Dirty Heart (Deutsch) - Rhys Ford - E-Book

Dirty Heart (Deutsch) E-Book

Rhys Ford

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Beschreibung

Das Leben von Cole McGinnis, ehemaliger Detective des Los Angeles Police Department, hätte beinahe an dem Tag geendet, an dem sein Polizeipartner und bester Freund Ben Pinelli die Kugeln seiner Dienstwaffe in Cole und seinen damaligen Freund Rick entlud. Seit Ben anschließend die Waffe auf sich selbst gerichtet hatte, war Cole davon überzeugt, niemals herausfinden zu können, warum Ben ihn vernichten wollte. Jahre später hat Cole sich wieder zusammengeflickt. Mit seiner Arbeit als Privatdetektiv und seiner Liebe zu Jae-Min Kim, einem koreanisch-amerikanischen Fotografen, den er bei einem Fall kennengelernt hat, ist sein Leben wieder auf dem richtigen Weg – bis er entdeckt, dass Jeff Rollins, ein in Ungnade gefallener Polizist und sein erster Partner, wieder aufgetaucht ist und anscheinend auf der falschen Seite des Gesetzes arbeitet. So sehr Cole auch darum kämpft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ist er doch bald in ein Netz aus Lügen, Gewalt und Tod verstrickt. Jeff Rollins versucht nicht nur, die geliebten Menschen in Coles Leben zu töten, sondern reißt auch alte Wunden und Erinnerungen an die zwei Männer auf, die er liebte und verlor. Cole ist sicher, dass Rollins weiß, warum Ben ihrer aller Leben ruiniert hat, sucht aber nicht nach Antworten. Nun ist er in einem Katz-und-Maus-Spiel mit einem kaltblütigen Mörder gefangen, der nicht nur den Schlüssel zu seiner Vergangenheit, sondern auch den zu seiner Zukunft besitzt.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Zusammenfassung

Widmung

Danksagung

Glossar

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

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17

18

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20

Epilog

Biographie

Von Rhys Ford

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Copyright

Dirty Heart

 

Von Rhys Ford

Ein Cole-McGinnis-Krimi

 

Das Leben von Cole McGinnis, ehemaliger Detective des Los Angeles Police Department, hätte beinahe an dem Tag geendet, an dem sein Polizeipartner und bester Freund Ben Pinelli die Kugeln seiner Dienstwaffe in Cole und seinen damaligen Freund Rick entlud. Seit Ben anschließend die Waffe auf sich selbst gerichtet hatte, war Cole davon überzeugt, niemals herausfinden zu können, warum Ben ihn vernichten wollte.

Jahre später hat Cole sich wieder zusammengeflickt. Mit seiner Arbeit als Privatdetektiv und seiner Liebe zu Jae-Min Kim, einem koreanisch-amerikanischen Fotografen, den er bei einem Fall kennengelernt hat, ist sein Leben wieder auf dem richtigen Weg – bis er entdeckt, dass Jeff Rollins, ein in Ungnade gefallener Polizist und sein erster Partner, wieder aufgetaucht ist und anscheinend auf der falschen Seite des Gesetzes arbeitet.

So sehr Cole auch darum kämpft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ist er doch bald in ein Netz aus Lügen, Gewalt und Tod verstrickt. Jeff Rollins versucht nicht nur, die geliebten Menschen in Coles Leben zu töten, sondern reißt auch alte Wunden und Erinnerungen an die zwei Männer auf, die er liebte und verlor. Cole ist sicher, dass Rollins weiß, warum Ben ihrer aller Leben ruiniert hat, sucht aber nicht nach Antworten. Nun ist er in einem Katz-und-Maus-Spiel mit einem kaltblütigen Mörder gefangen, der nicht nur den Schlüssel zu seiner Vergangenheit, sondern auch den zu seiner Zukunft besitzt.

Das letzte Buch der Reihe ist für Lisa Horan, die die ganze Zeit mein Geheimnis bewahrt hat.

Und für Mary Calmes, die Jahre mit dem Versuch verbracht hat, es mir zu entlocken.

Ein besonders warmes Dankeschön und viele Umarmungen an Greg Tremblay, der Coles Stimme zum Leben erweckt hat.

Danksagung

 

 

FOLGENDEN MENSCHEN schulde ich mehr als jede Menge Dankbarkeit: Mom, ohne die ich nichts als ungeformte Zellen wäre. Den „Fünf“, Jenn, Tamm, Penn und Lea, die mich bei dieser Schreibsache schon sehr, sehr lange begleiten (Rechnet nicht nach. Das führt nur zu Kopfschmerzen); Ren, Ree und Lisa.

Ich finde niemals genug Worte für meine Dankbarkeit gegenüber Elizabeth North, Lynn West, Grace und ihrem Lektorenteam, Lyric und allen anderen bei Dreamspinner Press. Ihr Leute rockt, wie man nur rocken kann.

Und ich möchte noch einmal Harrison Ford danken. Weil ich es kann. Und seien wir ehrlich, er hat meine Welt und meine Fantasie mehr geformt als jeder andere, der mir einfällt. Ich schulde ihm verdammt viel.

Glossar

 

 

Alle Wörter sind koreanisch, wenn nicht anders angegeben.

Agi: Baby im Sinne von Säugling. Das Wort benutzen Jae und Cole füreinander als neckendes Kosewort und beziehen sich dabei darauf, wie Cole Jae auf Englisch „Baby“ nennt.

Aish: Ein üblicher Laut im asiatischen Raum, der Frustration oder Zweifel ausdrückt.

Ajumma: Eine Frau älteren mittleren Alters. In einigen Kreisen auch als Beleidigung betrachtet, da es andeutet, dass man der Frau ihr Alter ansieht.

An nyoung ha seh yo: Ein allgemeiner Gruß. Kann zu jeder Tageszeit benutzt werden.

Beom joe ja: Krimineller oder kriminelle Gruppierung

Bulgogi: Dünn geschnittenes Fleisch mariniert in süßlicher Sojasoßenmischung.

Char Siu Bao (chinesisch): Gedünstetes oder gebackenes Brötchen mit süßlicher Füllung aus gegrilltem Schweinefleisch.

Chigae: Ein koreanisches Eintopfgericht mit Kimchi und anderen Zutaten wie Schalotten, Zwiebeln, Tofuwürfeln, Schweinefleisch und Meeresfrüchten.

Dongseongaeja: Homosexueller

Enceinte (aus dem Lateinischen/Französischen): Schwanger sein

Halmeoni: Großmutter

Hangul: Koreanisches Alphabet/Schriftsystem

Hanzi/Kanji: Logografische Schriftzeichen in der chinesischen (Hanzi) und japanischen (Kanji) Schrift. Gelegentlich im Koreanischen verwendet, allerdings seltener, seit Hangul sie vor Jahrhunderten als Koreas offizielles Schriftsystem ersetzte.

Harabeoji/Abeoji: Großvater

Hyung: Höfliche Anrede eines jüngeren Mannes an einen älteren Mann, der ihm nahesteht.

Ibanin/Iban: Ein Mensch, der anders ist; Wortspiel mit dem koreanischen Wort Ilban-in, das „normaler Mensch“ bedeutet.

Jagiya: Ein Kosewort vergleichbar mit „Baby“ oder „Liebling“.

Galbi: Rippchen mariniert in süßlicher Sojasoße.

Kimchi/Kim Chee: Eine koreanische Beilage, die aus fermentiertem Gemüse mit verschiedenen Gewürzen hergestellt wird. Bezieht sich meistens auf die häufigste Variante mit Kohl. Bei Verwendung anderer Gemüsesorten wird der Name des Gemüses verwendet, z. B. „Gurken-Kimchi“.

Kimchijeon/Kimchi Buchimgae: Ein in einer Grillpfanne zubereiteter Pfannkuchen aus Kimchi und Mehl. Manchmal wird auch anderes Gemüse oder Fleisch untergemischt.

Kretek (indonesisch): Eine ursprünglich von der Insel Java stammende Zigarette mit einer Mischung aus Tabak und Nelken. Das Wort wird auf das Geräusch zurückgeführt, das die verbrennenden Nelken von sich geben.

