Gestern noch Mensch - Julia Augustin - E-Book
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Julia Augustin

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Beschreibung

Seit Jahren versucht die Studentin Olga, ihren älteren Bruder Aleksandr für ein gewöhnliches Leben zurückzugewinnen. Doch der hat sich dem Krieg im Osten der Ukraine verschrieben. Auch ihre Mutter Tatjana ist machtlos. Durch die Pandemie findet die Familie kurzzeitig zueinander. Wie lange kann dieses Glück aber währen? Bestimmt am Ende eher die große Politik ihr Schicksal? Kann die Familie trotz des plötzlichen Angriffskrieges überleben? Auf einmal sind sie nur noch Flüchtlinge... Maryam lebt bereits seit zehn Jahren mit ihrer Familie in Deutschland, besitzt sogar eine neue Staatsbürgerschaft. Dennoch bleibt sie für manche immer die Fremde, die andere, die Unerwünschte. Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Eltern von einer sehr konservativen Gemeinde nie vollständig losgesagt haben, sondern stets Mittelwege suchen. So ist es allerdings eines Tages Maryam, die kurz vor der Pandemie für ein Jahr zur Wahrung der Ehre die Stadt verlassen muss. Unterstützung findet sie bei vielen Menschen ihrer Kultur. Trägt diese denn auch wirklich an ihrem Schicksal die Schuld? Oder geht es um etwas ganz anderes? Sind es vielleicht nur einzelne, die sie zum Erhalt ihrer Macht missbrauchen? Eines Tages begegnet sie dem undurchschaubaren Nikolaj und so muss sie sich gerade, als in der Heimat alles zusammenbricht, entscheiden… Dann kommt der Krieg in Europa. Plötzlich begegnen sich Olga und Maryam. Sie beide teilen nicht nur ein Schicksal, sondern sogar eine Liebe und ein Leben. Sie beide haben einst alles verloren, kennen die Zukunft nicht. Die stellt sie schließlich vor die schwierigste aller Entscheidungen. Denn plötzlich dürfen nicht mehr alle Flüchtlinge bleiben...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Teil 1

Olga/ Tatjana, 2020

Kapitel 1 Die Anfänge

Kapitel 2 Veränderung

Kapitel 3 Gestern war alles gut

Kapitel 4 – Wahrheiten

Kapitel 5 - Weiter

Kapitel 6 – Begreifen

Kapitel 7 – Pandemie

Kapitel 8 - Versöhnung

Kapitel 9 Vorboten

Kapitel 11 - Wiedersehen

Olga/Tatjana, 2021

Kapitel 1 – Steine

Kapitel 2 - Annäherungen

Kapitel 3 - Enttäuschungen

Kapitel 4 - Neuanfang

Kapitel 5 - Der Verdacht

Kapitel 6 - Misstrauen

Kapitel 7 - Vernunft

Kapitel 8 - Wahrheit, die schmerzt

Olga/Tatjana, 2022

Kapitel 1 – Krieg

Kapitel 2 – Albtraum

Kapitel 3 – Flüchtlinge

Kapitel 4 – Allein

Kapitel 5 – Hilfe

Kapitel 6 – Ungewissheit

Kapitel 7 – Glaube

Kapitel 8 – Wieder die anderen

Kapitel 9 - Vertrauen

Teil 2

Maryam, 2020

Kapitel 1 – Die Katastrophe

Kapitel 2 - Verbannung

Kapitel 3 – Neuanfang

Kapitel 4 – Irrwege

Kapitel 5 – Zeiten der Einsamkeit

Kapitel 6 – Fremd

Kapitel 7 – Tiefe Konflikte

Kapitel 8 – Erwachen

Kapitel 9 – Wieder

Kapitel 10 – Kämpfen

Kapitel 11 – Abschied

Maryam, 2021

Kapitel 1 – Rückkehr

Kapitel 2 – Wahre Veränderungen

Kapitel 3 – Die Hochzeit

Kapitel 4 – Provokationen

Kapitel 5 – Der Nachbar

Kapitel 6 – Freiheiten

Kapitel 7 – Plötzlich Liebe

Kapitel 8 – Ertragen

Maryam, 2022

Kapitel 1 – Zeitenwende

Kapitel 2 - Loyalität

Kapitel 3 – Olga

Kapitel 4 – Eine Wahl?

Kapitel 5 – Schatten von Glück

Gar nicht so viel später...

Danksagung

Julia Augustin

Gestern noch Mensch

Impressum

Julia Augustin

Gestern noch Mensch

[email protected]

Berlin, Februar 2025

Coverbild: Julia Augustin

*

Meinen Honoraranteil spende ich dem Verein FIDA e.V., der mit der wunderbaren und berührenden Ausstellung „Hope in Darkness“ an das Schicksal der Frauen in Afghanistan erinnert.

Teil 1

Olga/ Tatjana, 2020

Kapitel 1 Die Anfänge

Tatjana

Vor meinen Augen rollen die Wellen. Sie könnten sich nicht rhythmischer auf und ab bewegen. Fast gleicht es einem Tanz, wenn Schaumkämme spritzender Gischt näher kommen, sich treffen, vermengen, auseinandertreiben. Die Sonne bricht sich in dem glasklaren Wasser in tausend, abertausend Strahlen. Das Türkis glitzert, leuchtet auf und ermattet in einem stetigen Rhythmus.

Man kann die Augen schließen, nur lauschen.

In der Ferne tuten die Fischkutter. Es ist ein tiefes Brummen. Es schwillt in der Ferne an, ehe es wieder erstirbt.

Dann hört man bloß noch eines: Wellen.

Wellen, die auf Ufer treffen. Ein kurzer Knall, dann sprudelndes Wasser, der dumpfe Laut, wenn sie sich mit dem Boden zurückziehen.

Zwischendurch durchdringt der Schrei eines Vogels die Luft. Kehlig klingt er. Beständig.

Alles fügt sich hier in sich.

Da fühle ich in mich, meinen jungen Körper.

Ich lasse die Sonnenstrahlen auf meiner Haut tanzen. Mit Genuss spüre ich, wie ihre Wärme bis in die tiefsten Poren vordringt. Genauso merke ich, wie der seichte Meereswind über mich hinwegfegt. Ich erahne, wie er plötzlich mein langes braunes Haar aufwirbelt, es wie eine Mähne nach hinten drückt.

So atme ich tief, kann mich gar nicht satt sehen.

Hier treffen sich Endlichkeit und Unendlichkeit. Hier ist es, als schmiegten sich zwei Liebende aneinander.

Kein Ort könnte harmonischer sein.

Kein Konzert könnte besser in all den feinen Tönen und Nuancen aufeinander abgestimmt sein.

Langsam schreite ich wie eine Königin an der Hafenpromenade entlang.

Ich breite die Arme aus, schließe erneut die Augen.

Sonnenstrahlen wärmen mein blasses Gesicht.

Wie ein Kreisel beginne ich mich zu drehen, ehe ich mich schwankend und vor Glück lachend am Geländer festhalte.

*

„Olga, Olga! Olga, Mädchen, wo steckst du nur wieder?“, ruft Tatjana Semenyuk und schüttelt fassungslos mit dem Kopf.

„Du musst ans Meer gehen“, lacht die mittlerweile zahnlose Anastasia.

„Du bist mir genauso eine große Hilfe“, wirft Olgas Mutter wütend das Geschirrtuch beiseite.

„Um 15 Uhr muss ich in der Schule sein. Heute veranstalten wir ein Fest für die Kinder. Olga wollte mich begleiten. Und jetzt – jetzt – hat sie sich noch nicht einmal zurecht gemacht!“, schimpft die kräftige kleine Frau und stemmt ihre kleinen Hände in die Hüften.

„Sie ist zwanzig Jahre alt, eine Frau“, reibt sich die Großmutter schelmisch grinsend die Hände. „In ihrem Alter...“

„Mama, ist gut jetzt“, tritt Tatjana nervös vor dem Fenster auf und ab und rauft sich das zu einem eleganten Kranz geflochtene braune Haar.

„Du bekommst graue Strähnen“, tritt die alte Frau näher und greift nach der Frisur.

„Ja, ich werde alt, unansehlich und verbraucht. Das möchtest du mir doch sagen“, greift Tatjana wütend nach der kleinen braunen Ledertasche.

„Olga!“, ruft sie erneut.

Doch noch immer fehlt von der jungen Frau jede Spur.

„Sie wird am Meer sein“, setzt sich die Großmutter wieder seufzend und zupft an ihrem blumigen Kopftuch.

„Das hat sie früher gemacht. Heute hockt sie bestimmt zwischen ihrem Bruder und den ganzen jungen Männern“, trinkt sie eilig einen Schluck Wasser.

„Du hast Angst, dass sie sich verliebt“, schlägt Anastasia mit ihrer faltigen Hand auf den Tisch und lacht unverschämt.

„Du kannst auch an gar nichts anderes denken“, lässt sie die alte Frau sitzen und geht strammen Schrittes zum Auto.

„Du siehst gut aus“, hält ihr Mann Witalij sie am Arm.

„Hast du unsere Tochter gesehen?“, steckt sie die Schlüssel in das Schloss.

„Wenn du mich fragst...“, gibt er ihr einen zarten Kuss auf das Haar.

„Ich frage dich aber nicht, was du dazu denkst“, öffnet sie kalt die Tür des klapprigen Wagens.

„Sie ist erwachsen“, lässt er sie kopfschüttelnd fahren.

Der Staub wirbelt auf, als sie den Hof verlässt und mit quietschenden Reifen auf die Sandpiste auffährt.

Aus der Ferne erkennt man das schäumende Weiß der Schaumkämme. Im Sommer werden sich an den Stränden wieder etliche Tourist:innen tummeln.

Tatjana graut es schon jetzt vor dem Moment, wie Sardinen am Meer liegen zu müssen.

Viel schöner ist es im Herbst oder Frühjahr, wenn sich nur wenige Spazierende an das Wasser verirren.

Aber seitdem die Krim als beliebtestes Reiseziel weggefallen ist, pilgert die halbe Nation an die Strände von Odessa.

