DIVI Jahrbuch 2023/2024 -  - E-Book

DIVI Jahrbuch 2023/2024 E-Book

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Beschreibung

Das DIVI Jahrbuch präsentiert ausgewählte State of the Art-Beiträge und brandaktuelle wissenschaftliche Arbeiten aus der gesamten Intensiv- und Notfallmedizin. Neueste Ergebnisse aus der Grundlagen- und klinischen Forschung werden auf ihren Nutzen für die intensivmedizinische Praxis hin überprüft, spezielle Problemstellungen in der Klinik wie auch neue Blickwinkel auf diskutierte und etablierte Themen sorgen für eine breite, aber stets relevante Wissensvermittlung. Über die klinisch-medizinischen Fragestellungen hinaus werden auch Themenbereiche wie Organisation und Management, Qualitätssicherung oder ethische Fragen angegangen. Die Einbeziehung der aktuellen Vereinbarungen, Leitlinien oder Konsensuspapiere macht das DIVI Jahrbuch zu einer Pflichtlektüre für alle Ärzte und Pflegekräfte in den intensivmedizinischen Fachdisziplinen.

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Seitenzahl: 551

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S. Kluge | M. Sander F. Walcher | T. Brenner (Hrsg.)

DIVI Jahrbuch 2023 | 2024

Schwerpunkt: Gendermedizin

begründet von C. Putensen | M. Quintel | G.W. Sybrecht

mit Beiträgen von

C. Bach | J. Berrouschot | P. Böttger | T. Brenner | M. Buerke | O. Cruciger | P. Deindl | F. Edinger | F. Espeter | M. Feth | F. Fichtner | S. Fortenbacher | M. Franz | L. Golenia | M. Gründling | M. Hamed | L. Herbst | C. von Heymann | A.L. Homayr | F. Ius | M. Janusch | T. Jhala | S. John | M. Kamler | A. Koch | U. Krause | J.B. Kuramatsu | T. Lampmann | F. Lehmann | M. Lehner | H. Lemm | P.M. Lepper | M. Lindner | H. Luz | L. Malolepszy | S. Mang | C. Mann | J. Meier | M.W. Merx | K. Mischke | T.M. Mokry | R.M. Muellenbach | M.J. Müller | A. Naghipour | S. Oertelt-Prigione | T. Paul | K. Pilarczyk | N. Pizanis | D.I. Radke | S. Reith | G. Rellensmann | F. Rosenow | O.W. Sakowitz | M. Sander | D. Schädler | H. Schluchter | T. Schmoch | H.E. Schneider | P.O. Schüller | U. Seeland | A. Sekita | C. Silbereisen | A. Strzelczyk | P. Szavay | K. Tigges-Limmer | A. Totzeck | J. Trauth | S. Utzolino | H. Vatter | M.A. Weigand | C. Willam | M. Wolff | C. Zengel | Y. Zhang | A. Zimmermann

Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Das Herausgeberteam

Prof. Dr. med. Stefan Kluge

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Klinik für Intensivmedizin

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Univ.-Prof. Dr. med. Michael Sander

Universitätsklinikum Gießen, UKGM GmbH

Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und

Schmerztherapie

Justus-Liebig-Universität Gießen

Rudolf-Buchheim-Straße 7

35392 Gießen

Univ.-Prof. Dr. med. Felix Walcher, MME

Universitätsklinikum Magdeburg

Klinik für Unfallchirurgie

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Univ.-Prof. Dr. med. Thorsten Brenner, MHBA

Universitätsklinikum Essen

Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin

Hufelandstraße 55

45147 Essen

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Unterbaumstr. 4

10117 Berlin

www.mwv-berlin.de

ISBN 978-3-95466-828-1 (eBook: PDF)

ISBN 978-3-95466-829-8 (eBook: ePub)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2024

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Im vorliegenden Werk wird zur allgemeinen Bezeichnung von Personen nur die männliche Form verwendet, gemeint sind immer alle Geschlechter, sofern nicht gesondert angegeben. Sofern Beitragende in ihren Texten gendergerechte Formulierungen wünschen, übernehmen wir diese in den entsprechenden Beiträgen oder Werken.

Die Verfasser haben große Mühe darauf verwandt, die fachlichen Inhalte auf den Stand der Wissenschaft bei Drucklegung zu bringen. Dennoch sind Irrtümer oder Druckfehler nie auszuschließen. Daher kann der Verlag für Angaben zum diagnostischen oder therapeutischen Vorgehen (zum Beispiel Dosierungsanweisungen oder Applikationsformen) keine Gewähr übernehmen. Derartige Angaben müssen vom Leser im Einzelfall anhand der Produktinformation der jeweiligen Hersteller und anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eventuelle Errata zum Download finden Sie jederzeit aktuell auf der Verlags-Website.

Produkt-/Projektmanagement: Anna-Lena Spies, Ulrike Marquardt, Berlin

Layout, Satz und Herstellung: zweiband.media, Agentur für Mediengestaltung und -produktion GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Zuschriften und Kritik an:

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Unterbaumstr. 4, 10117 Berlin, [email protected]

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser des DIVI Jahrbuchs 2023 | 2024,

auch der diesjährige DIVI Kongress wird von der Publikation des zugehörigen DIVI Jahrbuchs 2023 | 2024 begleitet, welches Sie sich als Print-Ausgabe oder in digitalem Format zu Gemüte führen können. Als Schwerpunktthema widmet sich die aktuelle Ausgabe der Gendermedizin, zu deren diagnostischer sowie therapeutischer Relevanz auch heute noch viele Unsicherheiten bestehen. Insbesondere im Bereich der Intensiv- und Notfallmedizin führt sie sogar noch ein regelrechtes Schattendasein! Unzweifelhaft ist allerdings, dass Frauen und Männer je nach Erkrankung andere Symptome zeigen, verschiedene Krankheitsverläufe aufweisen und mitunter unterschiedlicher Behandlungsstrategien bedürfen. Die Gendermedizin versucht daher, die Bedeutung des Geschlechts als Einflussfaktor in der Medizin systematisch herauszuarbeiten und macht dabei auch vor den Bereichen der Intensiv- und Notfallmedizin nicht halt. Unter anderem scheint die geschlechtsspezifische Ausstattung mit Sexualhormonen einen relevanten Einfluss darauf zu haben, dass Frauen seltener eine koronare Herzerkrankung erleiden oder besser vor einer Sepsis geschützt sind. Letztgenannte Beobachtung wurde z.B. auch während der SARS-CoV2-Pandemie deutlich, da das männliche Geschlecht den weitaus größeren Teil der intensivmedizinisch zu behandelnden COVID-19-Patienten darstellte und Männer auch signifikant häufiger an Corona verstarben. Das Geschlecht scheint daher einen bislang unterschätzten Einfluss auf den individuellen Gesundheitszustand bzw. Krankheitsverlauf zu haben, sodass die Schwerpunktbeiträge des aktuellen DIVI Jahrbuchs 2023 / 2024 die Gendermedizin aus dem Schattendasein herauszuholen versuchen und die Intensiv- und Notfallmediziner:innen für diese Thematik sensibilisieren sollen.