Kuieo: Umgangssprachliches koreanisches Wort für schwul.

Mandu: Frittierte oder gedünstete Teigtaschen aus Reis- oder Weizenmehl, die mit den verschiedensten Zutaten gefüllt werden.

Musang (philippinisch): Wildkatze, bezieht sich meist auf eine Schleichkatze.

Ne/De: Ja

Nuna / Hyung: Höfliche Anrede eines jüngeren Mannes an eine ältere Frau, die ihm nahesteht.

Omo: Ein üblicher Laut im asiatischen Raum, der Unglauben ausdrückt.

Oniisan (japanisch): Älterer Bruder

Oppa: Höfliche Anrede einer jüngeren Frau an einen älteren Mann, dem sie nahesteht.

Panchan/Banchan: Kleine Beilagen, die mit gekochtem Reis zu koreanischen Gerichten serviert werden. Je förmlicher der Anlass, desto größer ist üblicherweise die Menge an Panchan.

Papas (hispanischer Gebrauch): Pommes frites; bevorzugt mit Carne Asada, Käse und Sauerrahm bedeckt, aber ohne alles gibt es sie auch.

Saranghae: Ich liebe dich.

Sunbae: Älterer, Lehrer. Eine Person, die als Mentor betrachtet wird.

Tatami (japanisch): Bodenmatten aus Reisstroh oder anderem, mit Reisstroh bedecktem Material.

Unnie/Eonni: Anrede einer jüngeren Frau an eine ältere Frau, der sie nahesteht.

1

 

 

ICH HASSE Clowns.

Zugegebenermaßen liebt sie eigentlich niemand, abgesehen von den kranken Wichsern, die einer werden wollen, und den gestörten Spinnern, die Harlekin-Puppen sammeln, aber in diesem Moment befand sich mein Hass auf Arschlöcher mit geschminkten Gesichtern und schlabbrigen Schuhen auf einem absoluten Höchststand.

Und nach dem kräftigen Tritt gegen mein Schienbein, den mir soeben ein Typ mit Melone auf dem Kopf und Zwirbelbart gegeben hatte, erreichte auch mein allgemeiner Hass auf menschliche Wesen neue Höhen.

Es handelte sich um einen angeblich simplen Auftrag – es sind immer angeblich simple Aufträge –, zumindest war mir das gesagt worden, als ich zugestimmt hatte, den Fall zu übernehmen. Sehr simpel, denn wie mir Esther Markensburg versichert hatte, würde ihre zukünftige Ex-Frau Dawn leicht zu finden sein.

Was Esther mir nicht mitgeteilt hatte, war, dass Dawn davongelaufen war, um sich einem Zirkus anzuschließen. Beziehungsweise, einem Jahrmarkt. Einem umherreisenden, was die Suche nach ihr mehr als lästig machte. Nachdem ich einen Monat lang Hinweisen gefolgt war, spürte ich Dawn alias Miss Blaseblu endlich auf, als sie gerade in der kalifornischen Bruthitze kleinen Kindern überteuerte Luftballontiere andrehte.

Sich nach Dawn zu erkundigen war wie ein Sprint durch ein Labyrinth mit geschlossenen Augen gewesen. Für jeden schnellen Zentimeter vorwärts hatte ich hämmernde Kopfschmerzen bekommen, weil ich einen Schritt danach gegen eine Ziegelmauer geprallt war. Jahrmarktmenschen sind verschlossen und sonderbar. Schlichtweg und zweifellos sonderbar. Es gab Regeln, die nur sie verstanden und während die meisten von ihnen ihre eigene Mutter verraten hätten, um Geld zu machen, waren sie zutiefst loyal, wenn es darum ging, einen von ihnen an die Bullen auszuliefern.

Das hatte ich nach einem Monat der Nachforschungen begriffen.

Da ich eher kein Bulle war, gestaltete sich die Festnahme als schwierig. Eigentlich sollte ich ihr lediglich die Scheidungspapiere zustellen, mehr nicht. Esther war vor allem daran interessiert, die Scheidung abzuschließen und das Sorgerecht für den gemeinsamen Pudel zu behalten. Ihr Anwalt hatte vorgeschlagen, die Tierarztrechnungen für den Pudel zu teilen, doch wenn man den abschlaffenden Zustand des Jahrmarkts betrachtete, würde Esther vermutlich mit Marshmallows und Popcorn bezahlt werden.

Und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie Dawn in diesen verdammten schwabbelnden, grünen Schuhen so schnell rennen konnte.

Die heiße Sonne verwandelte den Jahrmarktsplatz in heiße Kohle und die Dürre, die wir zurzeit durchlitten, machte es nicht besser. Die Vorhersage versprach so heftigen Regen, dass einem Archebauer einer abgegangen wäre, doch bisher fiel in Los Angeles County nichts als weitere Hitze vom Himmel.

Beinahe wäre sie mir entwischt, hauptsächlich weil mein angeblicher bester Freund Bobby herausgebrüllt hatte, sie gefunden zu haben, als sie dabei gewesen war, mit lautstarken Rufen bei allen Eltern Schuldgefühle auszulösen, damit sie einen Ballon kauften. Sie hatte einen Blick auf ihn geworfen, dann auf mich – dem er so gut durchdacht zugewinkt hatte – und dann Reißaus genommen, wobei sie hinter sich eine Reihe halb aufgeblasener Dackel zurückließ.

Ich nahm die Verfolgung auf und Bobby stand da und lachte sich tot, als ich mich in eine Traube aus blinkenden Lichtern, klingelnden Glocken und manipulierten Spielbuden stürzte.

Verzweiflung und Raserei erfüllten die Luft. Die Spielstände des Jahrmarkts waren dicht beieinander angeordnet, schufen schmale Fußwege und schoben ihre wenigen Besucher in beengten Bereichen zusammen, um so die Illusion zu erwecken, dass größerer Andrang herrschte. Leicht verblichene Stofftiere starrten von ihren Plätzen an Wäscheleinen herab und verhöhnten mit leblosen schwarzen Augen und gewölbten Grimassen die wenigen Menschen, die gelangweilt genug waren, um ein Spiel zu versuchen. Die einst leuchtend roten und weißen Zeltdächer waren durch die Elemente ausgeblichen, sodass nun mattes Rosa und Milchtee-Streifen von dicker, dunkler Jute zusammengehalten wurden.

Die Zelte schnitten viel von der Sonne ab und zerstreuten das Licht, während die großen über den Wegen und an Pfosten befestigten Glühbirnen noch nicht eingeschaltet waren, wodurch ich und der Rest der Rotte in durchdringend graue Schatten getaucht wurden.

Popcorn und Bonbonpapier knirschten beim Rennen unter meinen Sneakern. Ich spürte ein Ziehen in meiner Seite, als eine Adhäsion unter meiner Haut an meinen Rippen zerrte. Die Schusswunden waren anfangs schmerzhaft gewesen, so tief in meinen Körper gebohrte Löcher, dass sie auch meiner Seele wehtaten, und sie waren nicht so gut verheilt wie erwartet.

Einer der tausend Ärzte, bei denen ich während meiner Reha in Behandlung gewesen war, hatte mir irgendeine Story darüber erzählt, dass meine japanische Hälfte zu stärkerer innerer Narbenbildung führte, aber er hatte nicht direkt erklärt, dass ich letztendlich mit an Cthulhu erinnernden Strängen würde leben müssen, die sich von meiner Haut bis in meine Eingeweide zogen. Die von den Narben umhüllten Nerven waren heute reizbar, vermutlich aus Solidarität mit meinem Magen, der über Aushungerung und die einzelne Tasse bitteren schwarzen Kaffee klagte, die ich an diesem Morgen getrunken hatte.

Mein Magen und das Buddhas-Hand-ähnliche Narbengewebe würden damit klarkommen müssen. Denn ich musste einen Clown schnappen.

