Disruptive Thinking - Bernhard von Mutius - E-Book

Disruptive Thinking E-Book

Bernhard von Mutius

4,9

Beschreibung

Ein Gespenst geht um in Europa: die Disruption. Unsere Welt ist unsicher geworden. Wir spüren das auf allen Ebenen. Nicht nur in der Wirtschaft, wo innovative Start-ups herkömmliche Geschäftsmodelle und damit die Existenz etablierter Unternehmen infrage stellen. Auch im gesellschaftlich-sozialen Bereich erleben wir derzeit gravierende Umwälzungen. Umwälzungen, die unser gewohntes Erfahrungswissen auszuhebeln imstande sind. Wir erleben den Übergang von einer alten in eine neue Welt. Dabei geht es um viel mehr als um die bloße Digitalisierung der verschiedenen Lebensbereiche: Es geht um die Grundlagen unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens selbst. Zukunftsdenker und Unternehmensphilosoph Dr. Bernhard von Mutius leistet mit seinem neuen Buch einen wertvollen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Umbrüche, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Er fordert nichts weniger als ein völlig neues Denken: Disruptive Thinking. Ein Denken, das sich zum Ziel setzt, eine neue Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und auf diese Weise Gestaltungsfreiheit zu gewinnen. Disruption ist nichts, was bald wieder vorbei sein wird. Wir müssen lernen, dauerhaft mit Brüchen umzugehen. Wir müssen die Brüche in unser Denken integrieren, im Wissen das Nichtwissen immer schon mitdenken und Widersprüche produktiv machen. So entsteht eine kreative Revolution, die alle Lebensbereiche umfasst und zukunftsfähig macht.

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BERNHARD VON MUTIUS

Disruptive Thinking

Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist

Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-790-3

ISBN epub: 978-3-95623-507-8

Lektorat: Anke Schild, Hamburg

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfotos: Sven Paustian und Richard Pichler

Grafiken und Layoutkonzept: Matthias Boie

Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

Copyright © 2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2017 erschienenen Buchtitel "Disruptive Thinking" von Bernhard von Mutius, ©2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

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Inhalt

Zum Einstieg: Ist die Welt aus den Fugen?

1.

Wissen und Nichtwissen

Das disruptive Spiel beginnt

Was nun?

2.

Routinen und Nichtroutinen

Die kreative Revolution erfasst die Organisation

Was tun?

3.

Maschinen und Menschen

Wer bestimmt über unsere Zukunft?

Wie weiter?

Dank

Literatur

Der Autor

Zum Einstieg

Ist die Welt aus den Fugen?

Ein Gespenst geht um in Europa. Und nicht nur dort. In den Konferenzräumen von Konzernzentralen, in den Redaktionen der Wirtschaftsmagazine, in den Köpfen von BWL-Studenten und ehrgeizigen Start-up-Aktivisten. Nein, es geht nicht um eine Ideologie des 19. Jahrhunderts. Es ist eine Idee des 20. Jahrhunderts, die sich jetzt im 21. Jahrhundert unheimlich rasch auszubreiten beginnt. Es ist die Disruption.

Dabei sind manche – wie das Wort »disruptiv« schon andeutet – hin- und hergerissen. Auf der einen Seite sind sie insgeheim entzückt, wenn sie erfahren, wie es andere zerreißt, insbesondere Konkurrenten. Zuerst Kodak, dann Nokia, vielleicht als Nächstes einen bekannten Energiekonzern oder eine große Bank oder ein Automobilunternehmen mit weltweitem Renommee? Auf der anderen Seite zittern sie, dass es möglicherweise sie selbst treffen, zerreißen, zerstören könnte …

Davos, Januar 2016. Wie jedes Jahr trifft sich die internationale Elite aus Business und Politik, um sich über relevante Themen der Zeit auszutauschen. Offiziell ist das Leitthema der diesjährigen Zusammenkunft die sogenannte vierte industrielle Revolution. Inoffiziell sprechen die meisten vor allem über ein Thema, das schon bei den letzten Treffen im Raum war, jetzt aber auf der Agenda der Aufmerksamkeit ganz oben steht: »Digital disruption is at the heart of all the conversations. Business leaders tell me that they are intent on disrupting before they are disrupted«, schreibt Pierre Nanterme, CEO der Beratungsfirma Accenture in seinem Blog am 17. Januar 2016. Ajay Banga, Präsident und CEO von MasterCard, bringt auf den Punkt, was in Davos viele empfinden: »The threat of disruption is a fear for most people.«

Was aber ist mit all dem gemeint? Geht es »nur« um »disruptive Innovationen«? Also um das, was Clayton M. Christensen einmal so beschrieben hat: »die Chancen digitaler Technologien nutzen«? Und wenn ja, wie weit oder wie eng sollte dieser Begriff gefasst werden? Entstehen disruptive Innovationen ausschließlich »in neuen Märkten und unteren Marktsegmenten«, wie Christensen sagt? Oder auch in anderen? Wer will der menschlichen Erfinderkraft gebieten, wie sie sich zu verhalten hat?

Aber vielleicht geht es gar nicht nur um technische Innovationen oder Produktinnovationen, sondern auch um soziale Innovationen – in der Arbeit und Zusammenarbeit, in Führung und Organisation, im Lernen und in der Bildung?