Kopfschüttelnd verscheucht die Mitte-Fünfzigjährige diese Gedanken. Für Politik fehlt ihr jedes Verständnis. Vor allem ist sie die Themen Leid, seitdem die Familie durch sie gespalten wird. Um die Kinder fürchtet sie am meisten. Früher wäre Olga sicherlich am Meer gewesen. Heute aber ist sie ihrem großen Bruder unter die Hitzköpfe gefolgt.

„Junge Menschen möchten noch verändern“, hatte Anastasia sie beruhigen wollen.

„Und wie? Jetzt verändert sich maximal etwas, wenn eine Seite Vernunft annimmt“, hatte sie beim Kartoffelschälen geknirscht.

„Lass sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln“, hatte ihr die Großmutter schließlich seufzend die Hand auf die Schulter gelegt.

„Du weißt genauso gut wie ich, wie gefährlich das noch werden kann“, hatte sie sich am Ende in den Finger geschnitten und war eilig aufgestanden.

*

Erneut muss Tatjana seufzen und streicht mit der freien Hand nervös durch die Frisur.

Kurz vor der Schule muss sie bremsen, weil sich ein Stau gebildet hat.

Die Zeit wird immer knapper bis zum Schulfest.

Dabei trägt sie als Direktorin die Verantwortung.

Früher hatte sie in Odessa direkt gelehrt, bis sie eines Tages durch Bekannte auf Witalij gestoßen war. Er arbeitete damals als Ingenieur in einem der zahlreichen Stahlwerke und fiel ihr auf, weil er ruhiger und überlegter war als die anderen Männer. Dabei kannte sie damals noch gar nicht seinen starken Willen.

„Frau Direktorin“, wird sie schon von einigen Kolleg:innen begrüßt.

„Freut mich“, winkt sie höflich rechts und links.

„Ihre Tochter wartet schon auf sie“, raunt ihr die Sekretärin ins Ohr.

„Was Sie nicht sagen“, gibt sie sich unberührt und tritt auf die Bühne für die Ansprache.

Tatjana Semenyuk liebt ihren Beruf an der kleinen Dorfschule mit ihren einhundertundfünfundzwanzig Schüler:innen. Sie erfreut sich täglich an dem, was sie aus den ganzen Kindern und Jugendlichen zaubern kann. Es ist ein wohliges Gefühl, manchen im Ort oder in der Hafenstadt zu begegnen. Sich wiederzuerkennen und zu staunen: „Was aus dir geworden ist...“

Der Stolz der Ehemaligen zeichnet daher die Wände des Versammlungsraums. Ebenso hängen dort die Bilder der Jahrgangsbesten. Oder es finden sich Fotografien von besonderen Festivitäten, Gedenkveranstaltungen, Besuchen.

Während ihrer Ansprache an die stolzen Eltern und Kinder beobachtet sie aus den Augenwinkeln die eigene Tochter.

Sie hätte wirklich nicht mehr erwartet, Olga hier anzutreffen. In dem Mädchen, der Frau, steckt so viel Widerspruchsgeist. Heute trägt sie wie ein kleines Schulmädchen das rotbraune Haar in zwei langen geflochtenen Zöpfen, dazu ein bis zum Hals streng geknöpftes blaues Marinekleid, das an ihrem knochigen Körper viel zu locker hängt. Den knallig roten Lippenstift hat sie sich wieder einmal wie ein Clown über die Ränder geschminkt. Die runden, lachenden blau-grünen Augen ertrinken in einem Klumpen Wimperntusche.

Innerlich schüttelt Tatjana mit dem Kopf und wendet missmutig den Blick ab.

Wie soll nur aus der Tochter eine stolze gepflegte Frau werden?

Der Kinderchor tritt auf die Bühne und singt.

Streng nickt die Direktorin ihnen zu und gibt auf dem Klavier den Takt vor. Mit der Musik lässt sich dann ihre Anspannung wegspülen.

Wäre Olga doch wenigstens musikalisch!

Aber beim Klavierspiel besaß sie schon als Kind weniger Taktgefühl als ihr älterer Bruder, beim Singen traf sie keine Töne.

„Mama, ich bin...“, tritt das Mädchen, das doch definitiv noch keine Frau ist, in der Pause auf sie zu und fasst ihren robusten Arm.

„In welchen Topf bist du eigentlich gefallen?“, versucht Tatjana sofort, den überstehenden Lippenstift wegzuwischen.

Mit fast entsetztem Blick lässt die Tochter aber augenblicklich die Hand fallen und mustert die Mutter streng.

„Ich kann es dir einfach nie recht machen“, dreht die dann abrupt auf dem Absatz um und verschwindet irgendwo in der Menge.

Irritiert hüstelnd greift Tatjana nach ihrem Glas Wasser.

„Deine Tochter wird nachher noch sprechen“, flüstert ihr eine Kollegin von der Seite ins Ohr.

„Olga? Sie wollte mir beim Verteilen der Geschenke an die Kinder helfen“, hebt sie sogleich alarmiert den Kopf.

„Sie ist ein so liebenswertes Wesen“, versteht die aber überhaupt nicht ihren Argwohn.

„Da lernen Sie sie mal richtig kennen...“, trinkt sie wieder aus ihrem Glas.

Während der weiteren Beiträge der Kinder, huschen Tatjanas Blicke immer wieder zur Tochter, die jetzt wie zur Provokation alle Schminke aus dem blassen hageren Gesicht gewischt hat, die Zöpfe aufgedreht und das Haar wie eine wilde lange Mähne auf der Brust verteilt.

„Besser?“, hatte sie sich kurz vor Ende der Pause mit spöttischem Grinsen neben die Mutter gesetzt.

„Worüber möchtest du heute hier sprechen?“, raunt sie ihr irgendwann vor Ungeduld ins Ohr.

Lächelnd dreht die den Kopf zu ihr und schaut Tatjana fest in die Augen.

Innerlich erschrickt die. Der Blick gleicht Witalij bis ins kleinste Detail.

„Keine Angst, ich werde dich nicht bloßstellen“, streicht Olga plötzlich selbstbewusst lächelnd eine Strähne hinter das Ohr.

„Keine Politik hier im Haus“, flüstert sie warnend.

Grinsend dreht die junge Frau den Kopf zur anderen Seite.

Als sie schließlich langsamen und merkwürdig großen Schrittes auf die Bühne tritt, trommelt Tatjana nervös mit den Fingern auf der Lehne.

„Verehrte Eltern, liebe Kinder, erst einmal bin ich gerührt von diesem bunten Programm. Was für Talente in unseren Schüler:innen steckt. Meine Mutter Tatjana Semenyuk leitet seit sechs Jahren diese Schule. Und als Tochter bin ich stolz darauf, was hier erarbeitet wurde.“

Kurz atmet sie auf und errötet sogar bei dem ungewohnten Lob.

Dann lässt der nächste Satz ihren Atem aussetzen.

„Seit sechs Jahren jetzt herrscht aber auch in den Provinzen Luhansk und Donezk Krieg. Auch dort leben Kinder…“

Keine Politik, faltet Tatjana wie zum Stoßgebet die Hände.

„In Vertretung für unsere Studierendengruppe möchte ich daher heute Spenden für diese Kinder sammeln.“

Plötzlich schaut Olga die Mutter direkt an.

„Vielleicht möchten Sie uns unterstützen. Ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag und den Kindern viel Spaß bei den Spielen draußen.“

Beinahe hastig steckt die junge Frau das Mikrofon wieder zurück und eilt von der Bühne, greift sich den Korb, ohne die noch immer überrumpelte Mutter eines Blickes zu würdigen, und postiert sich am Eingang.

„Hier, gute Sache“, werfen manche ein paar Münzen ein.

„Was haben wir mit dem Osten zu tun?“, zeigen sich andere wie erwartet verärgert.

„Alles Propaganda, dass jetzt der Osten leidet“, zischt einer der Herren.

„Hier, hoffen wir, dass diese Terrorist:innen bald verrecken“, wirft ein anderer einen Schein ein.

Sprachlos setzt sich Tatjana zu ihren Kolleg:innen, während sie aus den Augenwinkeln zuschaut, wie Olga bei den Spielen für die Kinder mithilft.

Dabei wirkt die Tochter wieder ganz verträumt, verspielt, als wäre sie selbst längst noch ein Kind.

Kein Vergleich zu der jungen Frau, die die eigene Mutter soeben getäuscht hatte.

Die…

Das wird auf jeden Fall eine Auswertung nach sich ziehen, beschließt sie schnaubend.

„Ich wusste gar nicht, dass sich deine Tochter politisch engagiert“, spricht sie eine Kollegin an.

„Na ja, junge Menschen“, winkt sie ab und überspielt ihren Zorn.

„Wie heißt die Studierendengruppe?“, fragt man sie dann.

„Friedenstauben oder so etwas“, hüstelt sie und schlurft den Kaffee.

„Es war ein schönes Programm, nicht?“, wechselt sie hastig das Thema.

So glätten sich die Wogen, plätschert der Nachmittag so dahin. Die Kinder lassen freudig ihre Ballons steigen. Die ersten verabschieden sich.

Allmählich lächelt Tatjana stolz und schaut auf die noch kahlen Bäume.

„Fahrt ihr im Sommer wieder zu deinen Eltern nach Russland?“, reißt sie plötzlich jemand zurück.

„Wir? Gewiss...“, spannen sich augenblicklich ihre Muskeln.

„Und? Wie geht man so mit euch dort um?“, interessiert es weiter und mustern sie alle neugierig.

„Mal sehen. Jedes Jahr eine neue Überraschung“, dreht sie sich hastig zu einer Familie, die sich dankend verabschiedet.

Endlich ist die Zeit gekommen, dass das Fest endet und sie hupend an ihrer Tochter mit dem Wagen vorbeifährt, die ohne ein Wort zu Fuß losmarschiert ist.

„Olga“, öffnet sie neben der haltend die Tür.

„Fahr ruhig. Ich bin noch verabredet“, geht die unbeeindruckt weiter.

