Doch alle schweigen - Julia Augustin - E-Book
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Julia Augustin

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Beschreibung

Kristina möchte endlich alles hinter sich lassen: Die Stadt, die Wohnung, die Menschen, eine Vergangenheit. In Hamburg soll alles besser werden. Viel zu kurz war der Urlaub für Miriam. Als Stewardess bleibt wenig Zeit für soziales Leben. Aber vielleicht wartet diesmal jemand in Hamburg auf sie. Nala und Safiya haben gemeinsam alles verlassen: Eine Familie, Tradition und Heimat. Nach zwei Jahren der Trennung werden sie sich in Hamburg endlich wiedersehen. Markus nimmt sich eine Auszeit. Das Lehrerleben langweilt ihn. An ein paar Tagen möchte er mit seinen Freunden das wahre Leben feiern. Nichts in Katjas Alltag geht ohne Stress. Soeben hat ihre mittlerweile offenbar schon an Demenz erkrankte Mutter sie zum Zug gefahren, wo sie für einige Stunden durchatmen kann. Danach warten die Arbeit in der Orthopädie-Praxis, ein gemeinsamer Abend mit Freund*innen und ganz nebenbei eine Familie auf sie. Für Manfred ist alles an diesem Tag Aufregung. In seinem Alter fährt er nur noch selten mit der Bahn. Doch welche Hürden nimmt man nicht für eine geliebte Enkelin auf sich? Ingo ist tatsächlich "Wer". Sein Leben verläuft nach Plan. Immerhin ist er Anwalt. Da kennt er seine Rechte ziemlich genau. Und fast wäre es eine gewöhnliche Zugfahrt, wäre da nicht dieser Vorfall. Mehr als jede zehnte Frau in Deutschland ist mindestens einmal von einer strafrechtlich relevanten Form sexualisierter Gewalt betroffen. Folge sind nicht nur körperliche Wunden, sondern auch seelische. Hinzu kommen zum Teil gravierende Veränderungen des persönlichen Alltags. Nicht umsonst hat die WHO Gewalt gegen Frauen zu einem der größten Gesundheitsprobleme weltweit erklärt. Bedeutend häufiger findet sexuelle Belästigung im Alltag statt. Dies geschieht bei der Arbeit, im vertrauten Umfeld, in der Bahn. Das Erlebte hat ähnlich anderer Formen sexualisierter Gewalt Folgen für die Gesundheit Betroffener. Für die Opfer ist es oft schwierig, über das Erfahrene zu sprechen. Dabei leben sie mitten unter uns, sitzen vielleicht in dem gleichen Zugabteil, schweigen wie auch wir. Zudem müssen doch irgendwo die Täter*innen bleiben. Haben sie sich eventuell genauso unter die Fahrgäste gemischt? Wie sieht denn so ein Leben aus nach der Gewalt? Wie können wir erkennen, wer uns womöglich gegenüber sitzt, seine Reaktionen einordnen, uns am Ende sogar behilflich machen? So wäre es fast eine gewöhnliche Zugfahrt, fände da nicht Gewalt so sichtbar mitten unter uns statt. Und was heißt schon gewöhnlich?

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Julia Augustin

Doch alle schweigen

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Ein paar Anmerkungen zur Geschichte

Julia Augustin

Doch alle schweigen

Impressum

Julia Augustin, Berlin

[email protected]

Coverfoto: Julia Augustin

Prolog

Es fühlt sich endgültig an.

Wie sie ein letztes Mal den Wecker verschlafen ausstellt.

Ein letztes Mal das Bett richtet.

Den warmen Kaffee schlurft.

Sie wärmt ihre knochigen, weißen Hände an der großen roten Tasse.

Kurz blitzt da eine Erinnerung auf: Ein Morgen fast wie immer. Ein Morgen danach.

Sie stellt das Radio an, lässt die Pop-Musik laufen.

Es schmerzt in den Ohren, ist überhaupt nicht ihr Geschmack.

Doch heute berührt es sie nicht.

Auch das scheint vorbei.

„Guten Morgen. Du bist noch hier?“, steht Lucia neben ihr und reibt sich müde die Augen.

„Ich fahre erst um 10 Uhr“, kaut sie lustlos auf ihrer Toastscheibe mit viel zu süßer Erdbeermarmelade.

„Bist du so schnell mit der Bahn am Hauptbahnhof?“, fragt ihre Freundin und streicht eine dunkle Strähne ihrer langen, spanischen Locken hinter das Ohr.

„Mach dir keine Sorgen, Lucia! Ich habe es schon im Griff“, greift sie wieder nach der Kaffeetasse.

„Ich werde dich vermissen, Kris“, lächelt die Freundin plötzlich traurig und setzt sich ihr gegenüber.

Beinahe erschrocken sieht sie von dem braunen Getränk auf und mustert das zarte Gesicht mit der straffen olivbraunen Haut, den schwarzen feurigen Augen und der spitzen, fast edlen Nase.

„Ich werde wiederkommen“, stellt sie abwehrend das Geschirr zusammen.

„Bevor du mich für immer verlassen möchtest?“, erwidert die Spanierin sofort und runzelt streng die Stirn.

Schweigend spült sie den Teller, der schon einen Sprung am Rand hat, die rote Tasse mit dem Kaffeerand, das Besteck und den Abwasch des vergangenen Abends.

Das Wasser wärmt ihre Haut, bringt ein wenig Leben in die Gefäße.

Um 10 Uhr am Hauptbahnhof.

Ein paar Stunden Zugfahrt.

Natürlich für immer.

Mit gesenktem Kopf trocknet sie ihre schmalen Hände an dem blau karierten Handtuch.

Alles ist hier so gewöhnlich.

Nichts hat mehr seinen Reiz von früher.

Es ist verbraucht.

