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie in einer Stellungnahme vertreten hat. Verständlicherweise sind sich die Vertreter beider Methoden (oder Verfahren) nicht immer einig in der Bewertung, welche der beiden Therapieformen nun die bedeutsamere, zweckmäßigere und effektivere Vorgehensweise darstellt.

Die Psychotherapie-Richtlinien beschreiben die zwei aus der traditionellen Psychoanalyse abgeleiteten therapeutischen Verfahren, die Analytische Psychotherapie(1) (AP) und die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie(1) (TP). Im Gegensatz zu der traditionellen (»tendenzlosen«) Psychoanalyse sind diese beiden Verfahren zeitlich begrenzt (AP bis zu maximal 300 Sitzungen in einer Behandlungsfrequenz von 2–3 Wochenstunden; TP bis maximal 100 Sitzungen mit einer Frequenz von meist einer Wochenstunde). Beide gelten als hinsichtlich ihrer Effektivität in ausreichendem Umfang für alle wichtigen Störungsbilder evaluiert.

Betrachtet man die Zahl der Patienten, die in der Richtlinienpsychotherapie in Deutschland behandelt werden, so zeigt sich die TP als ein sehr praxisrelevantes Verfahren. (1)In einer Auswertung von 2014 entfallen 45 % aller durchgeführten Therapien auf tiefenpsychologische Behandlungen, 50 % auf die Verhaltenstherapie und die übrigen auf die Analytische Psychotherapie. Gleichwohl spielt das psychoanalytische Konzept für das Verständnis der TP eine maßgebliche Rolle.

Für angehende Psychoanalytiker ist das Thema der therapeutischen Technik und speziell der Deutung unbewusster Prozesse ein zentraler Gegenstand der meist langen Ausbildung. Die tiefenpsychologischen Ausbildungsgänge(1) sind in der Regel deutlich kürzer ausgelegt, d. h., es muss viel Stoff in relativ kurzer Zeit erarbeitet werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich unter den tiefenpsychologischen Ausbildern teilweise solche mit analytischer Herkunft befinden, aber auch Vertreter anderer Schulrichtungen, die ursprünglich eine Identität als Gesprächstherapeuten, humanistische Therapeuten, Systemiker etc. besitzen. Nicht wenige Tiefenpsychologen betonen, dass sie lieber einen integrativen oder individuellen Ansatz verwenden und weniger einer bestimmten Therapiemethode folgen möchten. So kann es sein, dass unter der Bezeichnung Tiefenpsychologie recht unterschiedliche Therapien von Therapeuten mit unterschiedlichen Grundüberzeugungen durchgeführt werden. Das erschwert freilich die Situation für Patienten, die nicht wissen können, was sie in dieser speziellen Therapie erwartet, auch wenn diese offiziell dem tiefenpsychologischen Verfahren zugeordnet ist.

Psychoanalytiker(1) erlernen in ihrer Weiterbildung zumindest offiziell beide Therapien, wobei die TP wohl eher am Rande mitläuft und für das Selbstverständnis von Psychoanalytikern weniger gewichtig ist als die Analytische Psychotherapie. Eine für TP tätige Supervisorin, die aus einem analytischen Institut kommt, sagt: »Ich weiß eigentlich gar nicht, wie man tiefenpsychologische Supervision machen soll, d. h. wie ich sie anders als analytisch machen könnte.« Auch die Gutachter für TP mussten bis 2016 eine analytische Ausbildung nachweisen. Psychoanalytiker verstehen sich im Blick auf die Geschichte als die eigentlichen Vertreter der Psychodynamik, sodass zum Beispiel psychoanalytische Fachgesellschaften ausschließlich tiefenpsychologisch ausgebildete Therapeuten lange nicht als Vollmitglieder akzeptierten. Manche sehen in der TP eine »Psychoanalyse light«-Variante, für die man weniger profunde Kenntnisse benötigt und von der man weniger Effizienz erwartet. Zweifellos kann man von jemandem, der eine fünf- bis zehnjährige psychoanalytische Ausbildung und ebenso lange Lehranalyse durchlaufen hat, differenziertere Literaturkenntnisse und größeres theoretisches Wissen erwarten, als von solchen, die eine drei- bis fünfjährige TP-Ausbildung und relativ kurze Selbsterfahrung abgeschlossen haben. Eine lange Lehranalyse und ein differenziertes Literaturstudium befähigen nicht automatisch dazu, auch mit 60–100 Stunden effektiv zu arbeiten. Tiefenpsychologische Therapeuten(2) lernen in ihrer Ausbildung vor allem, den therapeutischen Prozess durch gezielte Fokussierung zu fördern.