Doch möglicherweise ist auch das noch zu eng gedacht? No Ordinary Disruption heißt eine Studie aus dem Hause McKinsey. Darunter werden »Urbanisation, beschleunigter technologischer Wandel, demographischer Wandel und die stärker werdende globale Vernetzung« gefasst. Man fragt sich zwar, was daran nicht »ordinary« ist. Aber die gesellschaftliche Dimension des Themas ist damit in der Diskussion. Auch dies schien in diesen Januartagen in der Region Davos auf. Den Kongressteilnehmern wurde – wie jedes Jahr – eine weltweite, repräsentative Studie zum Thema Vertrauen präsentiert: »Politiker und Eliten haben das Vertrauen verspielt«, lautete die Meldung der FAZ. »Auf der ganzen Welt wird das Misstrauen der allgemeinen Bevölkerung gegenüber den besser ausgebildeten und gut verdienenden Schichten immer größer. Die Eliten führen nicht mehr«, so der Berichterstatter Carsten Knop. Ein Jahr später in Davos lautete die Meldung: »Das Vertrauen der Menschen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen erodiert. Politikern, Managern, Nichtregierungsorganisationen und auch den Medien wird immer weniger vertraut.« Gehört das vielleicht auch zum Thema Disruption? Oder schon zum Thema Revolution? Und was hat das mit der Digitalisierung zu tun? Und wie könnte das alles zusammenhängen?

Drei Thesen

»Disruptive Thinking« heißt zunächst: Umbrüche, Brüche, nichtlineare Entwicklungen denken zu können. Und nicht zu glauben, dies gehe gleich vorüber. Nein, das geht nicht gleich vorüber. Ich habe dazu drei Thesen, oder vielleicht sollte ich besser sagen: Hypothesen. Denn was wirklich passieren wird, werden wir erst in ein, zwei Generationen wissen.

Erste These

Wir leben in einer Übergangszeit von einer alten in eine neue Welt. Eine große Transformation. Die digitale Transformation. Sie gleicht in ihrer Wucht und in ihrem Ausmaß der industriellen Revolution. Und diese Transformation ist nicht nur eine technologische. Sie ist auch eine soziale und kulturelle und verändert massiv unser ganzes Denken und Verhalten.

Zweite These

»Übergangszeit« heißt: Manches Alte funktioniert nicht mehr richtig und manches Neue noch nicht richtig. Wir spüren das oft instinktiv und intuitiv, zum Beispiel am zunehmenden Druck, dem wir ausgesetzt sind. Und wir sind uns nicht mehr ganz sicher, was morgen passieren wird. Denn auch das gehört zu dieser Übergangszeit. Sie ist gekennzeichnet durch sich überlagernde Widersprüche und Konflikte. Nicht nur Altes, sondern auch ganz Altes, oft archaisch Anmutendes lehnt sich auf gegen das Neue.

Dritte These

Die gegenwärtige Transformation gleicht nicht nur der industriellen Revolution. Sie ist selbst auch eine Revolution. Ich nenne sie die kreative Revolution. Ihr historischer Sinn besteht in der Entfaltung der kreativen menschlichen Fähigkeiten, ermöglicht durch die digitalen Technologien und Netze.

Wer heute von digitaler Transformation spricht, wird fast überall auf Konsens stoßen. Alle nicken. Und manche tun so, als wüssten sie genau, was morgen passieren wird, wenn man nur die richtigen Technologien und Geschäftsmodelle einsetzt. »Kreative Revolution« sagt: Wir haben keine Ahnung, was in fünf oder zehn Jahren passieren wird. Die digitalen Technologien – die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen – sind nur die Bedingung der Möglichkeit. Um sie zu entfalten, brauchen wir menschliche Kreativität, Schöpferkraft, und zwar in einem bisher nicht geahnten Ausmaß. Überall, in der Umwelt, für die Nachhaltigkeit, in Schule, Ausbildung, Unternehmen, Politik. Und Disruptive Thinking ist die Kunst und Disziplin für diese Revolution.

Leitgedanken: Was ist Disruptive Thinking?

Disruptive Thinking ist das Denken, das mit den komplexen Anforderungen dieser Zeit mitwächst. Es ist Querdenken ohne Geländer.

Disruptive Thinking ist realistisches Zukunftsdenken, das Störungen nicht ausklammert, sondern einbezieht.

Disruptive Thinking ist ein zweisprachiges Denken, es ist in zwei Welten zu Hause. Es rechnet mit der Ungewissheit und macht Widersprüche produktiv.

Disruptive Thinking ist das etwas andere »Betriebssystem« für Organisationen in der digitalen Transformation und der beginnenden kreativen Revolution.

Disruptive Thinking fördert das Innovationspotenzial und stärkt die soziale Verantwortung.