„Ich kann ein Stück mit dir fahren“, hätte sie beinahe vergessen, dass sie nicht allein ist.

„Geht schon, Lucia. Ich schaffe das“, lacht sie selbst unsicher.

Die Freundin kneift die vollen, dunkelrot geschminkten Lippen zusammen.

„Ich habe es mir vorgenommen“, weicht sie einen Schritt zurück.

Ohne eine klare Emotion, vielleicht mit einem Funken Neugier beobachtet sie sich selbst, wie sie mit der schweren Holzbürste das lange blonde Haar kämmt. Die Strähnen fließen um ihren dünnen Hals.

Mit flauem Gefühl im Bauch starrt sie die grün-grauen ausdruckslosen Augen an, die durch tiefe Ringe müde scheinen.

Das Licht der Morgensonne blendet sie, als sie langsam, gar bedächtig, in ihre enge schwarze Jeans schlüpft, die BH-Träger über die Schulter zieht, innehält.

Da sind sie wieder, die Erinnerungen.

Tief in ihrer Seele.

Verbrannte Erde, verbrannte Haut.

Als wären sie zerbrechlich streicht sie mit den zarten Fingerkuppen über die Schultern, die Oberarme, den Hals…

Sie schließt die Augen.

Ihre Haut brennt überall.

Eine tiefe Traurigkeit umhüllt sie wie ein unsichtbarer Mantel.

Eine ganze Flut aus Erinnerungen lässt sie erstarren.

„Kristina?“, hört sie jemanden an ihre Tür klopfen.

Abrupt reißt sie sich von ihrem Spiegelbild los, zieht den schweren roten Vorhang ein Stück vor, um nicht ganz so stark geblendet zu werden.

Sie seufzt, greift dann nach der blauen mit Blumen bestickten Bluse.

Ihre Finger zittern, als sie sie zuknöpft.

Ihr eigener Atem klingt in den Ohren.

„Kristina? Dein Zug fährt bald“, klopft es erneut an die Tür.

Eilig streift sie sich den beigefarbenen Cardigan über, legt den weißen dicken Wollschal um den Hals.

„Ich bin schon da!“, reißt sie die Tür auf.

Lucia mustert sie eindringlich. Das hat sie häufiger gemacht.

Nie mochte sie es.

Schließlich fühlt sie sich jedes Mal so unbehaglich dabei, als versuche jemand, sie bei der kleinsten Lüge zu überführen, in ihrem Herzen zu wühlen, Gefühle anzurühren, die nicht mehr da waren.

„Du bist spät dran“, runzelt die Freundin wieder streng die Stirn.

„Ich werde es sicherlich schaffen“, wirft sie sich achselzuckend den langen schwarzen Mantel über und schließt den Reißverschluss ihrer schwarzen hohen Stiefel.

„Bis bald!“, umarmt Lucia sie plötzlich und sie macht sich Vorwürfe, weil sie nach einer vierjährigen Freundschaft doch etwas empfinden sollte.

„Bis bald!“, lächelt sie im Türrahmen unsicher und drückt den Knopf für den Fahrstuhl.

„Du siehst gut aus. Guapa1!“, lacht die Spanierin und es soll den Schmerz der Trennung verbergen.

Das ist ihr bewusst.

„Bis bald!“, ruft sie unbeholfen, während sie den schweren Koffer in den Fahrstuhl hievt.

Sie winken.

Fast wie Kinder.

Ehe sich die metallenen Türen direkt vor ihrer Nase schließen.

„Bis bald!“, seufzt sie leise, als ihr die frische Novemberluft entgegen strömt.

Die kleinen Rollen des silbernen Koffers klacken auf dem Bürgersteig mit jedem Schritt.

Klack-klack…

Das ist ein eigentümlicher rhythmischer Klang.

Sie muss Acht geben, dass sie nicht auf den nassen, bunten Laubblättern am Boden ausrutscht.

Die kalte Herbstluft brennt in ihrem Hals.

Eine Frau – so Mitte 30 Jahre alt – schiebt einen marineblauen Kinderwagen langsam vor sich und telefoniert dabei so laut, als müssten alle Passierenden mitreden.

Nervös geht sie hinter ihr.

Allmählich wird die Zeit nämlich tatsächlich knapp.

Auch auf der Straße staut es sich. Manche Autofahrer hupen bereits genervt.

Zu allem Übel beginnt es zu regnen.

Die kalten, nassen Tropfen legen sich auf ihren dunklen Mantel.

„Entschuldigung, Madame!“, rempelt ein Mann mit Glatze und Lederjacke erst sie und danach die Mutter mit dem Kinderwagen an.

„Entschuldigung“, bittet sie die Frau mit einem verlegenen Lächeln und leiser Stimme.

„Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie ebenfalls vorbei wollten. Sie laufen doch schon eine Weile hinter uns“, lacht die Dame gut gelaunt für einen grauen Novembermorgen.

Peinlich berührt senkt sie den Kopf und rennt beinahe den Fußweg zur U-Bahn entlang.

Ein letztes Mal vorbei an den kleinen Geschäften, der Tischlerei, dem Buchladen, dem Gemüseladen.

Ein letztes Mal hebt sie den doch schweren Koffer die Treppen hinunter. Der Fahrstuhl wird wohl auch in Zukunft noch seine Reparatur erwarten.

Ein letztes Mal hält sie plötzlich mitten auf der Treppe, sodass andere Leute um sie einen Bogen machen müssen.

Sie dreht sich um, wirft einen überraschten Blick auf die roten Dächer vor dem Wolken verhangenen Himmel.

Auf einmal lächelt sie leise, denn es fühlt sich zum ersten Mal richtig an.

Auf dem Bahnsteig sammeln sich die Menschen. Jugendliche, deren Musik aggressiv wummert, Ältere und Familien schauen immer wieder zur Anzeigetafel.