Neben einem Schwerpunktthema werden im DIVI Jahrbuch stets auch ausgewählte intensivmedizinische Themen des diesjährigen DIVI Kongresses behandelt und von ausgewiesenen Expertinnen und Experten für Sie zusammengefasst. Daher beschäftigt sich das aktuelle DIVI Jahrbuch u.a. mit dem akuten Abdomen, dem akuten Nieren- oder Lungenversagen (einschließlich der Beatmungsstrategie und dem extrakorporalen Lungenersatz) sowie mit speziellen notfall- und intensivmedizinischen Themen aus den Bereichen Pädiatrie und Kardiologie. Darüber hinaus finden aktuelle neurointensivmedizinische Themen sowie der Umgang mit potenziellen Organspendern besondere Beachtung. Weitere Schwerpunkte stellen das Management der Sepsis, die differenzierte Gerinnungstherapie bei akuten Blutungsereignissen sowie verschiedene Themen rund um den Intensivtransport dar. Zudem wurden als Exkurse zwei Spezialbeiträge berücksichtigt, die sich der Frage nach dem gerechtfertigten Transfusionstrigger sowie der optimalen Narkose widmen.

Alles in allem erwartet Sie wieder eine sehr interessante Mischung aus spannenden sowie hochaktuellen Beiträgen aus den Bereichen Notfall- und Intensivmedizin, die von ausgewiesenen Fachexperten für Sie zusammengestellt worden sind. Wir freuen uns außerordentlich, auch in diesem Jahr erneut so viele renommierte Autorinnen und Autoren für das aktuelle DIVI Jahrbuch gewonnen zu haben und möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Mitwirkenden für ihr Engagement bedanken!

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre des diesjährigen DIVI Jahrbuchs 2023 | 2024 und verbleiben mit herzlichen Grüßen

Ihr

Herausgeber-Team

im November 2023

Inhalt

IGendermedizin

1Geschlechtersensible MedizinAwa Naghipour und Sabine Oertelt-Prigione

2Geschlechterspezifische Unterschiede bei Herz-Kreislauf-ErkrankungenHelena Schluchter und Ute Seeland

3Genderaspekte in der SepsisJanina Trauth

4Post- bzw. Long-COVID und GeschlechtsaspektePer Otto Schüller und Laura Golenia

5Rechtsmedizinische Aspekte unter gendermedizinischen GesichtspunktenLeila Malolepszy

IIAkutes Abdomen

1Management intensivmedizinischer Besonderheiten des Akuten AbdomensOliver Cruciger

EXKURS: Was ist eine gute Narkose?Michael Sander

2Differenzierte antibiotische Therapie des Akuten AbdomensStefan Utzolino

IIIAkutes Nierenversagen

1Therapie des AKI: Volumen und VasopressorenSilke Fortenbacher und Stefan John

2Diagnostik – Wie erkenne ich ein akutes Nierenversagen (AKI) möglichst früh?Larissa Herbst und Carsten Willam

IVKardiologische Akut- und Intensivmedizin

1Das akute Rechtsherzversagen – neue TherapieansätzeTheresa M. Mokry, Ralf M. Muellenbach und Philipp M. Lepper

2Bradykarde Herzrhythmusstörungen auf der IntensivstationMarc W. Merx, Arabel Zimmermann und Christoph Zengel

3Tachykarde Herzrhythmusstörungen auf der IntensivstationKarl Mischke

4Revaskularisation bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom – wann und wie?Matthias Janusch, Priyanka Böttger, Henning Lemm und Michael Buerke

5Medikamentöse Therapie bei akutem Koronarsyndrom und kardiogenem SchockSebastian Reith, Christopher Bach und Ying Zhang

6Präoperative psychologische Interventionen – Stabilisierung des intensivmedizinischen Verlaufs am Beispiel der HerzchirurgieKatharina Tigges-Limmer

VLungenversagen, Beatmung und extrakorporaler Lungenersatz

1Wenn vv-ECMO beim ARDS nicht mehr ausreicht – EskalationsmöglichkeitenFabio Ius und Maximilian Franz

2Beatmung an veno-venöser ECMO – „von 0 bis Weaning“Sebastian Mang, Philipp M. Lepper und Ralf M. Muellenbach

3Der rechte Ventrikel unter ECMO-Therapie: Diagnostik und TherapieKevin Pilarczyk

4Stellenwert alternativer Beatmungsformen bei schweren LungenfunktionsstörungenFalk Fichtner

VIHämostaseologie

1Hämostaseologie und Gerinnungsstörungen – Therapie mit AntifibrinolytikaChristian von Heymann

EXKURS: Symptome oder Laborwerte: Welche Transfusionstrigger erscheinen gerechtfertigt?Jens Meier

2Management von Blutungen unter DOACsMatthias Wolff

VIINeuro-Intensivmedizin

1Erhöhter intrakranieller Druck (ICP) – intensivmedizinische OptionenOliver W. Sakowitz

2Der epileptische Anfall in der NotaufnahmeAdam Strzelczyk, Felix Rosenow und Catrin Mann

3Ischämischer Schlaganfall – Basistherapie, Stroke-Unit, TelemedizinJörg Berrouschot

4Intrazerebrale BlutungAlexander Sekita und Joji B. Kuramatsu

5Schlaganfall durch aneurysmatische SubarachnoidalblutungHartmut Vatter, Tim Lampmann, Motaz Hamed und Felix Lehmann

VIIIPädiatrische Notfall- und Intensivmedizin

1Das akute Abdomen beim Neugeborenen – Woran muss ich denken?Philipp Deindl

2Das Abdominaltrauma beim Kind – Wann kommt die Intensivmedizin ans Ende?Markus Lehner, Hannah Luz, Tobias Jhala und Philipp Szavay

3Atemwegsmanagement beim Kind: Geht es auch ohne Tubus?Clemens Silbereisen

4Akute Rhythmusstörungen im Kindesalter – von Amiodaron bis DefibrillationMatthias J. Müller, Ulrich Krause, Heike E. Schneider und Thomas Paul

5Vorausverfügungen zum Vorgehen in Notfallsituationen für Kinder mit lebenslimitierenden ErkrankungenGeorg Rellensmann

IXSepsis-Management

1Früherkennung und Diagnostik einer SepsisFlorian Espeter, Thomas Schmoch, Markus A. Weigand und Thorsten Brenner

2Management von Sepsis und septischem Schock – Leitlinien nutzenMatthias Gründling

3Management von Sepsis und septischem Schock – Sepsis erkennen und initiale TherapieDavid I. Radke, Anna Lulu Homayr, Matthias Lindner und Dirk Schädler

XIntensivtransport

1Qualifikation, Organisation, Ressourcenmanagement beim IntensivtransportFabian Edinger

2Externe ECLS und ECMO beim IntensivtransportMaximilian Feth, Philipp M. Lepper und Ralf M. Muellenbach

XIUmgang mit potenziellen Organspendern

1Organ-Recovery: marginale Organe – retten, was zu retten ist!Achim Koch, Nikolaus Pizanis und Markus Kamler

2Fallstricke bei der Feststellung des irreversiblen HirnfunktionsausfallsAndreas Totzeck

I

Gendermedizin

1Geschlechtersensible MedizinAwa Naghipour und Sabine Oertelt-Prigione

1.1Was ist geschlechtersensible Medizin?

“The medical and scientific understanding of the significant effect that sex and gender has in health and disease has evolved, and we must evolve along with it.” (1)

Geschlecht wirkt auf biologischer und psychosoziokultureller Ebene, in Interaktion mit der Umwelt und innerhalb von machtpolitischen Verhältnissen auf Gesundheit und Krankheit, auf das Verhalten von Individuen und auf die Qualität der medizinischen Behandlung (2).