Vor ein paar Jahren habe ich zum ersten Mal die folgende Geschichte gehört: Eine Lehrerin unterrichtete in einer Grundschule sechsjährige Kinder im Zeichnen. Eine der Schülerinnen, die in einer der hinteren Bänke saß und sonst nicht besonders aktiv mitarbeitete, war diesmal völlig vertieft in das, was sie tat. Die Lehrerin war fasziniert und zugleich neugierig. Sie fragte das Mädchen, was es malen würde. Ohne aufzuschauen, sagte die Kleine: »Ich male ein Bild von Gott.« Die Lehrerin erwiderte überrascht: »Aber niemand weiß, wie Gott aussieht.« Darauf entgegnete das Mädchen: »Warten Sie einen Moment, gleich wissen Sie es.«

Ich mag diese Geschichte aus verschiedenen Gründen. Nicht nur, weil sie der begnadete Geschichtenerzähler und kreative Anreger Ken Robinson gerne erzählt. Sie ist ein wunderbares Beispiel für die Fantasie von Kindern. In dieser Lebenszeit waren wir alle kreativ. Viele von uns hatten das kreative Vertrauen, scheinbar Unmögliches zu wagen und die Grenzen der herkömmlichen Vorstellungen der Erwachsenen überspringen zu können.

Sie ist auch ein schönes Beispiel für die festgefügten Wissensüberzeugungen der Erwachsenen. Und für die Verblüffung, die es hervorruft, wenn dieses Gefüge infrage gestellt wird. Ich bekam zum Beispiel in der ersten Klasse der Grundschule die Aufgabe, einen Aufsatz über das Schlaraffenland zu schreiben. Wie sich die Erwachsenen das Schlaraffenland ausmalten, wusste ich natürlich. Das leuchtete mir aber nicht ein. Wieso mussten die Leute immerzu irgendetwas essen (meistens Tiere) und faul herumliegen?

Also malte ich in meinem Aufsatz ein ganz anderes Bild: ein Land, in dem die Luft so nahrhaft war, dass man sich von ihr ernähren konnte und man immerzu herumspringen und Neues entdecken konnte.

Doch das alles berechtigt noch nicht, jene Geschichte in einem Buch über Disruptive Thinking vorzustellen. Noch dazu in der Einleitung. Wäre da nicht noch eine andere Ebene und eine andere Assoziation, die diese Geschichte bei mir auslöst: Das Mädchen, das sich zutraut, ein Bild von Gott zu malen, steht für diese Zeit, für die gerade beginnende kreative Revolution, für eine neue Welt, die sich anschickt, Dinge zu entwickeln, die bislang unvorstellbar waren. Und es steht für die Erschütterung, die dies in der alten Welt auslöst. Vielleicht – aber dies als Letztes – steht es auch für etwas, was man früher Hybris nannte.

Mancher fühlt sich von dieser neuen Welt magnetisch angezogen, manchem macht sie Angst. In diesem Spannungsfeld entsteht ein Klima für Disruptionen – für begeisternde Innovationen und besorgte Abwehrreaktionen, für tatsächliche Disruptionen, aber auch für das Gerede darüber, für Geschichten, Meinungen Spekulationen. Doch wie kann man das eine vom anderen unterscheiden? Wäre es nicht interessant, ein bisschen mehr hineinzuhorchen?

Der Begriff »Disruptive Thinking« besteht aus zwei Wörtern. Das zweite steht da nicht aus Verlegenheit. Disruptive Thinking feiert nicht disruptives Tun jeglicher Art. Disruptive Thinking ist Reflexion der Disruption. Und zugleich kreative, verantwortliche Praxis – die praktische Unterstützung für Führung und Organisation, mit dem disruptiven Wandel besser umzugehen.

Dies scheint mir gerade in einer Zeit so wichtig, in der wir alle mit Instantangeboten überschüttet werden. Ständig müssen wir irgendetwas sofort downloaden, bestellen, kaufen oder unter permanentem Zeitdruck und in kürzester Frist implementieren, installieren, realisieren. Aber Disruptive Thinking sagt: Es ist immer Zeit zum Denken im Handeln. Oder noch besser: vor dem Handeln, wenn man sich in extremes Gelände begibt. Und Disruptionen sind extremes Gelände. Es sind nicht kleinere Unebenheiten auf einer Autobahn. Es ist Backcountry.

Extremkletterer, Snowboarder und Freeride-Profis wissen, wie sich das anfühlt. Sie begeben sich bewusst in dieses Gelände. Denn hinter jedem Berg wartet ein Gipfel voller neuer Möglichkeiten. Aber sie wissen auch, wie es die Freerider Melanie Schönthier und Stephan Bernhard formulieren: »Backcountry ist ein Ort voller Gefahren, wo eine falsche Entscheidung deinen Tag ruinieren kann.« Deshalb ist eine gute physische und vor allem mentale Vorbereitung so wichtig: »Better be ready when the shit goes down«, sagen sie dazu.

Eine gute technische Ausrüstung ist selbstverständlich wichtig. Das Werkzeug muss stimmen. Doch das bekommt man heute überall; jeder Anfänger kann es sich besorgen. Das Entscheidende aber passiert im Kopf. Es ist die Kombination aus Einstellung und Vorstellung. Man muss das Gelände lesen können. Und man muss beides gleichzeitig parat haben, vor seinem inneren Auge sehen und sich darauf vorbereiten: die Route, die man gehen, die Linie, die man fahren will, und zugleich jeden Stein, der zum Gegner werden kann, jeden Winkel, aus dem sich eine Lawine lösen kann.

Beides denken zu können, Widersprüche denken zu können, Gefahren zu erkennen und gleichzeitig Vertrauen zu haben, ist überlebensnotwendig. In jedem extremen Gelände. Disruptive Thinking ist deshalb die Kunst und Disziplin, mit Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen. Es schafft die Voraussetzungen dafür, relevante disruptive Entwicklungen früher zu erkennen und sie in eine Gelegenheit zu verwandeln, eine neue Linie zu finden oder einen Sprung nach vorne zu tun.

