Diversität - Nathan Lents - E-Book

Diversität E-Book

Nathan Lents

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Beschreibung

Unser Blick auf Sexualität und Gender wurde lange Zeit von der Vorstellung geprägt, dass alles außerhalb der heterosexuellen Orientierung und der binären Geschlechteraufteilung unnatürlich sei. Bis heute glauben viele, dass die Evolution dies vorgäbe, weil es dem Gesetz der Fortpflanzung diene. Vereinzelte Beispiele aus dem Tierreich wie Clownfische, die ihr Geschlecht umwandeln, oder homosexuelles Verhalten bei Pinguinen wurden und werden fälschlicherweise als Ausnahmen betrachtet. Um seine Standpunkte zu verdeutlichen, nimmt uns der renommierte Biologe Nathan H. Lents mit auf eine Reise durch das Liebesleben der Tiere, aber auch des Menschen. Es stellt sich heraus, dass die Fluidität von Geschlecht kein neues Phänomen ist. Lents erklärt, dass es in der Natur von Vorteil sein kann, homo-, pan- oder bisexuell zu sein: ob bei schwul lebenden Schwänen, bisexuellen Bonobos oder auch Menschen, die Gruppensex praktizieren, wenn sie den Zusammenhalt einer unter höchsten Belastungen stehenden Gemeinschaft festigen müssen.Lents deckt Vorurteile auf und zeigt, dass am Ende der Kern der Evolution nicht die Fortpflanzung, sondern das Erzeugen von Diversität ist.

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Seitenzahl: 610

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Unser Blick auf Sexualität und Gender wurde lange Zeit von der Vorstellung geprägt, dass alles außerhalb der heterosexuellen Orientierung und der binären Geschlechtereinteilung unnatürlich sei.

Bis heute glauben viele, dass die Evolution dies vorgebe, weil es dem Gesetz der Fortpflanzung diene. Vereinzelte Beispiele aus dem Tierreich, wie Clownfische, die ihr Geschlecht umwandeln, oder homosexuelles Verhalten bei Pinguinen, wurden und werden fälschlicherweise als Ausnahmen betrachtet. Um seine Standpunkte zu verdeutlichen, erzählt Nathan H. Lents spannende Geschichten über das Zusammenleben und die Fortpflanzung von Mensch und Tier. Dabei zeigt er, dass nicht die Fortpflanzung, sondern das Erzeugen von Vielfalt der Kern der Evolution ist.

›Diversität‹ ist ein revolutionäres Buch über Geschlechter, Geschlechterrollen, Beziehungsmodelle und Sexualität. Diese wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den derzeitigen Debatten um Gender und Identität betrachtet die Evolution von Sexualität und Geschlechtern, um am Ende Licht ins Dunkel menschlichen Verhaltens zu bringen. Oder – wie es der Autor selbst formuliert: »Die treibende Kraft meiner Lebensarbeit ist die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.«

© Michael Savitzky

Nathan H. Lents ist Wissenschaftler, Autor und Professor für Biologie am John Jay College der City University of New York. Er ist bekannt für seine Arbeiten in den Bereichen Zellbiologie, Genetik und Forensik sowie für seine populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Blogs über die Evolution der menschlichen Biologie und des Verhaltens. Lents schreibt regelmäßig u.a. für The Observer und The Guardian und hat mehrere Sachbücher veröffentlicht. ›Diversität‹ ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Sebastian Vogel, geboren 1955, ist promovierter Biologe und renommierter Übersetzer von Sachbüchern. Er übersetzte u.a. Richard Dawkins, Richard Leakey und David A. Sinclair ins Deutsche.

NATHAN H. LENTS

Diversität

Der biologische Sinn hinter der Vielfalt von Sex, Gender und Geschlecht

Aus dem Englischenvon Sebastian Vogel

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel ›The Sexual Evolution. How 500Million Years of Sex, Gender, and Mating Shape Modern Relationships‹ bei Mariner Books, New York/Boston.

Copyright © Nathan Lents

E-Book 2025

© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Übersetzung: Sebastian Vogel

Lektorat: Kerstin Thorwarth

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © gadost/istockphoto

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1087-2

www.dumont-buchverlag.de

Es liegt etwas Großes

in dieser Sicht auf das Leben, …

dass … aus einem so schlichten Anfang zahllose überaus schöne und wunderbare Formen hervorgegangen sind und weiter hervorgehen werden.

Charles Darwin, Der Ursprung der Arten*

Einleitung:

Wie die Dinge stehen

(Man verzeihe mir das Wortspiel.)

Im Biologieunterricht an der Highschool gab die Lehrerin eines Tages bekannt, gegen Ende der Woche werde eine Lernstandserhebung über den Inhalt des Kapitels stattfinden, über das wir zuvor gesprochen hatten. Das war Anfang der 1990er-Jahre, und meine Klassenkameraden und ich hatten den Begriff noch nie gehört. Dr.Parrish erklärte, was für Fragen in der Erhebung vorkommen würden, und gab uns Tipps, worauf wir uns beim Lernen konzentrieren sollten.

»Okay, aber ist das ein Test?«, fragten wir. Darauf erwiderte Dr.Parrish, die Erhebung werde mit 20Punkten bewertet. Sie erinnerte uns daran, dass die Arbeit des Quartals insgesamt 200Punkte bringen konnte, zusätzliche Leistungsnachweise nicht mitgerechnet.

»Dann ist es also ein Quiz?« Langsam war sie mit ihrer Geduld am Ende. Dr.Parrish erklärte, die Erhebung mache 10Prozent der Gesamtpunkte im Quartal aus, also sollten wir uns entsprechend anstrengen.

»Warum sagen Sie uns nicht einfach, ob es ein Test oder ein Quiz ist???«

»Ich habe euch doch gerade gesagt, wie viele Punkte es bringt. Was spielt es für eine Rolle, wie man es nennt?«

Natürlich spielt es eine riesengroße Rolle. Wir Menschen sind instinktiv bestrebt, alles in unserem Leben zu benennen, in Kategorien einzuteilen und zu organisieren. Es hilft uns dabei, unsere Umwelt – sowohl die Natur als auch die Welt, die wir erschaffen – zu verstehen. Aber solche Etiketten sind etwas Künstliches. Sie sind Konstrukte. Damit soll nicht gesagt werden, dass Benennungen und Kategorien bedeutungslos wären; es heißt nur, dass sie als reale Gebilde nicht existieren, bis wir sie kreieren. Zwischen einem Test und einem Quiz besteht kein sachlicher Unterschied. Es sind nur verschiedene Wörter, mit denen die relative Größe und Gewichtung einer Beurteilung angezeigt werden. Indem Dr.Parrish uns den Punktwert mitteilte, machte sie die Etiketten überflüssig, aber das stellte uns nicht zufrieden. Wir wollten wissen, wofür wir lernten – für einen Test oder für ein Quiz. Zumindest in unseren Köpfen bestand zwischen beiden ein Unterschied.

In der Biologie gibt es ein System – ein ganzes Fachgebiet –, in dem es um die Benennung und Klassifikation von Lebewesen geht. Aber diese Klassifikation oder Taxonomie (auch »biologische Systematik« genannt) ist ausschließlich eine Schöpfung der Menschen und dient nur unserem Bedürfnis, die Organismen, die wir studieren, zu verstehen und uns darüber zu verständigen. Unter einer »biologischen Art« oder »Spezies« stellen wir uns meist etwas Wirkliches vor. Dies ist ein Canis lupus, ein Wolf, und jenes Tier ist ein Canis familiaris, ein Hund. Sie sind verwandt, unterscheiden sich aber. Wir alle sind Jetztmenschen (Homo sapiens), doch die Schädeldecke, die an einem folgenschweren Tag des Jahres 1856 im Neandertal bei Düsseldorf gefunden wurde, gehört zu einer anderen Spezies, die wir Homo neanderthalensis nennen. Wir sind verwandt, aber auch unterschiedlich. Eine Spezies umfasst alle Exemplare eines Typs, die nicht zu einem anderen Typ gehören.I Einfach, fein und säuberlich.

Allerdings … wissen wir, dass Hunde ursprünglich wilde Wölfe waren, die domestiziert wurden (oder sich selbst domestiziert haben). Vor langer Zeit machten ein paar Wölfe, die sich bei Menschengruppen herumtrieben, über einige Jahrtausende mehrere Selektionsrunden durch, bis die Population so viele eigenständige Merkmale hatte, dass es eigentlich keine Wölfe mehr waren. An welchem Punkt waren sie keine Wölfe mehr, sondern Hunde? Gab es einen Zeitpunkt, zu dem die letzte Wolfsgeneration die erste Hundegeneration zur Welt brachte?

Ähnlich verhält es sich auch mit Jetztmenschen und Neandertalern: Beide stammen von einer gemeinsamen Vorläuferspezies ab, die in der Anthropologie meist Homo heidelbergensis genannt wird (manche Forschenden glauben allerdings, es sei H. antecessor gewesen). Während unsere Vorfahren in Afrika blieben und dort ihre weitere Evolution durchmachten, entwickelten sich die Vorfahren der Neandertaler vorwiegend im Nahen Osten, in Zentralasien und Europa. Irgendwann waren die beiden Populationen, die sich parallel weiterentwickelt hatten, so unterschiedlich, dass wir sie als verschiedene Wesen erkennen und ihnen verschiedene Artnamen geben. Aber an welcher Stelle ziehen wir die Grenze? Angenommen, wir könnten eine ununterbrochene Abstammungslinie von H. heidelbergensis bis zu uns betrachten: Könnten wir dann auf den allerersten Jetztmenschen deuten? Die Antwort lautet: Nein, das könnten wir nicht. Was nützen uns demnach die Kategorien, wenn die Übergänge so verschwommen sind, dass wir keine klaren Grenzen ziehen können?