„Olga“, fährt sie nun vor die Tochter und versperrt der damit den Weg.

„Wir sollten reden.“

Kurz bleibt die tatsächlich stehen. Kurz mustern sie die Augen erneut mit diesem festen Blick.

Kurz möchte Tatjana Hoffnung schöpfen.

Doch da reißen ihr die nächsten Worte den Boden weg.

„Darüber haben wir nichts zu bereden.“

*

Mit offenem Mund bleibt sie noch einige Minuten wie erstarrt hinter dem Steuer sitzen.

Mit offenem Mund schaut sie fast entsetzt der jungen Frau nach, die ihr langes ungekämmtes Haar in den Nacken wirft und schwungvollen Schrittes an ihr vorbeigeht, dazu pfeift und ausgesprochen fröhlich scheint.

Mit dir sind sie wohl ganz durchgegangen, löst sich Tatjana kopfschüttelnd aus der Erstarrung.

Dann entwickelt sie einen Plan.

Der Schmerz, der sie plötzlich überkommt, der sich über all die Jahre angestaut hat, bricht sich auf einmal seinen Weg. Der Atem geht kurz schneller. Die Nase beginnt zu laufen. Das Herz hämmert in der Brust. Noch immer hält sie die Augen auf Olga geheftet, die allmählich am Horizont zu einem winzigen Punkt verschwimmt.

*

Als die Ukraine durch die aufkommenden Proteste langsam zu brennen begann, endete zu Hause abrupt der Frieden.

„Jetzt kommt unsere Zeit!“, hatte Olgas ältester Bruder Aleksandr mit seinen siebzehn Jahren prophezeit und die Hände vor dem Fernseher zu Fäusten geballt.

Es war die Zeit der Pubertät. Jene Zeit, in der die Hormone junger Gemüter bekanntlich ohnehin von Null auf hundertachtzig Grad springen.

Am Anfang hatten sie nur den Fehler gemacht, wie alle Eltern das Aufbrausen und Philosophieren der Heranwachsenden nicht ernst zu nehmen, die Augen zu verdrehen und zu denken: „Wir haben schon genug solcher Bewegungen erlebt, die am Ende doch wieder eingeschlafen sind.“

Dass sie sich in dieser Einschätzung täuschen sollten, wurde ihnen erst bedeutend später bewusst, als sie eines Tages Aleksandr mit großem Rucksack bepackt an der Haustür antrafen.

„Wo möchtest du hin?“, stellte sie sich ihm sofort in den Weg.

„Alle gehen, Mama“, packte ihr schon damals um einen Kopf größerer Sohn sie an den Schultern und strahlte sie voller Euphorie an. „Mama, alle gehen!“

Weil sie reglos stehen blieb und gar nicht recht zu begreifen schien, klopfte er sich stolz auf die Brust: „Ich muss dabei sein, wenn unser Land in die Freiheit geht!“

„Du wirst nirgendwo dabei sein“, fand sie da die Sprache wieder und verriegelte die Tür verächtlich lachend hinter sich.

„Mama, was machst du?“, war ihr Sohn überrascht.

„Was ich mache?“, stellte sie sich mit zusammengekniffenen Augen vor ihn, musterte ihn. Ihn, den sie zur Welt gebracht hatte, der jetzt fast wie ein Mann mit einem Meter 70 Zentimeter vor ihr stand. Ein schmaler, hagerer, junger Mann mit dieser Akne, die heutzutage beinahe alle Jugendlichen haben. Die blauen Augen noch so naiv und unschuldig aufgerissen.

„Komm, reden wir...“, winkte sie ihn in die Küche, wo Anastasia schweigsam alles verfolgte.

„Mutter, lass uns bitte allein“, schickte sie die Großmutter jedoch hinaus, kaum dass ihr der Sohn zögerlich folgte.

„Es sind gerade...“, setzte sie mit ihrer energischen Stimme an und zwang sich zu einem Lächeln. „Es sind gerade aufregende Zeiten. Ich kann mir gut vorstellen, was das mit euch jungen Menschen macht“, griff sie dann nach seiner Hand, während er sie sprachlos anstarrte.

„In den Medien wird das alles zusätzlich emotionalisiert. Dadurch wirken für uns diese Proteste viel näher. Es fühlt sich an, als wären wir ein Teil von ihnen. Aber...“, hielt sie kurz inne und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich Aleksandrs Muskeln spannten.

„Diese Proteste haben nichts mit uns zu tun. Uns geht es hier gut. Uns wird es weiterhin gut gehen. Politik ist nichts für eine kleine Familie.“

Noch immer schaute ihr Sohn sie mit großen Augen schweigend an.

Vor allem ist sie nichts für ein Kind wie dich, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Lass uns...“, klopfte sie dem Heranwachsenden versöhnlich auf die Schulter.

Doch augenblicklich zuckte der vor ihr zurück.

„Meinst du eigentlich ernst, was du da sagst?“, hauchte er mit seiner tiefen Stimme fast tonlos.

„Nichts mit uns zu tun?“, wurde er dann lauter.

Versteinert blieb sie stehen.

„Das ist unsere Zukunft! Unsere Zukunft, Mama!“, rief er.

Weil sie noch immer nicht reagierte: „Wir werden ein Teil von Europa werden. Wir werden uns für die Welt öffnen. Wir werden eigenständiger.“

„Was für ein Schwachsinn!“, entfuhr es ihr.

Dann, da sich das Gesicht des Sohnes vor Wut rötete: „Aleksandr, ohne Russland als wirtschaftlichen Verbündeten sind wir gar nichts.“

Er schwieg mit geballten Fäusten.

„Der Westen benutzt uns nur in seinen nie endenden Sticheleien gegen den Osten“, setzte sie sich ihm langsam gegenüber, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Eine Öffnung wäre schön. Sicherlich. Allerdings sind wir nicht so weit. Wir haben im Landesinneren genug eigene Probleme“, versuchte sie ihm, die Fakten darzulegen.

„Das ist alles Gehirnwäsche!“, sprang da der Heranwachsende mit knallrotem Kopf auf.

„Ich verstehe schon, dass es bequem ist, an dem Alten festzuhalten. Sich an Sicherheiten zu klammern...“, ereiferte er sich. „Aber warum sind wir zu ewiger Knechtschaft gezwungen? Warum können wir nicht frei wählen, welche Verträge wir mit dem Osten und welche wir mit dem Westen vereinbaren wollen? Wie lange sollen wir noch zuschauen, wie unser Land von korrupten und kriminellen Oligarch:innen regiert wird?“, lief er vor ihr wie ein wildes nervöses Tier auf und ab.

„Aleksandr“, seufzte sie zugegebenermaßen hilflos. „Ich habe meine Meinung, du offenbar die deine. Aber eines wirst du nicht tun: Dieses Haus verlassen“, stand sie auf und übernahm die liegen gebliebene Küchenarbeit der Großmutter.

Tatsächlich drehte sie dem Sohn den Rücken zu, um ihm zu signalisieren, dass alles geklärt sei.

Der stand aber plötzlich neben ihr und lachte, als wäre er verrückt: „Im Grunde ist es das Gleiche wie mit euch.“

Tatjana schälte trotzdem artig die Kartoffeln weiter, erwähnte nichts, als Anastasia sie fragend anschaute.

Für sie war dieses Thema geklärt. Dass pubertierende Kinder aufbrausen könnten, erschien ihr noch durchaus plausibel.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass Aleksandr noch in der gleichen Nacht mit seinem vollen Rucksack heimlich das Haus, die Stadt, seine Familie verlassen würde.

*

Olga steigt an der nächsten Kreuzung in einen weißen dreckigen Kleinwagen mit Kennzeichen für die Region Odessa. Ziemlich zügig nimmt der kleine Transporter seine Fahrt auf, biegt auf die Hauptstraße auf, beschleunigt, sodass Tatjana Mühe hat, mit einigem Abstand zu folgen.

Kurz vor der Hafenstadt biegen sie dann zum Erstaunen von Olgas Mutter nach Osten ab.

Fahren die etwa direkt zu den Kriegsgebieten?, wird sie panisch.

Ihr Herz hämmert im Akkord. Zugleich wehrt sie sich gegen den Impuls, an der nächst besten Gelegenheit zu beschleunigen, das schützende Auto vor ihr zu überholen, den Transporter mitten auf der Straße zu stoppen, um ihre Tochter persönlich in letzter Sekunde aus mehr Schwierigkeiten zu ziehen.

Da klingelt ihr Handy.

„Witalij, ich kann jetzt nicht“, erklärt sie genervt.

„Es ist schon spät“, erinnert er in seinem stetig spöttischen Tonfall, wenn der Stress sie im Griff hat.

„Du verstehst das nicht. Vertrau mir“, legt sie abrupt auf, weil der Transporter vor ihr ohne Vorwarnung auf eine kleine Nebenstraße einbiegt.

Unterdessen sinkt die Sonne immer tiefer, färbt sich der Himmel rot, glüht es überall, ehe die Dämmerung langsam hereinbricht.

Das Handy klingelt erneut.

Natürlich haben ihre barschen Worte nicht gerade Witalijs Vertrauen gefördert.

„Bitte, ich werde dich demnächst zurückrufen“, nimmt sie kurz den Anruf entgegen und legt danach sofort auf.

Das Telefon klingelt noch einige Male.

Doch der Transporter ist jetzt auf einen Feldweg eingebogen.

Aufgeregt stellt Tatjana ihren Ton vom Handy und das Licht des Fahrzeugs aus. Auf keinen Fall soll jemand Verdacht schöpfen.

Wenige Meter später hält der andere Wagen. Abrupt öffnen sich die Türen.

Zwei Schatten – wahrscheinlich Olga und jemand anderes – hüpfen aus dem Auto.

Leise hält auch Tatjana in einigem Abstand, wartet noch einen Moment, ehe sie langsam die Tür öffnet.

Erschrickt.

*

Nach zwei Wochen erhielten sie ein Lebenszeichen aus Kiew. Dabei hatte ihr eigener Sohn kein Wort der Erklärung für sie übrig.