Dieses Buch ist deshalb auch nicht einfach eine Handlungsanweisung oder ein Ratgeber herkömmlicher Art, sondern eher ein »Anleitfaden«, der den Leser dabei unterstützen soll, seine eigene Orientierung zu finden.

Natürlich verfügt Disruptive Thinking über eine Reihe von Tools, die sich in der Praxis in Innovations- und Transformationsprojekten bewährt haben, wie wir noch sehen werden. Aber Disruptive Thinking ist weniger ein neues Toolset als ein anderes Mindset. Es geht um Denken und Verhalten. Es geht darum, eine neue Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und zugleich wieder Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, die uns mehr Freiheitsgrade gibt und mehr Wahlmöglichkeiten schafft.

Ich möchte den Leser mitnehmen auf eine Reise von der alten Welt in die neue Welt, eine dreiteilige Expedition in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Disruptive Thinking. Man könnte die drei Teile »Gänge« nennen. Nicht zu verstehen als Menüfolge, sondern als Folge einer allmählichen Entwicklung der Gedanken beim Gehen, bei einer Wanderung querfeldein, bei der wir das Gelände aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkunden und unsere Wahrnehmungen beobachten. Eindrücke sammeln und am Ende innehalten, um die Eindrücke zu sichten und mögliche Konsequenzen für unser künftiges Handeln zu ziehen. Jeder Gang mündet daher in einen praktischen Imperativ.

Wir werden uns bei jedem Gang in Spannungsfelder begeben. Wir werden ihnen nicht ausweichen. Wir können ihnen auch in der Realität nicht ausweichen. Spannungsfelder, Widersprüche, Dilemmata sind elementar für diese Umbruchszeit. Disruptive Thinking stellt sich ihnen, versucht sie zu meistern, an ihnen zu wachsen:

I. Gang

Wissen und Nichtwissen

Das disruptive Spiel beginnt

II. Gang

Routinen und Nichtroutinen

Die kreative Revolution erfasst die Organisation

III. Gang

Maschinen und Menschen

Wer bestimmt über unsere Zukunft?

In allen drei Gängen geht es zunächst um das Beobachten und Beschreiben typischer disruptiver Entwicklungen und Innovationen. Nämlich:

allgemein auf den Märkten und in der Wirtschaft (I),

mit Blick auf die Organisation und auf die Zusammenarbeit (II),

im Hinblick auf das künftige Zusammenspiel von Mensch und Maschine (III).

Daraus abgeleitet nehmen wir anschließend in allen drei Gängen mögliche praktische Schlussfolgerungen und Hilfestellungen durch nützliche Tools in den Blick:

zur mentalen Vorbereitung für die Strategie- und Innovationsarbeit (I),

für die Transformation der Organisation (II),

für die Kulturentwicklung (im weitesten Sinne) und für unsere eigene Entwicklung (III).

Oder noch kürzer: Zunächst sprechen wir über die Narrative, dann über die Imperative – die möglichen praktischen Imperative der Disruption.

Doch dies sind nur vorläufige Strukturierungen. Also nichts, was man in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen könnte. Das Thema Disruption lässt sich nicht kästchenförmig katalogisieren, wie wir noch sehen werden. Es hat eher etwas mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun. Disruptionen bringen Tools und Kataloge durcheinander.

Disruptionen ähneln Erdbeben. Erdbeben kann man bekanntlich nicht vorhersagen. Man kann erdbebengefährdete Gebiete benennen, Gesteinsschichten analysieren, immer genauere Messungen durchführen etc. Aber man kann nicht exakt wissen, wo und wann die Erde beben wird.

Disruptive Thinking reflektiert dies: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird – wir können technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmuster aufzeigen, damit wir nicht blind in irgendetwas hineinlaufen. Wir können Gestaltungsvorschläge machen, damit wir uns besser vorbereiten können. Aber das eigene Denken, das Entscheiden und die Übernahme von Verantwortung unter den Bedingungen zunehmender Ungewissheit – das kann uns niemand abnehmen.

Auch deshalb arbeitet Disruptive Thinking mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Disruptive Thinking begnügt sich nicht mit einseitigen Bestimmungen. Nur Wissen, Routinen und Maschinen – das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen. Sie lassen keine Wahl mehr. Da gibt es nichts mehr zu entscheiden. Nur noch zu exekutieren. Die Wege der digitalen Transformation scheinen vorherbestimmt. Manche hätten das gerne. Ich halte es für sachlich unrichtig, strategisch unzulässig und praktisch fahrlässig. Das unterscheidet Denken von bloßem Nachvollziehen des bereits Vorgedachten, also vom unreflektierten Gebrauch von Gefertigtem. Nach dem Motto von Friedrich Dürrenmatt: »Brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.« Das ist hier nicht gemeint. Das hilft nicht, wenn man Neuland erschließen will. Disruptive Thinking setzt auf das Selbstdenken. Mit kreativem Vertrauen und Vergnügen. Neugierig, experimentell, vernetzt, bewusst und verantwortlich.