Das Problem hierbei ist, dass zwischen den Arten kontinuierliche Übergänge bestehen, insbesondere wenn wir Vorläuferpopulationen einbeziehen. Es gibt einfach keine Möglichkeit, eine eindeutige Abgrenzung vorzunehmen, aber das heißt nicht, dass die Unterschiede als solche nicht existieren und dass die Kategorien sinnlos sind. Betrachten wir einmal eine Parallele: das Entwicklungsalter. Irgendwann in der Vergangenheit waren wir Kinder und besaßen die Eigenschaften von Kindern: geringe Größe, körperliche und emotionale Unreife und so weiter. Derzeit weisen wir die Merkmale von Erwachsenen auf. Zu welchem Zeitpunkt ist jemand zum Erwachsenen geworden? Gab es einen Tag, an dem wir als Kinder zu Bett gegangen und als Erwachsene aufgewacht sind? Natürlich nicht. Es war ein kontinuierlicher Prozess mit verschwommenen Grenzen, aber das bedeutet nicht, dass Erwachsene und Kinder gleich wären. Dass Erwachsene und Kinder sich unterscheiden und unterschiedlich behandelt werden müssen, wissen wir alle.

Um die verschiedenen Varianten, die wir in Bezug auf biologisches Geschlecht, Gender (soziales Geschlecht) und Sexualität beobachten, zu erfassen, müssen wir uns mit der Vorstellung von kontinuierlich ineinander übergehenden Kategorien vertraut machen, denn sie sind die Lebenswirklichkeit. Mithilfe der von uns konstruierten Etiketten und Kategorien verständigen wir uns über Unterschiede, aber die Realität bewegt sich innerhalb und außerhalb dieser Kategorien, ohne viel Rücksicht auf unsere Empfindungen zu nehmen. Rubriken und Bezeichnungen sind wichtig – es ist schwer vorstellbar, wie wir ohne sie die Themen dieses Buches erörtern sollten –, doch wir müssen immer daran denken, dass sie dazu da sind, uns zu dienen, und nicht umgekehrt. Wenn wir feststellen, dass wir durch rigide Kategorien in Schubladen gesteckt werden, können wir nur eines tun: aus ihnen ausbrechen.

Eine Frage der Bezeichnung

Dass wir in einer Zeit großer Umwälzungen leben, steht außer Frage. Auf der ganzen Welt sind die Gesellschaften entlang politischer und sozialer Grenzen gespalten. Das Themenspektrum reicht dabei von der Umwelt über Migration bis zur Globalisierung – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die größte Gefahr besteht aber nach Ansicht vieler darin, dass die traditionellen Vorstellungen von Geschlecht, Gender und Sexualität zunehmend aufgegeben werden und dass in der Folge die traditionelle Kernfamilie zusammenbricht.

Wenn ich den Begriff »traditionell« verwende, meine ich damit einfach Ansichten, die in einem Großteil der Welt in der jüngeren Vergangenheit vorherrschten. Über Generationen hinweg hat man uns beigebracht, dass das biologische Geschlecht eine einfache Angelegenheit ist: dass Männer Männer und Frauen Frauen sind; dass Männer sich nur von Frauen angezogen fühlen sollten und umgekehrt; dass romantische Begegnungen das Ziel haben, so schnell wie möglich einen Partner beziehungsweise eine Partnerin zu finden; dass Geschlechtsverkehr nur unter verheirateten Paaren stattfinden sollte, und zwar mit dem Hauptziel, Kinder zu zeugen; und dass die Ehe auf Dauer angelegt sein und sich vor allem darum drehen sollte, Kinder großzuziehen. Diese Ansichten wurden nicht als Ideale angepriesen, die es anzustreben galt, sondern als der richtige Weg. Wer davon abwich, so sagte man uns, sei anormal, gestört, sündig und unnatürlich.

Aber die Zeiten ändern sich. Immer mehr Menschen, insbesondere jüngere, stehen Gender und Sexualität aufgeschlossener gegenüber. Das geht weit darüber hinaus, sich als »schwul« oder »transgender« zu definieren, wie die Pioniere der abweichenden Gruppen des 20.Jahrhunderts.1 Begriffe wie »genderfluid« und »nicht binär« gewinnen an Einfluss, und junge Erwachsene bezeichnen sich zunehmend als »pansexuell«, »demisexuell« oder »asexuell« statt wie früher einfach nur als »hetero«, »homo« oder »bi«.2 Die herkömmlichen Kategorien für Genderidentität und -ausdruck, aber auch für sexuelle Anziehung und romantische Liebe sind einfach nicht mehr angebracht.3 Das immer länger werdende Aufzählen der Kategorien in Bezug auf Gender und Sexualität macht nun einem allgemeinen no labels Platz, einem Ansatz, der jede strenge Definition vermeidet.4,5

Auch die sexuellen und romantischen Beziehungen verändern sich. Viele junge Erwachsene haben nicht die Absicht, zu heiraten,6 einvernehmliche Nicht-Monogamie ist auf dem Vormarsch,7 und die Geburtenraten sinken8. Innerhalb von nur zwei Generationen hat sich die sexuelle Landschaft im größten Teil der Industrieländer völlig verändert; deshalb ist es kein Wunder, dass viele Menschen das alles zutiefst beunruhigend finden.

Wirklich überraschend ist für mich aber, wie wenig die Biologie der Sexualität in der öffentlichen Diskussion vorkommt. Immerhin sind Geschlecht, Gender und Sexualität zuallererst biologische Merkmale. Natürlich haben derartige Themen auch psychologische, gesellschaftliche, politische und sogar juristische Aspekte, aber meiner Ansicht nach haben wir alle von diesen Sichtweisen bereits genug gehört. Es ist an der Zeit, dass auch die Biologie ein Wörtchen mitreden kann, und mit diesem Buch biete ich ihr nachdrücklich eine Bühne dafür.

Ich behaupte, dass diese Zeit der sexuellen Umwälzungen eigentlich nur die Wiederentdeckung einer viel umfassenderen Beziehung zur Sexualität ist, die unsere Vorfahren früher hatten und deren sich andere Tiere noch heute erfreuen. Mit dem Wort »Vorfahren« bezeichne ich sowohl Menschengesellschaften aus unserer prähistorischen Vergangenheit (vor Jahrtausenden) als auch die verwandten Primaten unserer entfernten Vergangenheit (vor Jahrmillionen). Um meine Aussage zu begründen, werde ich mich mit dem beschäftigen, was wir bei anderen Tieren und verschiedenen Menschengesellschaften unserer Zeit beobachten, sowie mit Erkenntnissen, die wir von unseren Vorfahren in der früheren Welt ableiten können. Für eine unvoreingenommene Betrachtung ist es entscheidend, dass wir vorgefasste Ansichten so gut es geht beiseitelassen und aufgeschlossen in die Tiefe gehen; genau das habe ich hier versucht.

Meine These impliziert aber noch etwas anderes: Viel von der Art, wie wir Menschen unsere Sexualität zum Ausdruck bringen und unsere sexuellen Beziehungen eingehen, erwächst nicht aus angeborener biologischer Verdrahtung, sondern aus kulturellen Konstruktionen. Wie wir noch genauer erfahren werden, fegt schon ein oberflächlicher Blick auf das Sexualleben anderer Tiere alle Vorstellungen hinweg, wonach sexuelle Aktivität ausschließlich auf Fortpflanzung ausgerichtet sei. In der Biologie führt man eine immer länger werdende Liste von Gründen, warum Tiere miteinander Sex haben. Tiere nutzen Sex zur Stärkung von Bindungen und sozialem Zusammenhalt sowie zum Aufbau von Bündnissen. Sie nutzen Sex zum Täuschen, Konkurrieren und mit ökonomischer Absicht. Und sie haben sogar aus dem gleichen Grund Sex, der für uns meist entscheidend ist: einfach weil es Spaß macht.

Darüber hinaus wird Sexualität bei keiner anderen Spezies außer dem Menschen streng durch weit gefasste Konstruktionen wie Heterosexualität und sexuelle Monogamie eingeschränkt, und auch in der Geschichte unserer Spezies gab es solche Einschränkungen größtenteils nicht. Eine Neuinterpretation solcher Konstruktionen erscheint weniger verrückt, wenn wir bedenken, wie seltsam und neuartig sie eigentlich sind. Tiere masturbieren. Sie genießen Oralsex, »schwulen« Sex und Gruppensex. Sie haben »außerehelichen« Sex und bemühen sich, mit der Eifersucht fertigzuwerden, die sie häufig begleitet. Da die Menschen nun dieses angeblich neue sexuelle Terrain erkunden, können wir vielleicht einen Blick auf unsere tierischen Vettern werfen und Anhaltspunkte dafür gewinnen, wie man in diesem Minenfeld der gesellschaftlichen Verwerfungen zurechtkommt. Das ist kein Witz!

Die Frage, warum und mit wem wir Sex haben, wurde traditionell stärker durch kulturelle Werte beantwortet als durch die biologischen Grundlagen dieses Verhaltens. Meiner Ansicht nach ist es längst überfällig, dass wir die Wissenschaft in die Diskussion einbeziehen, und das Fachgebiet der Biologie kann uns dabei mindestens auf zweierlei Weise etwas über uns selbst lehren. Erstens trägt ein Blick auf die Naturgeschichte der Sexualität dazu bei, dieses interessante Verhalten in seinen vollständigen evolutionären Zusammenhang zu stellen. Ich behaupte zwar nicht, die Verhaltensweisen anderer Tiere seien die alleinige oder auch nur die beste Grundlage für moralische Überlegungen, aber die Erforschung von Tieren kann unser eigenes Handeln entmystifizieren und schädliche Tabus abmildern. Und wenn wir zweitens vollständig verstehen, aus welch unterschiedlichen Gründen Tiere sexuell aktiv sind und was sie dadurch für sich selbst und andere gewinnen, können wir die vielen sozialen Facetten der Sexualität umfassender würdigen und sie besser in den Zusammenhang unserer anderen Bedürfnisse stellen.

Die biologischen Grundlagen des Tierverhaltens zu studieren, ist schwierig und erfordert ständiges Erforschen und Hinterfragen. Das Verhalten der Menschen begreifen zu wollen, ist jedoch noch mühsamer, denn man muss bedenken, wie viel komplexer unsere Kultur ist. Hin und wieder werde ich eine gerade Linie vom Verhalten eng mit uns verwandter Tiere zu unserem eigenen ziehen und darauf hinweisen, dass wir über eine gemeinsame Evolutionsgeschichte verfügen. In solchen Fällen können wir tatsächlich eine Menge über die Hintergründe bestimmter Handlungsweisen lernen, wenn wir verstehen, wie sie bei anderen Tieren funktionieren.