5 Minuten Verspätung, liest sie und klopft nervös mit den Fingern auf ihren Koffer.

Ein junges Pärchen umarmt sich immer wieder direkt neben ihr innig. Die langen rot lackierten Nägel der schlanken, blondhaarigen Barbie krallen sich in seinen Nacken.

„Ich will nicht, dass du gehst“, säuselt er und zieht seine Freundin noch näher an seinen muskulösen Körper.

„Nur ein paar Stunden“, lacht sie und legt ihre ungewöhnlich kräftigen Finger auf seine Lippen.

„Liebling“, ertappt die Frau sie, wie sie das Paar ausdruckslos beobachtet, aus den Augenwinkeln.

Ihre Wangen färben sich rot vor Scham.

Die U-Bahn fährt ein.

Erwartungsgemäß drängen sich die Menschen aneinander. Der Ton ist rau wie überall in der Anonymität einer Großstadt.

Nur die Glücklichsten dürfen sich sitzend chauffieren lassen. Für die anderen scheint es fast als Segen, wenn sie sich noch irgendwo festhalten können.

Da kommt sie mit ihrem Koffer sicherlich genau im richtigen Moment.

Tausende Gerüche steigen gleichzeitig in ihre zarte Nase.

Dutzende Stimmen vermengen sich zu einem einzigen unverständlichen Rauschen.

Etliche Sprachen werden zu einem fremden Kauderwelsch.

Die Nähe ist drückend.

Sie ist ihr ohnehin lästig geworden.

Zum Beispiel die Jugendlichen, die sich nicht festhalten möchten und ständig gegen ihren Koffer treten.

„Sorry“, grinsen sie frech und es geht weiter.

Oder aber der Mann, der seinen kräftigen, mit Totenköpfen tätowierten Arm direkt vor ihrer Nase ausgestreckt hat. Er ist ein Riese, wahrscheinlich um einen Meter und neunzig groß. Seine Haut ist selbst im Gesicht mit furchterregenden Kreaturen verziert. Riesige Plug-Ohrringe durchspießen die dicken Ohrläppchen.

Bei jeder Station hofft sie, dass er endlich aussteigen würde, anstatt weiter schmatzend ein Brötchen direkt neben ihr zu verzehren.

Ab der Station Frankfurter Allee als Umstiegsmöglichkeit zur Berliner S-Bahn lässt es sich wieder atmen.

Sie verzieht sich in den gegenüberliegenden Türbereich und schließt ganz kurz die Augen.

Wie gerne wünschte sie sich ein Bett hierher! Wie gerne würde sie den Schlaf ganzer Jahrzehnte nachholen!

Etwas Feuchtes, Kaltes berührt sie an der Hand.

Erschrocken schlägt sie die Augen auf.

Doch glücklicherweise handelt es sich nur um die eingeregnete Rucksackschnalle der Reisenden neben ihr.

Eine junge Frau mit kurzem braunen Haar und einem gewaltigen Wanderrucksack unterhält sich mit ihren zwei Mitreisenden.

Alle drei lachen ausgelassen, reichen ihr Trinken herum.

„Dein Humor“ drückt der eine seinen dunklen Lockenkopf an ihre Schultern.

„Noch eine Station“, zwinkert der andere der Frau frech zu und streicht zärtlich über ihre Hand.

Ihr Atem geht schwerer.

Es gab etliche Situationen wie diese danach.

Etliche Situationen, in denen sie wie eine Stalkerin den ausdruckslosen Blick nicht mehr abwenden konnte.

Etliche Situationen, in denen sich die realen Stimmen mit den Worten von damals mischten.

Schließlich etliche Situationen, in denen sie am Ende keuchend und kaltschweißig ausgestiegen war.

Es war immer und überall möglich.

Die Erinnerungen verfolgten sie stets.

Aber diesmal zwingt sie sich, die kurzen Schlagzeilen auf dem Monitor zu lesen. Wieder die Augen zu schließen, obwohl die Rucksackschnalle sie kalt und feucht hin und wieder berührt, gegen ihren schnellen und kurzen Atem zu zählen.

Schon ist es vorbei.

Schon hastet sie zur Rolltreppe, über den Bahnsteig, in die S-Bahn.

9 : 30 Uhr.

Die Zeit ist mehr als knapp.

Wenigstens findet sie für die wenigen Stationen einen Sitzplatz, kann nervös ihr Ticket studieren.

Den bettelnden Obdachlosen, der in zerschlissener Kleidung um etwas Essbares bittet, nimmt sie kaum mehr wahr.

Sie trommelt mit den Fingern, starrt auf das Wasser der Spree, in das die Regentropfen Wellen schlagen.

Die Universitätsbibliothek rauscht vorbei, das Krankenhaus.

Dann greift sie nach dem Koffer, stößt ihn dabei in der Eile um.

Manche Fahrgäste schütteln mit dem Kopf. Die meisten bemerken jedoch nicht einmal, wie sie sich schnell wieder aufrichtet, mit hochrotem Gesicht am Fahrstuhl wartet, das richtige Gleis sucht.

Diese Beschilderung ist gar nichts für Hektiker!

Drei Frauen mit Kinderwagen in allen Farben steigen mit ihr in den geräumigen Fahrstuhl.

Wieder stehen sie gedrängt.

„Wann fährt unser Zug?“, fragt eine aufgeregte Kinderstimme.

„Wir haben noch eine halbe Stunde, mein Schatz“, beruhigt eine der Mütter.

Niemand wird sie beruhigen.

So wie auch niemand für sie die Zeit anhalten wird.

Ihr bleibt keine halbe Stunde mehr.

Weshalb halten Fahrstühle mit Kinderwagen zudem in jeder Etage?