Nichtwissen und Fragen

Wenn ich von Nichtwissen spreche, dann ist das nicht tiefsinnig gemeint, sondern ganz unmittelbar, konkret und praktisch.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Zukunftsfragen, mit Innovationen und mit dem Thema Transformation. Ich habe im Silicon Valley mit Pionieren der digitalen Ära bereits in einer Zeit gesprochen, als viele noch glaubten, Apple wäre eine Nischenfirma. Ich habe viele Veränderungsprozesse von Unternehmen begleitet und zahlreiche Innovationsworkshops, Zukunftswerkstätten und Leadership-Programme durchgeführt.

Manchmal, ich gestehe es, habe ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen. Doch in den letzten Jahren ertappe ich mich oft bei der Wahrnehmung: Das Tempo der Veränderungen nimmt in unheimlicher Weise zu. Die Verdrängung von Altem durch Neues passiert in immer kürzeren Abständen. Täglich. Stündlich. Minütlich. Viele Leser werden das Gefühl kennen. Und das hat mit unserem Thema zu tun. Disruptionen, Brüche und Umbrüche, wohin wir schauen. Nicht nur in der Technik. Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Und immer häufiger müssen wir zugeben: Das wissen wir nicht. Oder wussten es bis gestern nicht.

Das heißt auch: Manches Faktum, das ich auf den folgenden Seiten schildere, kann überholt sein, wenn Sie als Leserin oder Leser dieses Buch in den Händen halten. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass bereits morgen ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Unternehmen das Neue von heute alt aussehen lassen kann. Das ist ein Wesenszug dieser disruptiven Zeit. Bisweilen scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Wir kommen kaum noch nach. Auch deshalb ist das Anerkennen des Nichtwissens im Wissen so wichtig für disruptives Denken. Es ist eine Voraussetzung zur Meisterung dieser kreativen Revolution.

Besonders relevant ist es für Manager und Führungskräfte, die heute über Zukunftsstrategien und langfristige Investitionen zu entscheiden haben. Etwa in der Automobilindustrie. Heute müssen sie entscheiden, welche Modelle in vier oder fünf Jahren auf den Markt kommen. Ich habe mit mehreren Automobilmanagern darüber gesprochen und immer wieder gehört, wie schwer ihnen diese Entscheidung fällt. Auch die beste Szenarienarbeit, auch die beste Research-Tätigkeit der klügsten Innovationsteams vermögen daran nicht zu ändern.

Das ist keine neue Erkenntnis für all diejenigen, die sich mit Komplexität und mit dem Thema Entscheiden unter Bedingungen der Unsicherheit beschäftigen: »Nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen können wir entscheiden«, hat der österreichische Physiker Heinz von Foerster einmal so schön formuliert. Doch diese Erkenntnis erschien manchmal etwas theoretisch. Heute, in diesen disruptiven Zeiten, besitzt sie praktische Sprengkraft.

Man kann das negativ sehen, als Verlust von Wissen. Man kann es aber auch anders sehen: als Zugewinn für unseren Realitätssinn, verbunden mit der Aufforderung, mehr und intensiver zu fragen und eine neue Achtsamkeit im Führungsalltag zu entwickeln. »To be prepared for the unexpected!« Das meint Disruptive Thinking: das Nichtwissen trainieren, experimentieren und dabei eine neue Form der Achtsamkeit entwickeln. Das kann vielleicht dazu führen, dass wir uns von manchem lösen, was wir in Zukunft nicht mehr brauchen, und dafür manches entwickeln, was überraschend einfach ist.

Das Einfache wird schwer zu machen sein. Denn die sich wandelnde Welt ist ein Playground und zugleich ein Battleground. Das klingt martialisch. Aber so wird in manchen amerikanischen Tech-Companies geredet. Viele sind dort in einem kulturellen Milieu aufgewachsen, in dem die Game Industry keine unerhebliche Rolle spielt und die TV-Serie House of Cards als eine Spiegelung der Realität empfunden wird. Diese Dimension der Transformation sollten wir nicht unterschätzen.

Natürlich kann man fragen: Was soll das? Wir müssen in der digitalen Transformation erst unsere Pflicht erfüllen. Diese Auffassung ist ehrenwert und nachvollziehbar. Und die Hausaufgaben sind bekannt. Zum Beispiel eine saubere Stärken-Schwächen-Analyse durchführen und sich fragen: Wie weit sind wir mit dem Thema Digitalisierung in der Organisation? Wo sind wir gut, wo nicht so gut? Wo könnten welche Wettbewerber aus welchen Branchen disruptiv angreifen? Wie können wir uns davor schützen? Haben wir eine klare Vision und strategische Ausrichtung? Wie weit ist die Organisation einbezogen? Wie weit arbeitet sie schon vernetzt – und zwar nicht nur horizontal, sondern auch vertikal vernetzt? Brauchen wir neue Organisationseinheiten, die mit einem ganz neuen strategischen Ansatz arbeiten? Welche Mitarbeiter brauchen wir für den künftigen Weg? Haben wir genügend gute Softwareentwickler und genügend Teamplayer in unseren Reihen?

Ja, allein diese Fragen zu beantworten und daraus Maßnahmen abzuleiten, ist ein ziemlich herausforderndes Pensum, ein Pflichtprogramm, das viele Kräfte bindet. Fast alle großen innovativen Unternehmen beschäftigen sich direkt oder indirekt mit diesen Aufgaben. Manches davon wird hier auf den folgenden Seiten auch noch einmal aufgegriffen und eingehend behandelt.