Vielmehr fühlte sich Tatjana mit Fakten konfrontiert, wie an jenem Morgen, als sie sich verschlafen die Augen rieb und in die Küche trat. Anastasia ihr sofort aufgeregt den Zettel zeigte.

„Er ist weg!“, wiederholte die alte Frau immer wieder vollkommen durcheinander.

„Ich habe schon in dem Schlafzimmer geschaut. Aber er ist tatsächlich weg.“

Nie war Anastasia so kopflos von einer Ecke in die andere gerannt.

„Dein Sohn muss aus dem Fenster gestiegen sein...“, setzte die Großmutter ihren Bericht fort.

Das war vermutlich der Moment, indem Tatjana selbst erst begriff, weshalb die alte Frau so aufgebracht war.

Auf einmal senkte sich ein bleierner Vorhang, ein Nebel der Ungewissheit. Auf einmal rannte sie nur instinktiv in das Dachgeschoss. Witalij folgte ihr ebenso verschlafen.

Doch Anastasia behielt recht.

Aleksandr war verschwunden.

Der Rucksack war ebenfalls mit ihm abhanden gekommen. Das Fenster stand offen. Das Seil hing noch an der Hausfassade hinab.

„Wir hätten nicht...“, stammelte ihr Mann und suchte wie stets und ständig die Schuld bei ihnen.

„Mama, Papa, was ist los?“, stand die damals 14-jährige Olga in ihrem weißen Nachthemd plötzlich in der Tür.

„Olga, meine Liebe“, fand Tatjana als Erste die Sprache wieder und drückte die Tochter zärtlich an sich.

„Wollen wir frühstücken?“

*

Jemand zerrt sie über den Steinboden. Hätte sie doch bloß Halt oder könnte sehen, wer sie wohin schleppt. Oder könnte sie sprechen, ohne zu befürchten, unter der übergestülpten Stoffhülle zu ersticken!

Die Füße stolpern einfach vorwärts.

Aber wenn sie zu fallen glaubt, reißt man sie sofort nach oben.

Manchmal ist es, als rufe man ihr etwas zu: „Erst uns verfolgen, dann schlapp machen.“

Dazu ertönt ein Lachen.

Boshaft klingt es.

Erbarmungslos.

Es sind die Stimmen von Männern.

Keine Frauen.

Nicht ihre Tochter.

Nicht irgendwer Bekanntes.

Stimmen, manchmal gefährlich nah, dann wieder verschluckt von Stoff und Rauschen in ihren Ohren.

„Vorwärts!“, reißt man sie ein weiteres Mal an den Armen nach oben, als sie sich mit den Zehen an etwas Großem auf dem Boden verfängt.

Vorwärts, mahnt sie sich, während die Angst sie auffrisst.

Wo ist ihre Tochter?

Was geschieht hier mit ihr?

Kapitel 2 Veränderung

Olga

Seit Jahren quält eine entsetzliche Krankheit dieses Land. Seit Jahren wechseln die nichts sagenden Gesichter von Herrschenden, Korrupten, Kriminellen, ohne dass sich etwas verändert. Das Volk profitiert jedoch kein bisschen von den Wechseln. Eine Ära fühlt sich genauso verloren an wie die danach. Wir haben lange genug zugesehen. Lange genug haben wir gewähren lassen. Heute aber ist der Tag der Veränderung gekommen.

*

Es ist bereits Nacht, als die 20-jährige Studentin Olga Semenyuk die Tür aufschließt. Leise dreht sie den Schlüssel, hält kurz inne, schaut in den dunklen Himmel. Ein paar finstere Wolken versperren die Sicht auf den Sternenhimmel.

Allmählich macht sich Müdigkeit breit, sodass die junge Frau gähnen muss.

Langsam öffnet sie die schwere Haustür. Dabei bemüht sie sich, jegliches Quietschen oder Poltern zu vermeiden. So stellt sie achtsam einen Turnschuh neben den anderen, schleicht langsam auf glatten Socken in den Flur, in die Küche.

Niemand ist um diese Zeit mehr auf den Beinen.

Daher schließt sie sanft die Küchentür hinter sich, stellt ein kleines Licht an und greift sich etwas Brot aus dem Kühlschrank.

Wie gut fühlt es sich an, endlich wieder zu essen!

Seit Stunden kann sie an fast nichts anderes mehr denken. Der Magen rebellierte und hing tief in den Kniekehlen.

Hastig kaut sie das frische Brot. Wahrscheinlich hat die Großmutter es wieder selbst gebacken. In der alten Frau stecken noch so viel Energie und Lebensgeist.

Seufzend reibt sich Olga die müden Augen.

Wie spät wird es mittlerweile sein?

Mitternacht? Der nächste Tag?

Danach spült sie leise summend den Teller und das Glas, putzt sich mit letzter Kraft die Zähne in dem kleinen kalten Badezimmer, ehe sie die Treppe nach oben in ihr Schlafzimmer steigt.

Dort öffnet sie das winzige und schon in die Jahre gekommene Fenster.

Seufzend atmet sie tief die frische und fast eisig kühle Nachtluft ein.

Dann schließt sie abrupt die Läden und schlüpft unter die warme Bettdecke.

Nur schlafen kann sie nicht.

*

Früher wäre sie zu ihrem drei Jahre älteren Bruder Aleksandr in das Nachbarzimmer geschlichen, hätte sich an seine Seite gelegt, den Arm fest um ihn geschlungen, bis er wach wurde: „Was ist los, kleine Nervensäge?“

„Ich möchte bei dir sein“, seufzte sie zufrieden.

„Geh in dein eigenes Bett, du kleine Heulsuse!“, zog er ihr jedes Mal die Decke weg.

„Ich habe schlecht geträumt“, lautete darauf ihre Standardantwort.

„Lass mich raten“, fiel er irgendwann nicht mehr sofort darauf rein. „Waren es die Einbrecher:innen? Die Meeresmonster?“

„Aleksandr, wirst du mich immer beschützen?“, unterbrach sie ihn.

„Wenn es sein muss, kleine Nervensäge. Jetzt geh schlafen“, schickte er sie damit zurück.

„Versprichst du das?“, hielt sie im Türrahmen inne.

*

Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht an den Bruder denkt.

Früher war er einer jener typischen Jugendlichen, die von allem und jedem namens Familie genervt waren. Ständig versuchte sich Aleksandr gegenüber den Eltern und sonstigen vermeintlichen Verschwörungen zu behaupten.

„Geh in dein Zimmer!“, konnte sie schon irgendwann die verzweifelten Ansagen ihrer Mutter nicht mehr ertragen.

„Wie benimmst du dich vor deinen Eltern?“, war selbst der gewöhnlich ruhige Vater aufgebracht.

„Ich gehe schon“, stand sie plötzlich an seiner Stelle auf.

Abrupt endete der Streit.

Ihr Bruder musterte sie mit großen Augen.

Während sie die Treppe nach oben in ihr Zimmer stieg, hörte sie mit innerlicher Zufriedenheit, dass der ältere Bruder ihr endlich folgte.

„Was soll das?“, fasste er oben vor der Tür ihren Arm und musterte sie mit seinen vor Wut funkelnden dunklen Augen.

„Findest du das erwachsen?“, verschwand sie betont ruhig in ihrem Zimmer.

*

Olga kann noch immer nicht schlafen.

Sie wälzt sich von einer auf die andere Seite.

Die Eindrücke des Tages wiegen zu schwer.

Dabei war es doch notwendig!

Oder?

Seit vier Jahren fragt sie sich das.

Die Zweifel überkommen sie einfach so. Beinahe gleicht es einem Überfall.

Manchmal stößt sie sich ganz plötzlich an den wenigen Worten.

Und heute?

Was missfiel ihr diesmal besonders?

Zum Teufel, wirft sie unzufrieden ihr Kissen auf den Boden.

*

Aleksandr ist natürlich nicht mit ihr gefahren.

Warum sollte er auch?

Er hält sich doch seit Jahren für etwas Besseres.

Als wäre er ein kleiner Held.

Dabei sprüht er stets vor tausenden und abertausenden Ideen.

Von wem hat er diese Leidenschaft?

Vom Vater gewiss nicht. Der könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Der kann an gar nichts anderes denken, als an seine Fahrzeuge und Boote, den Hof, die Familie. Der Vater ist ein schweigsamer Romantiker. Er liebt es, mit den Fischer:innen weit auf das Meer zu fahren, dabei stundenlang nach rechts und links ohne ein Wort zu schauen. Überhaupt: Witalij Semenyuk interessiert keine Politik. Nicht einmal die Proteste in der Hauptstadt und anderswo hatten seine Seele bewegt.

Solche Themen beschäftigten schon eher Olgas Mutter, Tatjana. Aber die ist gebürtige Russin, im Alter von drei Jahren in die Hafen- und Kulturstadt gezogen. Die Mutter besitzt auch mehr diese Kälte, diese Fähigkeit, andere vor vollendete Tatsachen zu stellen, frei zu denken und zu sprechen. Dennoch: Seitdem es im eigenen Land brennt, schweigt sie genauso.

Vielleicht sind da die Geschichten von Anastasia. Geschichten über Besatzung, Sowjetzeit, Gulag, Partisan:innen, Weltkrieg. Die alte Frau kann so unheimlich spannend und anschaulich erzählen, dass alle um sie herum an ihren Lippen kleben. Sie kann zudem jeder kleinen Anekdote so ein gewisses Maß an Tragik verleihen, dass so erst recht die Zuhörenden mit ihr fiebern. Die Großmutter muss eine starke und kluge Frau gewesen sein. Zumindest lassen deren Geschichten es glauben. So richtig aber kann sich Olga das heute nicht vorstellen, wenn sie der zahnlosen Anastasia gegenüber sitzt. Die Scherze immer wieder dieselben sind. Die wohl gemeinten Ratschlägen selbst ihre Geduld herausfordern. Heute wirkt sie wie eine Großmutter unter vielen. Politik scheint für die Vergangenheit.