Noch fünf Minuten…

Die Rollen des Koffers verursachen einen ohrenbetäubenden Lärm, während sie hektisch den Waggon sucht.

Sie prustet vollkommen außer Atem. Die leichte Bluse klebt an ihrer Haut.

„Na, das ist wohl in letzter Minute“, hilft ihr jemand vom Bahnpersonal, den schweren Koffer die steilen Stufen hinaufzuheben.

„Den müssen Sie aber in das Regal stellen“, verabschiedet sich der Mann und mustert sie mit gerunzelter Stirn. Ein wenig erinnert er sie an einen Seebären. Denn er trägt einen grauen langen Bart mit Oberlippenbart. Die Haut ist sonnengebräunt und der Mann selbst bloß mittelgroß, jedoch unwahrscheinlich muskulös.

Im Kofferabteil muss sie ihre Tasche mit viel Kraft in die kleine Nische schieben. Danach winkt sie mehrmals vor der Lichtschranke, bis die gläserne Automatiktür öffnet.

Überrascht stellt sie fest, dass sich ihr Sitzplatz an einem Tisch für vier Personen befindet.

Eine rothaarige, schlanke junge Frau mit frechem Blick und Sommersprossen auf den Wangen und der Nasenspitze mustert sie halb spöttisch.

„Sie wollen jetzt auch noch hierher?“, legt sie dann ihre blaue, lederne Handtasche von dem Sitz und lässt sie Platz nehmen.

Spanisch: hübsch↩

Kapitel 1

MIRIAM

Das sind mir immer die liebsten Reisenden: In letzter Minute, kurz vor der Abfahrt, steigen sie ein. Alle haben gewartet. Alle haben sich gerade an die Umgebung gewöhnt, bis sie kommen und alles erneut beginnt.

Das ist überall so: Im Flugzeug, im Zug, im Fernbus, selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Dort werden die Türen sogar mit Gewalt auseinandergezerrt, sodass die nächste Bahnstörung absehbar wird.

Dann spazieren sie entspannt, als wäre es eine selbstverständliche Gewohnheit, zu ihrem Sitzplatz. Vielleicht trinken sie noch einen Schluck Kaffee aus dem Becher. Ganz genüsslich, während sich noch ein Tropfen auf der Kleidung der Umsitzenden verewigt. Vielleicht hämmert noch die Musik in den Ohren. Vielleicht zeigen sie zumindest im letzten Moment ein entschuldigendes Lächeln.

Die Frau neben mir ist wahrscheinlich um die dreißig Jahre alt. Sie hat langes, blondes Haar, das ihren schmalen Schwanenhals umfließt und an der Stirn klebt. Ihre grün-grauen Katzenaugen mit ungewöhnlich dunklen Augenbrauen suchen gestresst das Abteil ab. Nervös faltet sie in ihren blassen, knochigen Händen ihr ausgedrucktes Zugticket wie zur Beruhigung immer kleiner.

Wahrscheinlich ist sie eine dieser Geschäftsleute, die penibel in Mantel und Bluse gekleidet jede Minute ihrer kostbaren Zeit mit Terminen füllen. Termine gibt es für Kolleg*innen. Termine für Klient*innen. Termine für Familie. Termine für Freund*innen. Alles ist geplant.

Andererseits fällt mir ein aufgegangener Pickel an ihrer linken Wange auf. Tatsächlich gehört sie offenbar zu den wenigen Frauen, die die Natürlichkeit einem Hauch von Schminke vorziehen.

Ich greife mir wieder meinen Liebesroman vom Tisch, um meine Lektüre fortzusetzen. Immerhin erhalte ich nur selten die Gelegenheit. Im Grunde nur in Urlauben wie diesem.

Dabei ist die Zeit viel zu schnell vergangen. Eine Woche in Berlin vergeht wie im Flug. Ich bin viel zu selten dort, obwohl meine Freundinnen und Familie größtenteils geblieben sind. Doch die Arbeit erfordert Zeit und das Reisen wird zum Teil lästig, wenn man ohnehin ständig den Schlafort wechselt, keinen festen Tagesrhythmus hat.

Der Zwiespalt meines Lebens.

Jeder Tag gleicht einem Abenteuer. Ich werde frühmorgens von meinem schwarzen Digitalwecker geweckt, kann mich gerade einmal von der einen auf die andere Seite drehen, ehe ich mich den Überraschungen eines neuen Tages, meines Lebens, stelle.

„Entschuldigung. Aber ich habe mich im Sitzplatz geirrt“, spricht mich die blondhaarige Frau schüchtern an.

Ein wenig belustigt mustere ich sie.

„Ich sitze gegenüber von Ihnen“, zeigt sie mir ihr durch das Falten gemustertes Ticket. Vielleicht ist sie eine Künstlerin, schießt es mir in den Kopf.

Auf jeden Fall einen Faltkünstlerin, muss ich innerlich schmunzeln.

„Tja, das passiert, wenn man in Eile ist. Kein Problem. Ich fahre noch ein Stück“, lächle ich, da sie so vorsichtig fragt, als bereitete ihr die ganze Umwelt Angst.

„Es tut mir Leid“, senkt sie die Augenlider und errötet.

Ich helfe ihr mit ihrer schwarzen überquellenden Handtasche und vertiefe mich wieder in den Roman.

Es ist eine unterhaltsame Geschichte über Zwischenmenschliches, die Höhen und Tiefen einer Liebe. Ein wenig kitschig und unrealistisch, würden Kritiker*innen bemerken. Nicht anspruchsvoll, berieselnd, genau richtig zur Entspannung, finde ich.

Der Zug hält, ich mustere die hereinkommenden Fahrgäste.

Menschen zu beobachten, ist für mich immer unterhaltsam. Je genauer man hinsieht, ihre Mimik und Gestik, ihre Wortwahl oder ihre Interaktion studiert, desto farbenfroher erscheint mir das Leben.