Manchmal gibt es zwar Parallelen, aber keine direkte Verbindungslinie, das heißt, ein Verhalten dient unter Umständen ähnlichen Zielen, ist jedoch kein Erbe, das einer gemeinsamen Quelle entstammt. In der Biologie trifft man häufig auf dieselben Merkmale bei verschiedenen Lebewesen – nicht weil die Arten eng miteinander verwandt wären, sondern weil die Eigenschaften aufgrund ihrer speziellen Vorteile unabhängig voneinander entstanden sind. So haben beispielsweise sowohl Vögel als auch Fledermäuse Flügel und die Fähigkeit zum Fliegen ausgebildet, aber das geschah getrennt voneinander. Deshalb sind die Flügel von Vögeln und Fledermäusen unterschiedlich gebaut, auch wenn sie ähnlich funktionieren, weil sie den gleichen Zweck erfüllen. Das Gleiche kann für Verhaltensweisen gelten. Die Neigung der heutigen Menschen, Dyaden (stabile Zweiergruppen zum Großziehen von Kindern) zu bilden, beobachtet man auch bei Dianameerkatzen. Dagegen gibt es sie bei keiner der Menschenaffenarten, mit denen wir näher verwandt sind, und auch bei keiner der kleinen Affenarten, mit denen die Dianameerkatzen verwandt sind. Die Tendenz, Paare zu bilden, hat sich also offensichtlich bei diesen beiden Arten unabhängig voneinander entwickelt; wir müssen demnach Vorsicht walten lassen, wenn wir die Dyaden-Bildung der Dianameerkatzen als Entsprechung zur Ehe der Menschen betrachten, wie manche Psychologen es getan haben. Auf die vorhandene oder nicht vorhandene gemeinsame Evolutionsgeschichte werde ich immer wieder hinweisen.

Was dieses Buch ist (und was nicht)

Die ersten fünf Kapitel bieten eine umfassende Darstellung der biologischen Grundlagen von Geschlecht, Gender, Sexualität und sexuellen Beziehungen bei nichtmenschlichen Tieren. Um unsere eigene Beziehung zur Sexualität wirklich einschätzen zu können, müssen wir sie in ihren vollständigen evolutionären Zusammenhang stellen, denn unsere Spezies ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Wir sind mit allen Tieren verwandt – die anderen afrikanischen Menschenaffen sind unsere Vettern und nur durch wenige Millionen Jahre einer eigenständigen Abstammung von uns getrennt –, und unser Körper, unser Geist sowie unsere Verhaltensweisen haben unter denselben aufmerksamen Blicken der natürlichen Selektionskräfte Gestalt angenommen. Wenn wir beobachten, wie andere Tiere mit ihrer Sexualität umgehen, können wir in einem viel größeren Umfang beurteilen, was beispielsweise »Gender« wirklich bedeutet, wozu Sex wirklich dient und warum sexuelle Beziehungen für uns so wichtig sind. Mit diesen Kenntnissen sind wir in der Lage, uns auf die menschliche Sexualität zu konzentrieren; das werden wir in den letzten drei Kapiteln tun.

Ich widme mich dem Thema zuallererst als Wissenschaftler. Im Mittelpunkt meiner Forschung stehen die Evolution des Menschen und die genetischen Grundlagen für unsere Einzigartigkeit. Insbesondere gehe ich der Frage nach, wie die Gene von Menschen im Vergleich zu denen anderer Menschenaffen auf einzigartige Weise reguliert werden. Was Anatomie, Verhalten und anderes angeht, wissen wir viel darüber, wie Menschen sich von anderen Tieren unterscheiden und welche Unterschiede etwa zwischen dem Jetztmenschen und älteren Spezies wie dem Neandertaler, Homo erectus und so weiter bestehen. Peinlich wenig ist aber über die genetischen Ursprünge solcher Unterschiede bekannt; deshalb beschäftigt sich mein Labor mit der Einzigartigkeit der Menschen unter genetischen Gesichtspunkten. Wenn wir Fälle von menschenspezifischer Genexpression entdecken, so unsere Hoffnung, können wir auch nachverfolgen, wie unsere so ganz besondere Art entstehen konnte.

Im Jahr 2012 entschloss ich mich, ein Buch über die Einzigartigkeit der Menschen zu schreiben. Mein Sabbatjahr widmete ich den Recherchen und dem Lesen über das Thema, aber dann stellte ich fest, dass ich genau das Gegenteil des Buches schrieb, das ich hatte schreiben wollen. Als ich der Frage nachging, wie sich Tiere verhalten und welche Instinkte und Gefühle die Triebkräfte solcher Verhaltensweisen sind, gelangte ich zu dem Schluss, dass Tiere gar nicht so anders sind als wir, und diese Erkenntnis – Not So Different – wurde dann auch zum Titel des Buches, das aus meiner Arbeit hervorging.9 Und genauso ist es mit dem Buch, das Sie hier lesen: Es betont nicht die Unterschiede, sondern die Ähnlichkeiten zwischen uns und anderen Tieren.

Dass ein Wissenschaftler erforscht, warum die Menschen anders sind, und dann ständig Bücher und Artikel darüber schreibt, in welcher Hinsicht Menschen nicht anders sind, mag verwirrend erscheinen, aber in gewisser Weise geht es genau darum. Um wirklich zu verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein – die treibende Frage für meine ganze Arbeit –, müssen wir sowohl unsere bruchlose Verbindung zu anderen Tieren als auch unsere Besonderheiten erkunden. Es ist wie mit den beiden Seiten einer Münze: Betrachtet man nur eine davon, erfährt man lediglich die halbe Geschichte.

Vor ein paar Jahren begann meine Arbeitsgruppe beispielsweise damit, nach einzigartigen Genen des Menschen zu suchen – das heißt nach Genen, die wir besitzen, unsere engsten heutigen Verwandten (die Schimpansen) aber nicht. Solche speziesspezifischen Gene werden manchmal »verwaiste Gene« oder fachsprachlich »taxonomisch eingeschränkte Gene« genannt.II Dabei verfolgten wir einen etwas naiven Ansatz: Wir nutzten leistungsfähige moderne Computerverfahren zur Genomanalyse, die einfach die Chromosomen von Menschen und Schimpansen nebeneinanderlegten, und suchten dann mit genauen Kriterien, die wir unzähligen Veränderungen unterwerfen konnten, nach Unterschieden. Eigentlich rechnete ich nicht damit, etwas Neues zu finden, denn ähnliche Verfahren nutzten andere Forschende schon seit Jahren. Dennoch hielt ich es für eine gute Möglichkeit, um diese Analysetechnik einmal zu erproben und festzustellen, was man mit ihr erreichen konnte.

Wir suchten uns die Nummer 21 aus, das kleinste Chromosom des Menschen, und hofften, damit etwas über die Methode lernen zu können, bevor wir uns an fettere Chromosomen wagten. Zu meiner großen Überraschung hatten wir schon nach wenigen Wochen in der DNA eine »Insel« gefunden, die ausschließlich menschlich war, und innerhalb dieser Insel lagen einige Gene eines besonderen Typs, die sogenannten microRNA-Gene. Weitere zwei Jahre brachten wir damit zu, diese Gene mit penibelst genauen Analysen zu charakterisieren, Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu ziehen und uns zu vergewissern, dass wir mit dem, was wir zu sehen glaubten, recht hatten. Im Jahr 2021 veröffentlichten wir schließlich die Entdeckung.10 Mittlerweile verwenden wir das Verfahren mit dem weiter gefassten Ziel, im Genom des Menschen sämtliche ausschließlich menschlichen RNA-Gene nachzuweisen. Für Genomforscher ist die heutige eine unglaublich spannende Zeit!

Diese Arbeit wurde teilweise zur Anregung für mein zweites Buch Human Errors: A Panorama of Our Glitches, from Pointless Bones to Broken Genes.11 Darin konzentrierte ich mich gezielt auf die Evolutionsgeschichte des Menschen und insbesondere auf die Folgen und Nachteile der einzigartigen Vergangenheit unserer Spezies, die neben einer biologischen ebenso eine kulturelle Evolution durchgemacht hat. Wir sind eine seltsame, exzentrische Spezies, und das nicht nur wegen unserer Zellen und Gene, sondern auch weil wir unsere eigene Lebensumwelt erschaffen, statt einfach nur auf die Welt um uns herum zu reagieren.

Das alles erwähne ich, weil es meine Überzeugung deutlich macht: Wenn wir die Natur des Menschen – in diesem Fall unsere genetische Natur – wirklich verstehen wollen, müssen wir sowohl die Gene studieren, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben, als auch jene, die ausschließlich bei uns vorkommen. Wäre ich davon ausgegangen, dass nur gemeinsame genetische Elemente eine Funktion haben können – eine Annahme, die in der Evolutionsgenetik weitverbreitet ist –, hätte ich diese spezifisch menschlichen Gene auf dem Chromosom 21 ebenso übersehen wie viele Forschende zuvor. Hätte ich aber die Tatsache außer Acht gelassen, dass unsere Chromosomen eine gemeinsame Geschichte mit denen der Schimpansen und Gorillas haben, wäre ich nicht in der Lage gewesen, diese Gene überhaupt zu finden.

Das Gleiche gilt auch für andere Aspekte der menschlichen Natur, darunter unsere gesellschaftliche und sexuelle Natur. Herauszufinden, was wir mit anderen Tieren gemeinsam haben, ist ebenso wichtig wie die Würdigung von allem, was uns von ihnen unterscheidet. Wir sind eine einzigartige Spezies. Aber wir sind auch eine von mehreren Arten afrikanischer Menschenaffen. Zu dem, was wir sind, wurden wir sowohl durch unsere kollektive als auch durch unsere singuläre Geschichte. Dieses Buch konzentriert sich vorwiegend auf die Vergangenheit, die wir mit anderen Tieren teilen, denn Bücher über die einzigartige Geschichte der menschlichen Sexualität haben andere bereits geschrieben. Die letzten drei Kapitel fassen einen Teil solcher Arbeiten zusammen, und nachdem zuvor fünf Kapitel lang von anderen Tieren die Rede war, versuche ich damit, uns wieder zu unseren typisch menschlichen Erfahrungen mit Geschlecht und Gender zurückzuführen.