Geschlechtersensible Medizin befasst sich mit der Analyse von Geschlecht als bedeutenden Einflussfaktor in Krankheitsentstehung, -symptomatik, -bewältigung, Diagnostik, Therapie und Prävention (3).

Geschlechtersensible Medizin ist ein historisches Produkt zweier wesentlicher Handlungsstränge: der Frauengesundheitsbewegung der 70er-Jahre und den Diskursen der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung. Sie speist sich aus der Erkenntnis, dass eine androzentrische – cis männlich fokussierte (cis bedeutet, dass das zur Geburt zugewiesene Geschlecht der Geschlechtsidentität entspricht) – Sichtweise auf Gesundheits- und Krankheitsprozesse wesentliche Teile der Bevölkerung ausschließt und so konsekutiv zu ihrer mangelhaften gesundheitlichen Versorgung führt. Die Annahme, Frauen und Männer unterscheiden sich lediglich in Bezug auf Reproduktionsorgane – die sogenannte „Bikini Medicine“ (4) – erwies sich sowohl auf naturwissenschaftlicher als auch auf soziopsychokultureller Ebene als unhaltbar. Ein Prozess der Erkenntnisgewinnung und Schließung der Wissenslücke begann und setzt sich bis in die Gegenwart fort (5; 6).

1.2Geschlechterdefinitionen – Terminologie und ihre Grenzen

Geschlecht kann mehrdimensional sowohl auf biologischer als auch auf psychosoziokultureller Ebene beleuchtet werden. Die Terminologie, die aktuell in der biomedizinischen Praxis etabliert ist, stammt aus dem angloamerikanischen Raum und differenziert „Sex“ und „Gender“.

Im biomedizinischen Diskurs wird „Sex“ als biologische Variable diskutiert und das englische 3-G-Modell herangezogen, um drei Dimensionen herunterzubrechen:

1. Genes (Genetik)

2. Gonads (Gonaden/Keimdrüsen)

3. Genitalia (Genitalien)

Diese Trias umfasst die Ebenen der Chromosomen, des Hormonhaushalts und der Genitalien. Innerhalb dieser Kategorien können auf jeder Ebene zahlreiche Varianzen auftreten (7). Dennoch dominiert in der Biomedizin nach wie vor eine binäre Einteilung in „männlich“ und „weiblich“. Durch u.a. soziales Engagement von Intersex-Personen vermehrt sich die Kritik an der Dichotomie von „männlich/weiblich“ und eine Ergänzung um mindestens eine Dimension – Intersex – etabliert sich (8).

Auch die Kategorie „Intersex“ ist viel diskutiert und der Begriff „Differences of Sex Development“ (DSD) wird als Eigenbezeichnung von Intersex-Personen oftmals favorisiert. Allerdings wird DSD in der Medizin auch als „Disorders of Sex Development“ übersetzt und reifiziert die ohnehin bereits etablierte Stigmatisierung nichtbinärer Geschlechterkategorien (9). Abhängig davon, welche Statistiken betrachtet werden, beläuft sich der Anteil der Personen mit DSD nach aktuellem Kenntnisstand auf ca. 0,3–1,7% (10).

„Gender“ ist ein Konzept, das seine theoretische Substanz aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskursen nährt und dort seit Jahrzehnten analysiert und konzeptualisiert wird. In der Humanmedizin hat es erst in den 1990er-Jahren graduell Einzug gefunden (11). Es umschreibt psychosoziokulturelle Ebenen von Geschlecht, die innerhalb gesellschaftlicher Dynamiken wirken. Hier sind mehrere Dimensionen zentral, mitunter Genderidentität, Genderverhältnisse, Gendernormen sowie institutionalisiertes Gender (12; 13).

Genderidentität ist die Identität, derer ein Individuum angehört und die sie bei sich verortet, sei es weiblich, männlich, non-binär, trans, fluid u.v.m.

Gendernormen beschreiben Erwartungen, die von außen an ein Individuum herangetragen werden, Stereotype, denen Geschlechter zugeordnet werden und gesellschaftliche Rahmen, die als adäquat oder abweichend deklariert werden und so eine Erwartungshaltung implizieren.

Genderverhältnisse umfassen Privilegien, Macht und Partizipationsräume, die je nach Geschlechtsidentität und gendernormiertem Verhalten manchen leichter zugänglich sind als anderen. Ein im kanadischen Raum geprägter Begriff des institutionalisierten Gender beschreibt institutionelle Rollen- und Verhaltenserwartungen, die z.B. mit einer beruflichen oder gesellschaftlichen Position einhergehen (12; 13). Genderverhältnisse tragen in ihrer aktuellen Ausrichtung dazu bei, dass männlich/maskulin deklarierte gegenüber Menschen anderer Geschlechter bevorteilt werden und so Ungerechtigkeiten in Bezug auf marginalisierte Geschlechter fortbestehen (2).

Eine noch weit verbreitet praktizierte Binarität von Geschlecht in männlich/weiblich wird zunehmend kritisiert und infrage gestellt (7; 14). Fausto-Sterling ist eine Vorreiterin in der kritischen Betrachtung binärer Geschlechternormen und strebt es in ihrem wissenschaftlichen Werk an, Geschlechterkonzepte in ihrer Komplexität zu erfassen. Anfang der 90er-Jahre formulierte Fausto-Sterling eine Theorie der fünf Geschlechter: Drei Intersex-Kategorien, die sich auf ihre Genitalien bezogen, unterschieden und zwischen den zwei Polen weiblich und männlich positioniert seien („True Hermaphrodites“, „Male Hermaphrodites“ und „Female Hermaphrodites“) (15).

Damit formulierte sie ein über zwei Geschlechtskategorien hinaus bestehendes Geschlechterspektrum. Mit einem nun erweiterten multidimensionalen Modell, das Geschlecht nicht auf einem Spektrum zwischen zwei Polen beschreibt, sondern als „Punkt in einem multidimensionalen Raum“, betont und visualisiert sie die Variabilität von Geschlechterdimensionen. Sie reformiert ihre vorherig aufgestellten Annahmen, auch um den Fokus auf Genitalien in der Betrachtung von Geschlechtern aufzuheben (14).

In einem sind die Entwicklungen sich einig: Statische Betrachtungen von Geschlecht werden der komplexen Realität nur teilweise gerecht und bedürfen einer steten Evaluation, Einordnung und Aktualisierung.

1.3Sind Sex und Gender trenn- und austauschbar? – Ein Plädoyer für Präzision

Eine geschlechtersensible Forschungspraxis erlaubt es, Erkenntnisse zu gewinnen über den Einfluss von Geschlecht auf Physiologie und Pathophysiologie von Organismen sowie soziopsychokulturelle Faktoren und Normen, die die Entstehung und Bewältigung von Krankheit innerhalb unserer gesellschaftlichen Strukturen navigieren (6).

Im Deutschen vereint Geschlecht die im Englischen getrennten Dimensionen „Sex“ und „Gender“. Das birgt Gefahren und Chancen. Zum einen besteht die Gefahr, dass Geschlecht undifferenziert betrachtet und im schlimmsten Fall als rein eindimensional deklariert wird. Im besten Fall wird durch die integrative Begrifflichkeit Geschlecht die konstante Wechselwirkung und gegenseitige Bedingung von biologischen, psychosoziokulturellen Dimensionen von Geschlecht fassbar. Eine strikte künstliche Trennung des jeweiligen Einflusses von biologischen und psychosoziokulturellen Dimensionen von Geschlecht ist bei komplexen menschlichen Organismen schwer möglich, da Umweltfaktoren mit biologischen Variablen in einem interaktiven Verhältnis stehen (3).