Beispielsweise könnten die Personen in meiner unmittelbaren Zugumgebung kaum unterschiedlicher sein: Da sitzt auf der anderen Seite des Ganges an einem Tisch für vier Reisende ein Mann im Alter von wahrscheinlich fünfzig Jahren. Die Haut beginnt an den Augen, der Stirn und überall im Gesicht faltig zu werden. Die schwarz gerahmte, runde Brille fügt sich für mich gar nicht zu dem ungewöhnlich schmalen, fast ovalen Kopf. Seinen grauen Mantel hat er ordnungsgemäß an den Kleiderhaken am Fenster gehängt. Aus dem grauen Strickpullover ragt der Kragen eines rot karierten Hemdes. Die blaue Jeans passt allerdings nicht zu dem feinen Oberteil.

Er faltet mit großer Bewegung sein Handelsblatt in der Luft, sodass es knistert, streckt die Füße weit nach vorne, was er nur dem Umstand verdankt, allein sitzen zu können. Überhaupt wirkt er arrogant und überzeugt von sich selbst.

Vielleicht gehört er zu jenen Menschen, die bereits am Morgen einen Kniefall vor ihrem eigenen Spiegelbild machen.

Er brummt hin und wieder gewichtig, runzelt dabei die faltige Stirn, hält die Zeitung dabei in ganzer Länge, so als wäre er der einzige Passagier.

Die Schaffnerin möchte die Tickets kontrollieren.

Die nervöse, junge Frau von vorher entfaltet mit vor Scham geröteten Wangen ihr Papier. Aber durch ihr Kunstwerk funktioniert der Scan nicht.

„Sie dürfen ihre Fahrkarte nicht so knicken“, reicht ihr die Bahnfrau mit deutlicher Verärgerung in der Stimme den Zettel zurück und schiebt eine ihrer hellbraunen, glatten Haarsträhnen hinter das Ohr.

Sie ist sehr klein und kräftig gebaut, was sich in dem dunkelblauen Anzug nicht verbergen lässt. Doch das Bahnpersonal hat das Glück, nicht wie wir Flugbegleiter*innen nach Schönheits- und Körpermaßen ausgewählt zu werden.

„Entschuldigung“, senkt die Blondhaarige bedrückt die Lider. Heute muss nicht ihr Glückstag sein.

Der Mann im Abteil gegenüber macht eine abschätzige Bemerkung über Frauen im Allgemeinen.

Leider verstehe ich sie zu schlecht, um darauf zu reagieren.

Niemand gibt ihm nämlich das Recht dazu.

Niemand ist hier nervös, weil das Geschlecht es im Gepäck mit sich bringt.

Menschen, die aber so urteilen, regen mich auf.

So beobachte ich den Mann noch genauer, wie er seine Zeitung wieder hochkonzentriert studiert, die unförmige Brille dabei auf der Nase immer wieder mit dem linken Zeigefinger in Pose schiebt und die Stirn beim Lesen runzelt.

*

KRISTINA

Ich kann nicht entspannen.

Alles ist Stress.

Die Frau mit den roten Haaren, die mir gegenüber sitzt, und wie eine Detektivin Fahrgäste – mich – beobachtet.

Jetzt greift sie wieder nach ihrem Buch mit dem kitschigen Einband.

Ich habe nie verstehen können, wie Menschen ihren Alltag ausgerechnet in einem Liebesroman ertränken können. Wahrscheinlich fehlt mir die Fantasie. Vielleicht hatte ich sie nie.

Der Mann an dem anderen Tisch, der sich wie ein Herrscher ohne Scham ausbreitet, trifft mit seiner Lektüre des Handelsblatts eher meinen Geschmack.

Andererseits fühle ich mich zu müde oder durcheinander, um etwas zu lesen.

Ich verstaue meine Fahrkarte in meiner Handtasche.

Die Schaffnerin musterte mich so abschätzig.

Die rothaarige Frau lächelte mitleidig.

Beide behandelten mich anders.

Beide bemerkten meine Nervosität.

Schon jetzt bin ich angespannt.

Vielleicht schaffe ich es nicht.

Draußen vor dem Fenster fliegen weite Felder und kahle Wiesen vorbei. Die Namen der Ortschaften lassen sich bei dem rasanten Tempo nicht lesen.

Meine Gedanken kreisen.

Ich denke nichts.

Regentropfen lassen das Bild in die Freiheit der Natur verschwimmen.

Ich bin ihr wohl eh nicht nah genug.

„Wohin fahren Sie?“, reißt mich die Rothaarige aus der Leere schwerer Gedanken.

Ich erschrecke richtig, zucke kurz zusammen.

Ich erschrecke über eine Frage an mich.

Denn ich möchte nicht sprechen.

Nicht antworten.

Ich kann es nicht.

Wahrscheinlich erst, wenn ich dort bin.

Ich hoffe es.

„Hamburg“, flüstere ich aber matt aus Höflichkeit. Jedes Wort gleicht nämlich einem Kraftakt.

„Entschuldigung, doch das habe ich nicht verstanden. Meine Ohren sind nicht die besten“, lächelt die junge Frau, weil ich offenbar zu leise spreche. „Wahrscheinlich höre ich zu viel laute Musik“, fügt sie noch zwinkernd hinzu und kichert über ihren eigenen Witz.

Ich mustere sie, weil sie so freundlich ist, obwohl ich mich wie eine Katastrophe auf zwei Beinen seit dem Morgen bewege.

Die roten, Schulter langen Locken haben ein großes Volumen und lassen den eigentlich fahlen und schmalen Kopf viel runder erscheinen. Selten habe ich jemanden mit so vielen Sommersprossen auf den Wangen, dem Nasenrücken und sogar am Hals gesehen.