Dawns zuckerwatteblauer Afro war zwischen den vielen Menschen gut zu sehen. Unglücklicherweise gab es allerdings auch echte Zuckerwatte und ich hatte mich bereits mehrmals beinahe auf die hüpfenden hellblauen Fasern in der Menge gestürzt.

„Siehst du sie?“, rief Bobby, als er sich aus der Menge in der Nähe einer Ringwurfbude schob. „Wie zum Teufel konnte sie dich abhängen, Prinzessin?“

Etwas mit meinem Halbbruder Ichi anzufangen hatte Bobby ausgesprochen gutgetan und bei mir für ein Magengeschwür gesorgt. Das war der Mann, der mich beim Boxen regelmäßig auf die Matte beförderte und mich in Grund und Boden laufen konnte, wenn wir joggten.

Schon vor Ichis Anwesenheit in seinem Leben war er eine Muskelmaschine gewesen, doch die Ernährungsgewohnheiten meines japanischen Bruders hatten auch das letzte bisschen Fett von Bobbys kraftvollem Körper gelöst oder er wollte so den über ein Jahrzehnt großen Altersunterschied zwischen ihnen ausgleichen. Jedenfalls war es frustrierend. Die Pflicht eines großen Bruders bestand darin, einem Typen die Zähne einzuschlagen, wenn er jüngere Geschwister schlecht behandelte. Bei Bobby hätte ich da nicht die geringste Chance gehabt, außer mir gelänge ein Überraschungsschlag … mit einem Kantholz.

Nun brüllte er mir über den beengten Fußweg hinweg etwas zu und erschreckte Leute mit seiner dröhnenden, knurrenden Stimme. Bobby bei einem Fall mitzunehmen war manchmal, als würde man einen Bären zu einer Teegesellschaft mitbringen und ihm befehlen, auf dem Tisch zu tanzen. Dabei hat niemand außer dem Bären Spaß.

Ich suchte die Menge ab und entdeckte den Kerl, der zuvor versucht hatte, mich zum Stolpern zu bringen. Er stürzte durch eine Gruppe von Kindern am Ende des Wegs und hatte anscheinend einen Freund mitgebracht. Sie waren eine Wand aus muskulösen Armen, gerunzelten Stirnen und bösen Blicken. Da sie verschiedene spaßig-fröhliche Jahrmarkt-T-Shirts trugen, ging ich davon aus, dass es sich um Dawns Arbeitskollegen handelte. Ihnen aus dem Weg zu gehen stand ganz oben auf meiner Liste – gleich nach dem Aufspüren von Dawn und dem Verlassen des Jahrmarkts.

„Da!“ Ich zeigte auf eine rüschenartige blaue Lockenpracht, die vor einer Wand aus Stofftieren auf und ab wippte. „Bei der Goldfischbude! Achte auf die Typen hinter uns!“

„Schnapp dir Dawn. Ich kümmer mich um die hier.“ Bobby reckte den Hals und setzte sich in Bewegung, um den in meine Richtung kommenden Trupp abzufangen. „Wir treffen uns am Auto!“

Irgendwann in den letzten fünf Minuten musste der Jahrmarkt mit einem Kauf-eine-Karte-bring-zehn-Leute-mit-Sonderangebot begonnen haben, denn wo ich soeben noch durch die Lücken zwischen den Menschen hatte sehen können, kam es mir nun vor, als liefe ich durch ein übergroßes Maisfeld. Der Geruch von Zucker und Erdnüssen lag so schwer in der Luft, dass er allein schon ausreichte, um bei mir einen Rausch auszulösen. Das auf den Wegen verstreute Heu war teilweise feucht, dunkel und klebrig durch verschüttete Getränke. Ich wich einem See von etwas Geschmolzenem aus, vermutlich Eiscreme und ein Kübel Eistee.

Ich hatte keine Bedenken dabei, Bobby zurückzulassen. Er musste sie nur so lange aufhalten, dass ich Dawn erwischen und ihr die Papiere in die Hand drücken konnte. Die Menge rempelte mich an, als sie begeistert auf die Ankündigung einer großen, ebenholzhäutigen Frau an einer Schießbude reagierte, dass es einen riesigen Rabatt bei der Anzahl benötigter Enten für die großen Preise gebe. Sie grinste mir von ihrem Platz auf der Theke schelmisch zu, denn sie wusste, dass sie es mir ein bisschen versaut hatte, und ich erwiderte das Grinsen, während ich weiterhin unbeirrt versuchte, dem erhöhten Fußweg zu entkommen und Dawn zu finden.

Als sich das Meer aus Menschen verlagerte, befreite ich mich mit einem Satz aus der Masse und japste nach jedem bisschen unberührter Luft, die in meine Lunge passte. Dawn schob sich gerade um eines der Fahrgeschäfte herum, wobei sie so schnell watschelte, wie es ihre Schuhe erlaubten.

Meine Beute war nun leicht zu entdecken. Selbst ohne die Haare hätte der übergroße Clownanzug mit den bunten Punkten dafür gesorgt, dass man sie hier in der freieren Umgebung unmöglich übersehen konnte. Die Besucherzahl nahm eindeutig sprunghaft zu und ich musste mich an einer Frau mit einer Horde Kinder vorbeischieben, deren Handgelenke von riesigen Ballons in Form von Zeichentrickfiguren in die Höhe gezogen wurden. Ein dicker Totoro traf meinen Kopf und streifte mein Haar, während mir das weiße Plastikgewicht am Ende seiner Schnur beinahe das Auge ausstach, als ich ihn zur Seite stieß.

Die Fahrgeschäfte schienen kein Ende zu nehmen und Dawn kam blindlings watschelnd nicht gut voran. Clowns waren bereits das absolut Beängstigendste der Welt, aber einer, der sich wie wahnsinnig mit starrem Grinsen durch Menschenschlangen kämpfte, war nur ein Fleischermesser von einem Horrorfilm entfernt. Ein Kind begann zu weinen, als Dawns Hand seinen Kopf traf, während sie hüpfend wie ein Pinguin vorbeieilte. Dann stimmte ein zweites ein und das große Klagen des Jahrmarkts fing richtig an.

Ich war mitten in einer Keystone-Cops-Verfolgungsjagd gelandet, die von einem Soundtrack mit gregorianischen Gesängen begleitet wurde.

Ellbogen bohrten sich in meine Rippen und beinahe hätte ich ein kleines Mädchen mit Zöpfen umgerannt. Das Plüscheinhorn, das sie an ihre Brust presste, drohte fortzuhüpfen und ich verlor wertvolle Sekunden, als ich sicherstellte, dass es in ihren Armen blieb. Ihre Mutter bedankte sich oder verfluchte mich – ich hatte sie nicht genau verstanden, hatte jedoch keine Zeit, um es herauszufinden.

Dawn kam besser voran als ich. Oder zumindest war das der Fall gewesen, bevor sie sich zwischen provisorischen Absperrungen mit den alle paar Meter angebrachten Worten „Kein Durchgang“ hindurchschob und der unebene Boden ihre Schritte behinderte. Ich schüttelte eine um mein Schienbein gewickelte Luftschlange ab und erreichte nur wenige Schritte hinter meiner Zielperson den umzäunten Bereich.

Jenseits der Lücke in der Absperrung drängte sich ein kleines Dorf aus Wohn- und Lastwagen so dicht zusammen, dass man zwischen einigen kaum hindurchgehen konnte. Der grünlich-verfaulte Geruch großer Tiere schlug mir entgegen und ich atmete keuchend durch meinen offenen Mund aus, um ihn zu überdecken. Er war stark, stark genug, um mir Tränen in die Augen zu treiben, doch ich sah nicht viel außer dem Rand eines improvisierten Paddocks und einem langen Anhänger, dessen Metallwände mit dem rot-gelben Logo des Jahrmarkts bemalt worden waren.

Ich war durch die Lücke getreten, als ein langer Schatten auf mich fiel. Schwere schwarze Stiefel traten knirschend in eine Ansammlung von Unkraut und ich sah auf und entdeckte einen der Klone mit Melone, der die Frisur von Bozo dem Clown trug. Dieser hier war so groß wie die anderen und sein krauser roter Haarschopf war beinahe so wild wie Dawns Perücke. Sein goldener Schneidezahn funkelte mich an, als er knurrte.