In der Biologie erforscht man Tiere meist um ihrer selbst willen und unter tierspezifischen Gesichtspunkten, aber nicht als Mittel, um das Menschsein zu verstehen. Schließlich sind Menschen nicht die einzige Spezies mit besonderen Merkmalen. Jede Spezies ist einzigartig und muss als solche verstanden werden. Menschen sind nicht einfach eine klügere Version von Schimpansen, und wir dürfen andere Tiere nicht darauf reduzieren, einfachere Versionen unserer selbst zu sein. Aber wenn wir beobachten, wie verschiedene Tiere Geschlecht, Gender und Sexualität ausleben, ist es unmöglich, gewisse Gesetzmäßigkeiten und Gemeinsamkeiten zu übersehen, aus denen sich weiterreichende Erkenntnisse darüber ableiten lassen, worum es beim Sex eigentlich geht. Insbesondere von einem Umstand bin ich überzeugt: Wenn wir die Sexualität der Menschen wirklich verstehen wollen, müssen wir das ganze Bild betrachten, und dazu gehören zwangsläufig auch vergleichende Sichtweisen.

Solange wir nicht in eine Zeitmaschine steigen und unseren Vorfahren unmittelbar begegnen können, ist es am besten, wenn wir andere heutige Tiere so eingehend wie möglich beobachten. Wir sollten uns darum bemühen, Aufschluss über gemeinsame Merkmale zu bekommen und herauszufinden, wie sich diese Merkmale in der einzigartigen Umwelt entfaltet haben, in der die Evolution unserer Vorfahren stattgefunden hat. Das ist natürlich ein unvollkommener Ansatz, aber in Verbindung mit allem, was wir durch Fossilien und Artefakte wissen, liefert er unschätzbar wertvolle Erkenntnisse darüber, warum wir so und nicht anders sind.

Hier muss ich eine Warnung aussprechen: Wer an den eigenen Vorurteilen über Gender oder Sexualität hängt, findet dieses Buch vielleicht beunruhigend. Auf den folgenden Seiten wird davon die Rede sein, wie andere Tiere seit Jahrmillionen mit der Entfaltung ihres Geschlechts experimentieren. Wir werden sehen, dass ein intergeschlechtlicher Körperbau weder etwas Neues noch etwas Beängstigendes ist. Es wird deutlich werden, dass sexuelle Aktivität nicht ausschließlich der Fortpflanzung dient und das auch nie der Fall war. Ich werde darlegen, warum sexuelle Monogamie im gesamten Tierreich nahezu unbekannt ist. Wir werden uns mit den vielen menschlichen Gesellschaften beschäftigen, in denen unsere heutigen sexuellen Tabus keinen Platz hatten. Gleichzeitig können wir uns über die ersten Versuche amüsieren, die Homosexualität bei Menschen zu erklären. Wir werden verfolgen, wie Transgender-Personen in einer Welt zurechtkamen, die sich schlecht für sie eignete. Und wir werden fragen, wie um alles in der Welt die Dinge so schiefgehen konnten. Noch vor zwei Generationen haben wir buchstäblich verlangt, dass Teenager sich dazu bereit erklärten, eine dauerhafte und exklusive Ehe mit einer Person einzugehen, die sie nie zuvor nackt gesehen hatten – von einer intimen oder romantischen Bindung ganz zu schweigen.

Natürlich liefert die Erforschung des Sexuallebens von Tieren nicht alle Antworten. Was mein Sexualleben angeht, so würde ich mit vielen Tierarten nicht tauschen wollen. (Mit Ausnahme der Bonobos. Wenn wir wählen könnten, als welche Spezies wir wiedergeboren werden wollen, wären wir verrückt, uns nicht für die Bonobos zu entscheiden.) Die Praxis anderer Tiere und auch die unserer Vorfahren weist sicherlich durchaus beneidenswerte Facetten auf, es gibt jedoch auch Schreckliches. Wenn beispielsweise ein Gorillamännchen einen Harem übernimmt, ermordet es sofort alle Kinder des vorherigen Alphamännchens. Das hat zwar einen eindeutigen Evolutionsvorteil, ist aber kein Aspekt des Gorillalebens, den ich uns zur Nachahmung empfehlen würde. Ebenso kennen beide Schimpansenarten kein Tabu hinsichtlich sexueller Erfahrungen mit sehr jungen Tieren und sogar Säuglingen, doch das ist für mich kein Anlass, meine Abscheu gegenüber der Pädophilie auch nur ein klein wenig zu überdenken. Nur weil Tiere etwas tun, heißt das nicht, dass wir es ebenso tun können oder sollten.

Aber wenn es um eine weiter gefasste, vielfältigere und flexiblere Einstellung zu Gender und Sexualität geht, können wir viel lernen, indem wir über unsere eigene Spezies hinausblicken. Wir müssen nichts nachahmen, wenn wir es nicht wollen. Um ehrlich zu sein, bin sogar ich manchmal unsicher, was ich von alledem halten soll. Eines weiß ich allerdings: Viele Argumente, die der Etablierung jener starren, eingeschränkten Haltung gegenüber der Sexualität dienten, die in den letzten Jahrhunderten große Teile der Welt beherrscht hat, lösen sich schnell auf, wenn wir einen Blick in die Runde werfen. Unsere Biologie schreibt keine strenge Zweiteilung der Geschlechter vor. Heterosexualität ist nicht die vorherrschende sexuelle Orientierung. Sexuelle Monogamie ist unter Säugetieren praktisch unbekannt. Und die Kernfamilie ist für Menschen nicht der einzig natürliche Zustand.

Vielleicht identifiziert sich jemand grundsätzlich als Frau. Oder jemand fühlt sich sexuell nur zu Frauen hingezogen. Vielleicht bevorzugt der eine oder die andere eine traditionelle Form von Dating, Beziehungen und Ehe. Und einige wollen vielleicht mit polyamoren Beziehungen nichts zu tun haben. Nichts in diesem Buch soll persönliche Einstellungen zu solchen Themen infrage stellen. Aber ich hoffe, es liefert gute Gründe, um anzuerkennen, dass manche Mitmenschen anders empfinden und dass ihre Sichtweisen ebenso Gültigkeit haben wie unsere eigenen. Wenn wir andere Tiere oder unsere eigene Vergangenheit betrachten, finden wir eine gewaltige Vielfalt. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, ein Mann zu sein, nicht den einen angemessenen Weg, Sex zu haben oder Beziehungen einzugehen, und es gibt keine starre Schablone dafür, wie eine Familie auszusehen hat.

Manche Kritiker der hier dargelegten Gedanken werden behaupten, diese seien von einer sozialpolitischen Agenda beeinflusst, ein Ausdruck verrückter postmoderner Werte oder vielleicht sogar nur meine persönlichen Überzeugungen oder Vorlieben. Das stimmt nicht. Wenn wir bei anderen Tieren oder auch bei einigen früheren oder heutigen Bevölkerungsgruppen der Menschen auf sexuelle Verhaltensweisen stoßen, die meinen eigenen Wertvorstellungen zuwiderlaufen, werde ich das ohne Zögern aussprechen. Sexuelle Nötigung und erzwungener Geschlechtsverkehr sind beispielsweise bei anderen Arten und sogar bei unseren engen Verwandten nichts Ungewöhnliches, wobei beide Geschlechter sowohl Täter als auch Opfer sein können. Dennoch verurteile ich Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe ebenso nachdrücklich wie jeder andere. Man mag es glauben oder nicht, aber in diesem Buch geht es nicht um Werte; es geht um Biologie.

Dessen ungeachtet möchte ich den Lesenden nicht vormachen, ich hätte hier keine eigenen Interessen. Ich bin nicht nur ein Wissenschaftler, der sich für das Wesen des Menschen interessiert, sondern ich bin auch ein schwuler Mann und trete seit Ende der 1990er-Jahre für Schwulenrechte ein. Ebenso bin ich an der Institution der Ehe beteiligt. Ich habe 2013 vor dem Obersten Gerichtshof die Verhandlung im Verfahren United States vs. Windsor mit angehört, in dem es um die gleichgeschlechtliche Ehe ging; ich habe Mitglieder der Westboro Baptist Church zum Wegschauen gezwungen; und ich habe geheiratet, sobald in meinem Heimatstaat New York die juristische Möglichkeit dazu bestand. Mein Mann und ich ziehen zwei Kinder groß, die wir aus einem Pflegeverhältnis heraus adoptiert haben. Allen, die mir vorwerfen, ich wolle das Konzept von Ehe und Familie zerstören, sage ich: Warum sollte ich gerade diese Institution ruinieren wollen, nachdem ich so hart dafür gekämpft habe, Zugang zu ihr zu erhalten?

Wenn wir naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf gesellschaftliche und persönliche Angelegenheiten oder auch auf politische Fragen beziehen, müssen wir letztlich immer das »Ist« vom »Sollte« trennen. Wissenschaft beschäftigt sich traditionell mit dem »Ist«. Forschende bemühen sich darum, das Wesen der Dinge zu untersuchen und aufzuzeigen, wie sie wirklich sind. Der Frage nachzugehen, wie Dinge sein »sollten«, ist Aufgabe anderer Fachgebiete wie Philosophie, Jura und Theologie. Aber die Grenzen sind fließend, und zwischen »ist« und »sollte« kann nie sauber getrennt werden. Wie können wir erkennen, wo wir sein »sollten«, ohne zuvor vollständig begriffen zu haben, wo wir stehen und wie wir hierhergekommen sind?