Die Frau lächelt weiter nett mit sehr zarten Fältchen um die knallrot geschminkten Lippen herum. Die blauen Augen leuchten unter den tiefschwarzen langen Wimpern. Sie könnte jünger sein als ich.

„Hamburg“, räuspere ich mich und weiche ihrem Blick aus, als könnte er bereits zu viel verraten.

„Eine schöne Stadt“, wird ihr Lächeln noch breiter und gibt große, schlohweiße Zähne frei.

„Kennen Sie Hamburg?“, ringe ich mir eine höfliche Mimik ab.

„Ich?“, lacht sie kehlig und wirkt überrascht. „Ich wohne dort.“

„Ach so“, schaue ich wieder aus dem Fenster, da ich mit meinen Fragen wohl noch mehr auffalle.

„Und Sie?“, setzt sie das Gespräch jedoch fort.

„Berlin“, senke ich erneut den Kopf.

„Fahren Sie zum ersten Mal nach Hamburg?“, erkundigt sie sich weiter nach einer erholsamen Pause des Schweigens.

„Ja, genau“, winde ich die Finger umeinander und bemühe mich, unbeschwert zu klingen.

„Das ist ein schönes Ziel für einen Städtetrip“, redet sie weiter und lacht immer wieder kehlig.

„Ja“, wandert mein Blick abwesend hinaus aus dem Fenster, in die Ebene, die noch immer vorbeifliegt.

„Ich komme auch aus dem Urlaub“, erzählt sie mir dann und ich seufze innerlich, da ich die falsche Person für Menschen bin, die sich die Reisezeit mit Gesprächen verkürzen möchten.

„Verstehe“, zucke ich mit den Achseln und spüre, wie meine Beine unruhig werden.

„Sie sind sehr nervös“, stellt sie zu allem Überfluss fest.

„Nein!“, bohrt sich mein Blick verärgert in ihr Gesicht.

„Entschuldigung! Ich möchte Sie nicht stören“, lässt sich mich endlich in Frieden und greift wieder nach ihrem Roman.

Ich lehne den Kopf zurück, warte auf den Moment, in dem das sanfte Ruckeln der Gleise rhythmisch in den Hintergrund rückt, die Stille es schließlich ersetzt, wenn der Schlaf eintritt.

Es funktioniert nicht.

Ich reiße die Auge auf, ertappe die Rothaarige im letzten Augenblick, wie sie mich erneut beobachtet, diesmal verschlossener wirkt.

Vermutlich habe ich sie mit meiner abweisenden Art verärgert.

Das tut mir Leid.

Aber ich bin nicht in Urlaubsstimmung.

Ich fahre nicht in den Urlaub.

Zumindest nicht in einen, wie sie jetzt glaubt.

Doch wie sollte ich es erklären?

Ich krame in meiner Tasche nach meinem Smartphone.

Ich finde es nicht.

Das Fach quillt fast über. Daher muss ich erst den Stadtplan und die Hotelunterlagen auf den Tisch legen, die Trinkflasche von gestern hinstellen, meinen Salat für das Mittagessen hinaus nehmen.

Es ist anstrengend.

Die Salatdose klebt an den Fingern. Der Tomatensaft ist den Rand hinuntergelaufen. Eventuell hätte ich die Büchse besser verpacken sollen. Das wird mir jetzt bewusst. Mit einem Gummi den Verschluss verstärken oder alles in einer Umwelt verschmutzenden Plastiktüte verstauen sollen.

Allerdings ist mir nun die Aufmerksamkeit gewiss. Alle beobachten mich aus den Augenwinkeln.

Die Rothaarige, die die zarte Stirn runzelt und so tut, als setzte sie ihre Lektüre ungerührt fort.

Der Mann mit der Zeitung, der schon vorhin mich abwerten musste.

Der Tag hat wunderbar angefangen.

Ich erinnere mich an Lucias Blick zum Abschied.

Eine verschwiegene Traurigkeit.

Eine leise Mahnung.

Womöglich ein Vorwurf.

Aber es berührt mich nicht.

Ich zerre mein Handy aus der wollenen roten Tasche mit dem gelben lächelnden Smiley darauf. Eine Freundin hatte es mir geschenkt. Offenbar erschien ich ihr zu deprimiert, als könnte ein gelber Kreis mein Leben bessern.

Keine Nachrichten, keine entgangenen Anrufe.

Was hatte ich auch erwartet?

Wer sollte mich schon vermissen?

Ich schließe erneut die Augen, hoffe auf ein wenig Schlaf. Danach wird meine Stimmung sich bessern. Wahrscheinlich werde ich bereits in Hamburg sein, in einen strahlend blauen Himmel blicken, Möwen zählen, träumen, planen, leben.

Ich wünsche es mir.

Niemanden könnte ich erklären, weshalb ich mich ausgerechnet für diese Stadt entschieden habe.

Immerhin war ich tatsächlich nie dort. Wir kennen uns daher nur aus Erzählungen, Reiseberichten, Bildern im Internet.

Aber sie wirkte ganz anders als Berlin mit seinen verwahrlosten Straßen, dunklen, schmutzigen U-Bahnhöfen, vermüllten Parks und Drogenmeilen.

Das Wasser faszinierte mich von Beginn an.

Die roten Backsteinhäuser.

Die Entfernung zu Berlin.

Keine Weltreise, doch weit genug für eine endgültige Trennung.

Der Mann im Gang gegenüber telefoniert laut.

„Das müssen Sie mir schon genauer beschreiben. Ich kann schließlich nicht hellsehen“, schnippt er mit Daumen und Zeigefinger in der Luft und lehnt sich zufrieden zurück.

„Ich kann Ihnen ansonsten keinen Vertrag erstellen. Das muss Ihnen bewusst sein“, schiebt er sich seine Brille zurecht.