Es war, als stellte der Jahrmarkt diese Schlägertypen-Arschlöcher reihenweise her, wo sie auch Massen von Panhas und frittierten Küchlein zubereiteten.

„He, Sackgesicht. Du hast hier hinten nichts zu suchen“, bellte er. „Nur für Angestellte, Arschloch.“

„Sorry, Bozo, aber ich muss etwas mit der Dame da drüben klären.“ Ich nickte in Dawns Richtung, der es irgendwie gelungen war, an einem Erdspieß hängen zu bleiben. Sie zerrte an einem Bein ihres Einteilers, bis der Stoff riss, konnte sich jedoch nicht befreien.

„Kann nicht behaupten, dass mich das interessiert“, fauchte Bozo. „Soll ich dem Typen hier für dich sein hübsches Gesicht einschlagen, Dawn?“

„Nichts wie ran, Harvey!“ Ihre Stimme war Honig und Dunkelheit, ein süßes, melodisches Säuseln, bei dem Männer vier Mäuse die Minute bezahlt hätten, damit es ihnen schmutzige Dinge sagte. Sie zog erneut und diesmal gab der Spieß nach und löste sich aus dem Boden. Obwohl sich der hakenförmige Spieß im Stoff verfangen hatte, gab sie es auf, ihn daraus zu befreien. „Gottverdammter Mist!“

Ich warf Harvey, vormals als Bozo bekannt, einen misstrauischen Blick zu. Seine Hände waren so groß wie Neko, die Katze meines Freundes Jae. Und obwohl ich Jae versprochen hatte zu vermeiden, dass jemand auf mich schoss, war die Sache weniger klar, was eine direkte körperliche Auseinandersetzung betraf. Harvey holte aus, während Dawn einige Schritte machte, über ein Kabel stolperte und mit dem Gesicht in einem Haufen von etwas so Widerlichem landete, dass ich es riechen konnte, als sie die Oberfläche durchbrach.

Dawns blaue Perücke fiel ihr vom Kopf, als sie versuchte, sich aufzurichten, und Bozo betrachtete meine Abgelenktheit als eine Gelegenheit, mir die Zähne einzuschlagen.

Dem ersten Faustschlag wich ich aus. Er sauste an meiner Schläfe vorbei und prallte von meiner Schulter ab. Man musste wirklich „prallen“ sagen, denn seine Faust war wie Stein und erschütterte mein Schulterblatt und meine Wirbelsäule. Das Yoga, an dem ich mich seit einem Jahr mit Jae versuchte, half ein wenig beim Ausweichen, doch mein schmerzendes Narbengewebe hatte andere Pläne. Reine Pein schoss durch meinen Brustkorb und ich krümmte mich keuchend.

Wegen meiner Reaktion musste er mich für einen Profifußballer oder Ähnliches halten, denn er zögerte nicht, mich zu verhöhnen. „Ich hab dich nicht mal berührt!“

Wieder schoss seine Faust auf mich zu, um sich diesmal in meinen Magen zu rammen. Mir blieb die Luft weg und ich tat das einzig Vernünftige, was ich vornübergebeugt tun konnte. Ich boxte ihn in die Eier.

Anscheinend bestanden diese ebenfalls aus Stein, denn er zuckte kaum auch nur zusammen.

„Scheiß drauf“, knurrte ich, als er mein T-Shirt packte, um mich hochzuzerren. Ich konzentrierte mich auf seine Knie, holte weit aus, damit ich die Seiten seiner Beine erwischte, und warf mich mit meinem ganzen Gewicht nach vorn, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wir gingen zu Boden – beziehungsweise er ging zu Boden, da ich bereits fast dort war – und ich schlug erneut zu und zielte dabei auf eine Kniescheibe.

Unter meinen Fingerknöcheln knirschte etwas und er heulte auf. Zum Leidwesen meiner schon schmerzenden Seite wand ich mich und kämpfte darum, seinem Griff zu entkommen. Ein weiterer Schlag auf Harveys Kopf und er sackte zusammen, knallte mit dem Kinn auf den Boden.

Einige Meter entfernt saß Dawn in ihrem ganz persönlichen Haufen Scheiße und bemühte sich, ihre Schuhe auszuziehen. Ohne ihre Perücke wirkte sie noch verrückter, ein Mutant, der halb Clown und halb blondes Strandhäschen war, bekleidet mit einem übelkeiterregenden gepunkteten Jumpsuit und im Gesicht mit weißer Schminke beschmiert. Sie fluchte und hob eine Handvoll dampfenden Mist auf, vermutlich, um ihn in meine Richtung zu werfen, doch in diesem Moment bemerkte ich ein sehr flauschiges, extrem mürrisches Gesicht, das mich durch ein offenes Paddock-Tor nicht weit von Dawns rechter Seite prüfend betrachtete.

Genau genommen waren es mehrere, mehr als vier oder sogar fünf, aber es war schwer zu sagen, weil ihre Köpfe sich hin- und herbewegten. Sie waren groß, hatten lange Hälse und sahen mit ihren missmutigen pelzigen Gesichtern direkt in Harveys und meine Richtung. Ohne dass sich zwischen uns irgendetwas anderes als ein ehemals blauhaariger Clown befand.

Das Einzige, was ich über Lamas wusste, stammte aus einem Monty-Python-Lied. Sie waren definitiv größer als ein Frosch, aber hatten keine Furcht einflößenden Schnäbel oder Flossen zum Schwimmen. Insgesamt wäre ich enttäuscht gewesen, hätte es nicht diese Zeile darüber gegeben, wie gefährlich Lamas waren. Denn nach dem Ausdruck auf ihren dort versammelten Gesichtern zu urteilen, steckte Dawn in der Scheiße. Und ich möglicherweise auch.

„Scheiße! Wer hat das Tor offengelassen? Dawn, dreh dich um! Zeig ihnen nicht den Rücken!“ Harvey schrie vor Schmerzen, als er versuchte aufzustehen. Er plumpste wieder zu Boden, weil sein Knie unter ihm nachgab. „Oh Gott, mein Knie!“

Für Dawn war es zu spät. Die Lamas schienen vom Teufel persönlich geleitet zu werden. Ein riesiges schwarz-braunes Tier stürzte aus dem Paddock. Sein langes Fell war an den Enden von der Sonne karamellbraun gebleicht, doch in seinen Augen blitzte Blutdurst auf. Dawn war leichte Beute, mit Lamamist beschmiert und in ihren eigenen Schuhen verfangen.

Die anderen schienen damit zufrieden zu sein, umherzuspazieren, als wären sie ein Grüppchen Kung-Fu-Kämpfer, die darauf warteten, dass sie an der Reihe waren, sich auf die Hauptperson des Films zu stürzen. Oder wie Löwen, die abwarteten, bis der stärkste im Rudel sich an den besten Fleischstücken satt gefressen hatte, bevor sie sich im Kreis sammelten, um ihr Mittagessen zu verspeisen. Jedenfalls würde Dawn gleich über zweihundert Kilo wollige Wut kennenlernen.

Es hatte die Ohren angelegt, stromlinienförmig an seinen langen Schädel, und streckte seinen Kiefer vor, aus dem zwei breite Schneidezähne über seiner Unterlippe hervorragten. Als das Lama losstürmte, stieß es einen Schrei aus, um den Tarzan es beneidet hätte, und rammte Dawn mit seiner Brust.

Dawn, mit ihren ganzen sechzig Kilo, flog durch die Luft wie eine mistbeschmierte, gepunktete Bocciakugel und rollte über den heubedeckten Boden.

Dem missmutigen Gesichtsausdruck von El Lama Diablo nach zu urteilen, war ich sein nächstes Ziel.

„Okay, McGinnis, nicht umdrehen. Zeig ihm nicht den Rücken“, murmelte ich vor mich hin, während ich eine Schulter senkte, falls ich einen auf Kirk machen und mich aus der Gefahrenzone rollen musste.