Doch das gehört alles auf die Seite dessen, was wir schon wissen. Wie aber kommen wir zur anderen Seite? »How do you come to know things that you don’t know?«, bringt es John Kao, Jazzpianist und Kreativitätsforscher, auf den Punkt. Disruptive Thinking entsteht, wenn wir in der Lage sind, die Seiten zu wechseln. Von der Seite des Bekannten zu der des Unbekannten – und wieder zurück. Manchmal.

Bisweilen jedoch bleiben die Fragen. Unbequeme Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen, wenn wir alle Hausaufgaben der digitalen Transformation erledigt haben. Wo stehen wir dann? Und wo stehen die, von denen wir all das gelernt haben, als wir unsere letzte Reise ins Silicon Valley unternommen haben? Laufen wir nur den Entwicklungen hinterher? Oder schaffen wir etwas Eigenes? Und was wäre das? Wo führt eigentlich die ganze Aufholjagd hin? Was ist der »Next Level« der Entwicklung?

Und während wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, fallen uns noch ein paar andere ein: Was ist eigentlich mit all den Menschen, die nicht so gut sind auf dem Battleground? Was machen wir mit denen, die nicht mitkommen bei dieser Aufholjagd? Wie schöpferisch sind wir in der Zerstörung? Und wie nachhaltig ist unsere Transformation?

Und hier schließt sich der Kreis. Wir erinnern uns an die Szenerie in Davos und die dort präsentierten Ergebnisse der Studie zum Thema Vertrauen. Wir werden uns ein wenig anstrengen müssen. Dazu brauchen wir mehr soziale Verantwortung und mehr spielerische Leichtigkeit. Auch dieser Widerspruch gehört zum Disruptive Thinking.

»Den Berg sehen.Den Berg nicht mehr sehen.Den Berg wieder sehen.«

Chinesische Überlieferung

Agieren oder nur reagieren?

Michael Mertens ist Mitglied des Vorstandes eines großen, international agierenden Luftfahrtkonzerns. Wie seine Kollegen steht er unter erhöhtem Druck von mehreren Seiten: von staatlich subventionierten Airlines, die im Hochpreissegment zu niedrigeren Kosten fliegen können. Und von Airlines, die im unteren Preissegment agieren und die Kunden mit immer günstigeren Ticketpreisen locken. Wie kommt er raus aus dieser Zwickmühle? Womit beginnen?

David Bean ist Operational Excellence Manager in einem Tochterunternehmen eines großen amerikanischen Pharmaherstellers. Er ist in letzter Zeit sehr angespannt. Die Konzernzentrale hat ein Kostensenkungsziel von 40 Prozent aufgestellt. Er und seine Kolleginnen und Kollegen sprechen sich gegenseitig Mut zu, haben aber keine Ahnung, wie sie das schaffen sollen.

Anne Aufwind arbeitet in der Personalabteilung eines großen Unternehmens der Telekommunikationsbranche. Sie befindet sich in einem echten Dilemma: Die Belegschaft muss noch weiter reduziert werden, sie muss jetzt in ihrer eigenen Abteilung Personal abbauen. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, mit innovativen Programmen für eine Aufbruchsstimmung in der Belegschaft zu sorgen. Wie soll das gehen?

Heinz Wohlfarth ist in der Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens in der Spielzeugbranche. Er spürt heftigen Gegenwind: Das klassische Geschäft mit dem Fachhandel wird schwieriger. Die großen Wettbewerber im Onlinegeschäft unterbieten die Preise und liefern immer schneller. Wie kann man da mithalten?

Sina Junker arbeitet an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt. Sie hat gemeinsam mit anderen Reformpläne zur Umgestaltung des Unterrichts ausgearbeitet. Und schon manches auf den Weg gebracht. Aber sie weiß nicht mehr, wie sie die Arbeitsbelastung schaffen soll. Es fehlen Lehrkräfte, überall wird gespart. Sie ist müde geworden und fühlt sich von der Bildungsbehörde im Stich gelassen. Gleichzeitig macht sie sich Sorgen über die politische Entwicklung. Neulich bekam sie mit, dass Thomas Gottschalk bei Maybrit Illner von »Disruptionen« sprach – das ganze Koordinatensystem sei »verrutscht«. Die Leute seien ratlos: »Helft mir, wie kann ich mich orientieren?« Sie fand seine Ratlosigkeit ansteckend.

Bodo Antwerpen gehört zur Führungsmannschaft eines renommierten Verlagshauses. Er war einige Zeit im Silicon Valley und leitet jetzt ein großes Transformationsprojekt. Mit seinen Kollegen spricht er häufiger über neue digitale Geschäftsmodelle. Immer wieder fällt das Wort »kannibalisieren«. Ganz cool. Aber richtig wohl ist ihm dabei nicht.

Sarica Connor hat nach ihrem Studium einen Job bei einem schnell wachsenden Berliner Start-up angenommen. Es geht ziemlich hektisch zu. Ständig werden neue Ziele verkündet. Von ihrem Chef liest sie manchmal Markiges über zweistelliges Wachstum mit neuen Geschäftsmodellen.