Alle Therapeutinnen und Therapeuten stehen vor Behandlungsbeginn vor der Aufgabe, in einem Bericht(1) zum Psychotherapieantrag die Aspekte der Behandlungsnotwendigkeit (das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen krankheitswertigen Störung), der Zweckmäßigkeit (die Eignung des gewählten Behandlungsverfahrens zur Behebung der Störung) und der Wirtschaftlichkeit (die Begrenzung der beantragten Stundenzahl auf das Notwendige) herauszuarbeiten. Störung, Behandlungsplan und prognostische Einschätzung müssen im Rahmen eines anerkannten therapeutischen Konzepts diskutiert werden. Im Folgenden wird versucht, herauszuarbeiten, welches die konzeptuellen Essentials der TP sind und wie damit behandlungspraktisch umgegangen werden kann.

Eine weitere Zielsetzung des Buches ist das Bemühen um Qualitätssicherung(1) in der Psychotherapie. Diese wird immer wieder gefordert, aber in den Diskussionen der Krankenkasse oder Berufsverbände tritt sie doch letztlich immer wieder in den Hintergrund. Es hat den Anschein, dass die Patienten, um die es letztlich in der Psychotherapie geht, keine wirklich starke Lobby haben. Die Verdeutlichung von Qualitätsaspekten ist zum einen als Unterstützung für die Therapeuten in Ausbildung gedacht, zum anderen steht sie im Interesse der Patienten, die sicher sein sollen, dass sie eine Behandlung erfahren, die nach wissenschaftlichen Kriterien als aussichtsreich gelten kann.

1.2 Methodische Zugänge zum Menschen

Psychotherapie gehört im weitesten Sinne zu den Humanwissenschaften, die sich auf eine große Bandbreite von wissenschaftlichen Vorgehensweisen stützen. Ein traditionell wichtiger Ansatz zielt darauf ab, Menschen auf der Grundlage eigener Erfahrung einfühlend verstehen zu können. Es geht darum, das nachzuvollziehen, was der andere denkt, fühlt und tut und worüber er sich sprachlich und nonverbal mitteilt. Das Ergebnis dieses Nacherlebens ist eine persönliche, subjektive Einschätzung, ein hermeneutisches Verstehen(1).

Zum zweiten können Menschen systematisch beobachtet und standardisiert befragt werden im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften, die zum Beispiel auf Symptome oder Diagnosen hinweisen. Voraussetzung ist ein breiter Konsens über krankheitswertige Auffälligkeiten (z. B. ICD oder DSM). Auf diese Weise können, unter Umständen mit Unterstützung von Selbsteinschätzungsbögen, Persönlichkeitsdimensionen eingeschätzt oder klinische Bilder diagnostisch erfasst werden.

Ein weiterer Ansatz ist bemüht, Menschen zu interpretieren, d. h. Aspekte ihres Verhaltens und Erlebens auf dem Hintergrund von konsensfähigen Modellen – z. B. von psychodynamischen oder lernpsychologischen Persönlichkeitsmodellen – oder empirisch geprüften Theorien zu erklären. Das erfordert spezielle Kenntnisse von Konzepten und Instrumenten sowie eine nachprüfbare Übereinstimmung mit anderen Untersuchern.

Historisch stand lange die Alternative von Verstehen und Erklären im Vordergrund. Der wissenschaftliche Disput über diese Grundsätze reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück. Heute stützt man sich vorzugsweise auf erklärende Modelle, wobei sich freilich unterschiedliche Interessengruppen für verschiedene Systeme stark machen. Die Pharmaindustrie präferiert andere diagnostische Systematiken als die Psychotherapie. Für Verhaltenstherapeuten steht heute eine möglichst breite empirische Erfassung von erklärenden psychologischen Fakten im Vordergrund. Für Psychoanalytiker galt es umgekehrt als ausgemacht, dass messende Verfahren beim Menschen nicht angebracht seien. Sie betonten stets den Anspruch des Verstehens und steigerten ihn durch die Forderung, das Unbewusste des Patienten zu erfassen, das, vermittelt durch die Gegenübertragung des Therapeuten, die Übertragungsbereitschaft des Patienten und damit seine unbewusste Seite spiegelt.