Problematisch zeigt sich, dass Sex und Gender in der biomedizinischen Literatur oft austauschbar, interchangeably, genutzt werden. Das ist zu vermeiden, insbesondere da – wie oben ausgeführt – sie unterschiedliche Aspekte von Geschlecht beschreiben. Für eine aussagekräftige Forschungspraxis ist eine genaue Definition der beschriebenen Dimensionen unabdingbar (16). Sarah S. Richardson stellt hierbei ein integratives Konzept in Bezug auf „Sex as a Biological Variable“ vor: „Sex Contextualism“. Darin plädiert sie für eine stete Reflexion darüber, wie die individuelle Zielsetzung und der zugrundeliegende Kontext der Forschung in Bezug auf die Variablen, die untersucht werden, ganz genau aussieht – und in welchen Formen „Sex“ als Variable in diesem Kontext beschrieben werden kann. Außerdem betont auch sie, dass „Sex“ und „Gender“ unter bestimmten Fragestellungen zwar als getrennte Ebenen in der Analyse betrachtet werden können, sie sich in der Realität allerdings nicht voneinander trennen lassen, da sie sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind (17). Zur adäquaten Operationalisierung sind also präzise Fragestellungen und Definitionen notwendig, um Unschärfe zu vermeiden und zeitgleich der Realität in ihrer Komplexität methodisch gerecht zu werden.

1.4Berücksichtigung von Geschlecht in der medizinischen Praxis

Es gibt zahlreiche Beispiele über den „klassischen“ Herzinfarkt hinaus, von Medikationswirkungen bis Krankheitsmanifestationen und -folgen, die den Einfluss von Geschlecht in der klinischen Praxis illustrieren. Im Folgenden sind zunächst allgemeine Beispiele und im Anschluss Erkenntnisse aus der Notfallmedizin genannt und ausgeführt.

Die Relevanz von Geschlecht in Entstehung, Erkennung, Behandlung und Verlauf von Erkrankungen ist vielfach belegt. Mauvais-Jarvis et al. (18) beschreiben fächerübergreifend, wie sich das in unterschiedlichen Bereichen zeigt:

Der Myokardinfarkt, der sich vor allem bei Frauen auch durch andere Symptome als Brustschmerz manifestieren kann, wird bei ihnen später diagnostiziert und zögerlicher interventionell behandelt (19; 20; 21). Er stellt historisch den Beginn geschlechtersensibler Erkenntnisse in der Medizin, jedoch nur den Gipfel des Eisbergs, dar. Beispielsweise zeigt sich Rauchen als höherer Risikofaktor für Schlaganfälle bei Frauen als bei Männern und Frauen profitieren mehr vom primärpräventiven Effekt von Aspirin bei ischämischem Schlaganfall (22). Die COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease) zeigt beim Einsetzen der Menopause intensivierten Behandlungsbedarf durch hormonelle und damit einhergehende pathophysiologische Veränderungen (23). Und auch bei Infektionskrankheiten gibt es, das ist spätestens nach der COVID-19-Pandemie offensichtlich, zu beschreibende Phänomene. Beispielsweise, dass Frauen häufiger einen längeren und schwerwiegenderen pulmonalen Influenza-A-Verlauf zeigen als Männer durch länger anhaltende pulmonale Inflammation (24). Je länger und genauer in Bezug auf Geschlecht in der Medizin geforscht wird, desto breiter wird die Evidenzlage bzgl. Geschlecht als Einflussfaktor.

1.4.1Geschlechtersensibilität in der Notaufnahme

Alyson McGregor beschreibt prägnant, wie von einem progressiven Blick in Bezug auf geschlechtersensible Notfallmedizin alle Geschlechter profitieren. Sie zeichnet das Bild einer Notaufnahme, in der unterschiedliche Fälle aufeinandertreffen und zeigt anhand von konkreten alltäglichen Beispielen und bereits gewonnen Erkenntnissen in der geschlechtersensiblen Medizin die Relevanz der Thematik auf (1).

Vier Bereiche werden im Folgenden näher beleuchtet. Zwei pharmakologische Beispiele, über die es sich lohnt im klinischen Alltag nachzudenken, stellen Propofol und Morphin dar. Darüber hinaus zeigen Osteoporose und Depressionen Erkrankungsbereiche auf, in denen sich ein Female Bias zeigt: Sie werden eher Frauen zugesprochen und bei Männern nicht selten verkannt.

1.4.2Propofol

Das aus der Gruppe der Diisopropylphenole stammende Injektionsanästhetikum Propofol ist omnipräsent. Aus dem notfallmedizinischen Alltag ist es nicht wegzudenken, aber auch in täglichen elektiven Kontexten, z.B. der Endoskopie, findet es kontinuierliche Anwendung. Frauen benötigen eine höhere Dosierung und hochfrequentere Gabe von Propofol, da sie sonst im Vergleich zu Männern früher aufwachen (1; 25). Die Ursache für eine früher fallende Plasmakonzentration von Propofol kann unter drei Gesichtspunkten diskutiert werden: schnellere Metabolisierung, raschere Verteilung in verfügbares ungesättigtes Gewebe und/oder eine langsamere Rückverteilung ins Plasma aus dem Gewebe (25). Ein im Vergleich zu Männern höherer Anteil an Fettgewebe scheint eine signifikante Rolle zu spielen (1).

1.4.3Morphin

Morphin ist ebenso wie Propofol fester Bestandteil des klinischen Alltags. Auch hier zeigen sich signifikante geschlechterbezogene Aspekte. Eine höhere Potenz, langsamere Anflutung und längere Dauer des analgetischen Effekts wurden bei Frauen im Vergleich zu Männern beobachtet (26). Eine daraus resultierende Sensibilität für einen modifizierten Bedarf bei Frauen und Männern ist zu berücksichtigen (1). Geschlechteraspekte in die Analyse der Problematik zu integrieren zeigt sich auch hier als relevant, insbesondere, weil Erkenntnisse aus Tiermodellen und klinischen Studien durchaus widersprüchliche Aussagen treffen (27). Dadurch sind Konsequenzen für die klinische Realität schwierig zu beurteilen, wenn die Untersuchung und Analyse von Geschlecht in klinischen Studien nicht ausreichend bedacht wird und so zu einer verringerten Aussagekraft für die klinische Praxis führt (26; 27).

Nicht nur in der Pharmakodynamik, sondern auch gesellschaftsdynamisch lohnt sich ein genauerer Blick auf Opiate. Eine steigende Tendenz an Verschreibungen und Substanzabhängigkeit wird in den USA schon lange und nun mittlerweile auch in Europa festgestellt (28; 29). Zu beobachten ist bei Frauen eine höhere Verschreibungsrate von Opiaten, häufiger ein chronischer Gebrauch und besonders im höheren Alter vermehrte Nebenwirkungen und Medikamenteninteraktionen (30). Um vorzubeugen, dass das Ausmaß einer „Opiatkrise“ in Deutschland und Europa eskaliert und überproportional Frauen betrifft, wäre zumindest eine zeitige Selbstreflexion über die hiesige Verschreibungspraxis von Opiaten sinnvoll.