Das Lama stampfte, senkte ruckartig den Kopf und wiegte sich von rechts nach links. Dann preschte er vorwärts und wollte sich auf Dawn stürzen, die einige Meter entfernt zu meiner Linken auf dem Rücken lag, heilt aber inne, als ich mich vor ihn schob. Aus der Nähe stank das Ding noch schlimmer, als ich für möglich gehalten hatte. Vielleicht war es nur sein Atem. Die Ernährung von roh verspeisten in Weiß gehüllten Jungfrauen mit Fava-Bohnen als Beilage konnte das mit einem Lama machen.

„Dawn, alles in Ordnung da hinten?“ Als Antwort bekam ich ein Stöhnen, war allerdings nicht sicher, ob es von Dawn oder dem nun außer Gefecht gesetzten Harvey stammte. Bei meinem Glück hatte ich die einzige Person beseitigt, die diese verdammten Dinger wieder in ihr Gehege treiben konnte. „Harvey! Was zum Teufel mache ich jetzt, Kumpel?“

Da zu meiner Rechten nur Stille herrschte, riskierte ich einen raschen Blick, ohne das Lama ganz aus den Augen zu lassen. Harvey lag in tiefer Ohnmacht ausgestreckt auf dem Boden. Gut zu wissen. Falls ich das Lamamassaker überlebte und Harvey jemals in einer dunklen Gasse begegnete, würden seine Knie aus Glas bestehen.

„Okay, dann sind es nur wir beide, Bucky.“ Ich war nicht sicher, ob ich Blickkontakt herstellen sollte. Bei Hunden hieß es da nein, aber Katzen gefiel es, wenn ihr Hausmensch ihnen gemächlich zublinzelte. Mit Pferden hatte ich abgesehen von einer Kutschfahrt durch New York wenig Erfahrung und das Lama schien nicht geneigt zu sein, mir irgendwelche Lamaflüsterer-Geheimnisse mitzuteilen.

Das Ding war groß. Obwohl ich nicht klein war, über eins achtzig, starrte mir das Lama direkt in die Augen. Hautnah. Persönlich. In seiner ganzen stinkeatmigen Bösartigkeit. Dann spuckte er, riss mir mit der klebrigen Kugel beinahe den Kopf ab. Also hörte ich auf mein Bauchgefühl zum Umgang mit einem erzürnten, spuckenden Höllenbiest.

Ich entschied mich für ein Lied. „You Are My Sunshine“, um genau zu sein.

Ich bin nicht der beste Sänger der Welt. Verdammt, ich würde mich nicht einmal unter den besten fünf Milliarden sehen, aber ich traf die Töne. Zumindest gut genug für ein Lama. Ich konnte mich lediglich an den Refrain erinnern, was für den pelzigen Höllendämon jedoch ausreichend zu sein schien. Einige Kreise mit seinem Kopf und ein kräftiger Stoß mit der Brust, nach dem meine Rippen noch heftiger schmerzten, doch dann richteten sich seine Ohren auf.

Vermutlich hielt er mich für verrückt, aber seine Zähne sahen scharf und lebensgefährlich aus. Mir von etwas, das Satans haarige Eier hervorgebracht hatten, das Gesicht abbeißen zu lassen, war nicht die Art, auf die ich diese Welt verlassen wollte. Dafür hatte ich bereits Pläne gemacht. Nach einer langen Runde Alte-Männer-Sex mit Jae dahinzuscheiden war der letzte Eintrag auf meiner To-do-Liste fürs Leben.

Das Lama stampfte verärgert und verständigte sich dann durch Zwitscherlaute mit seinen Brüdern. Die Herde … der Schwarm … die Abrechnung – wie auch immer man eine Gruppe von Lamas nennt – antwortete murmelnd und bewegte sich unruhig hinter ihrem teuflischen Anführer. Das beschworene Höllenwesen trat zurück, entfernte sich schlurfend einen halben Meter und wandte mir die Schulter zu. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, denn ich hatte noch eine ganze Reihe Refrains angestaut wie eine sonnige Sammlung von Rosenkränzen, als wollte ich einen Vampir abwehren.

Es schien zu funktionieren. Was gut war, denn mein Hals fühlte sich rau an und ich machte mir Sorgen um Dawn. Harvey musste allein zurechtkommen. Ich hätte seine Hilfe bei den verdammten Lamas gebrauchen können, aber er war weggetreten wie ein Dreijähriger, der den Rausch einer Ein-Kilo-Tüte M&M’s ausschlief.

Das Lama aus der Hölle trabte davon, um in der Innenstadt von Los Angeles zu randalieren oder ein Bier mit seinen Kameraden zu trinken. Jedenfalls begab er sich wieder in den Paddock und meine Kehle war rauer als die eines Blowjobsüchtigen.

Noch ein letztes Mal sang ich „Sunshine“. Dann schlug mir Dawn mit einer Schaufel ins Gesicht.

 

 

„TJA, ZUMINDEST ist deine Nase nicht gebrochen.“

An seinen Trostworten musste Bobby arbeiten. Ich schmeckte noch Blut, doch mein rechtes Nasenloch schien wieder zu funktionieren.

„Und, he, ich konnte ihr die Papiere übergeben. Immerhin.“

„Ja, immerhin.“ Ich nahm das Handtuch von meinem Gesicht. Da ich zufrieden feststellte, dass es sauber war und mein Nasenbluten aufgehört hatte, knüllte ich es zusammen. „Beschissene Lamas.“

„Verdammte Clowns“, verbesserte er mich, als er vor meinem Haus anhielt. „Da sind wir, Prinzessin. Zeit zum Aussteigen, damit ich nach Hause fahren und es mit deinem Bruder treiben kann.“

Mein Blut, oder was davon zurückgeblieben war, kochte.

Da mich Bobby immer noch fertigmachen konnte und Ichi ihn liebte – aus welchem Grund auch immer –, sagte ich nichts, sondern stieg aus Bobbys Pick-up.

Allerdings knallte ich die Tür so fest wie möglich zu, was das halb offene Fenster zum Klirren brachte.

„Vorsicht, Prinzessin. Ich mag ein Opa sein, aber ich kann dich immer noch erledigen“, knurrte er.

„Klar, Opa. Ich kann dir nichts anhaben, du kannst mir nichts anhaben. Geht in beide Richtungen, alter Mann“, erwiderte ich sein Necken. „Danke fürs Herbringen.“

Kurz blieb ich im von ihm aufgewirbelten Staub stehen und nahm den frühen Abend in mich auf. Das alte zweistöckige Craftsman-Haus, das ich nach dem Erleiden der Schussverletzungen gekauft hatte, stand stolz auf seinem großen Grundstück. Die unzähligen Stunden, die ich mit der Renovierung verbracht hatte, waren jede Sekunde und jeden vergossenen Blutstropfen wert gewesen. Das Haus wurde von großen Eichen und Rotahornen eingerahmt und die Hecken im Vorgarten hatten sich von ihrem Brand erholt. Ich hatte ein Stück der riesigen Wohnfläche für ein Büro abgeteilt und ein Weg führte zu dem Teil, der mein Heim darstellte – ein Heim, das ich mit Jae teilte.

Jae, der soeben über den Bürgersteig auf mich zukam.

Er raubte mir schlicht den Atem.

Da er in Amerika geboren, aber koreanisch bis ins Mark war, hatte sich das Zusammensein mit mir für ihn als Kampf erwiesen. Die Ablehnung seiner Kultur gegenüber Homosexuellen und dass seine Familie ihn verstoßen hatte, waren für ihn enorme Hürden. Ich hatte mich bemüht, ihn nicht zu drängen, aber ich hatte ihn gewollt. In meinem Leben. In meinem Bett. In meinem Herzen. Praktisch von der ersten Sekunde an hatte ich mich ihm vollkommen verschrieben. Ich muss wahrscheinlich nicht erwähnen, dass einige Zeit und eine Menge Herzschmerz nötig gewesen waren, bis Jae beschlossen hatte, dass er mich ebenfalls liebte.