Stephan Gabriel ist leitender Innovationsmanager bei einem bekannten, weltweit agierenden Automobilzulieferer. Seine Organisation sucht nach bahnbrechenden Neuerungen für das Thema autonomes Fahren, gleichzeitig steht sie unter erheblichem Kostendruck. Er kommt gerade von einem großen Innovationskongress zurück, bei dem er viele Kollegen aus anderen Branchen getroffen hat. Viele sprachen über disruptive Innovationen. Könnte ihm das in seiner Situation helfen?

Matthias Herget leitet eine Bezirksdirektion einer großen deutschen Versicherung. Seine Mannschaft ist verunsichert. Die Ertragssituation war schon mal besser. Man munkelt viel. In letzter Zeit auch immer mehr über die neue Fintech- und Insurtech-Szene. Wie wird es weitergehen?

Das sind ganz unterschiedliche Personen (deren Namen bis auf zwei geändert wurden), die ich kenne, mit denen ich gesprochen oder zusammengearbeitet habe, tätig in unterschiedlichen Bereichen, konfrontiert mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Und doch können wir uns gut in ihre Situation hineinversetzen. Denn wir machen alle in dieser Zeit eine ähnliche Erfahrung: Die Belastung steigt. Der Druck nimmt zu. Das geht manchmal bis an die Schmerzgrenze. Manche machen sich Hoffnung, dass es anders wird. Manche haben das Gefühl, in einer Zwickmühle zu sein: Was sie auch tun, sie kommen nicht wirklich vom Fleck. Es scheint, dass die bisherigen Sicht- und Handlungsweisen nicht mehr richtig passen, dass alte Spielregeln nicht mehr für die neuen Spiele dieser Zeit taugen, dass die Raster unseres Denkens zu starr geworden sind.

Wir spüren, dass irgendetwas nicht mehr richtig stimmt, zu eng geworden ist, vielleicht auch zu Ende geht, anders gemacht werden sollte. Vielleicht radikal anders? Disruptiv anders? Aber was könnte damit eigentlich gemeint sein? Geht es dabei primär um Technologie? Um Innovation? Oder auch um die Organisation? Oder bricht da gerade noch mehr auf in Wirtschaft und Gesellschaft? Und wie können wir das alles denken?

Wir wissen viel, können viel. Haben vieles schon mehr als einmal erlebt. Wir sind bereit, die Komfortzone zu verlassen, wie man so sagt. Wir kennen die wichtigsten Erfolgsstrategien der bekannten Erfolgsratgeber. Unser Werkzeugkoffer ist gut gefüllt. Wir haben gelernt, unsere Energien zu mobilisieren und auf ein Ziel hin auszurichten. Wir sind fokussiert, haben ein gutes Zeitmanagement, verstehen etwas von moderner Kommunikation. Wir sind gut vernetzt und unsere elektronischen Assistenten nehmen uns viel ab. Und doch haben wir das Gefühl: Wir sind Getriebene, gejagt von Augenblick zu Augenblick. Hauptsache, durch. Wir funktionieren, optimieren, reagieren. Oben wie unten. Aber wir sind uns nicht mehr sicher, ob wir noch tatsächlich vorausschauend agieren.

Wir möchten auf neue Gedanken kommen, Auswege finden, mehr Freiraum bekommen in der Strategie wie in der Organisation. Und ganz persönlich auch. Wir möchten aber auch verstehen, was da gerade passiert und wie es weitergeht. Und ich denke, dass dies zusammengehört. Beides zusammen hat etwas zu tun mit Disruptive Thinking: mit tiefgreifenden Brüchen und mit dem Denken dieser Brüche. Und dieses beginnt mit Bildern.

Alte Welt – neue Welt (1): Autobahnen und Bergwege

Jeder Leistungssportler weiß: Wettkämpfe werden »im Kopf entschieden«. Wir brauchen innere Vorstellungsbilder von dem, was vor uns liegt, Vorstellungen von der Art und Weise, wie wir vorgehen wollen, und Bilder von den Bewegungen, die unseren Alltag verändern werden. Lange Zeit hatten viele ziemlich einfache Bilder dessen im Kopf, was wir Fortschritt nennen: Alles schien irgendwie stetig und geradlinig voranzugehen. Und stets aufwärts. Schneller, höher, weiter. Immer mehr. Das Fortschreiten als Fortfahren – auf einer schnurgeraden Strecke. Der Weg in die Zukunft als Autobahn. Zunächst real, dann digital. Der Datenhighway war das Sinnbild und der dazu passende Begriff. Das Marketing der Informationstechnologien machte den Highway zum Leitmotiv. Bill Gates machte ihn zum Titelbild seines später in Millionenauflage verkauften Buches Der Weg nach vorn.

Dieses Bild suggerierte Gewissheit, Sicherheit, Eindeutigkeit. Und dementsprechend waren die Botschaften: Was vor uns liegt, ist berechenbar, gewiss, eindeutig. Du kannst auf uns bauen und uns vertrauen.