1.4.4Osteoporose und Schenkelhalsfrakturen

Osteoporose wird weitläufig als „weibliche“ Erkrankung wahrgenommen, die vor allem postmenopausale Frauen beträfe. Aber auch Männer im höheren Alter zeigen ein erhöhtes Vorkommen, die Inzidenz bei Männern über 70 Jahren liegt bei ca. 30–40% (31; 32). Eine unzureichende Präventionslage und daraus folgende Unterbehandlung einer Osteoporose, die in Schenkelhalsfrakturen mündet, können zu weitreichenden Konsequenzen führen (1). Kannegaard et al. (33) beschreiben eine 10% erhöhte Mortalität von Männern mit Schenkelhalsfrakturen im Vergleich zu Frauen.

1.4.5Depressionen und Suizide

Im Themenfeld der Depressionen bezieht sich das sogenannte „Gender Paradoxon“ auf Suizide und beschreibt eine drei- bis vierfach erhöhte Rate an erfolgenden Suiziden bei Männern trotz häufigerer Suizidversuche und doppelt so oft diagnostizierten Depressionen bei Frauen. Einflussfaktor ist zum einen ein historisch gewachsener und fortbestehender Female Bias in Bezug auf psychische Symptome und Diagnosen (34). So liegen beispielsweise Hinweise vor, dass Männer bei gleicher Symptomatik signifikant seltener die Diagnose Depression erhalten, die Differenzen liegen bei 10–20% (25; 35; 36; 37).

Zum anderen kann ein auf stereotypen Genderrollen und -erwartungen basierendes Verhalten, das durch mangelnde Reflexion von Symptomen und fehlendem Hilfesuchverhalten gekennzeichnet ist, zu mangelnder Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führen (38).

Eine unterschiedlich gewichtete Symptomatik kann hier ein Erkennen der Depression erschweren. Frauen zeigen häufiger internalisierende Symptome (Antriebslosigkeit, traurige Verstimmung, Interessenverlust), welche weitläufig als „klassische“ Symptome der Depression gehandelt werden. Wohingegen Männer dazu tendieren, sogenannte externalisierende Symptome wie Alkohol- und Drogenmissbrauch bis -abhängigkeit, erhöhte Reizbarkeit und aggressives Verhalten zu zeigen, die seltener als Depressionssymptomatik assoziiert, klassifiziert und erkannt werden (34). Dies kann insbesondere in Akutsituationen, die aggressions- oder substanzassoziiert sind, zu Fehleinschätzungen führen, die dazu beitragen, dass Depressionen bei Männern unerkannt bleiben und schlimmstenfalls zum Suizid führen. Umgekehrt lässt sich argumentieren, dass eine erhöhte Aufklärung über erweiterte Symptome einer potenziellen Depression, vor allem bei männlich sozialisierten Personen, ein erweitertes Diagnosespektrum und so eine Suizidprävention durch rechtzeitige Depressionsdetektion möglich machen (39).

1.5Intersektionalität

Innerhalb der sozialen Determinanten, die die Entstehung von Krankheit und Aufrechterhaltung von Gesundheit beeinflussen, existieren neben Geschlecht auch noch weitere relevante Faktoren: u.a. Rassismuserfahrungen, Alter, Behinderungen, sozioökonomischer Status, Bildungsweg, Wohnort und weitere Differenzkategorien. Es ist notwendig, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass verschiedene Diskriminierungsfaktoren den Zugang zum Gesundheitswesen und die Qualität der gesundheitlichen Behandlung maßgeblich beeinflussen und wie sie miteinander wechselwirken (40).

Diese Wechselwirkungen und Potenzierungen in Bezug auf Hürden in der gesundheitlichen Versorgung lassen sich im Konzept Intersektionalität vereinen (41). Das Konzept Intersektionalität wurde in den 1980er-Jahren von der afroamerikanischen Juristin Kimberly Crenshaw erarbeitet und ist verankert im jahrzehntelangen Engagement insbesondere afroamerikanischer feministischer Bewegungen (41; 42). Crenshaw argumentiert, dass durch die Wechselwirkung von Rassismus und Sexismus eine neue Form der Diskriminierungsrealität entsteht, die sich von singulär betrachtetem Sexismus oder Rassismus unterscheidet. Eine Schwarze Frau erlebe eine andere Diskriminierungsrealität als eine weiße Frau oder ein Schwarzer Mann (41).

Intersektionalität geht über eine lineare Analyse von Unterdrückungsmechanismen und Ungerechtigkeitssystemen hinaus und strebt eine übergreifende und gleichberechtigte Analyse von Ungleichheitssystemen an (43). Es reicht nicht, Diskriminierungsfaktoren lediglich getrennt voneinander zu betrachten und aufzuaddieren, sondern bedarf einer simultanen Analyse einer eigenen Diskriminierungsentität (44).

Wie kann eine intersektionale Betrachtung im klinischen Alltag aussehen? Verdeutlichen lässt sich das beispielsweise anhand von Erkenntnissen zu Gebärendensterblichkeit und die COVID-19-Pandemie in den USA. Bezüglich Gebärendensterblichkeit konnte 2016–2017 eine bis zu 3,5-mal höhere Mortalität von Schwarzen, nichthispanischen Frauen im Vergleich zu weißen, nichthispanischen Frauen beschrieben werden. Das zeigt die Verzahnung der Diskriminierungsfaktoren Rassismus und Sexismus auf (45).

Während der COVID-19-Pandemie war der Vergleich der Mortalität ebenso bezeichnend: Schwarze, Hispanoamerikaner:innen, und Amerikaner:innen asiatischer Abstammung zeigten eine höhere Mortalität im Vergleich zur weißen Population. Wichtig zeigten sich für dieses Missverhältnis auch sozioökonomische Gründe, z.B. der höhere Anteil an Berufen, die in Person ausgeübt werden mussten und lange Arbeitswege. Schwarze Männer zeigten eine höhere Mortalitätsrate als Schwarze Frauen, und weiße Männer und Frauen u.a. durch eine höhere Prävalenz an kardiovaskulären Erkrankungen in Schwarzen US-amerikanischen Männern in der analysierten Region. Hier zeigt sich Geschlecht in einer dichten Verzahnung zu klassistisch/sozioökonomischen und rassistisch bedingten Variablen (46).

Das sind zwei Beispiele von vielen, die verdeutlichen, dass auch innerhalb geschlechtersensibler Medizin eine isolierte Betrachtung von Geschlecht nicht ausreicht. Geschlecht ist eingebettet in soziokulturelle Gegebenheiten. Eine Kontextualisierung und gleichberechtigte Betrachtung anderer Differenzmerkmale sind zwingend notwendig, um eine Gesundheitsversorgung sicherzustellen, die für alle Barrierefreiheit und eine hohe Qualität sicherstellt. Eine eindimensionale Betrachtung greift – wie so oft – zu kurz.

Take home messages:

Eine Veränderungspraxis, die in alle Bereiche des Gesundheitssystems Einzug findet und als differenzierte Formate strukturell implementiert ist, ist notwendig, um eine geschlechtersensible, diskriminierungsfreie medizinische Praxis nachhaltig zu sichern. Dafür braucht es Ressourcen in der Forschung, um eine solide Evidenzbasis zu kultivieren und daraus informierte klinische Leitlinien zu entwickeln. Auf aktuellen Erkenntnissen beruhend, muss eine Sensibilisierung in Aus-, Weiter- und Fortbildung aller Akteur:innen im Gesundheitswesen durch flächendeckende Verankerung im Pflichtcurriculum stattfinden. Und Patient:innen können durch Aufklärungskampagnen auch außerhalb der medizinischen Behandlung über ihre individualisierten Bedarfe aufgeklärt werden. Ein interprofessionelles und interdisziplinäres Miteinander aller Bereiche ist elementar, um gemeinsam Wege zu finden, eine gerechte Gesundheitspraxis zu gestalten. Eine bundesweite und internationale Vernetzung ist für diese Zielsetzung unabdingbar.