*

Noch immer möchte sie der Schlaf nicht überkommen. Noch immer rollt sich Olga von einer in die andere Ecke.

Sie denkt an Aleksandr.

Wo bleibt der nur?

Vielleicht sollte sie ihn anrufen.

Vielleicht sollte sie den langsam aufsteigenden Zorn ihm an den Kopf werfen.

Vor den anderen streiten sie sich nie. Das bedeutete schließlich Rufmord.

Außerdem ist da noch Stepan…

*

Die Gedanken an Stepan lassen ihren Atem kurz schneller gehen. Kurz löst sich dieser Stein auf der Brust. Kurz wird ihr ganz leicht ums Herz.

Kurz durchzuckt ein leises Lächeln ihre Lippen in der einsamen Dunkelheit.

Stepan ist ebenfalls Student, Mediziner. Seine tiefe klangvolle Stimme könnte aber auch die eines Sängers sein. Sein Gang, seine ganzen Bewegungen scheinen beinahe majestätisch. In jeder einzelnen liegt eine Bedeutung. So ist es, wenn er sich sein schwarzes langes Haar mit einer raschen Handbewegung hinter das Ohr schiebt, die dunkel gerahmte Brille auf der Nase mit einem leisen Hüsteln zurechtrückt. Oder wenn er sie – Olga, die einzige Frau unter ihnen – kurz, fast scheint es jedes Mal irritiert, mit den grün-blauen Augen eines Heiligen streift. Danach errötet er stets für wenige Sekunden, ehe er wieder hüstelnd in die feurigen Diskussionen einsteigt.

Fast könnte sie seinen patriotischen Worten dabei glauben…

So gern hängt sie an seinen Lippen, lauscht dem ruhigen Klang dieser Stimme.

Worten über Befreiung, Gerechtigkeit, Zukunft, Frieden.

*

Auch ihr älterer Bruder hat den großen, kräftigen Studenten sofort ins Herz geschlossen. Die beiden ähneln sich in zahlreichen Punkten. Sie teilen eine Vision, einen Willen, Mut, Besessenheit.

Ein einziges Mal nahm der Bruder sie zu einem dieser inspirierenden Spaziergänge am Hafen der Stadt mit. Schweigend war sie schüchtern mit beinahe gesenktem Kopf gefolgt. Wieder musterte sie der Dunkelhaarige allenfalls flüchtig aus den Augenwinkeln. In Wahrheit schien er sie am liebsten zu ignorieren.

Daher erfreute sie sich nebenbei an dem lauten Rauschen der Wellen, fühlte mit stillem Entzücken die spritzende Gischt auf der Haut, lauschte mit einem Ohr weiter dem Gespräch.

Eine Frage stellte er ihr dann doch ganz am Ende dieser trotzdem unfassbar schönen Nacht: „Warst du auch auf dem Maidan?“

Da hatte ihr Herz kurz ausgesetzt.

Da schaute sie ihn mit ihren blau-grünen, unschuldigen Augen direkt an, als müsse sie diesem Menschen tief in das Herz schauen.

Und auf einmal begriff sie, dass er der Schlüssel war.

*

Aleksandr ignoriert ihren Anruf.

Eiskalt lässt er das Telefon klingeln.

Das sieht ihm wieder einmal ähnlich.

Manchmal macht sich in ihr eine Wut breit, wenn eine Stimme in ihr erstarkt, die flüstert: „Du kannst ihn nicht mehr retten.“

Selbst beim zweiten Mal nimmt niemand den Anruf entgegen.

Unruhe beschleicht sie.

Heute ist das Gefühl besonders schlecht.

Heute ist da stets so eine Vorahnung.

Abrupt steht sie auf, streckt erneut den Kopf mit dem langen wehenden Haar aus dem Fenster in die kalte Nachtluft.

Danach drückt sie seufzend erneut den grünen Hörer.

„Verdammt!“, flucht sie leise.

*

Als Olgas jüngerer Bruder Maksim geboren wurde, wuchsen in ihr Hoffnung und eine Art von Trost. Ein Bruder war verschollen, ein neuer dafür am Leben.

Mit all ihrer Liebe, mit all der Fürsorglichkeit einer 15-Jährigen umsorgte sie ihn, wann immer es zeitlich möglich war.

„Dein erstes Kind“, neckte Anastasia schelmisch, wenn sie ihn fütterte.

„Olga, du bist noch zu jung. Lass mich mal!“, riss ihr die Mutter mit ihrer stetigen Ungeduld den kleinen Jungen aus den Armen.

„Liest du mir vor?“, verband die beiden schnell dennoch eine tiefe Gemeinsamkeit.

Maksim begeisterte sich außerdem genauso für das Meer. Er liebte genauso wie sie die Möwen am Himmel, das Rauschen der Wellen, das Klirren von Stein, wenn sich das Wasser zurückzieht, die Schaumkämme am Horizont.

Mit ihrem jüngeren Bruder konnte sie für eine Weile vergessen, was ihr junges Herz nicht zu verstehen vermochte.

Trotzdem blieb der Schmerz: Man kann einen geliebten Menschen nicht durch einen anderen ersetzen.

*

Beim fünften oder zehnten Mal hebt plötzlich jemand ab.

„Hallo? Was soll der Terror?“, ist es nicht Aleksandrs Stimme.

„Ich möchte mit meinem Bruder sprechen“, zwingt sie sich zur Ruhe.

„Was soll das? Wir haben zu tun“, ist der andere womöglich sogar alkoholisiert.

„Wer bist du denn?“, fragt sie die lallende Stimme.

„Olga“, versucht sie, anhand der Stimme zuzuordnen.

Plötzlich rauscht es in der Leitung. Beinahe befürchtet sie, dass der aufgelegt hat.

Wo ist ihr Bruder?

Warum geht er nicht selbst an sein Telefon?

Ihr Herz hämmert vor Aufregung.

Ganz auf einmal beschleicht sie eine Angst.

Auf einmal wirken auf sie der schmale Mond, die dunklen Wolken am Nachthimmel wie ein unheilvoller Vorbote.

Doch bevor sie weiter denken kann, knackt es erneut in der Leitung.

„Hallo Olga!“

Die tiefe und hüstelnde Stimme ist ihr nur zu gut bekannt.

„Hallo, Stepan“, bemüht sie sich, nicht ihre Freude allzu sehr mitschwingen zu lassen.

„Aleksandr ist nicht da“, erklärt er ihr sachlich.

„Aber sein Telefon...“, hält sie verständnislos entgegen.

„Soll ich ihm etwas ausrichten?“, übergeht er ihre Skepsis.

Kurz hält sie inne.

Kurz spürt sie diesen Stein in der Brust.

„Also...“, druckst sie herum.

„Wir haben gerade viel zu tun“, scheint es Stepan plötzlich eilig zu haben, das Gespräch zu beenden.

„Ich weiß“, lügt sie, obwohl sie von der neuesten Mission nur im Ansatz Kenntnis besitzt.

„Morgen geht es bis an die Grenze“, fügt er noch hinzu.

„Ich weiß“, verstellt sie sich erneut und trommelt nervös mit den Fingern.

„Also dann...“, möchte er das Telefonat beenden. Dabei hat es doch gerade erst angefangen.

„Ich wollte fragen, wann Aleksandr nach Hause kommen wird“, rückt sie da mit der Sprache heraus.

*

Am nächsten Morgen wirft Olga eilig ihre Sachen und die Spendengelder in die kleine Reisetasche. Aus dem Nachttisch holt sie sich noch die Sonnenbrille, einen Schal, das Taschenmesser. Behutsam lässt sie die glänzende Klinge hervorspringen.

Dann kämmt sie sich hastig das lange kräftige dunkle Haar, schlüpft in die enge hellblaue Jeans, streift sich den grauen Wollpullover über.

Leise schleicht sie die Treppe hinunter und schließt die Küchentür hinter sich.

Eilig schneidet sie sich ein paar Scheiben von dem köstlichen frischen Brot ab und packt es in ein Tuch. Dazu schnappt sie sich eine von den scharf geräucherten Würsten.

Während sie sich mit einem Glas Wasser an den Tisch setzt, geht gerade draußen die Sonne auf.

Müde muss sie gähnen und reibt sich immer wieder die Augen.

Daher kocht sie sich noch einen Kaffee.

Danach greift sie sich im Vorbeigehen die kleine blaue Reisetasche, schlüpft in die Turnschuhe und schließt leise die Haustür auf.

Die Luft ist beinahe eisig. Der Reif liegt überall wie ein zarter Mantel.

Olga zieht den Mantel etwas fester, während sie in ihren Turnschuhen über den Hof stapft. Der Morgen hat etwas ungemein Befreiendes.

So viel Harmonie liegt in der Stille, dem Glitzern der ersten Sonnenstrahlen im Reif. Ein frischer Wind weht. Während sie kurz die Augen schließt, hört sie die Wellen in der Ferne rauschen.

Tief seufzt sie, ehe das Hupen bereits am Tor ertönt und sie eiligen Schrittes mit der Reisetasche in der Hand das Haus hinter sich lässt.

*

„Hallo“, klettert sie in den Wagen.

„Hallo, wir haben schon gewartet“, erklärt ihr bester Freund von der Universität und reicht ihr den Gurt.

„Ja, bereit?“, streicht sie sich eine Haarsträhne zurück und bemüht sich zu lächeln.

„Bereit“, nickt er ihr mit ernster Miene zu. „Hast du das Geld?“

„Hier“, wirft sie die Tasche zu den anderen nach hinten.

Mit quietschenden Reifen fahren sie los. Im Nu verschwinden das Haus, der Hof hinter ihnen. An der Küstenstraße beobachtet sie die Wellenkämme in der Ferne.

„Wie war es gestern?“, durchbricht Nikolaj irgendwann die Stille.

„Gut“, antwortet sie knapp und wehrt sich gegen den Kloß, der plötzlich in ihrem Hals zu stecken scheint.

„Wie viele werden sie heute sein?“, bohrt er weiter.