Damit ist freilich die Patient-Therapeut-Dyade nach außen hermetisch abgeschlossen und nur durch das subjektive Gegenübertragungserleben des Therapeuten zugänglich. Mitunter wurden Forscher, die von diesem Paradigma abwichen, wie zum Beispiel Säuglingsforscher, die Mutter-Kind-Interaktionen untersuchten, »als Leute bezeichnet, die versuchen, die psychoanalytische Theorie zu zerstören« (Green 2000). Andere, eher gesundheits- und sozialpolitisch ausgerichtete Psychoanalytiker betonten die Notwendigkeit einer empirischen Fundierung(1) auch im Bereich der analytischen Therapie. So hat Annemarie Dührssen(1) bereits in den 1970er-Jahren anhand der von ihr konzeptualisierten »Dynamischen Psychotherapie(1)« die Unterschiede von analytischen und tiefenpsychologischen Ansätzen sorgfältig beschrieben und darüber hinaus dieses Verfahren empirisch fundiert (vgl. Kap. 1.4). Viele sind ihr auf diesem Wege gefolgt. Auch die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)(1) ließ keinen Zweifel daran, dass ihre Konzepte empirisch begründet sein müssen. Das ist in großem Umfang für die OPD-Konzepte und die OPD-basierten Instrumente geschehen, was allerdings von manchen Psychoanalytikern noch immer als »positivistisch« und damit unanalytisch abgelehnt wird (Mertens 2012).

Die auf das Psychische ausgerichteten methodischen Ansätze – einfühlen, verstehen, systematisch beobachten und konzeptuell erklären – als Grundlagen therapeutischen Handelns müssen heute durch einen weiteren Zugang ergänzt werden. Zunehmendes Gewicht bekommen jene Ansätze, die ausdrücklich Aspekte des Psychischen mit dem des Körperlichen verknüpfen. Über den Gesichtspunkt der Leiblichkeit(1) des Menschen, das körperliche In-der-Welt-Sein wurde schon immer philosophiert. Psychotherapeutisch ging es um die Frage, wie seelisches Befinden körperlich zum Ausdruck kommt oder wie aus körperlichen Symptomen auf psychische Konflikte geschlossen werden kann. Über beides konnten nur Mutmaßungen geäußert werden. Nahe liegend war es, den Einfluss der Emotionalität(1) (speziell von emotionalem Stress) auf Körpervorgänge zu untersuchen (z. B. Cannons »Physiologie der Emotionen«, die er erstmals 1915 veröffentlichte, oder F. Dunbars »Mind and Body« aus den 1940er-Jahren). Erst die enormen Fortschritte im Verständnis physiologischer Prozesse und vor allem neurobiologischer Strukturen und Funktionen konnten dazu beitragen, die Lücke (zumindest ansatzweise) zu schließen, die bis dahin zwischen dem subjektiven seelischen Erleben und den objektivierbaren somatischen, vor allem neurobiologischen Prozessen offen geblieben war und die häufig spekulativ fantasievoll überbrückt wurde.

Schon Freud(1) hatte als Neurowissenschaftler seiner Epoche nach Lösungen für die offensichtlichen Probleme gesucht, diesen Weg aber aufgegeben, weil sich die Grundlagenforschung dieser Disziplin damals noch zu sehr in den Anfängen befand. Es hat bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gedauert, ehe eine neurobiologische Forschung(1) ihre Verfahren (z. B. Bildgebung) und laborklinische Methoden so weit entwickelt hatte, dass daraus humanwissenschaftlich relevante Modelle abgeleitet werden konnten. Heute stehen wir an einem Punkt, an dem das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell(1) dergestalt ausgearbeitet wurde, dass daraus diagnostische Konsequenzen gezogen werden können (als »neuroscience based diagnostics(1)«, welche z. B. frühe Lebensbelastungen berücksichtigen). Sie haben sich allmählich vom Verständnis der Emotionalität und der interpersonellen Prozesse zu den differenzierten Aspekten des Selbst, der Kognition und Mentalisierung weiterentwickelt. Aus der sehr umfangreichen Literatur seien nur einige populäre Beispiele genannt: »Gehirn, Psyche und Körper« von J. C. Rüegg (2011, 5. Aufl.); »Neurobiologie und Psychotherapie« (Juckel & Edel 2014); »Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Denken steuert« von G. Roth (2001).