Ich schließe erneut die Augen.

Er klingt aggressiv für mich und spricht viel zu laut. Ich denke an die Person am anderen Ende der Leitung. An deren Stelle wäre ich bei einem solchen Ton längst gestresst und verletzt.

„Könnten Sie kurz auf meine Jacke aufpassen, während ich zur Toilette gehe?“, währt meine Ruhe kurz.

„Ja“, weiche ich dem Blick der Rothaarigen aus.

Sie ist schlanker, als ich dachte. Die lange, weite, blaue Hose kleidet sie gut. Ich beneide Frauen mit solchen schmalen Beinen. Ich kann fasten, hungern, Sport treiben, werde nie so aussehen.

„Guten Morgen, Wolfgang!“, führt der Mann am anderen Tisch sein nächstes Gespräch. „Bist du schon in der Kanzlei?“, lacht er laut und kalt.

Meine Augen fallen zu.

Aber auf die Jacke wollte ich Acht geben, mahne ich mich.

„Ich hatte vorhin wieder diese jungsche Dame von gestern am Telefon. Mein Gott, eine Plappertasche!“, setzt sich der Mann nun noch breitbeiniger an seinen Tisch.

Innerlich ertappe ich mich bei dem Gedanken, gar nicht zu Unrecht Sympathien für die Person am anderen Ende der Leitung gefühlt zu haben.

„Blond und Frauen!“, lacht er nun boshaft und streicht sich mit der freien Hand über die Brust.

Ich zucke zusammen und merke kurz, wie mein Magen flau wird.

„Ja, da müssen wir nun durch“, schlägt er mit der Handfläche plötzlich auf den Tisch, sodass ich erschrecke, während ich ihn mit offenem Mund beobachte.

Die Jacke, ermahne ich mich.

„Gut, Wolfgang. Gibt es ansonsten etwas?“, angelt er schon wieder nach seinem Handelsblatt.

Die Rothaarige kommt zurück und lächelt dankbar, weil ich aufmerksam ihr Kleidungsstück im Blick behalten habe.

„Es ist ganz schön voll im Waggon“, zwingt sie mich, meine Aufmerksamkeit nicht mehr diesem Mann zu widmen.

„Tatsächlich?“, frage ich müde und muss gegen ein Gähnen kämpfen.

„Wir werden bald die nächste Station erreichen“, fährt sie fort. „Ich hoffe, dass hier die Plätze nicht belegt sein werden.“

„Hier?“, schaue ich mich nachdenklich um.

„Und Sie reisen allein?“, erkundigt sie sich, als ich gerade an Schlaf denke.

„Wie bitte?“, wende ich mich ihr zu.

„Reisen Sie allein?“, wiederholt sie ruhig.

„Ja, genau“, spüre ich die Nervosität und lächele gequält.

„Ich reise auch gerne allein. Dann muss man weniger Kompromisse eingehen“, schenkt sie mir dieses kehlige Lachen.

Ich wäre gerne so gut gelaunt!

„Haben Sie keine Angst?“, bin ich verwundert.

„Angst?“, leuchten ihre Augen. „Wovor?“

Da habe ich das Problem von Gesprächen. Denn die Gedanken sind sofort zurück und gleich werden alle meine Fassade der letzten Monate durchschauen.

„Ich dachte vielleicht“, winde ich meine Hände umeinander.

„Weil ich eine Frau bin?“, hat sie mich jedoch längst verstanden.

„Ja, vielleicht“, hebe ich die Schultern und versuche, sie dabei anzusehen.

Wir schweigen beide.

Ich habe offenbar das nächste Gespräch beendet.

Die nächste Station wird angesagt.

Ich lehne mich zurück.

Alles ist gesagt.

Vielleicht kann ich nun schlafen.

„Entschuldigung“, stupst mich allerdings bald jemand am Ärmel.

Gähnend schlage ich die Augen auf.

„Darf ich?“, lächelt die junge Frau und zeigt dabei ihre strahlend weißen Zähne, die noch weißer durch die beinahe schwarze Haut wirken.

Ich stelle mich in den Gang, um sie leichter ihren Platz am Fenster einnehmen zu lassen.

Die meisten Sitze sind in der Tat bereits belegt.

Hamburg muss demnach beliebt sein, lächele ich kurz.

„Ist das Ihr Handy?“, fragt mich die junge Afrikanerin. Sie kann kaum älter als 20 Jahre alt sein! Ihre dunkle Haut ist noch so stramm in dem abgemagerten Gesicht. Das schwarze, ganz kurz geschnittene Haar ist vom Regen durchnässt. Sie legt ihre knochigen Arme, die aus einem rosafarbenen Strickpullover ragen, auf den harten Tisch.

„Danke! Das habe ich wohl vergessen einzupacken“, lächele ich sie an und verstaue mein Smartphone, das ohnehin seinen Gebrauchswert verloren zu haben scheint.

Kapitel 2

MIRIAM

Ich bin hellwach.

Ich fahre ganz gerne mit dem Zug.

Das ist bedeutend bequemer, als wenn man sich auf einen schmalen Busplatz zwingen muss und nur kurz in den drastisch gekürzten Pausen die Beine vertreten kann.

Es wird Kaffee angeboten, Tee, ein kleiner Snack.

Das erinnert mich an meine Arbeit.

Ich freue mich ein wenig.

Die Tage sind zwar immer lang und irgendwann dadurch anstrengend. Doch ich unterhalte mich gerne mit den Fluggästen, nehme ihre Wünsche und Sorgen entgegen. Das Team ist angenehm. Wir sind alle jung und auf der Suche nach Abenteuern. Frauen und Männer.

Daher hat mich die Frage der wortkargen Blonden irritiert.