Geschlechter- und diskriminierungssensible Forschung, Lehre und Behandlung sind notwendig für eine qualitativ hochwertige medizinische Praxis, die die Gesamtbevölkerung abbildet und adäquat behandelt. Sie ist ein Qualitätsmerkmal einer gerechten medizinischen Versorgung, die insbesondere in Notfallsituationen teilweise über Leben und Tod entscheiden kann.

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Awa Naghipour, M.D.

Awa Naghipour ist Ärztin und Wissenschaftlerin. Nach dem Studium der Humanmedizin an der Charité in Berlin und klinischer Tätigkeit in der Inneren Medizin ist sie seit 2022 am Lehrstuhl für Geschlechtersensible Medizin der Universität Bielefeld tätig. Ihre aktuellen Forschungsinteressen umfassen Geschlechter- und Diskriminierungssensibilität in der klinischen Praxis, Intersektionalität und der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Lehr-, klinische und politische Praxis. Sie promoviert an der Universität Münster in der Phoniatrie und Pädaudiologie zu Erkrankungen bei Menschen mit intellektuell-kognitiven Beeinträchtigungen und Hörstörungen. Sie ist Mitgründerin des gemeinnützigen Vereins Feministische Medizin e.V., der sich für Gleichberechtigung und Antidiskriminierung im Gesundheitswesen einsetzt.

 

Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, M.Sc.

Sabine Oertelt-Prigione ist Ärztin, Wissenschaftlerin und Organisationsberaterin. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Master of Public Health. Seit 2017 hat sie den Lehrstuhl für Gendermedizin an der Radboud University in Nijmegen, Niederlande, inne und seit 2021 die Professur für Geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld. Sie war 2018–2020 Mitglied der EU Kommission Expert:innengruppe „Gendered Innovations“ und 2022–2023 Vorsitzende der EU-Expert:innengruppe „Gender and COVID-19“.

2Geschlechterspezifische Unterschiede bei Herz-Kreislauf-ErkrankungenHelena Schluchter und Ute Seeland

2.1Geschlechterspezifische personalisierte Medizin

Das Ziel der geschlechterspezifischen personalisierten Medizin unter Berücksichtigung weiterer Diversitätsfaktoren (GSM+) ist eine patient:innenzentrierte, nicht-diskriminierende Gesundheitsversorgung durch einen Perspektivwechsel hin zu einem systembiologischen Ansatz. Gegenstand der GSM+ Forschung ist die Untersuchung der Interaktion von biologischen Geschlechterunterschieden und soziokulturellen Diversitätsfaktoren in Hinblick auf die Erhaltung von Gesundheit und die Entstehung von Krankheiten (1).

2.1.1Geschlecht und Alter

Daten aus der Versorgungsforschung, insbesondere die epidemiologischen Kennzahlen wie Morbidität und Mortalität, stehen oft am Anfang einer Fragestellung der Studien zur GSM+. Einen ersten Perspektivwechsel hat in den 1980er-Jahren die US-amerikanische Ärztin Marianne Legato vollzogen mit dem Blick auf die bis dahin unbekannten oder nicht ernst genommenen Symptome bei Frauen mit Herzinfarkt (2).

In Deutschland ist bereits seit 1987 eine höhere 28-Tage-Krankenhausletalität bei Frauen < 60. LJ mit akutem Myokardinfarkt im Vergleich zu gleichaltrigen Männern bekannt (3). Der Deutsche Herzbericht 2021 (4) zeigt, dass Frauen mit chronisch ischämischer Herz-Kreislauf-Erkrankung eine höhere Letalität als Männer aufweisen (30% vs. 18%). Bei Frauen mit Herzklappenerkrankung liegt die Letalität bei 29% im Vergleich zu 15% bei Männern (5).

Die fehlende systematische Berücksichtigung geschlechterspezifischer Unterschiede, kann zu Fehl- bzw. Unterversorgung führen. Ein Beispiel ist die Verzögerung in der Versorgung von kardiovaskulären Notfällen bei Frauen (6). Unter anderem bedingt durch die diffusen Symptome, die nicht primär einem klassischen Myokardinfarkt zugeordnet werden (7), aber auch durch die Vielfalt der ätiologischen Möglichkeiten, die zu Myokardischämien führen können (s. Kap. 2.3). Nicht-obstruktive Ursachen sind auch beim männlichen Geschlecht zu beobachten, allerdings mit niedrigerer Prävalenz (1).

2.2Akutes Koronarsyndrom

Während Männer den typischen Brustschmerz als Leitsymptom des Herzinfarkts angeben, präsentieren Frauen häufig diffuse Symptome wie retrosternalen Druck, Dyspnoe, starke Müdigkeit, Unwohlsein und Übelkeit oder Schmerzen in Rücken, Nacken und Kiefer (1; 8).

Diese Symptomvielfalt, meist durch eine vagale Aktivierung ausgelöst, erfordert in der Akutsituation eine Anpassung des Vorgehens. Es bedarf eines Behandlungsalgorithmus, der geschlechterspezifische Unterschiede früh berücksichtigt und die Zeit der intensivmedizinischen Behandlung mit einbezieht. Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen < 60. LJ sind komplexer im Vergleich zu den Symptomen gleichaltriger Männer. Diese verschiedenen Symptomphänotypen haben dazu geführt, dass Frauen seltener und später einer invasiven Herzkatheterdiagnostik und -therapie zugeführt werden (9–11). Dieser Unterschied verliert sich im höheren Alter (12). Die Ergebnisse sind vereinbar mit der Tatsache, dass akute Koronarsyndrome, die nicht auf eine obstruktive KHK zurückzuführen sind, häufiger im prä- und perimenopausalen Alter auftreten und seltener postmenopausal.

Aus den Registerdaten ist bekannt, dass Frauen verspätet ärztliche Hilfe aufsuchen (9; 11; 13; 14) und häufiger eine nicht-kardiale Ursache für ihre Beschwerden zugeschrieben bekommen (15; 16). Frauen mit akutem Koronarsyndrom sind im Durchschnitt 7 bis 10 Jahre älter und leiden häufiger an chronischen Nierenerkrankungen, arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus und metabolischem Syndrom (17, 18). Männer mit ACS sind öfter Raucher und leiden häufiger an Hyperlipidämie und peripherer arterieller Verschlusskrankheit (19; 20).

2.2.1Behandlungspfade in der Akutmedizin

Laien reanimieren Männer häufiger als Frauen, insbesondere im öffentlichen Raum (21; 22). Bedingt durch die höhere KHK-Prävalenz bei Männern, ist die Wahrscheinlichkeit, Ersthelfer:in für einen Mann zu sein, größer. Ab dem 80. LJ kehrt sich dieses Geschlechterverhältnis um. Weitere mögliche Ursachen für ausbleibende Laienreanimation bei Frauen sind das Training am überwiegend „männlichen“ Dummy und gesellschaftlich bedingte Tabus (23; 24). Im Herz-Kreislaufstillstand präsentieren Frauen häufiger einen nicht-schockbaren Rhythmus als Männer (25; 26).