Sosehr ich mich auch darum bemühen werde, in diesem Buch einen leidenschaftslosen Blick auf die biologischen Grundlagen der Sexualität zu werfen, so werde ich doch zwangsläufig den Spagat zwischen den Welten von »ist« und »sollte« vollziehen müssen; etwas anderes vorzutäuschen, wäre unaufrichtig.

Das einfachste und am häufigsten gewürdigte Beispiel dafür aus dem Bereich der Sexualforschung ist die Masturbation. Jahrhundertelang beharrten Fachleute in der christlichen Welt, darunter auch Forschende, auf einem ganz bestimmten »Sollte«: Menschen sollten nicht masturbieren, weil es sündig und für Körper und Geist schädlich sei. Als man endlich die Wissenschaft dazu befragte, zeigte sie, dass nahezu alle Menschen (und nahezu alle Tiere!) regelmäßig masturbieren und dass damit allein weder im Körper noch im Geist auch nur der geringste Schaden angerichtet wird. Das erforderte eine umfangreiche Revision all dessen, was bis dahin über das »Sollte« in Bezug auf die Masturbation geglaubt und gelehrt worden war. Manche religiösen Gemeinschaften erhalten zwar das Tabu stillschweigend um einer einheitlichen Doktrin willen aufrecht, ansonsten hat man es aber praktisch überall fallen gelassen, und heute lernen junge Leute im Sexualkundeunterricht, dass Masturbation vollkommen normal und gesund ist. Auch wenn es nicht die Aufgabe der Wissenschaft ist, Aussagen über das »Sollte« zu machen, haben die von ihr gewonnenen Erkenntnisse mit Sicherheit Auswirkungen auf die Entwicklung und Beibehaltung solcher Aussagen. Ich biete hier ein kleines Stückchen der Wahrheit, das uns durch sorgfältige Beobachtung der Natur nahegebracht wurde. Was wir mit dieser Wahrheit anfangen, liegt bei uns – als Individuen und als Gesellschaft.

Das vorliegende Buch ist eindeutig keine Darstellung meiner eigenen »Sollte«-Ansichten, wenn es um Gender und Sexualität geht. Um ganz ehrlich zu sein: Diese herauszufinden, bemühe ich mich selbst immer noch. Ich glaube einfach, dass die jungen Menschen von heute auf etwas gestoßen sind, das eine weitere Erkundung lohnt, dass sie eine umfassendere Sicht auf die menschliche Sexualität haben. Welche Aussagen über das »Sollte« wir als Einzelne oder als Kultur auch machen, sie sollten nach meiner Überzeugung auf der bestmöglichen Wissenschaft basieren. Wir können eine freiere, weitreichende Entfaltung unserer Sexualität in Betracht ziehen und selbst entscheiden, welche Aspekte davon wir uns zu eigen machen oder ablehnen. Ganz gleich, wohin es uns führt, wir werden durch einen aufrichtigen, umfassenden Blick auf die Naturgeschichte der Sexualität besser informiert sein.

Wollen wir anfangen?

IDas ist natürlich nicht die wissenschaftliche Definition von »Spezies«. Aber den Begriff zu definieren, ist so schwierig, dass es in der Biologie mehrere konkurrierende Definitionen gibt.

IIIch bezeichne sie lieber als »junge Gene«, denn ich halte die Mechanismen, die für die Schaffung neuer Gene sorgen, für weitaus interessanter als die Frage, welche engen Verwandten die Gene gemeinsam haben und welche nicht.

Kapitel 1

Der Regenbogen der Evolution: Männchen, Weibchen und mehr

Der zweitumsatzstärkste Film des Jahres 2003 war Findet Nemo, ein Familien-Animationsfilm über den Clownfisch Marlin, der nach seinem Sohn Nemo sucht. Wer ihn nicht gesehen hat, sollte dies als Spoileralarm betrachten. Der Film beginnt mit dem tragischen Tod von Nemos Mutter. Marlin wird Witwer, und Nemo geht orientierungslos verloren, hinweggespült von den Meeresströmungen. Der Rest des Films ist die Geschichte von Marlins Suche nach dem verlorenen Sohn. Es ist eine herzerwärmende Erzählung über Liebe, Verlust und das Erwachsenwerden.

Wäre der Film biologisch korrekt, verliefe die Geschichte ein wenig anders. Nach dem Verlust seiner Partnerin würde Marlin sich in ein Weibchen verwandeln. Bei der schlussendlichen Wiedervereinigung mit Nemo wäre Marlin dessen Mutter.

Clownfische (Amphiprion ocellaris) leben in einer präzise in Schichten eingeteilten Sozialstruktur. Wie bei vielen sozialen Tieren – in der Regel allerdings nicht bei Fischen – gibt es bei ihnen eine Dominanzhierarchie, die über das Vorrecht beim Fressen und bei der Paarung bestimmt. In jeder Kleingruppe ist diese Hierarchie streng an die Größe gebunden: Die Spitzenposition hat der größte Fisch inne, der auch der älteste und aggressivste ist. Dieser Alphafisch ist immer ein Weibchen, und zwar das einzige in der Gruppe. Demnach muss Nemos Mutter also das Alphatier ihrer Clownfischgruppe gewesen sein.

Umgeben ist das Alphaweibchen von einem kleinen Harem aus Männchen, deren Rangfolge wiederum von Größe und Alter abhängt. Das älteste und größte wird als »Alphamännchen« bezeichnet und ist gegenüber seinen Geschlechtsgenossen dominant, dem Alphaweibchen aber ordnet es sich unter. Nur das Alphamännchen darf sich mit dem Alphaweibchen paaren. Alle anderen müssen warten, bis diejenigen, die über ihnen stehen, entweder gestorben sind oder sich in Weibchen verwandelt haben. Da Marlin einen Sohn hat, muss er also das Alphamännchen gewesen sein.

Eine Clownfischgruppe besteht aus einem Brutpaar und einigen Ersatzmännchen, die warten, bis sie an der Reihe sind. Geht das Alphaweibchen verloren, ist die Gruppe nicht nur führungslos, sondern sie hat auch kein Weibchen mehr. Was ist dann zu tun? Um den Harem zu übernehmen, muss das Alphamännchen, das der größte verbliebene Fisch ist, nur sein Geschlecht von männlich zu weiblich ändern. Und genau das tut es.

Bei Clownfischen gibt es nahezu keinen Geschlechtsdimorphismus, das heißt, Männchen und Weibchen sind im Wesentlichen gleich und besitzen sogar eine Keimdrüse mit doppeltem Potenzial, die als Ovotestis oder »Zwitterdrüse« bezeichnet wird. Nachdem das Alphaweibchen verloren gegangen ist, verkümmert im Laufe ungefähr eines Monats das Hodengewebe des Alphamännchens, während das Eierstockgewebe schnell heranreift und tätig wird. Gleichzeitig steigen alle anderen Männchen im Rang auf und wachsen. Das Betamännchen wird zum neuen Alphamännchen, das Gamma wird zum Beta und so weiter.

Als Vater Marlin den Sohn Nemo findet, hätte »sie« eigentlich schon den Übergang zum Weibchen vollzogen haben müssen. Die beiden hätten dann in der Nähe eine Seeanemone gefunden und sich dort ein neues Zuhause geschaffen. Wenn man annimmt, dass keine größeren Männchen hinzukämen, hätten Nemo und Marlin angefangen, sich zu paaren. Vermutlich ist es gut, dass man bei Pixar keine biologische Genauigkeit angestrebt hat.

Let’s talk about sexes, Baby

Im Englischen hat das Wort sex unglücklicherweise zwei verschiedene Bedeutungen, und beide spielen in Gesprächen über eines der beiden Themen häufig eine Rolle. Wie im Deutschen bezeichnet sex die Verhaltensweisen und Aktionen in Verbindung mit Sexualität, wobei in der Regel die Geschlechtsorgane beteiligt sind und es zur körperlichen Erregung einer oder mehrerer Personen sowie manchmal sogar zur Fortpflanzung kommt. Wir sprechen davon, dass wir »Sex haben«, und das ist sowohl wissenschaftlich als auch – nun ja – ansonsten der lustige Teil. Sex ist außerdem das englische Wort für »Geschlecht«. In der Alltagssprache wird damit oft zum Ausdruck gebracht, ob jemand ein Junge oder ein Mädchen ist, beispielsweise wenn gefragt wird: »Do you know the sex of the baby?« (»Weißt du, welches Geschlecht das Baby hat?«) Die wissenschaftliche Definition des Wortes – häufig spezifiziert als »biologisches Geschlecht« – wurde nach und nach immer mehr eingeengt, sodass damit heute in der Biologie meist nur noch die Produktion von Samen- oder Eizellen bezeichnet wird. Und wie oft kommt es in dieser Bedeutung in Gesprächen vor? Nur selten. Wenn wir aber die Sexualität der Menschen genauer betrachten wollen, müssen wir an dieser Stelle ansetzen, denn jeder Körperteil und jedes Verhalten im Bereich von Geschlecht, Gender und Sexualität geht auf den Umstand zurück, dass vor rund 2Milliarden Jahren diese beiden ganz besonderen Zelltypen entstanden sind: die Samen- und die Eizelle.

Wenn man in der Biologie vom »Geschlecht« eines Tieres redet, meint man damit in der Regel die Art der Keimzellen, die dessen Körper produziert. »Keimzelle« oder »Gamet« ist die Bezeichnung für die stark spezialisierten Fortpflanzungszellen, von denen es zwei Formen gibt: Die größeren werden umgangssprachlich als »Eizellen« bezeichnet, die kleineren als »Samenzellen«. Keimzellen besitzen als einzige Körperzellen nur genau halb so viel DNA wie alle anderen Zellen. Hier liegt der Schlüssel zu dem eleganten genetischen Tanz, der bei der sexuellen Fortpflanzung stattfindet, und er ist der einzige Grund, warum diese Zellen überhaupt existieren. Wenn zwei Gameten verschmelzen und zu einer einzigen Zelle werden, steuern sie zu dieser ihre gesamte DNA-Ausstattung bei. Damit der DNA-Gehalt sich nicht in jeder Generation verdoppelt, halbiert sich jedes Mal die DNA-Menge, wenn die Gameten entstehen.