Natürlich weiß ich, dass es immer wieder schockierende Geschichten von allein reisenden Frauen gibt.

Allerdings habe ich selbst bisher nur positive Erfahrungen gesammelt.

Warum sollte ich mich aufgrund weniger Horrorszenarien einengen?

Männer können auch allein reisen.

Mein Freund macht das regelmäßig.

Er war schon in Kuba, Marokko, Vietnam.

Ganz so weit zieht es mich nicht. Beziehungsweise muss sich dafür der Geldbeutel erst füllen.

Jan schickt mir immer schöne Bilder von Natur, exotischen Tieren, den Menschen, den merkwürdigen Bauwerken. Ich höre seinen abenteuerlichen Geschichten zu.

Er kann nämlich sehr anschaulich und dramatisch erzählen, während ich mit geschlossenen Augen in seinem Arm mein Ja und Amen gebe, bis ich glücklich einschlafe.

Durch ihn habe ich das Reisen für mich entdeckt. Das allein Reisen.

Früher gab es immer eine Freundin, die ich für eine Wanderung in den Alpen oder einen Städtetrip begeistern konnte. Heute im Alter von 25 Jahren sparen wir unsere Urlaubstage für die kurzen Besuche. Meine Arbeit erschwert es sehr, gemeinsame Zeiten zu finden. Daher stellte ich mich um, lernte meine eigenen Grenzen kennen.

Man kann sich sehr erholen, wenn man allein reist.

Als Frau allein reist.

Die Fahrkarten werden erneut kontrolliert.

Eine Afrikanerin ist an unseren Tisch zugestiegen. Sie hat eine Narbe an ihrer linken Augenbraue. Die dunkle Haut ist ansonsten makellos und glänzt in dem hellen Licht. Sie hat ihre orange Winterjacke nicht einmal ausgezogen. Die blaue Strickmütze mit Bommel liegt vor ihren mageren Handgelenken, die aus einem rosafarbenen dünnen Strickpullover ragen.

Ich verstehe nicht, wie jemand so dünn sein kann, dass es schon nach einem Hungertod aussieht. Natürlich kenne ich ihre Geschichte nicht, aber das ist gewiss nicht gesund.

„Sie reisen aber jetzt auch allein“, greife ich das Gespräch mit der Blondhaarigen wieder auf.

Sie wirkt auf mich mittlerweile ruhiger. Als könnte sie langsam Abstand zu ihren Ängsten gewinnen.

„Wie bitte?“, setzt sie sich kerzengerade.

Ich wollte sie nicht erschrecken. Doch sie ist jedes Mal angespannter, wenn ich sie anspreche.

„Sie reisen jetzt auch allein. Ich meine nur, weil Sie vorhin das so gefährlich fanden“, lege ich den Kopf schief und lächele.

„Ja“, bleibt sie ernst.

„Ist das Ihre erste Reise allein?“, interessiert es mich plötzlich.

„Ja“, bewegt sie keine Miene.

„Am Anfang ist es eine Umstellung. Ich reiste früher nur mit Freundinnen, bis die Arbeit unsere Pläne durchkreuzt hat“, falte ich die Hände auf dem Tisch.

Sie reagiert nicht, schaut mich bloß ausdruckslos mit großen Augen an.

Okay, denke ich. Vielleicht sollte ich sie mehr reden lassen, damit sie noch aufgeschlossener wird.

„Wie lange wollen Sie in Hamburg bleiben?“, wechsele ich deswegen das Thema.

Sie seufzt, reibt ihre knochigen Finger aneinander.

„Ich weiß es noch nicht“, gesteht sie dann.

„Ach so. Das klingt abenteuerlich!“, lache ich, ohne dass sie es erwidert.

„Sie sollten sich auf jeden Fall die Speicherstadt ansehen“, empfehle ich ihr.

„Speicherstadt“, wiederholt sie abwesend. „Was wird dort gezeigt?“, fragt sie schließlich.

Ich schüttele unwillkürlich meinen Kopf, weil ich keine Reisenden in Hamburg kenne, die nichts von der Speicherstadt gehört haben.

„Oder die Alster oder den Fischmarkt, wenn Sie Architektur nicht so interessiert“, schwärme ich weiter.

Die junge Afrikanerin lächelt leise, als sie uns beobachtet.

„Fahren Sie auch nach Hamburg?“, erkundige ich mich.

„Ich?“, lacht sie und schürzt die Lippen.

Ich lächele noch breiter. Die Blondhaarige schaut weiter ungerührt.

„Ja, aber ich kenne ebenso keine Alster, Speicherstadt oder so...“, lacht sie weiter.

„Interessant!“, muss ich zugeben.

Die Frau mir gegenüber lächelt nun leise.

„Verbringen Sie Ihren Urlaub dort?“, frage ich die Afrikanerin weiter.

„Urlaub?“, lacht sie mich wieder aus und schürzt die Lippen noch mehr.

„Ich komme aus Somalia und möchte meine Cousine im Flüchtlingsheim besuchen“, erklärt sie sachlich.

Die schweigsame Frau hebt verständnisvoll ihre ungewöhnlich dunklen Augenbrauen.

„Wie lange sind Sie schon in Deutschland?“, scheint sie nun interessiert.

„Seit einem Jahr“, zieht die Afrikanerin ihre knochigen Hände in den rosafarbenen Pullover, der die Dunkelheit ihrer Haut wunderschön betont.

„Sie sind noch sehr jung!“, mische ich mich ein.

„19“, nickt sie schüchtern.

„Schön“, lächele ich. „Da wird sich sicherlich Ihre Cousine über Ihren Besuch freuen.“

„Ja, mal sehen“, erwidert sie und ich staune über ihre guten Deutschkenntnisse.

„Sie sprechen sehr gut Deutsch.

---ENDE DER LESEPROBE---