2.2.2Koronare mikrovaskuläre Dysfunktion (CMD)

CMD ist weit verbreitet unter Männern und Frauen (27) und assoziiert mit einer persistierenden Angina-pectoris-Symptomatik, eingeschränkter Lebensqualität und einem erhöhten Mortalitätsrisiko, sowie dem Risiko, einen Myokardinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden (28–30). Mikrovaskuläre Formen beruhen auf Remodelling-Prozessen oder Vasomotionsstörungen der Arteriolen, die zu einer erniedrigten Koronarflussreserve (CFR) führen (31). Eine CFR < 1,2 ist bei Frauen mit einem signifikant höheren Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse assoziiert als bei Männern (32). Bei vasospastischer CMD führt eine Hypersensibilität der Koronararterien oder der Mikrogefäße auf vasokonstriktive Stimuli zur Myokardischämie (33). Diagnostisch lässt sich die vaskuläre Hyperreagibilität mit Acetylcholin provozieren, wobei insbesondere Frauen sensibler auf Acetylcholin reagieren (34).

Die COVADIS-Diagnosekriterien umfassen (31):

Akute-Koronarsyndrom-Symptomatik

Objektiver Ischämienachweis

Ausschluss einer obstruktiven koronaren Herzerkrankung

Erniedrigte CFR oder reproduzierbare Vasospasmen

Traditionelle kardiovaskuläre Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie (35), Hyperlipidämie (36), Diabetes mellitus (37) und Adipositas (38) sind assoziiert mit einem erhöhten CMD-Risiko (39), bei Frauen stärker als bei Männern (35; 40; 41). Daneben zählen systemisch-inflammatorische, autoimmune und psychische Erkrankungen zu den Risikofaktoren für CMD (42). Insbesondere Frauen < 50. LJ scheinen anfälliger für stressinduzierte kardiovaskuläre Ereignisse zu sein (43). Weitere, spezifisch weibliche Risikofaktoren sind Schwangerschaftskomplikationen (44–46) und PCOS (47).

2.2.3Spontane Koronararteriendissektion (SCAD)

SCAD bedingt 1–4% aller akuten Koronarsyndrome, wobei Frauen signifikant häufiger betroffen sind (> 90%), insbesondere Frauen < 60. LJ und im Rahmen von Schwangerschaft-assoziiertem akutem Koronarsyndrom (48; 49). Aufgrund kleinerer Gefäßdurchmesser und vermehrter Tortuosität der Koronararterien neigen Frauen eher zu Dissektionen und Perforationen (49; 50). Zu den Risikofaktoren für SCAD zählen hormonelle Veränderungen, Schwangerschaftskomplikationen, systemisch-inflammatorische Erkrankungen sowie Gefäßerkrankungen (z.B. fibromuskuläre Dysplasie), aber auch Umweltfaktoren und physischer (z.B. Krafttraining) und psychischer Stress. Am häufigsten ist der mittlere und distale Ramus interventricularis anterior betroffen (51). Eine negative CT-Koronarangiografie schließt eine SCAD nicht aus (52). Geeignete bildgebende Verfahren sind optische Kohärenztomografie und intravaskulärer Ultraschall (53).

2.3Geschlechterunterschiede bei der Diagnostik

Zur Diagnostik des akuten Koronarsyndroms zählen neben Anamnese und körperlicher Untersuchung, 12-Kanal-EKG und standardisierte Labordiagnostik inklusive serieller Herzenzym-Assays (high-sensitive cardiac troponin hscTn) (54; 55).

Die obstruktive KHK ist bei beiden Geschlechtern die häufigste Ursache für ein akutes Koronarsyndrom (6) mit einer zwei- bis viermal höheren Prävalenz bei Männern < 60. LJ im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Frauen eine klassische KHK oft erst 10 Jahre später entwickeln, entsprechend dreht sich das Geschlechterverhältnis im höheren Alter um (56–58).

Das Ausmaß atherosklerotischer Plaques ist ein wichtiger prognostischer Faktor (30). Die Prävalenz von myocardial infarction with non-obstructive coronary arteries (MINOCA), also nicht relevanter Plaque-Last bei Ursache der Myokardischämie, beträgt 10,5% bei Frauen und 3,4% bei Männern mit einem akuten Koronarsyndrom (14; 27; 59). Zu den Ursachen zählen CMD, Vasospasmen, SCAD oder koronare Thrombi und Emboli (60). Die Prävalenz dieser Pathologien ist besonders hoch für Frauen < 55 LJ (7; 61–63).

EKG-Veränderungen sind unabhängig von der Ätiologie der Myokardischämie, daher haben 3,6% der Frauen und 1,6% der Männer mit ST-Hebung keine obstruktive Plaque-Last. Daneben sind 15% der NSTEMI bei Frauen und 5,1% der NSTEMI bei Männern als MINOCA zu klassifizieren (64).

Die gültigen Leitlinien differenzieren bei der Diagnose STEMI nicht nach Ätiologie, sondern empfehlen die primäre Koronarangiografie (55).

Eine Dynamik des hs-cTn wird mittels seriellen Analysen nach festem 0 h/1 h bzw. 0 h/2 h-Algorithmus erfasst (54). Trotz nachgewiesenem Einfluss von Alter und Geschlecht auf hs-cTn-Werte (65), werden in den aktuellen Leitlinien einheitliche diagnostische Grenzwerte empfohlen.

Bei Verdacht auf eine nicht-obstruktive Ätiologie des akuten Koronarsyndroms wird eine erweiterte Diagnostik aus geschlechtersensibler Sicht dringend empfohlen (66):

Invasive Verfahren mit Möglichkeit zur Intervention: Koronarangiografie, Druckdraht-Messung, koronarer Reaktivitätstest mit Adenosin und Acetylcholin, intravaskulärer Ultraschall

Nicht-invasive Bildgebung: Echokardiografie, Kardio-MRT, SPECT, PET, CT-Koronarangiografie

2.4Risikostratifizierung

Der Einsatz validierter Scores zur Risikostratifizierung, wie z.B. der GRACE Score 2.0, wird empfohlen (67). Die Einschätzung des Mortalitätsrisikos anhand von EKG-Kriterien, klinischen und laborchemischen Parametern dient der risikoadaptierten Therapie und Überwachung (68). Der Score wurde in überwiegend männlichen Patientenpopulationen entwickelt und validiert (68). Somit führt die Anwendung bei Frauen regelhaft zur Unterschätzung des Mortalitätsrisikos. Eine Weiterentwicklung, der GRACE Score 3.0, berücksichtigt Geschlechterunterschiede in der Bedeutung einzelner Score-Variablen und Risikofaktoren, ist dem GRACE Score 2.0 überlegen und sollte Einzug in die Leitlinien finden (69).

2.4.1Prognose

Die Prognose von Frauen wird zum einen negativ beeinflusst durch das in den Leitlinien fehlende oder unzureichend aufgearbeitete Wissen zu den Geschlechterunterschieden (54; 55), den zeitlich verzögerten Behandlungspfad (s. Kap. 2.2.1), das höhere Alter und die vielfältigere Komorbidität (11; 57; 70; 71). Zusätzlich verschlechtern häufigere peri- und postinterventionelle Komplikationen wie Blutungen an Einstichstellen, insbesondere bei femoralem Zugang, Dissektionen, Perforationen und Restenosierungen die Prognose von Frauen (3; 72).