Aus diesem Grund enthält jede Samen- und Eizelle nur halb so viele Chromosomen wie alle anderen Zellen des Organismus. Beim Menschen besitzen die Gameten jeweils 23Chromosomen, in jeder anderen Zelle unseres Körpers liegen 23Chromosomenpaare, wobei jedes Chromosom von einem biologischen Elternteil stammt – insgesamt sind es also 46. Wenn sich unsere Gameten bilden, erhält jeder eine zufällige DNA-Mischung, die zum Teil vom Vater und zum Teil von der Mutter stammt; entscheidend ist aber, dass jedes Chromosom in jedem Gamet genau ein Mal vorkommt, sodass sich die Gesamtzahl von 23 ergibt.

Wie wir, so besaßen auch unsere Eltern zwei Exemplare jedes Chromosoms, wiederum jeweils eines von jedem ihrer Elternteile, aber nur eines davon haben sie an uns weitergegeben. Die Auswahl eines Chromosoms gleicht einem Münzwurf, und bei den 23Chromosomen entspricht das 23Münzwürfen. Damit ergeben sich mehr als 8Millionen Chromosomenkombinationen (223). Und da wir zwei Elternteile haben, können wir diese Zahl verdoppeln.I Hinzu kommt noch, dass jede Samen- oder Eizelle eine gewisse Anzahl neuer Mutationen enthält. Bei Menschen liegt deren Zahl zwischen 50 und 200. Die Entstehung der Gameten verläuft also in Schritten, die Vielfalt hervorbringen: Jedes Mal, wenn sich ein neues Individuum entwickelt, werden automatisch und unausweichlich einzigartige genetische Kombinationen geschaffen. Das ist der Grund, warum zwei Elternteile theoretisch Millionen Kinder haben könnten, ohne dass zwei von ihnen genetisch genau gleich wären.II Die Karten werden immer wieder neu gemischt.

Der Karyotyp eines Menschen mit 23Chromosomenpaaren

Da das biologische Geschlecht davon abhängt, was für Keimzellen ein Tier produziert, und da es zweierlei Keimzellen gibt – Samen- und Eizellen –, halten viele Menschen das biologische Geschlecht für ein einfaches Entweder-oder, auch wenn sie anerkennen, dass es mit dem Gender nicht so einfach ist. Die Vielschichtigkeit des Genders werden wir im nächsten Kapitel erörtern, aber schon die Vorstellung, das biologische Geschlecht sei ausschließlich binär, ist problematisch, selbst wenn wir es nur danach bestimmen, was für Keimzellen ein Tier bildet. Es gibt mindestens drei Geschlechter, denn wir dürfen die Hermaphroditen nicht vergessen. Wer glaubt, das biologische Geschlecht sei eine einfache Angelegenheit, sollte jetzt den Sicherheitsgurt anlegen, denn es wird ein holpriges Kapitel.

Hermaphroditen (auch »Zwitter« genannt) sind Tiere oder Pflanzen, die sowohl Samen- als auch Eizellen produzieren können, und das häufig zur gleichen Zeit. Bei den meisten Wirbeltieren (Tieren mit einer Wirbelsäule) kommen nur Männchen und Weibchen vor, aber zu vielen Arten wirbelloser Tiere gehören auch Hermaphroditen. Einige Spezies bestehen ausschließlich aus Zwittern, manchmal sind sie neben Männchen und Weibchen vorhanden, und bei anderen Arten gibt es die Dichogamie, das heißt, ein Individuum wechselt zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Lebenszyklus das Geschlecht.

Außerdem kennen wir die Parthenogenese: Tiere mancher Spezies können sich ganz allein fortpflanzen, aber nicht durch Klonbildung. Von »Parthenogenese« spricht man, wenn eine Eizelle sich zu einem vollständigen Organismus entwickelt, ohne dass sie befruchtet wurde. Ein berühmter Fall ereignete sich 2006: Damals produzierte ein einsamer weiblicher Komodowaran (Varanus komodoensis) im Zoo von Chester in Großbritannien ohne den Beitrag eines Männchens ein Gelege, und aus den Eiern schlüpften Junge, die sich zu vollkommen normalen Komodowaranen entwickelten. Dasselbe seltene Phänomen wurde später auch bei wilden Komodowaranen beobachtet.1 Ebenso kennt man die Parthenogenese von Haien,2 domestizierten Truthähnen sowie verschiedenen Schlangen und Echsen. Die betreffenden Individuen sind Weibchen, denn sie produzieren Eizellen. Es handelt sich aber um ungeschlechtliche Fortpflanzung, da nur ein Individuum beteiligt ist; die Nachkommen sind jedoch keine Klone, weil ihr Genom nicht mit dem des einen Elternteils identisch ist.

Mehrere Arten der Rennechsen (Gattungen Aspidoscelis und Cnemidophorus) pflanzen sich sogar ausschließlich durch Parthenogenese fort.3,4 Alle Angehörigen dieser Spezies sind Weibchen und legen Eier, die sich zu ausgewachsenen Tieren entwickeln, ohne dass sie jemals befruchtet wurden. Und doch betreiben auch diese Echsen Sex!

Bei Rennechsen findet eine induzierte Ovulation statt, das heißt, sie müssen begattet werden, damit der Eisprung stattfindet. Zwei Weibchen bringen sich also gegenseitig zum Eisprung, indem sie sich abwechselnd gegenseitig besteigen, und danach legen sie Eier, die sich zu Töchtern entwickeln. In Kapitel 3 wird noch einmal von den Rennechsen die Rede sein; vorerst reicht es, wenn ich sage: Die Vorstellung, das biologische Geschlecht müsse etwas Binäres sein, weil es nur zweierlei Keimzellen gibt, wird schon durch Hermaphroditen und Parthenogenese ruiniert.

Und das ist noch nicht alles: Da man erkannt hat, dass sich die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht nur auf die Keimdrüsen, sondern auch auf Organe und Strukturen im ganzen Körper anwenden lassen, wird jetzt der Begriff »Gametengeschlecht« immer gebräuchlicher. Er ermöglicht klare Aussagen über Individuen, bei denen manche Körperteile nicht zum Geschlecht der Geschlechtsdrüsen passen. Der Körper mancher Tiere – und Menschen – ist ein Mosaik aus typisch männlichen und weiblichen Formen, und wenn man von dem »Gametengeschlecht« spricht, verdeutlicht man, was für Gameten er produziert.

Reden wir einmal Tacheles: Gameten sind im Gesamtzusammenhang der Evolution das Allerwichtigste. Einzelne Organismen, auch jeder und jede von uns, spielen überhaupt keine Rolle. Wir sind nur kleine Pünktchen auf einer uralten Zeitachse. Unsere Körper werden irgendwann spurlos verschwinden, aber bestimmte Elemente könnten wirklich unendlich weiterleben: unsere Gene. Wir sind nur Behälter zur Verbreitung der Gene, und die Gameten sorgen dafür, dass es uns gelingt. Um die Gameten wirklich zu verstehen, müssen wir großen Abstand von dem Thema gewinnen und eine viel grundsätzlichere Frage über unsere Fortpflanzung stellen: Warum haben Pflanzen und Tiere überhaupt Sex?

Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung treffen zwei Individuen aufeinander, und durch die Kombination ihres genetischen Materials entsteht ein neues Individuum. Das ist aber nicht der einzige Weg für Lebewesen, um sich zu vermehren. Die Organismen, die auf unserem Planeten mit Abstand vorherrschen, sowohl was ihre Biomasse als auch was die schiere Zahl der Individuen angeht, pflanzen sich überhaupt nicht durch Sex fort: Ich meine die Bakterien.

Bakterien und die meisten anderen Mikroorganismen reproduzieren sich durch verschiedene Formen der Klonbildung. Ein Individuum teilt sich in zwei (oder manchmal mehr) Tochterzellen, und die neuen Individuen sind Klone voneinander wie auch Klone der Ausgangszelle, die mit der Teilung zu existieren aufhört. Diese »ungeschlechtliche Fortpflanzung«, wie man sie nennt, verläuft sehr schnell und effizient. Das Bakterium Escherichia coli, der am eingehendsten untersuchte Organismus der Welt (und Hauptbestandteil menschlicher Exkremente), hat eine Verdoppelungszeit von nur 20Minuten. In einer geeigneten Kulturflüssigkeit, bei warmer Temperatur und unbegrenzter Nährstoffversorgung bringt eine einzige E.-coli-Zelle in nur 20Generationen eine Million Nachkommen hervor – und das in weniger als sieben Stunden. Würde sich der Vorgang – wiederum mit unbegrenzter Nährstoffversorgung – fortsetzen, könnte eine einzige E.-coli-Zelle in etwas mehr als 24Stunden theoretisch eine Kugel von Nachkommen hervorbringen, die größer ist als die Erde. Damit will ich sagen: Ungeschlechtliche Fortpflanzung ist schnell und produktiv.

Auch Bakterien betreiben Sex; er steht nur in keinem Zusammenhang mit der Fortpflanzung. Durch einen als »Konjugation« bezeichneten Prozess kann ein Bakterium einige Gene auf ein anderes übertragen. Nach dieser Übergabe findet aber keine Fortpflanzung statt – die beiden Bakterien gehen getrennte Wege. Der Spender verändert sich nicht, nachdem er die Übertragung vorgenommen hat; der Empfänger besitzt aber nun zusätzliche Kopien einiger Gene, und die gleichen unter Umständen nicht exakt den Genen, die das Bakterium ursprünglich enthielt. Es könnten sogar ganz neue Gene sein. Dieses Bakterium wählt in einem Prozess, der rein zufällig zu sein scheint, einen Teil der hinzugekommenen DNA aus und baut ihn in sein eigenes Genom ein. Auf diese Weise tauschen Bakterien tatsächlich Gene aus, was zu ihrer schnellen Evolution beiträgt. Bei Bakterien und vielen anderen Mikroorganismen verändert Sex die genetischen Eigenschaften der Teilnehmer; neue Individuen mit neuen Genkombinationen entstehen dabei aber nicht. Wenn allerdings die Zeit der Fortpflanzung gekommen ist, bilden sich einfach Klone.