„Keine Ahnung“, schnippt sie mit den dürren Fingern einen unsichtbaren Fussel beiseite. „Vielleicht zwanzig.“

„Gut, wir werden mehr sein“, huscht ein kurzes Grinsen über die Lippen des Freundes. Trotzdem ist die Anspannung in seiner Stimme kaum überhörbar.

„Ja, und denkt an die Kinder“, deutet sie in den Hinterraum, wo die Reisetasche gelandet ist.

„Wir haben Teddybären gekauft, etwas Spielzeug“, berichtet man ihr.

„Schön“, freut sie sich und ist doch in Gedanken woanders.

„Olga, du weißt, dass ich dich das fragen muss: Sind sie bewaffnet?“, holt sie Nikolaj da abrupt zurück.

Kurz erschrickt sie und seufzt tief.

„Offiziell nicht“, wird ihre Stimme zittrig.

„Inoffiziell?“, dreht er ihr den Kopf zu.

„Keine Ahnung. Die sind bereit, über Leichen zu gehen“, zuckt sie resigniert mit den Schultern.

„Verstehe“, haben sie mittlerweile die Hafenstadt erreicht.

So früh herrscht kaum Betrieb auf den Straßen. Der Schatten der Nacht reicht teilweise bis in die schmalen Gassen.

„Ihr müsst vorsichtig sein“, warnt sie, als sie fast die Universität erreicht haben.

„Wem sagst du das!“, lacht da der Freund plötzlich.

„Und bitte...“, setzt sie zögerlich an.

„Wir bleiben friedlich. Versprochen“, umarmt er sie zum Abschied, bevor er sie an der Universität hinauslassen möchte.

„Ich würde gerne mitkommen...“, bleibt sie plötzlich reglos sitzen.

„Olga, das geht nicht!“, schaut Nikolaj sie mit seinen dunklen Augen und den buschigen Augenbrauen an.

„Mir wird schon nichts passieren...“, beschwichtigt sie.

„Ausgeschlossen“, rückt der Freund da zurück und dreht den Kopf weg.

„Nikolaj, ich...“, bittet sie und weiß selbst nicht warum. Natürlich wird sie nicht mitfahren.

„Bitte“, lehnt er seinen muskulösen Oberkörper plötzlich über sie und öffnet ihre Tür.

„Schreib für mich mit!“, ruft er ihr hinterher, als sie schweren Herzens aussteigt.

„Natürlich“ winkt sie.

„Erhole dich heute“, fährt er dabei mit dem Auto schon zurück.

*

Während der Vorlesungen kann sich Olga schwer konzentrieren. Ständig schweifen ihre Gedanken ab. Ständig spürt sie ein Hämmern in der Brust, eine flaues Gefühl in der Magengegend. Selbst der Kopf fühlt sich hohler an, dröhnt leise.

Zwischendurch späht sie immer wieder unruhig auf ihr Handy.

Keine Nachricht aber.

In der ersten Pause stürmt sie als eine der ersten aus dem Vorlesungssaal und geht zielgerichtet zur Toilette. Eine latente Übelkeit macht sich breit.

Noch immer erhält sie keine Nachricht.

Nervös scrollt sie durch ihre Chatnachrichten. Aleksandr hat sich bis heute nicht gemeldet.

Erneut wählt sie seine Nummer.

Tatsächlich hebt er diesmal selbst ab.

„Was ist los, kleine Nervensäge?“, klingt er ganz nahe mit seiner rauen Stimme.

„Du warst nicht zu Hause“, flüstert sie, um möglichst wenig Aufsehen zu erzeugen.

„Ich bin erwachsen“, lacht er leise.

Im Hintergrund hört sie Motorengeräusche.

„Aleksandr...“, beginnt sie vorsichtig.

„Ja? Du Olga…“, scheint auch er es aber plötzlich eilig zu haben.

„Versprichst du mir etwas?“, wischt sie sich nervös mit der Hand durch das blasse Gesicht.

„Klar. Worum geht es?“, wirkt er leicht genervt.

„Was auch immer eure Mission heute ist, bitte tu nichts, was du später bereuen wirst...“, findet sie nun klare Worte.

„Olga“, flüstert er auf einmal.

„Aleksandr, bitte!“, presst sie hervor und schluckt die Tränen hinunter.

„Olga, mach dir...“, möchte er sie beruhigen.

„Aleksandr, bitte. Wenn du mich fragst, ist die ganze Aktion falsch“, legt sie abrupt auf.

*

In der Tat fühlt sie sich etwas befreiter nach dem Telefonat. Hätte sie mehr tun können?

Wie anders konnte sie ihn schützen und zugleich ihrem eigenen Gewissen treu bleiben?

Seit vier Jahren führt sie, Olga, ein Doppelleben. Seit vier Jahren kämpft sie einerseits an der Seite der feurigen Nationalist:innen insgeheim um ihren Bruder. Seit fast vier Jahren arbeitet sie gleichzeitig heimlich gegen dessen Gruppe mit kleinen Protestaktionen, Flugblättern, Spendenaktionen, um ihr Gewissen zu besänftigen.

Vielleicht hat Aleksandr Recht.

Vielleicht verlangt die Zeit zu kämpfen.

Nur in einem Punkt unterscheiden sie sich: Die Seite muss stimmen.

*

Die Sonne geht bereits fast unter, als Olga mit dem alten Linienbus nach einem langen Studientag im Lehramt nach Hause fährt. Müde lehnt sie den Kopf an die Scheibe. Mit leisem Lächeln beobachtet sie gähnend das Auf und Ab der Wellen.

Der Tag war hart.

Trotzdem lächelt sie.

Es fühlt sich wieder richtig an.

Nikolaj und die anderen sind unterdessen im Osten angekommen, haben medienwirksam Spenden verteilt. Danach standen sie mit ihren Kostümen und Masken auf der Straße. „Nein zum Krieg!“ und „Frieden erfordert Kompromisse“ skandierten ihre Plakate.

Genauso blockierten sie für die Nationalist:innen den Weg.

„Keine Gewalt“, schrieb ihr der Freund. „Sie haben nur gepöbelt...“

*

So steigt Olga beinahe beschwingt aus dem Bus und geht die letzten hundert Meter zu Fuß.

Der Stein knackt und knirscht unter ihren Füßen.

Die Kälte des Frühlingsabends kriecht in alle Glieder, sodass sie die Jacke fester um sich wickelt.

„Hallo“, grüßt sie hin und wieder einige Nachbar:innen.

Hier im Dorf kennen sich doch alle.

Da entdeckt sie bereits die Mauern des kleinen Familienhofes. Jahrzehntelang schufteten dort Anastasia und der mittlerweile längst verstorbene Großvater für ihre kleine Familie.

Heute hat der Vater daraus eine Elektrowerkstatt gemacht.

Doch um die Uhrzeit warten keine genervten Kund:innen auf Reparatur oder Beratung.

Im Hof parkt nur ein einziges Auto. Der klapprige alte Wagen wird eines Tages auseinanderfallen. Aber die Eltern hängen an dem Stück.

Freudestrahlend hält Olga nach jemanden aus der Familie Ausschau. Eventuell tobt der sechsjährige Maksim noch irgendwo über das Gelände.

Der Hof ist jedoch leer. Wahrscheinlich werden sie alle längst gemeinsam am Tisch sitzen, beten, dann essen.

Gerade möchte sie voller Unverständnis für die Liebe der Eltern zu dem altmodischem Auto an die Scheiben klopften, als sie erschrocken inne hält.

Danach schreit sie.

Kapitel 3 Gestern war alles gut

Tatjana

Dieses Land wird seit Jahrzehnten von Korrupten beherrscht. Die wenigen Reichen beanspruchen für sich die vollständige Macht. Daher war es vielleicht nur eine Frage der Zeit, wann sich das Volk wehrte. Aber sind wir uns einig genug?

*

Anfangs bemerkt Tatjana die Tochter gar nicht.

Anfangs verharrt sie weiter, ohne mit der Wimper zu zucken hinter dem Lenkrad.

„Ich werde spät kommen“, rief sie mitten in der Nacht Witalij an.

Wortlos seufzte er, fragte gar nicht.

Aber genau das war ihr Recht.

Nie zu sprechen über das, was sie an jenem Abend und in der Nacht erlebt hatte. Stattdessen würde sie weiter gehen, vergessen, verdrängen.

Ersteinmal würde sie vor allem allein sein wollen. So wie hier im Auto sitzt es sich gut. Man muss nicht denken. Die Sonne brennt durch die Scheiben, sodass man nicht friert. Draußen spielt sich das gewöhnliche Alltagsleben ab. Drinnen im Auto muss man allerdings nicht reden. Man kann nur schweigen, zuschauen, gar nicht denken, gar nicht erst versuchen zu begreifen, was nicht erklärbar ist.

Am Vormittag traf sie mit Staub aufwirbelndem Fahrzeug ein. Die Nachbar:innen, die ihr wie immer treu winkten, ignorierte sie eiskalt. Dabei lag das auch daran, dass sie sie gar nicht wirklich wahrnahm. Vielmehr schien es wie in einem fernen Film, einem Traum, einer Welt von gestern.

Solche Gesten glichen einer heilen Zeit wie gestern, nicht eine wie…

Zu Hause begegnete sie zum Glück niemanden. Ihr Mann arbeitete fleißig in der Firma. Ihre Mutter schien glücklicherweise ebenso ausgeflogen. Wahrscheinlich stöberte sie genau um diese Zeit auf dem Wochenmarkt herum.

Ihr jüngster Sohn saß sicherlich artig bei den Erzieher:innen. Die anderen Kinder waren ebenfalls irgendwo.

Daher konnte sie sich hinkenden Schrittes zur Haustür begeben, den Schlüssel mit plötzlich zittrigen Händen herumdrehen, sich in der Küche erleichtert am frischen Brot bedienen, den Wasserhahn aufdrehen, setzen.

An diesem Tag fühlt sie sich um mindestens zehn Jahre gealtert. Alles schmerzt. Alles ächzt und knackt, als wäre sie Seniorin.