Diesen Risiken muss konsequent begegnet werden durch

den Zugang über die A. radialis,

arterielle Verschlusssysteme, adaptiert an Geschlecht und biologisches Gefäßalter,

gewichts- und nierenadaptierte Dosierung von Medikamenten, insbesondere zur Gerinnungshemmung (73).

2.4.2Soziokulturelle Einflussfaktoren

Die soziokulturellen Einflussfaktoren (gender) spielen eine große Rolle bei der Interaktion von Ärzt:in und Patient:in. Eine erste Studie, die den Einfluss von Gender-Variablen systematisch erfasst und für das akute Koronarsyndrom prospektiv untersucht hat, zeigt, dass sich typisch weibliche psychosoziale Attribute negativ auf das Risikoprofil von Patient:innen mit akutem Koronarsyndrom auswirken, unabhängig vom biologischen Geschlecht (74).

Take home messages:

Geschlechterunterschiede bei akuten und chronischen Koronarsyndromen sind gut erforscht, sodass das Wissen nun in die Praxis translatiert werden kann. Das Interesse an GSM+ Forschung nimmt in Fachkreisen zu und wird politisch unterstützt, sodass zukünftig auch weitere kardiovaskuläre Phänomene wie Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen umfassender geschlechtersensibel untersucht und in einen systembiologischen Zusammenhang mit biologischen und soziokulturellen Einflussfaktoren gesetzt werden können. Dies markiert einen bedeutenden Schritt in Richtung individualisierte, geschlechtergerechte, nicht-diskriminierende Medizin.

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Helena Schluchter

Helena Schluchter ist Ärztin in Weiterbildung an der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin der Klinik Floridsdorf, Wien und Mitglied der AG Gender der Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie, Wien. Sie engagiert sich im erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. für die Erforschung von Geschlechterunterschieden in der Medizin und die Translation in den klinischen Alltag.

 

PD Dr. med. Ute Seeland

Ute Seeland ist Fachärztin für Innere Medizin, habilitiert im Fach Geschlechtersensible Medizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie. Als Gendermedizinerin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e.V. (DGesGM) engagiert sie sich für die Forschungsförderung und Translation des GSM+ Wissens in die klinische Anwendung. Sie ist Past-Sprecherin der AG 28 Gendermedizin in der Kardiologie der DGK.

 

3Genderaspekte in der SepsisJanina Trauth

Sexueller Dimorphismus im Immunsystem von Säugetieren äußert sich in häufigeren und schwereren Infektionskrankheiten bei Männern und andererseits in einer höheren Rate an Autoimmunerkrankungen bei Frauen (1). Geschlechtsdimorphismen kommen bei einer Vielzahl von Infektionserkrankungen, darunter auch Sepsis, vor. Eine Sepsis ist eine akut lebensbedrohliche Organdysfunktion, hervorgerufen durch eine inadäquate Wirtsantwort auf eine Infektion. Aktuelle Diagnostik- und Behandlungsleitlinien (2; 3) beziehen vorhandenes präklinisches und klinisches Wissen zu Genderaspekten noch nicht ein.

3.1Prävalenz und Mortalität

Untersuchungen zur Prävalenz und Mortalität zeigen bislang noch kein einheitliches Bild:

In den USA zeigten Frauen eine niedrigere 28-Tages- und 1-Jahres-Sepsis-Mortalität, was sich aber mit zunehmendem Alter (> 50 Jahre) aufhebt (4).

Eine koreanische Studie sah eine höhere Wahrscheinlichkeit für In-Hospital-Mortalität bei Männern, allerdings nicht <50 Jahren (5).

Eine prospektive australische Kohorte fand ebenfalls bei älteren Männern ein erhöhtes Risiko für sepsisassoziierte Hospitalisierung und Tod (6).

Eine italienische Kohorte fand eine höhere Sepsisprävalenz bei Männern, allerdings waren die Frauen bei Hospitalisierung älter und hatten ein höheres Risiko auf ICU zu versterben (7).

Eine deutsche Kohorte fand keine geschlechtsspezifischen Unterschiede (8).

Eine Auswertung der APACHE-IV-Datensätze ergab keinen signifikanten Unterschied in der Sepsismortalität (9).

In einer Metaanalyse wiesen Frauen bei Aufnahme auf die Intensivstation tendenziell höhere Krankheitsschwerewerte auf, und Frauen scheinen bei der Entlassung aus der Intensivstation und nach einem Jahr offenbar auch eine höhere risikoadjustierte Mortalität zu haben als Männer (10). Ein anderer Review scheint dies nicht zu bestätigen (11).

Eine kürzliche Arbeit ordnet Geschlechterdifferenzen auf ICU wie folgt ein:

Patienten, die mit einer für ihr Geschlecht relativ ungewöhnlichen Diagnose auf Intensivstationen aufgenommen werden, haben eine höhere Krankheitsschwere und ein höheres Sterberisiko als Patienten des anderen Geschlechts.

Bei Diagnosen mit weniger Frauen ist das Sterberisiko für Frauen relativ höher als für Männer, und bei Diagnosen mit weniger Männern ist das Sterberisiko für Männer relativ höher als für Frauen. Hier waren Männer nicht signifikant häufiger von Sepsis betroffen, Krankheitsschwere und Mortalität unterschieden sich nicht (12).

3.2Pathophysiologie

Die Geschlechter unterscheiden sich in der Schwere, Häufigkeit und Pathogenese von durch Viren, Bakterien, Parasiten und Pilze verursachten Infektionen, wobei Männer im Allgemeinen anfälliger für diese Infektionen sind als Frauen (1; 13). Häufig sind Impfantwort- und Impfreaktion bei Frauen stärker ausgeprägt (1). Auch Tiermodelle zeigen, dass die Reaktion des Wirts auf Krankheitserreger bei Frauen und Männern unterschiedlich ist. Dieser Unterschied lässt sich teilweise durch Sexualhormone, chromosomale und epigenetische Effekte sowie Umweltfaktoren erklären. Erkenntnisse zum Einfluss der Sexualhormone werden im Zell- oder Tiermodell oder beim Menschen durch Vergleich verschiedener Expositionssituationen gewonnen: prä-/postpubertär, prä-/postmenopausal, Androgen-Deprivation, Androgen-Substitution, Schwangerschaft.

Immunzellen und Sexualhormonrezeptoren

Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Immunzellen über Sexualhormonrezeptoren verfügen und direkt auf das Vorhandensein, Fehlen oder Veränderungen der Konzentrationen von Sexualsteroidhormonen reagieren können. Androgene (einschließlich Testosteron), Östrogene (einschließlich 17 β-Östradiol) und Progesteron können unterschiedliche und überlappende Auswirkungen auf die Rekrutierung und Aktivität verschiedener Immunzellpopulationen bei Menschen, Nagetieren und primären Zellkultursystemen haben. Im Allgemeinen wirken Testosteron und Progesteron entzündungshemmend und unterdrücken mehrere der für eine Entzündung notwendigen Immunreaktionen. Östradiol hat bipotente Wirkungen: Niedrige Östradiolkonzentrationen (z.B. während der Follikelphase des Fortpflanzungszyklus) können entzündungsfördernd sein, wohingegen hohe Östradiolkonzentrationen (z.B. während der Lutealphase des Fortpflanzungszyklus oder während der Schwangerschaft) entzündungshemmend sein können (1). Schließlich wurde Gestagen aufgrund seiner Auswirkungen auf den Blutgerinnungsprozess des Körpers mit einer erhöhten Mortalität bei Sepsis in Verbindung gebracht.