Gott sei Dank, denn ich hätte es nicht ertragen können, erneut jemanden zu verlieren, in den ich mich verliebt hatte – vor allem, weil ich dann hätte zusehen müssen, wie er mich verließ.

Jae war eine verführerische, sinnliche Ansammlung von Muskeln und Schönheit. Sein schwarzes Haar war nun länger als bei unserer ersten Begegnung und er hatte es zu einem Pferdeschwanz am Ende seines eleganten Nackens zusammengefasst, wodurch seine hohen Wangenknochen und vollen Lippen freigelegt wurden. Seine honigbraunen Augen waren warm, voller Liebe.

Und etwas anderes lag in ihnen, etwas Besorgtes und ich fragte mich, ob Bobby ihn angerufen hatte, um ihn zu warnen, dass ich einen Schlag mit einer Schaufel von einem Clown abbekommen hatte.

„Hi, Agi“, murmelte ich und küsste ihn.

Er lachte in meinen Mund, amüsiert über mein liebevolles Verhunzen eines Koseworts.

„Deine Nase, Cole.“ Jae löste sich von mir und strich mit den Fingern über mein Gesicht. „Warum machst du immer alles mit dem Kopf zuerst?“

„Erinnere mich daran, dass ich dir von dem Lama erzähle“, antwortete ich. Die Sorge spiegelte sich immer noch in seinen Augen wider und ich zog ihn an mich. „Was ist los, Jae? Was ist passiert?“

„Das Tierheim hat angerufen. Vor ungefähr einer halben Stunde.“

„Warum? Ist Neko ausgebrochen und wie Godzilla durch die Nachbarschaft getobt?“ Da es etwas wehtat, die Stirn zu runzeln, bemühte ich mich, die Falten zu glätten.

„Okay, nicht lustig. Du lachst nicht. Warum sollten sie uns anrufen?“

„Sie haben nicht uns angerufen. Sie haben dich angerufen. Und Rick.“ Jaes Stimme war ausdruckslos, leicht zittrig. „Sie haben angerufen, um zu sagen, dass sie euren Hund gefunden haben.“

2

 

 

DAS HAUS – unser Haus – war warm und einladend. Obwohl ich den vorderen Teil als Büro abgetrennt hatte, hätte man im geräumigen Rest problemlos eine vierköpfige Familie unterbringen können. Oder zwei schwule Männer und eine winzige, anspruchsvolle schwarze Katzendiva.

Die schwarze Katze, die nun mit den Pfoten meinen Schoß bearbeitete, als wollte sie aus minderwertigem Garn einen Knüpfteppich herstellen.

Der Anruf hatte Jae beim Kochen des Abendessens erreicht, offenbar nicht lange, bevor Bobby mich abgesetzt hatte. Auf dem Schneidebrett lag noch halb zerkleinertes Gemüse, doch den Ofen hatte er ausgestellt und abkühlen lassen, was auf der Platte schon dabei gewesen war zu kochen.

Dieses Gespräch hatte er nicht auf der Straße führen wollen – nicht vor den Hipstern, die im unkonventionellen Café gegenüber mit ihren Tassen klapperten, oder der neugierigen alten Frau einige Häuser weiter, die häufiger mit ihrem Hund spazieren ging als nötig. Oft war ich beinahe versucht, ihr einen dieser Spielzeughunde auf Rädern zu kaufen, damit sie den umherzerren konnte, während ihr alternder Basset Hound sich zu Hause ausruhte.

All das hatten wir draußen gelassen und ich war ins Haus gekommen, um die Stücke meiner Vergangenheit hinunterzuwürgen. Das Problem war nur, dass der mir servierte Teller überquoll und ich nicht wusste, welchen vergifteten Bissen ich als Erstes essen sollte.

„Erzähl mir, was man dir gesagt hat.“ Ich begann mit dem Wesentlichen. Wir hatten uns ins Wohnzimmer zurückgezogen und Jaes Katze hatte sich untypischerweise meinen Schoß als Sitzplatz ausgesucht. Vielleicht spürte sie bei ihrem Lieblingssklaven eine Kaltfront und hatte sich für meine Wärme entschieden. „Sie haben unseren Hund gefunden. Wo? Wer hat ihn – sie – gefunden?“

Es handelte sich um eine Sie. Das wusste ich einigermaßen sicher. Es war so lange her und den Hund hatte ich nicht im Gedächtnis behalten. Damals war sie mir wie eine weitere in meiner Psyche lauernde Zeitbombe vorgekommen und ich war halb dankbar und etwas verärgert gewesen, weil man sie mir weggenommen hatte.

Jetzt war ich ganz verärgert, denn anscheinend war sie im Stich gelassen worden.

Als Jae sich neben mich setzte, war ich verwirrt. Nicht unglücklich, aber verwirrt. Dass er sich zu mir setzte, war schön. Eindeutig ein gutes Zeichen dafür, dass er nicht wütend auf mich war. Manchmal konnte man es schwer einschätzen. Sein Gesicht tendierte zu schön, aber reserviert, mit einem seltenen heiseren Lachen oder lieblichen, trägen Lächeln, um mir das Herz zu wärmen. Das hier belastete ihn. Die Ausdruckslosigkeit seines Gesichts verriet es mir. Verdammt, der Hund. Ricks Hund. Es war beinahe zu viel, um es ertragen zu können.

„Eine Gruppe von Tierrettern hat sie vor einigen Tagen an den Bahngleisen in Torrance gefunden. Sie war in schlechtem Zustand. Hungrig. Sehr schmutziges, verfilztes Fell. Sie haben sie zu einem Tierarzt gebrach, der sie nach einem Chip gescannt hat.“ Jae wandte sich mir zu und schlug die Beine übereinander, um seitwärts auf der Couch zu sitzen. „Ein Tierheim wurde verständigt und von dort hat jemand hier angerufen und nach Rick gefragt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Anscheinend habe ich mich jetzt ein Jahr lang am Telefon eines toten Mannes gemeldet.“

Das hatte ich verdient. Größtenteils. Es hatte gute Gründe gegeben … damals. Nun stellte ich sie ernsthaft infrage.

„Es ist gut, dass die Nummer dieselbe ist.“ Jae musterte mich mit einem Spiegelbild des Blicks, den mir seine Katze häufig zukommen ließ. „Aber du hast hier nicht gewohnt, als Rick gestorben ist. Du hast das Haus später gekauft, aber die Nummer behalten. Mich verwirrt ein bisschen die Frage, warum. War es dir wichtig, sie zu behalten?“

„Hauptsächlich weil ich … Scheiße …“ Ich rieb mir das Gesicht, das von der Jagd über den Jahrmarkt noch ein wenig klebte. „Ich wollte nicht … Ich habe wohl irgendwie gehofft, dass Ricks Familie … oder Bens Familie … es sich anders überlegen und aufhören würden …“

Es gab keine Worte für die Leere, die sich damals in meinem Innern befunden hatte. Meine ganze Welt hatte aus Rick, Ben und Sheila bestanden. Mike und ich waren jahrelang entfremdet gewesen und die Freundschaft zu Bobby hatte sich erst nach den Schüssen entwickelt. Meine Freunde waren größtenteils Ricks Freunde gewesen und einen anderen Bruder als Ben hatte ich nicht gebraucht. Ich war in einem Hagel aus Feuer und Schmerz gestorben und nachdem man mich wiederbelebt hatte, war der Garten, den ich mir erschaffen hatte, verschwunden gewesen und ich hatte in einer verwüsteten, grenzenlosen Schwärze gestanden.

So hatte ich mich an das Einzige geklammert, das mir noch geblieben war … ein Funken Hoffnung, dass irgendjemand – irgendetwas – aus meiner Vergangenheit die Hand ausstrecken und mich wieder in der Welt verankern würde, die ich verloren hatte.