Doch dieses Denken beendete sie abrupt, indem sie sich mit einer Axt bewaffnet in den Garten begab und Holz hackte. Von oben krachte das Werkzeug auf die Holzklötze, spaltete sie immer zielgenauer in der Mitte. Danach flogen die Teile nach rechts und links. Dann positionierte sie das nächste Stück. So entstand nach einiger Zeit ein kleiner Haufen, ehe sie sich den Schweiß von der Stirn wischte. Fast reglos starrte sie auf die feine Hose, die Bluse, das Jackett, an dem sich Schweiß mit Holzspänen mischten. Da stemmte sie sich die Hände in die Hüften, beugte sich vor, als müsse sie auf einmal um Atem ringen, setzte sich schließlich teilnahmslos auf einen der Holzklötze, starrte ausdruckslos.

So verbrachte sie etliche Minuten. Vielleicht wurden es sogar Stunden.

Da hörte sie noch in der Ferne Anastasias feste Stimme, die mit jemanden angeregt zu schnattern schien.

Schlagartig sprang sie auf, versteckte sich hinter der grauen Hauswand.

Wenige Minuten später betrat die Großmutter nun allein, aber dennoch sichtlich gut gelaunt, den Hof und begab sich zielstrebig zur Haustür.

„Na, wer war denn hier so fleißig?“, pausierte die alte Frau kurz schmunzelnd vor den Holzklötzen.

In ihr steckten so viel Leben, so viel Frohmut, Optimismus. Trüge sie nicht stets dieses altmodische geblümte Kopftuch bis in die Stirn und liefe gekrümmt in ihrem fülligen Körper, unterschätzte man gewiss schnell ihr Alter.

Blitzschnell zog Tatjana den Kopf zurück.

Nach kurzem Verharren stieg sie wieder in das Auto, startete den Motor und fuhr ohne einen weiteren Gedanken an die Großmutter rückwärts vom Hof.

„Hallo, tut mir Leid, dass ich mich jetzt erst melde. Ich bin heute krank“, rief sie mit einer Hand bedienend bei der Arbeit an.

„Oh, das klingt nicht gut. Haben Sie etwa diese neue Lungenerkrankung?“, fragte die Sekretärin auf ihre Art mitfühlend.

„Lungenkrankheit? Nein, ich… Ich denke, dass ich mich bis morgen erholt haben werde“, beendete sie ungehalten das Telefonat.

Das Fahren gab ihr eine Sicherheit. Erstmals lächelte sie wieder. Links von ihr entdeckte sie bereits am Horizont die Schaumkämme. Tief seufzend kurbelte sie trotz der fast noch winterlichen Temperaturen das Fenster ein Stück herunter und ließ den kalten Wind über ihre Wangen streifen.

Danach fuhr sie an das Meer und spazierte einsam vor den wilden Wellen bis zum Nachmittag.

Seitdem sitzt sie in dem klapprigen Auto, das sie nicht einmal bis in die Garage gefahren hat.

Ihr Herz zerspringt fast vor Wut.

Wieder zittern plötzlich die Finger, als kurz eine Erinnerung aufkommt.

Hastig wehrt sie sich und stellt stattdessen erleichtert fest, dass jemand die Holzklötze beiseite geräumt hat.

Noch immer ist sie froh, nicht sprechen zu müssen. Noch immer starrt sie regungslos Löcher in die Luft.

Da bemerkt sie, dass jemand neben der Scheibe, eine Jacke im Spiegel aufblitzt, erschrickt.

Nur schreien kann sie nicht.

*

„Mama?“, klingt Olgas Stimme fast panisch, als sie ihr ohne Grund um den Hals fällt.

Die erstarrt irritiert an allen Muskeln.

„Mama! Was ist passiert?“, kniet das Mädchen dann mit großen, beinahe furchtsamen Augen vor ihr.

„Wo warst du?“, stürmen lauter Fragen auf sie ein.

„Warum sitzt du hier, nicht im Haus?“, greift die junge Frau nach ihrer Schulter. Doch augenblicklich zuckt sie zurück.

„Wissen die anderen schon…?“, deutet Olga hilflos zum Haus.

„Mama, was ist mit deinen Händen geschehen?“, hat die Tochter die Spuren der Seile an den Handgelenken entdeckt.

Sofort schiebt sie das beschmutzte Jackett drüber.

„Du frierst doch?“, zieht Olga ihre blaue Jacke aus und legt sie der Mutter über.

„Danke“, findet Tatjana da kurz die Sprache wieder. Die Zunge klebt dabei am trockenen Gaumen.

„Mama, komm...“, lächelt die Tochter fast schüchtern und reicht ihr die Hand.

„Gleich“, zittert sie jetzt am ganzen Körper und dreht sich zur Seite.

„Mama, ich helfe dir...“, bietet die junge Frau versöhnlich an.

„Du?“, setzt sie langsam einen Fuß nach dem anderen auf die Erde und versucht dabei nicht vor Schmerz aufzuschreien.

„Du möchtest mir helfen?“, muss sie plötzlich lachen und schaut der jetzt wie versteinert wirkenden Tochter in das blasse spitze Gesicht.

„Mama“, möchte diese sie umarmen.

„Lass mich“, stößt sie die aber beinahe grob von sich und geht schwankenden Ganges zum Haus.

Als sie den Schlüssel in die Tür steckt, zittern wieder die Hände. Diesmal bringt das ihre Wut zum Kochen.

„Zum Teufel!“, wirft sie den Bund auf den Boden.

Sprachlos nähert sich die Tochter.

„Warte, ich...“, greift sie das Bund auf. „Ich mache das, Mama.“

Kurz treffen sich ihre Blicke. Besorgt scheint die junge Frau. Unsicher.

„Möchtest du dich hinlegen?“, stützt die sie beim Schuhe ausziehen.

„Hallo?“, ruft Witalijs tiefe Stimme aus der Küche.

„Hallo, ich komme gleich“, ruft Olga eine Spur zu fröhlich.

„Soll ich…?“, dreht die sich dann wieder zu ihr und hilft ihr die Treppe hinauf.

„Wo bist du denn?“, wundert sich unterdessen der Vater.

„Ich komme gleich“, wiederholt Olga und öffnet die Tür zu ihrem Schlafzimmer.

Erschöpft lässt sie sich auf das Bett fallen.

„Ich helfe dir“, hat die junge Frau ihr im Nu aus der viel zu engen Kleidung geholfen.

Seufzend lässt sie sich fallen.

„Möchtest du etwas trinken?“, verschwindet die Tochter mit zärtlichem Lächeln.

*

Dann schließt sich die Tür.

Da umgibt sie nichts als Schweigen. Sie kann nur die schweren Balken zählen, aus dem winzigen Fenster mit der bespritzten Scheibe einen Blick in den dunklen Himmel werfen, die Augen schließen, schlafen.

Schlafen scheint ihr das Beste.

So kann sie vergessen.

So muss sie nicht reden.

So kann sie glauben, dass es am Ende doch nur ein Albtraum ist.

*

In ihrem Traum rennt Tatjana. An der Seite peitschen tosend die Wellen. Rhythmisch kracht es, wenn sie sich am Ufer brechen. Dazu regnet es in Strömen. Das Haar hängt nass und ungekämmt in ihrem Gesicht.

In der Ferne hört sie Stimmen.

>Weiter!<, mahnt sie sich und spürt den Atem in der Brust brennen.

>Da ist sie!<, rufen sie jetzt näher.

Auf einmal verliert sie den Halt. Auf einmal verfängt sie sich beim Laufen mit den Füßen an den Steinen. Auf einmal sinkt sie zu Boden und hört schon ihr erfreutes Gelächter.

Da wird es dunkel. Da rauscht es in den Ohren.

Da packt sie eine kalte Hand.

Da setzt sich jemand schwer auf sie, kniet auf ihrer Hand, die schmerzt, als würde sie zerbrechen.

Da spricht der Jemand, flüstert in ihr Ohr: „Schnüfflerin!“

Sie erkennt die Stimme.

*

„Mama“, schreckt sie auf, als jemand ihr eine Hand auf die Schulter legt.

„Lass mich!“, wehrt sie ab und tupft sich mit geschlossenen Augen den Schweiß von der Stirn. Das ganze Nachthemd ist klitschnass.

„Hier trink!“, stützt Olga ihren Rücken und reicht ihr das Glas.

Sie bemüht sich dabei, die Tochter keines Blickes zu würdigen.

Auf keinen Fall soll die denken, dass sie sich jetzt rein waschen könnte. Tatjana würde nur noch nach den richtigen Worten suchen…

*

„Was ist los?“, taucht Witalijs rundes Gesicht im Türrahmen auf.

„Wo warst du?“, setzt er sich besorgt neben sie an die Bettkante.

„Warum bist du so blass?“, streicht er zärtlich über ihre Haut.

Abrupt lässt sie sich aus den Armen der Tochter gleiten und dreht sich auf die Seite.

„Liebling, was hast du?“, spürt sie den Atem des Ehemannes ganz nahe.

„Mama, was ist geschehen?“, stimmt jetzt Olga ein.

*

Tatjanas Brust verengt sich. Sie fühlt sich wie ein schwerer Panzer an. Mit jedem Wort, das sie sprechen, mit jeder Frage, die sie stellen, wird ihr Herz noch schwerer.

Eine tiefe bleierne Traurigkeit macht sich in ihr breit. Zudem packt sie einmal mehr diese unfassbare Wut. Sie erwächst aus dem Nichts von einer auf die andere Sekunde. Da ist dieses Gefühl, alles und jeden zu hassen. Oder Holzklötze bis in die Nacht hinein zu spalten.

Wahrscheinlich wird sie das retten.

„Ich muss an die Arbeit“, setzt sie sich abrupt kerzengerade auf, greift nach einer alten Hose, einem schon zerschlissenen Wollpullover.

„Arbeiten?“, kniet sich Witalij jetzt ausgerechnet vor sie und mustert sie mit seinem scharfen Blick.

„Ja, Holz räumt sich schließlich nicht allein weg“, steht sie da auf.

„Mama“, greift Olga nach ihrem Arm.