Das war die alte Welt, das alte Paradigma, das herkömmliche lineare Denken im Management und in der Führung: die Geradeausfahrt auf der Autobahn. Visualisiert als markante Linie von links unten nach rechts oben – wie die Wachstumsplanungen auf den PowerPoint-Charts. Eingerahmt von einem Kasten, einem Rechteck, einem Quadrat. Das kennen wir. Es gleicht dem Logo einer traditionsreichen, über viele Jahrzehnte sehr erfolgreichen und angesehenen deutschen Bank. Das leuchtete jedem ein. Aber es war höchstens ein geschönter Ausschnitt aus der Realität. Die Wirklichkeit ist selten linear. Die Wirklichkeit in dieser Zeit tiefgreifender Veränderungen schon gar nicht. Sie gleicht eher einem Bergweg. Mit vielen Höhen und Tiefen. Mit Ungewissheit. Mit begrenzter Sicht. Manchmal mit wunderbaren Aussichten. Und mit ziemlich tiefen Abgründen.

Bergweg, Ungewissheit, Übergangszeit: Wir spüren, dass das Alte nicht mehr richtig funktioniert, wir sehen, dass etwas Neues beginnt, ja manchmal wissen wir sogar, aus welcher Ecke es kommt. Doch dann wissen wir nicht mehr genau, was daraus wird, und wir können nicht mehr richtig planen. Schon gar nicht langfristig. Wir können nur jetzt anfangen zu gehen, experimentell die nächsten Schritte tun. Durchs Nichtwissen, durchs Chaos hindurch. Und irgendwann sehen wir vielleicht wieder besser und wissen, wo es langgeht.

Aber das neue Wissen werden wir nur bekommen, wenn wir die Autobahn verlassen, wenn wir anfangen, selbst das Gelände zu erkunden, wenn wir uns auf Überraschungen und Widersprüche einlassen und mit kreativem Vertrauen radikal Neues versuchen. Das ist ein wirklicher Bruch.

Alte Welt – neue Welt

Linear

Nicht linear

Autobahn-Denken

Bergweg-Denken

Autobahn oder Bergweg? Linearität oder Nichtlinearität? Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit? Widerspruchsfreiheit oder Widersprüchlichkeit? Das sind andere Bilder, andere Weltsichten, andere Strategien. Man könnte auch sagen, es sind die gegensätzlichen Pole einer spannenden Entdeckungsreise, eines Übergangs von einer alten Welt in eine neue Welt. Diese Reise ist nicht immer gemütlich. Deshalb brauchen wir eher ein »Offroad-Denken« als ein Autobahn-Denken. Disruptive Thinking ist Offroad-Denken.

Viele von uns haben in den vergangenen Jahren wohl ein paar Male von der »VUCA-World« gehört: vulnerable, uncertain, complex, ambiguous. Das klang irgendwie interessant, aber doch etwas weit weg und vielleicht zu abstrakt. Die Rede vom Klimawandel war da schon fassbarer. Da konnte man leichter kausale Beziehungen von Ursache und Wirkung diagnostizieren. Es war deshalb auch einfacher, Handlungsempfehlungen auszusprechen. Mit der VUCA-World ist das eine andere Sache. Sie ist nicht so anschaulich, und es ist recht unklar, was sich daraus ergibt. »Wenn Sie glauben, Sie wüssten, was Sie in der Zukunft erwartet, dann irren Sie«, erklärte der Anfang 2017 verstorbene große polnische Soziologe Zygmunt Bauman.

Der Battleground und die »order of magnitude«

Wir haben bereits vom Battleground gesprochen. So wird nicht nur in manchen amerikanischen Hightech-Firmen geredet. So lautet auch eine Serie von Pay-per-View-Events der an der New York Stock Exchange notierten World Wrestling Entertainment. Wettbewerb und Wettkampf liegen manchmal dicht beieinander.

Viele Manager aus Übersee sind in einem Milieu aufgewachsen, das stark von der Game Industry geprägt ist. Sie kennen sich aus in Strategiespielen, sie haben im Basketball, im Football, in der Army oder eben beim Wrestling gelernt, dass man nur als Sieger vom Platz gehen sollte. Diese Einstellung gehört ebenso wie der große Optimismus zur kulturellen DNA der amerikanischen Nation. Win-win-Situationen sind ganz schön, aber nicht im Sport, nicht in der Unterhaltungsindustrie, nicht in der Politik und nicht im Business, erst recht nicht im digitalen Business. Winner takes all. Das ist gnadenlos. Das hat jeder gelernt. Du kannst spielerisch sein, freundlich sein, charmant sein und viel Spaß haben. Aber du musst gewinnen. Am besten triumphal. Du kannst als Angreifer von ganz unten kommen, du kannst zwischendurch geschlagen werden und scheitern, oft scheitern, aber am Ende musst du triumphieren. Du musst »10 times better« sein. Und wenn du das noch nicht bist, musst du noch härter arbeiten, mehr lernen, dich weiter professionalisieren. Dann kannst du es den anderen zeigen.

Natürlich solltest du deine Überlegenheit nicht zu offen zeigen, wenn du global tätig bist. Es sei denn, dass dies deine Strategie ist, wenn du damit angeben möchtest, dass du ein Kämpfer und nicht einer von denen da oben bist. Aber schon als GI haben deine comrades und du die Welt in »wir« und »sie« aufgeteilt: in die Cowboys und die Indianer. Und wie es den Indianern ergangen ist, weiß man ja.

Das gehört alles mit zum sozialen und kulturellen Kontext der digitalen Transformation, die eben mitnichten nur eine technologische ist. Auch wenn dies manche glauben, die Technologie mit Fortschritt gleichsetzen und gar nicht merken, dass sie mit ihrem Glauben die Richtung dieses Fortschritts mitbestimmen.