Dagegen ist die geschlechtliche Fortpflanzung viel langsamer und energieaufwendiger, und sie wirft eine ganze Fülle von Schwierigkeiten auf, die es bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung nicht gibt. Die erste ist die Frage, wie sich das genetische Material zweier Individuen mischen soll. An dieser Stelle kommen die Gameten ins Spiel. Ein Genom ist groß und umfasst Tausende von Genen, die in DNA-Strängen, den Chromosomen, aufgereiht sind. Damit eine ganz neue Genkombination entsteht, muss das Ausgangsmaterial genau geordnet werden, denn wenn ein Gen zufällig verloren geht oder ein anderes in zu vielen Kopien vorhanden ist, können die Folgen verheerend sein. Und nicht nur das: Zellen enthalten einen komplizierten Apparat, der durch ein komplexes Netzwerk molekularer Verbindungen zusammengeschaltet ist. Manche Strukturen, etwa den Zellkern und das Zentrosom, darf eine Zelle nur ein Mal besitzen. Wenn zwei Zellen einfach zu einer größeren verschmelzen würden, entstünde selbst dann keine funktionsfähige Zelle, wenn man herausbekäme, wie die Genome gefahrlos und richtig neu kombiniert werden könnten.

Das ist nach allgemeiner wissenschaftlicher Überzeugung der Grund, warum sich bei Pflanzen und Tieren das ausgeklügelte System der Samen- und Eizellen entwickelt hat. Eine davon, die Eizelle, ist groß und enthält alles, was der neue potenzielle Organismus zu Beginn seines Lebens braucht. Die andere, die Samenzelle, ist winzig: Sie entspricht (beim Menschen) nur ungefähr 3Prozent der Größe einer Eizelle und verschmilzt nicht mit dieser, sondern drückt nur ihre Chromosomen hinein. Das ist mehr oder weniger alles.III Aus Gründen der Einfachheit behauptet nahezu jedes Biologiebuch (auch dieses!), Samen- und Eizelle würden »verschmelzen«; in Wirklichkeit sind Samenzellen aber gewissermaßen winzige Versandpakete für Chromosomen. Befruchtung ist weniger die Verschmelzung zweier Zellen als vielmehr die Übertragung der Chromosomen von der Samen- auf die Eizelle. Sobald das geschehen ist, wird die Eizelle zur Zygote, und der Entwicklungsprozess beginnt.

Wenn die beiden Genome zu einem werden, entsteht eine neue Genkombination, aber damit das möglich wird, ohne dass sich der DNA-Gehalt des Organismus in jeder Generation verdoppelt, bilden wir Gameten mit 50Prozent des normalen DNA-Gehalts. Besäßen wir allerdings von jedem Chromosom nur ein Exemplar, wäre die Vereinigung der beiden Genome ein unmöglicher, weil viel zu komplizierter Sortierprozess. Um zu vermeiden, dass jedes einzelne Chromosom nachverfolgt werden muss, besitzen Pflanzen und Tiere zwei Kopien von jedem Chromosom – mit Ausnahme der Gameten, die nur eine enthalten. Wenn zwei Gameten verschmelzen, wird demnach der richtige DNA-Gehalt wiederhergestellt. Durch dieses System – Halbierung der DNA bei der Entstehung der Gameten, Wiederherstellung der vollständigen Menge bei ihrer Verschmelzung – erhält jedes so entstandene Individuum eine einzigartige genetische Vielfalt.

Das Vorhandensein von nur jeweils einem Chromosomenexemplar in den Gameten, während alle übrigen Körperzellen zwei Kopien enthalten, war in der Evolution der sexuellen Fortpflanzung ein entscheidender Schritt. Bakterien besitzen keine zwei Chromosomenkopien, denn sie betreiben keinen Sex zur Fortpflanzung. Das ist auch der Grund, warum sie weder Samen- noch Eizellen brauchen. Ihr System ist viel einfacher, schneller und effizienter.

Warum also bevorzugen Pflanzen, Tiere, Pilze und andere komplexe Lebensformen die sexuelle Fortpflanzung, obwohl sie langsamer, aufwendiger und komplizierter ist? Die geschlechtliche Fortpflanzung hat zwei wichtige Vorteile, und beide haben mit der Vielfalt zu tun.

Erstens bietet das Phänomen der Diploidie – die Tatsache, dass immer zwei Versionen eines Chromosoms vorliegen – für jedes einzelne Gen eine Art »Sicherungskopie«. Das heißt, die Organismen können einen Ausgleich schaffen, wenn ein Gen geschädigt wird. Dann dient die zweite Kopie als Matrize zur Reparatur des Schadens. Durch diese Pufferwirkung sind diploide Organismen gegenüber Mutationen widerstandsfähiger. Mutationen sind Veränderungen der DNA, die durch Schädigung, Abbau oder Kopierfehler entstehen; in der Mehrzahl der Fälle beeinträchtigen sie das Gen und sind für den Organismus gefährlich. Die Diploidie entwickelte sich anfangs vermutlich sogar als Ausweichmechanismus gegen die Ansammlung schädlicher Mutationen in den einfach gebauten Mikroorganismen, die in der Frühzeit der Erde eine schnelle Evolution durchliefen.

Sicherungskopien aller Gene sind aber nicht nur praktisch für die Korrektur nachteiliger Mutationen. Sie schaffen auch Spielraum, um mit nützlichen Modifikationen zu experimentieren. Die meisten DNA-Veränderungen sind zwar schädlich oder haben überhaupt keine Wirkung, hin und wieder kann eine Mutation aber auch hilfreich oder kreativ sein, und solche Abwandlungen sind der Rohstoff aller evolutionären Veränderungen und Neuerungen. Deshalb haben Arten, die sich sexuell fortpflanzen, eine größere Flexibilität und können mit verschiedenen Genversionen experimentieren, denn zu jedem Gen gibt es eine Sicherungskopie, die die ursprüngliche Funktion beibehalten kann. Das ist so, wie wenn jemand nur ein Fahrrad hat. Dann wird er es nicht riskieren, schrille Umgestaltungen vorzunehmen und es damit möglicherweise zu ruinieren. Hat er aber ein zweites Fahrrad, kann er sich richtig ins Zeug legen und alle möglichen Modifikationen ausprobieren – wenn es nicht klappt, kann er immer noch auf das unveränderte Gefährt zurückgreifen. Bei Bakterien und ähnlichen Organismen gibt es für schädliche Veränderungen keinen Ausgleich; deshalb sind Mutationen bei ihnen viel gefährlicher und bieten weniger Gelegenheiten für kreative Experimente.

Da Arten, die sich sexuell fortpflanzen, gegenüber Mutationen toleranter sind, kann sich bei ihnen genetische Vielfalt anreichern, und das ist selbst dann von großer Bedeutung, wenn sie keinen unmittelbaren Vorteil bietet. Jeder Organismus besitzt zwei Versionen jedes Gens, und im Genpool einer Population, die sich sexuell fortpflanzt, sind unter Umständen Hunderte solcher Versionen im Umlauf, sodass sich ein gewaltiges Reservoir an genetischer Vielfalt ergibt. »Vielfalt« bedeutet, dass jeder Organismus einzigartige Merkmale hat, unterschiedliche Stärken und Schwächen – und wie jeder Börsenmakler bestätigen wird, ist eine solche Diversifizierung die beste Versicherung angesichts einer ungewissen Zukunft.

Und zweitens gewährleistet die Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung immer wieder neue Genkombinationen. Da die ungeschlechtliche Reproduktion so unglaublich zügig und effizient verläuft, sind die Lebewesen gewissermaßen versucht, auf diese unfassbar produktive Fortpflanzungsmethode zurückzugreifen. Im unmittelbaren Wettbewerb wird die sexuelle Fortpflanzung schnell von der Klonbildung überrannt: Ein Organismus, der erfolgreich und gut an seine Umwelt angepasst ist, kann schlicht mehr Exemplare seiner selbst hervorbringen und weiterhin erfolgreich bleiben. Der Erfolg geht aber auf Kosten der Vielfalt, und das große Problem besteht darin, dass Erfolg etwas Vorübergehendes ist. Die Umwelt ist ständig im Fluss, und Stabilität ist kurzlebig. Selbst der am besten angepasste Organismus ist gefährdet, wenn die Bedingungen sich ändern. Eine Population aus Klonen lebt und stirbt gemeinschaftlich, aber eine Population mit einer ausgeprägten Vielfalt hat gute Chancen, eine Umweltveränderung und sogar eine Katastrophe zu überleben, denn irgendwo in der Diversität gibt es Individuen, die den Sturm durchstehen und dann bei der Anpassung der Spezies an eine veränderte Welt die Führungsrolle übernehmen.

Dass die Natur dazu neigt, Vielfalt zu erzeugen, erkennen wir überall um uns herum. Von Marienkäfern, bei denen die Farben der Punkte und des Hintergrunds vertauscht sind, bis zu den seltenen vollkommen schwarzen Varianten, die man bei nordamerikanischen Rothörnchen beobachtet – überall taucht ständig Vielfalt auf. Wenn eine spontane Veränderung zum ersten Mal auf der Bildfläche erscheint, sprechen wir von einer »Mutante«. Bleibt sie für kurze Zeit als Merkmal einer Minderheit erhalten, nennen wir sie »Variante«. Und wenn sie zu einem dauerhaften, wichtigen Teil der Variationsbreite einer Spezies wird, bezeichnen wir sie als »Morphe«. Dass derartige Abweichungen auftauchen, liegt nicht an der Sexualität als solcher, sondern an zufälligen molekularen Spielereien, aber Sexualität ist der Schlüssel, durch den sich die Variation in der Population ausbreiten kann, und sie sorgt dafür, dass die veränderte Eigenschaft von anderen Merkmalen entkoppelt ist, sodass die Selektion sie aufgrund ihrer eigenen Wirkungen begünstigen oder benachteiligen kann. Für Rothörnchen ist die schwarze Farbe in einer stark bewaldeten Umwelt vielleicht eine bessere Tarnung; in einer offenen Landschaft dagegen erfüllt das übliche Graubraun seine Aufgabe besser. Wenn die Gene für beide Morphen in der Population zirkulieren, sind die Rothörnchen anpassungsfähiger.