„Danke für das Wasser“, nickt sie müde, ehe sie an den beiden vorbei die Treppe wieder nach unten steigt.

Plötzlich kann sie es kaum abwarten, endlich wieder frische Luft zu atmen. So bleibt sie draußen kurz stehen, seufzt, stützt die Hände in die Flanken. Danach holt sie sich in der Dunkelheit eine der Schubkarren, wirft mit viel Krach die Holzklötze hinein.

„Was ist los?“, fasst sie auf einmal jemand am Arm und dreht sie zu sich.

Erschrocken zuckt sie zusammen.

„Warum sprichst du nicht?“, fragt er sie dann, als sie sich nach kurzer Zeit erneut der Arbeit zuwendet.

„Tatjana...“, stellt er sich vor die Schubkarre.

„Lass mich!“, versucht sie ihn aus dem Weg zu stoßen.

„Warum?“, nimmt er sie da an den Schultern und drückt sie ohne Vorwarnung an sich.

*

In dem Moment möchte sie schreien und weinen zugleich. In dem Moment erreichen Anspannung, Wut und Trauer einen Höhepunkt. Auf einmal bricht ihr Widerstand. Auf einmal bricht die Fassade, die sie mit Eiseskälte aufrecht zu erhalten versucht.

„Du hattest mich angerufen“, säuselt er jetzt zärtlich mit seiner tiefen warmen Stimme in ihr Ohr.

„Oh Liebling, was ist geschehen?“, drückt er sie noch fester an sich.

Ihr ganzer Körper spannt sich, bebt, vibriert. Jetzt möchte sie ihn von sich stoßen. Fühlt sich doch die Haut an, als verbrannte sie. Mit jeder Sekunde, die er sie länger festhält, mit jedem Wort, das sie noch härter trifft, staut sich alles in ihr.

Da beginnt sie zu weinen.

„Ich bin bei dir“, hat er es sofort bemerkt.

„Ich bin bei dir“, wiederholt er immer wieder wie ein beruhigendes Mantra, bis das Beben in ihrem Körper langsam abebbt.

Die Nacht ist finster. Die Kälte erbärmlich. Allmählich beginnt sie zu zittern.

Aber hier draußen im Hof zwischen wild versprengten Holzklötzen, dem klapprigen Wagen und der Schubkarre, lässt sie jemand nicht gehen. Hier hält sie jemand fest.

Hier spürt sie, dass dieser Mensch vielleicht stärker ist als sie.

*

Nach einer gefühlten Ewigkeit gelingt es Witalij, dass sie ihm in das warme Haus folgt.

Großmutter und Tochter mustern sie mit besorgten Blicken, schweigen aber auf seinen warnenden Blick.

„Wir wollen gerne allein sein“, hilft er ihr auf einen der Stühle und schickt die beiden anderen aus der Küche.

„Brot?“, bietet er ihr an.

Stumm nickt sie.

„Deine Mutter hat frisch gebacken“, erzählt er ihr nun fast fröhlich.

In dem Moment ist sie ihm sehr dankbar, dass er sie nicht weiter mit Fragen löchert.

„Etwas Wurst?“, öffnet er den Kühlschrank.

Erneut nickt sie langsam.

„In der Firma war heute nicht viel los“, berichtet er dann beim Schmieren, ohne sie anzusehen. Trotzdem hängt sie diesmal noch mehr an seinen Lippen. Denn seine Worte über Alltag, über Leben erscheinen ihr wie ein letztes Rettungsseil.

„Wir hatten eine Versammlung. Dabei bin ich fast vor Langeweile eingeschlafen. Wie kann man nur so langweilige Vorträge halten?“, gähnt er demonstrativ und schiebt ihr dabei das Brot zu.

Gierig langt sie zu.

„Möchtest du lieber Bortsch?“, steht er da auf und tritt an den Herd, wo der Topf noch steht.

„Ja“, klingt ihre Stimme rau und ungewöhnlich kraftlos.

„Morgen soll ich an die Universität fahren. Danach erwartet man uns im großen Stahlwerk“, setzt er nach kurzem Schweigen seinen Bericht fort.

Im Nu schlingt sie die Rindfleischsuppe herunter.

„Du hast wohl lange nicht mehr gegessen“, beobachtet er jede ihrer Bewegungen.

„Hm“, brummt sie und senkt plötzlich hilflos den Kopf.

Schweigend räumen sie beide den Tisch. Hastig flieht sie danach an der wartenden Großmutter und Tochter vorbei in das Schlafzimmer.

Die Tür fliegt krachend in das Schloss.

Dann kann sie die Tränen nicht mehr halten. Dann verbirgt sie das Gesicht in den kalten Händen, rauft sich das Haar, schluchzt.

Der Mond leuchtet durch einen Wolkenschleier in die Dachstube.

Zum Glück ist sie allein!

*

Witalij kennt sie so gut, dass er ihr Zeit gewährt. Wahrscheinlich lauscht er vorher jedes Mal an der Tür, ehe er den richtigen Augenblick für sich entdeckt hat.

Erst als sie ruhig, mit starrem Blick in die Dunkelheit, noch immer angezogen auf dem Bett sitzt, öffnet er leise die Tür.

„Darf ich…?“, fragt er leise, aber bestimmt.

„Gestern war alles gut“, flüstert sie fassungslos.

„Wie bitte?“, stellt er die kleine Nachtlampe an.

„Gestern war alles gut“, wiederholt sie und zieht ihr Nachthemd heran.

„Hm“, kniet er sich mit forschendem Blick in seinem schon faltigen Gesicht vor sie.

Erneut beginnt sie zu schluchzen.

„Liebling“, umarmt er sie hilflos.

„Alles gut“, wiederholt sie leise unter Tränen.

„Wir schaffen das“, drückt er sie an sich.

„Ja“, wischt sie eine der langen Haarsträhnen hinter das Ohr und nickt tapfer.

„Wer war das?“, umfasst er jetzt mit seinen warmen rauen Händen ihre lädierten Handgelenke.

Vorsichtig tastet sie nach seinem Gesicht. Vorsichtig tasten ihre Finger über das spärlich gewordene graue Haar, die kurzen Bartstoppeln, die faltige Haut, die runden Wangen.

Traurig schaut sie ihn dabei an.

„Möchtest du es mir nicht sagen?“, hebt er da den Kopf, sodass sich ihre Blicke treffen.

„Doch“, nickt sie und fühlt sich endlich wieder stark.

„Okay...“, nickt er langsam, Böses erahnend.

„Aber Olga soll es auch wissen“, richtet sie langsam den Rücken auf.

„Olga...“, steht er nachdenklich auf und verharrt im Türrahmen.

*

In dem Augenblick kreischt jemand draußen und reißt schwungvoll die Tür auf.

„Mama!“, fliegt ihr der kleine Maksim um den Hals.

„Mama, wo warst du?“, legt er sich wie ein kleines Baby in ihre Arme.

„Weißt du, was wir heute gemacht haben?“, schaut der kleine Junge sie dann mit seinen wachen und niedlichen braunen Augen an.

„Nein“, grinst sie.

„Du musst raten“, bettelt er mit seinem schelmischen Grinsen.

„Maksim...“, lächelt sie leise und schaut etwas unbeholfen ihren Ehemann an, der wie angewurzelt in der Tür steht.

„Du hast gespielt“, beginnt sie.

„Ja, ja!“, freut er sich und klatscht in die Hände. „Aber was?“

„Pirat? Räuber?“, rät sie ahnungslos.

„Nein. Nein! So etwas doch nicht“, wirft er sich der Länge nach auf ihr Bett.

„Dann musst du mir helfen“, legt sie sich neben ihren jüngsten Sohn.

„Liest du mir eine Geschichte vor?“, bettelt der mit großen Augen.

„Maksim, heute liest jemand anderes...“, überkommt sie wieder die Müdigkeit.

„Nein!“, ruft der Junge traurig und setzt sich schmollend an die Bettkante. „Ich möchte, dass du das machst!“ Dazu verschränkt er die Arme vor der kleinen Brust.

„Maksim, ich bin heute…“, versucht sie zu erklären.

„Du hast mich schon nicht abgeholt“, scheint der Sohn aufgebracht.

„Ich hatte...“, sucht sie nach Worten.

„Es war dir nicht wichtig. Du hast mich vergessen“, treffen sie seine nächsten Worte.

Augenblicklich versteinert sich ihre Miene.

„Mama...“, wirkt der Junge plötzlich unsicher und schaut kurz zu seinem Vater.

„Mama, bitte!“, zieht er Grimassen für sie.

„Sag das nie mehr! Nie mehr, Maksim!“, ballt sie da die Fäuste.

Ihr Sohn erstarrt. Noch unsicherer dreht er sich zum Vater.

„Ich habe dich lieb, mein Junge. Und ich möchte immer für dich da sein, wenn ich es kann“, umarmt sie ihn dann.

Jetzt hat der Kleine aber seine Stimme verloren. Irgendwie spürt diese Kinderseele, dass die Mutter diesmal ungewohnt streng jedes falsche Wort straft. Sie spürt möglicherweise auch, dass irgendetwas anders ist.

„Heute wird dir Anastasia vorlesen“, streicht Tatjana zärtlich über den kleinen Kopf.

„Hm“, schmollt ihr Sohn kurz.

„Maksim, geh schon einmal“, findet ihr Ehemann da die Sprache wieder.

„Aber versprichst du mir, dass du mir morgen vorlesen wirst?“, dreht er sich noch immer traurig im Türrahmen um.

„Versprochen, mein Engel“, lächelt sie.

Zögerlich verlässt er das Zimmer.

Dann schließt Witalij leise die Tür und setzt sich auf die Bettkante.

„Komm“, weist sie die Tochter an.

Erwartungsvoll schauen die beiden sie an.

Doch ein weiteres Mal verlässt Tatjana ganz plötzlich die Sicherheit, das Richtige zu tun. Genauso verlässt sie die Sicherheit, überhaupt sprechen zu können. Die Wahrheit. Über das, was ihr Herz zerreißt.