„Es klingt dumm, das weiß ich“, gab ich zu. „Aber ich wollte ihren Familien die Möglichkeit geben, mich zu erreichen. Ich schätze, ich wollte nicht verschwinden. Auch wenn ich das Gefühl hatte, dass sie mich aus ihrem Leben ausradierten, war ich noch nicht bereit sie loszulassen. Nach einiger Zeit habe ich es dann vergessen. Es hat wohl keine Rolle mehr gespielt. Nicht ein einziges Mal … Ich habe nie wieder von einem von ihnen gehört. Nicht, bis Sheila diesen Weg betreten hat.“

Ich ließ den Teil mit ihrem Mordversuch an Jae aus, doch wir waren beide dort gewesen. Es musste nicht wiederholt werden.

„Das kann ich verstehen.“ Jae nickte und sein Gesicht löste sich aus seiner Starre. Seine Hand streichelte meinen Oberschenkel, eine stille Bestätigung seiner Anwesenheit. Neko verstand es als Zeichen der Verehrung und rieb ihr winziges Gesicht an seinen Fingerknöcheln. „Das tue ich, Cole-ah. Es war nur … ein Schock, verstehst du? Ich war nicht … darauf vorbereitet. Die wichtigere Frage ist: Was machen wir mit dem Hund?“

Wir. Nicht du. Wir.

Ich wusste nicht, was wir mit dem Hund machen sollten. Sie war bei Ricks Tod noch beinahe ein Welpe gewesen, zumindest erinnerte ich mich so an sie. Ich hatte Mike gebeten, dafür zu sorgen, dass sich jemand um sie kümmerte, als ich aus dem Koma aufgewacht war und er hatte versichert, ich müsse mir keine Sorgen um sie machen. Erst später in dieser Woche hatte ich festgestellt, dass Ricks Eltern hereingerauscht waren, um ihn aus meinem Leben zu tilgen … aus unserem Haus … und auch den Hund mitgenommen hatten.

Ich konnte mich nicht einmal an ihren Namen erinnern.

„Wie zum Teufel ist sie nach Torrance gekommen?“ Das war natürlich das Erste, was aus meinem Mund kam. „Ricks Familie wohnt nicht einmal in Kalifornien. Verdammt, glaubst du, sie haben sie ausgesetzt? Und sie wurde erst jetzt gefunden?“

Das ganze Ausmaß dieses Hundes ragte über mir auf. Sie war mehr als ein kleiner Fellball. Sie war der verdammte Anker, auf den ich damals gehofft hatte, als ich gebrochen gewesen war und nun … als ich den Mann anstarrte, den ich liebte, und die Katze, die ich mit bloßen Händen aus einem durch eine Explosion zerstörten Gebäude befreit hatte … wusste ich nicht, was ich mit der plötzlichen Rückkehr meiner Vergangenheit anfangen sollte.

Eines Ankers, den ich nicht erwartet hatte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Jae leise. „Aber da war sie.“

„Wir sollten zumindest ihre Tierarztrechnung bezahlen“, wagte ich mich vor. Mein Bauch sagte mir, was ich tun sollte, während mein gesunder Menschenverstand mir zubrüllte, mich von der ganzen Sache zu distanzieren. Ich wollte nicht, dass die Vergangenheit sich aus ihrem Grab erhob und mein Gehirn fraß. Mit den Lebenden hatte ich schon genug Probleme. Da mussten mich nicht auch noch die Toten heimsuchen. „Gott, Jae. Ich fühle mich … Scheiße … Es tut mir leid, aber ich fühle mich verantwortlich. Ich muss mir das überlegen. Aber die Rechnungen … die bezahle ich …“

„Das habe ich schon getan“, murmelte Jae sanft. „Ich habe dem Tierarzt meine Kreditkartennummer gegeben, um die Rechnung zu bezahlen. Er will sie noch einen Tag dabehalten und dann kann sie abgeholt werden.“

„Ich … danke.“ Es überraschte mich nicht. Nicht ernsthaft. Jae war ein guter Mensch. Es war einer der Gründe, aus denen ich ihn liebte. „Das wäre nicht nötig gewesen. Ich hätte …“

„Es ist, was du gewollt hast. Ich musste nicht darüber nachdenken. So ist es doch.“

Er tätschelte mein Bein und lächelte, als ich ein entrüstetes Brummen ausstieß.

„Wir können sie morgen ab elf Uhr abholen.“

„Sie abholen? Du meinst, sie herbringen?“ Mein Bauch vollführte einen Freudentanz und mein gesunder Menschenverstand schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, obwohl er gewusst haben musste, was Jae tun würde. „Das ist in Ordnung für dich? Weil …“

„Weil ich dich kenne, Cole-ah. Du könntest diesen Hund genauso wenig im Stich lassen wie Neko. Du bist im Innern gut. Du rettest Dinge … Menschen.“ Sein Mund war wie ein warmes, weiches Summen auf meinen Lippen. Dann löste er sich wieder. „Ich habe dem Tierarzt gesagt, dass wir sie abholen. Jetzt mache ich das Essen fertig und du gehst dich waschen. Du stinkst nach Scheiße.“

 

 

DAS GEFÜHL der Betäubung, in das ich mich gehüllt hatte, seit von Jae Ricks Name ausgesprochen worden war, hielt an, bis mich das warme Wasser aus dem Duschkopf traf. Dann zersplitterte meine Welt, durchschnitt mit ihren scharfen Kanten meine Vernunft und ließ mich weinend auf dem Fliesenboden der Dusche zurück.

Der Schmerz war wieder da. In meinem Herzen. Tief in meiner Seele.

Es war so verdammt dämlich. Ein Hund. Das Auftauchen dieses blöden, verdammten Hundes brachte mich zu dieser Nacht zurück, als ich jede einzelne Person verloren hatte, die mir lieb gewesen war.

Und das heiße Wasser fühlte sich auf meiner Haut an wie Blut.

Ich konnte meinen Verstand nicht daran hindern, wieder in die Erinnerungen an diese Nacht einzutauchen. Bruchstücke von Gerüchen und Gesichtern blitzten in meinem Gehirn auf, ein flackerndes Zoetrop aus Bildern, die ich nicht sehen wollte. Ich wollte mich nicht an den letzten Kuss erinnern, den ich Rick gegeben hatte, an das Gefühl seiner Lippen auf meinen, oder die Geräusche von Plaudereien und dem Klirren des Geschirrs im Außenbereich des Bistros.

Mein Körper trug noch immer die Spuren von zerfetzendem Metall. Ich musste sie wirklich nicht noch einmal spüren, doch der verdammte Hund brachte alles wieder an die Oberfläche. Die Schmerzen waren unglaublich gewesen und ich erinnerte mich daran, wie ich Gott gefunden hatte, als Rick in meinen Armen erschlafft war, sein Mund sich mit gluckerndem Blut gefüllt hatte und das Leben langsam aus seinem grasgrünen Blick gewichen war – eine harmlose kleine Lüge, die er mit farbigen Kontaktlinsen erzählt hatte. Ich hasste den Gedanken, mich nicht an seine echte Augenfarbe zu erinnern, doch dann entsann ich mich ihres arglosen Haselnussbrauns. Ich hasste mich mit der Kraft von tausend feurigen Sonnen, weil unser letzter Kuss nach Blut geschmeckt hatte.

Ich hatte begriffen, dass wir von Schüssen getroffen worden waren. Ich hatte den Knall gehört, das Aufblitzen gesehen, dann die schrecklichen Schmerzen gespürt. In diesen ewig andauernden Sekunden, in denen die Kugeln unsere Körper durchbohrt hatten, hatte ich gewusst, dass wir tot waren. Aus dem Augenwinkel hatte ich Ben im Auto gesehen und den Mund geöffnet, um ihn anzuflehen, in Deckung zu gehen, zu fliehen, denn jemand tötete Rick und mich … denn ich wollte nicht, dass er starb. Ich wollte nicht, dass auch mein bester Freund Ben starb.

Ein weiteres Aufblitzen und weiteres donnerndes Krachen war nötig, damit ich begriff, dass es Ben war, der mich tötete. Mein Ben. Mein eigener verdammter Bruder im Dienst und darüber hinaus.