Sexuelle Fortpflanzung zwingt eine Spezies dazu, ständig neue Vielfalt hervorzubringen, die sich dann in der Population verbreitet und damit dem Reiz der Klonbildung entgegenwirkt. Die biologische Lehre lautet: Diversität gewinnt insbesondere auf lange Sicht, und das war immer so. Da Sexualität die Fabrik der Vielfalt ist, passt es, dass wir uns nun endlich auch mit der sexuellen Vielfalt selbst beschäftigen.

Unsere menschliche Form der sexuellen Fortpflanzung halten wir häufig für selbstverständlich, als könnte es keine andere geben, aber wie sich herausstellt, können Lebewesen auf vielerlei Weise die nützlichen Wirkungen von Sex – also die genetische Rekombination – genießen; unsere Methode mit Ei- und Samenzellen ist nur eine davon. Dennoch bietet das System mit einem großen und einem kleinen Gamet das beste Gleichgewicht zwischen dem Pro und dem Kontra der sexuellen Fortpflanzung, und das ist ein stichhaltiger Grund, warum alle Pflanzen und Tiere sich darauf eingelassen haben. Zunächst wollen wir aber einen schnellen Blick auf einige der Möglichkeiten werfen, die von unseren Vorfahren zum großen Teil verworfen wurden – worüber wir alle, denke ich, froh sein können.

Sexperimente

Es gibt Lebewesen, die als »Schleimpilze« und »Eipilze« bezeichnet werden, und um ehrlich zu sein: Sie sind genauso unappetitlich, wie ihre Namen klingen. Eine Spezies von Schleimpilzen heißt beispielsweise Fuligo septica oder mit umgangssprachlichem Namen »Hexenbutter« (im Englischen auch dog vomit slime mold, also »Hundekotze-Schleimpilz«, genannt). Diese ekelhaften Organismen sind keine echten Pilze; stattdessen bilden sie ihre eigenen Reiche, und dort gehören sie auch hin, denn sie sind wirklich seltsam. Was die Fortpflanzung angeht, zeigen sie aber eine faszinierende Vielfalt; in ihr hallt die Frühzeit der Erde wider, als das Leben mit verschiedenen Formen der sexuellen Fortpflanzung experimentierte.

Schleimpilze aus der Gruppe der Dictyosteliida sind beispielsweise während des größten Teils ihres Lebens einzellige Lebensformen5 und ähneln den Amöben, die manch einer vielleicht im Biologieunterricht unter dem Mikroskop gesehen hat. In den meisten Fällen pflanzen sich diese einzelligen Lebewesen durch ungeschlechtliche Klonbildung fort. Wenn aber die Nährstoffzufuhr oder das Wasser knapp werden, geschieht etwas Bemerkenswertes: Die einzelnen Zellen senden ein »Sammelsignal« aus, mit dem sie sich gegenseitig anziehen, und dann finden sie sich zu einer großen Zellmasse zusammen, die an eine kleine behaarte Schnecke erinnert. Diese Zellmasse kann sich sogar koordiniert fortbewegen, als wäre sie ein vielzelliger Organismus (der an den Mind Flayer aus der dritten Staffel von Stranger Things erinnert). Im Inneren dieser Struktur verschmelzen manche Zellen und bringen Sporen hervor – eine Form der sexuellen Fortpflanzung. Andere opfern sich und schließen sich zu dünnen Stielen oder Fruchtkörpern zusammen, aus denen die Sporen freigesetzt werden wie bei einem Pilz oder dem flauschig-blauen Teil von Brotschimmel. Mit anderen Worten: Tausende genetisch eigenständige Individuen vereinigen sich und bilden ein riesiges Geschlechtsorgan, das Sporen ausspuckt. Ich schätze, so kann man es machen.

Es gibt aber auch das nahezu genaue Gegenteil – einen Fall, ohne den jede Beschreibung der vielfältigen Fortpflanzungsmethoden von Tieren unvollständig wäre: die Rädertierchen oder Rotifera aus der Klasse der Bdelloidea.6 Die Bdelloidea (das B wird nicht gesprochen) sind mikroskopisch kleine Tiere und stellen eine uralte Abstammungslinie dar, die auf die allerersten schwammähnlichen Tiere zurückgeht. Sie leben im Süßwasser, sind absolut durchsichtig und haben die besondere Eigenschaft, dass sie als einzige wichtige Tiergruppe vollkommen ohne Männchen auskommen. Diese ausschließlich weiblichen Lebewesen produzieren Eier, die dann ganz allein zu neuen Organismen heranwachsen. Da sie keine Sexualität betreiben, gibt es auch keine genetische Neukombination und damit sehr wenig Vielfalt.

Dass die Bdelloidea bis heute erhalten geblieben sind, obwohl sie keine Möglichkeit haben, für genetische Diversität zu sorgen, ist erstaunlich. Wie ihnen das gelungen ist, zeigen zwei Entdeckungen aus jüngerer Zeit.7 Erstens gedeihen diese Tiere in einem unwirtlichen Umfeld mit einem steten Wechsel von Nässe und völliger Trockenheit – das vertragen nur die wenigsten ihrer Parasiten und Konkurrenten. Einer der wichtigsten Gründe, warum Lebewesen genetische Vielfalt erreichen müssen – und vielleicht auch der ausschlaggebende Grund, warum sich Sex überhaupt entwickelt hat –, ist die Notwendigkeit, Parasiten und Krankheitserregern zu entgehen und sie zu überlisten. Und da die Bdelloidea ihre Parasiten loswerden können, indem sie zwischen zwei extrem unterschiedlichen Lebensräumen hin- und herwechseln, ist genetische Diversität für sie nicht ganz so entscheidend wie für alle anderen.

Zweitens profitiert diese Gruppe von einem umfangreichen Zufluss neuer Gene durch horizontalen Gentransfer: Gene von Lebewesen, mit denen sie nicht verwandt sind, werden durch Virusinfektionen übertragen.8 Wenn Viren durch eine Population wandern, können sie ungewollt Gene mitbringen, und wenn sie von einer Spezies zur anderen springen, erreichen sie durch reinen Zufall etwas, was sonst nie geschieht: Gene werden ohne jede Form der Kreuzung zwischen zwei Arten ausgetauscht. So etwas ist äußerst selten, aber wenn es geschieht, kann es zu bemerkenswerten evolutionären Anpassungen führen. Die Bdelloidea sind also tatsächlich die Ausnahme, die die Regel bestätigt, dass sexuelle Fortpflanzung der bessere Weg ist. Sieht man von den ungewöhnlichen Wegen ab, auf denen die Bdelloidea für Ausgleich sorgen, ist ungeschlechtliche Fortpflanzung bei Tieren ein Rezept zum Aussterben.

Während wir die Bdelloidea als ausschließlich weibliche Spezies betrachten können, haben andere Lebewesen, darunter die Pilze, eigentlich überhaupt kein »Geschlecht«, sondern Paarungstypen. Bei vielen Pilzen, darunter die Bäcker- und Bierhefe Saccharomyces cerevisiae, gibt es zwei solcher Typen, die als »a« und »α« (der griechische Buchstabe Alpha) bezeichnet werden. Es sind keine Geschlechter, denn die beiden Zellen, die verschmelzen, unterscheiden sich in ihrer Größe nicht, und nach ihrer Fusion läuft eine andere Kette von Ereignissen ab. Wenn Samen- und Eizelle verschmelzen, bildet sich ein einziges einzigartiges Individuum. Vereinigen sich dagegen Gameten mit den Paarungstypen a und α, entsteht eine große diploide Zelle, die sich anschließend sofort teilt und ein ganzes Spektrum genetisch unterschiedlicher haploider Sporen hervorbringt, und diese Sporen können dann zu einzigartigen haploiden Individuen heranreifen. Das System bewirkt das Gleiche wie die Samen- und Eizellen von Menschen – die Gene werden vermischt –, hat aber einen großen Nachteil: Die normalen Körperzellen der ausgewachsenen Pilze besitzen nicht die Sicherungskopien der einzelnen Gene, mit denen sie in Form von Mutationen herumspielen können. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum Pilze auf der Erde nie eine so dominierende Stellung erlangt haben wie Pflanzen und Tiere. Stattdessen werden sie meist in die ruhmlose, aber unentbehrliche Rolle von Zersetzern oder Destruenten gedrängt.

Bei manchen Pilzen gibt es nur zwei Paarungstypen wie a und α oder Mat1-1 und Mat1-2, bei anderen sind es dagegen vier. Deshalb spricht man von »bipolaren« oder »tetrapolaren« Paarungssystemen. Wie die Typen im Einzelnen aussehen und worin sie sich unterscheiden, spielt eigentlich keine Rolle – letztlich läuft es darauf hinaus, dass Moleküle aus der Oberfläche der Gameten herausragen. Die einzige strenge Regel lautet: Eine Zelle kann sich nicht mit einer anderen Zelle des gleichen Paarungstyps paaren – a und a vertragen sich ebenso wenig wie α und α. Deshalb haben tetrapolare Paarungssysteme gegenüber bipolaren einen großen Vorteil, wenn Zellen nach einem Partner suchen: Sie vertragen sich mit 75Prozent der Population ihrer Spezies, während es bei bipolaren Typen nur 50Prozent sind. Und wie man vielleicht vermuten kann, haben manche Pilze das Phänomen der Paarungstypen in ein geradezu anstößiges Extrem getrieben: Bei ihnen gibt es Dutzende oder sogar Hunderte von Paarungstypen, sodass der Anteil der Population, mit dem sie sich paaren können, auf nahezu 100Prozent steigt.

Den Weltrekord hält derzeit Schizophyllum commune, ein weißer Pilz mit über 23000 Paarungstypen.9 Als man das entdeckte, berichteten viele Pressestimmen, dieser Pilz habe 23000 »Geschlechter« – oder noch schlimmer: 23