Das schmerzte mehr als jede Kugel, doch ich versank in der Dunkelheit, bevor ich dem Schwanz dieses giftigen Drachens tiefer in meine Seele nachjagen konnte.

Die Risse meiner Vernunft begannen in meinem Gesicht, ließen die Maske der Taubheit zerspringen, die ich ohne mein Wissen unten im Wohnzimmer angelegt haben musste. Etwas Scharfes durchstach meine Brust, Scherben eines gebrochenen Herzens, die ich jahrelang verborgen hatte.

Ich hielt mich an der Wand der Dusche fest, vergrub meine Fingernägel in einem schmalen Streifen Mörtel und befahl mir mich zusammenzureißen, doch der tiefe Schmerz war zu stark, um gegen ihn anzukämpfen und er stieg in mir auf, eine Flamme kalten Feuers, die sich aus dem dunklen Ort befreite, an dem ich sie versteckt hatte.

Die Tränen in meinen Augen waren kochend heiß, wärmer als das auf meine Haut prasselnde Wasser. Mein Atem blieb an einem Schluchzer hängen, den ich unterdrücken wollte, aber der Laut entkam mir trotzdem, ein kindischer, wimmernder Schrei, den ich nicht hinunterschlucken konnte.

Ich wollte nicht weinen. Ich wollte die zwei Männer, die ich verloren hatte, nicht aufs Neue betrauern. Aber der Hund – Ricks verdammtes Tier – befreite die von mir begrabenen Dämonen und sie kehrten mit Getöse zurück, begierig auf jedes Stück meines Verstandes, das sie sich einverleiben konnten.

„Ihr Wichser. Blöde, verdammte Hurens…“ Es gelang mir nicht, die heftigen, quälenden Schluchzer zu unterdrücken. Sie schüttelten mein Rückgrat, zogen meinen Bauch um die Narben herum zusammen und bohrten Tausende kleine Messer in meine Eingeweide.

Ich wusste nicht, auf wen ich wütend war. Nein, das war eine Lüge. Ich hatte genug davon, mich selbst zu belügen. Ben – ich hatte Ben beinahe so sehr geliebt wie Rick. Vielleicht mehr, weil wir einander nicht behutsam ausgleichen mussten. Wir mussten nicht an Kompromissen zu verdammten weißen Geschirrtüchern arbeiten oder den Überblick darüber behalten, welchen anderen Paaren wir eine Einladung zum Essen schuldeten. Wenn ich bei Ben war, musste ich mir keine Sorgen um Geburts- oder Jahrestage machen. Stattdessen hatte ich in ihm einen Bruder gefunden, der meinen Freund in seinem Leben willkommen hieß, als wäre Rick ein Teil von mir.

Nicht wie Mike. Nicht wie jedes verdammte freundliche Wort, das ich bei Mike über alle Männer, mit denen ich je zusammen gewesen war, aus ihm hatte herauspressen müssen.

Die Verbitterung wog zu schwer, um sie noch länger mit mir herumzutragen. Ich hasste sie dafür, dass sie mich verlassen hatten. Hasste sie noch immer dafür, dass sie zusammen gestorben waren. Hasste es, dass Ben mir Rick genommen hatte. Und ich hasste Ben am meisten dafür, dass er mir sich selbst genommen hatte.

So sehr ich mich selbst dafür hasste, überlebt zu haben.

Ich schlug mit der Faust gegen die Fliesen, denn ich brauchte das unnachgiebige Geräusch von Stein, um mich daran zu erinnern, dass ich lebte. Ich wollte alles um mich herum niederreißen, denn ich verabscheute die Welt dafür, dass sie sich weiterdrehte, während mein eigenes Leben plötzlich zum Stillstand gekommen war. Und als es sich gerade anfühlte, als hätte ich wieder ins Licht gefunden, starb ich von Neuem.

Der Boden der Dusche war hart für meine Knie, als ich stürzte, und der Aufprall auf Stein zerrte an dem Bluterguss, den ich mir irgendwann bei der Verfolgung von Dawn über den Jahrmarkt zugezogen hatte. Ich erhob mich in die Hocke, presste meine Schulterblätter gegen die Glastür der Dusche und weinte.

Es tat so weh. Es tat immer noch weh. Wie die Schuldgefühle, die mich von innen her auffraßen. Weil ich lebte. Weil ich Jae liebte. Weil ich mich überhaupt wieder verliebt hatte.

Mich selbst hasste ich am meisten. Denn Jae … Jae hatte mich verdammt noch mal wieder zum Fühlen gebracht. Jae, der die Bruchstücke meines Herzens nahm, die ich auf einem blutbespritzten Parkplatz zusammengekratzt hatte, und sie widerstrebend zusammensetzte, damit er es lieben konnte. Ich war wütend – so verdammt wütend – darüber, dass ich Jae liebte, nachdem Rick dort unter mir gestorben war, und fühlte mich nun, als hätte ich Rick im Stich gelassen, als hätte er mir nie etwas bedeutet. Nicht das, was Jae mir jetzt bedeutete.

Die sich öffnende Tür beförderte mich beinahe auf den Badezimmerboden. Dann schlüpfte Jae zu mir hinein unter das Wasser und kniete sich in meinen Schmerz.

„Cole-ah.“ Jaes abgetragene Jeans färbte sich dunkel, als das Denim sich mit Wasser vollsog.

Meine Augen brannten vom Weinen und ich konnte die aus meiner Brust hervorbrechenden Schluchzer nicht stoppen. Ein Krampf zog sich schmerzhaft an meinen Rippen und meiner Brust entlang, weil die Narben von Bens Verrat sich spannten, als ich versuchte, mich von Jae abzuwenden.

Seine Berührung brannte beinahe so heiß wie meine Tränen.

„Nicht …“ Ich wusste nicht, wovon ich ihn abhalten wollte. Mich zu umarmen? Gott, wenn ich jemals jemanden gebraucht hatte, der mich festhielt, dann war es jetzt. In diesem Augenblick, als ich zerbrach wie ein zu heißes Stück Glas, das von eiskalten Erinnerungen berührt wurde, da hätte ich Jaes Berührung begrüßen sollen.

Doch ich konnte es nicht. Es fühlte sich falsch an, den Trost seiner Hände zu spüren, die über meine nackten Schultern glitten, oder den seiner Finger, die durch mein nasses Haar kämmten und es mir aus dem Gesicht strichen. Er war kräftig. Obwohl ich einige Pfund Muskeln mehr hatte, besaß Jaes schlaksige Gestalt eine granitharte Entschlossenheit. Er zog mich an seinen gebeugten Körper und hielt mich fest, schlang seine Arme um meine Schultern und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.

Ich wollte protestieren, wollte ihn von mir stoßen, doch meine Seele klammerte sich an ihn und mein Körper gab nach.

Ich packte Jaes T-Shirt und schloss meine Finger um den Stoff, bis meine Fingerknöchel schmerzten, weil ich sie so heftig anspannte. Meine Gelenke brannten wie Feuer, nachdem ich so lange dort gehockt hatte, und irgendwann war das Wasser kalt geworden.

Ich weinte heftiger und war dankbar, dass sich der Wasserstrahl nicht mehr wie Blut anfühlte. Es überraschte mich, dass er sauber schmeckte, dass er als Strom der für Los Angeles typischen chemischen Schalheit durch meine Kehle rann und nicht wie der sengende metallische Schwall, mit dem ich gerechnet hatte.

„Alles ist gut, Hyung“, flüsterte Jae mir durch das beruhigende Rauschen des Wassers zu. „Ich bin hier. Wir sind hier. Jetzt. Und alles wird gut. Das verspreche ich dir.“

Er sagte andere Dinge auf Koreanisch. Hätschelnde, besänftigende Dinge, die ich normalerweise nur tief in der Nacht hörte, nachdem wir uns geliebt hatten. Im hellen Licht des Badezimmers wirkten die Worte beinahe profan, ein zu intimer Stich der Zuneigung an einem Ort, an dem ich mein Herz zu Stücken zermalmt hatte.

„Saranghae-yo, Jae-Min.“