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Er ist 16 Jahre alt, als er seine Heimat verlässt, hinaus in ein Land geht, in dem er nur noch ein Fremder ist. Doch seine Eltern haben so entschieden - für seine Zukunft, ein besseres Leben. Dabei ist der Neuanfang in Deutschland ohne die Freunde aus der Heimat und mit der fremden Sprache steinig. Anfängliche Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung und Enttäuschungen muss er hinnehmen, bevor er lernt, sich zu beweisen. Zudem erschwert sein eigener Vater ihm das Leben, da die Lebensvorstellungen immer häufiger aufeinanderprallen. Immer wieder ziehen ihn die Wurzeln zurück in die Heimat, zur Familie und zu Freunden. Die Erinnerungen sind allgegenwärtig. Doch auch dort ist er inzwischen ein Fremder. Hin- und hergerissen zwischen zwei Welten verläuft sein Leben in einer Achterbahnfahrt zwischen Hass und Liebe, Freundschaft und Verlust. Misserfolge häufen sich, zwingen ihn zum Umdenken. Die Entdeckung eigener Fähigkeiten, das gemeinsame Musizieren mit neuen Freunden, lässt ihn in Deutschland ankommen, neue Ziele und einen Sinn im Leben finden. Noch etwas scheint ihm zu gelingen: Er erhält endlich die gewünschte Anerkennung. Da holen ihn die Wurzeln, die Geschichte seiner früheren Heimat, der Ukraine, ein. Ein Krieg bricht aus. Junge Männer wie er sind nun verpflichtet, sich beim Militär ausbilden zu lassen. Seine Freunde in der Heimat haben ihren Wehrdienst bereits angetreten. Hat er denn überhaupt eine Wahl?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Prolog
1 Ankommen
2 Die Rückkehr
3 Fliegen und fallen
4 Der Brief
5 Schluchten
6 Die andere Wahrheit
7 Später
8 Olesya
9 Zurück
Ukrajina
Nachwort
Julia Augustin
Schluchten zwischen den Welten
via tolino media
3. Auflage 2023 mit aktualisiertem Nachwort
Julia Augustin, Berlin
Coverfoto: Julia Augustin
„Die Geschichte ist doch schon geschrieben, Olesya.“
- „Aber wir schreiben das Ende.“
Die Wolken kommen näher. Ein Schleier über der Stadt. Seine Trommelfelle platzen. Zumindest wünscht er sich das. Das hätte etwas Befreiendes.
Allmählich glitzern Häuserdächer. Und lauter Autos drängeln sich durch die Straßen.
Ein Ruckeln presst ihn an die Lehne. Seine Hände sind feucht.
Woher stammt bloß diese Angst?
Grüne Wipfel wiegen sich unter ihm. Wie kleine Oasen im Betonmeer.
Ein Kind weint. Ganz am Ende des schmalen Ganges. Bestimmt das kleine Mädchen mit den langen, braunen Zöpfen.
Er atmet tief ein und aus, sodass die Frau neben ihm besorgt hinüber schaut.
Die Sonne brennt in seinen Augen. Aber es schadet nicht, einmal geblendet zu sein.
„Viel Glück!“, haben sie ihm gewünscht.
„Schreibe uns!“, haben sie freundschaftlich gemahnt.
„Wir werden an dich denken“, haben sie versprochen.
„Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?“ Er versteht sie sogar. Vielleicht lohnen sich all die Nächte, in denen Bücher gewälzt und eingehämmert worden sind.
Der Flughafen gleicht einer riesigen Baustelle.
Sollten sie hier nicht fertig sein?
Er ist nicht gekommen, um aufzubauen. Er ist gekommen, um einmal festzustellen, dass es beendet ist. Dass die Gebäude mit festen Mauern stehen.
Mit lautem Rasseln werden die Räder ausgefahren. Sein Herz schlägt schneller. Ihm wird es plötzlich warm. Wird alles gut gehen?
Ob sie schon auf ihn warten? Vielleicht werden sie gemeinsam Warenyky mit Fleisch oder anderen Köstlichkeiten gefüllt essen. Wie lange haben sie sich nicht gesehen!
Der Boden ist so nahe wie nie zuvor. Er schließt die Augen. Seine Finger krallen sich in den Sitz. Er zählt bis Zehn. Auf Deutsch. Gleich zur Übung.
Leute klatschen, geben tosenden Applaus. Ganz langsam öffnet er die Lider. Es gibt keine Bewegung mehr. Sie sind angekommen. - Vorerst ohne Zurück.
Die alte Frau reicht ihm mitfühlend ein Taschentuch. Ein dankbares Lächeln durchzuckt seine Lippen.
Schwüle Luft drückt draußen schwer auf die Ankommenden.
Wie viel werden wieder verschwinden? Und wie viel bleiben wie er?
„Sie haben etwas verloren!“
Die ausgedruckte Bahnroute.
Er nickt dankbar dem Vater zweier Söhne zu.
Im Bus ist es unangenehm stickig. Schon bereut er es, das Taschentuch weggeworfen zu haben.
Sein schwer bepackter Rucksack klebt an seinem dunklen T-Shirt.
Was nimmst du mit, wenn du beschließt für immer zu gehen?
Seine Koffer rollen mit als letzte über das Band. Zu viel Gepäck für diese Preise. Zu wenig für eine Reise ohne Rückfahrschein.
Später lehnt er den Kopf an die Scheibe in der Bahn. Zählt Autos, ohne zu sehen. Der Sänger schreit seine Botschaft von Freiheit durch die Kopfhörer. Aber da ist etwas zwischen ihnen. Er ist zu müde, zu erschöpft, um die Euphorie zu teilen. Dabei hätte sie ihn sofort durchströmen sollen. Von Kopf bis Fuß.
Deutsche Häuser sind gar nicht so anders als daheim. Die Erinnerung lässt ihn seufzen. Es ist eben doch nicht so einfach, für immer dem den Rücken zu kehren.
Sie öffnet ihm die Tür wortlos. Minutenlang starren sie sich an. Verwundert. Erstaunt. Oder reglos. Was fühlst du nach einer halben Ewigkeit?
Dann bricht die Erscheinung des Vaters den zärtlichen Moment.
„Du kommst spät“, brummt er.
Seine Kehle drückt plötzlich schwer.
In der Küche duftet es tatsächlich nach Warenyky.
„Ist alles problemlos verlaufen?“, fragt sie beinahe schüchtern.
Er stellt den Koffer ab. Einen neben den anderen.
„Hier vorne stehen die bloß im Weg“, bemerkt sein Vater.
Er schließt leise die Tür. Fast eine Papptür. Zu Hause ist sie fest aus Holz.
„Du hättest wenigstens anrufen können“, sagt der Mann vorwurfsvoll.
Er bindet die Schuhe auf. Ein Paar mehr in diesem Meer. Teure Markenschuhe. Das Geld mehrerer Geburtstage und zahlreicher Auseinandersetzungen.
„Ich habe dir noch etwas Essen abgenommen“, versucht sie, die Spannung zu lösen.
Gern würde er ihr danken. Doch in ihm ist es leer.
„Vladislav!“, kreischt sein kleiner Bruder hoch erfreut. In seinen Händen hält er eine Zeichnung.
„Rate mal, was das sein soll!“
„Wir sprechen hier Deutsch!“, mahnt der Vater wie ein finsteres Gewitter.
Für einen Augenblick wünscht er sich, er wäre wieder daheim.
Der zarte Kinderkopf schmiegt sich an seinen Bauch. Es ist zu spät, um umzukehren.
„Von Oma.“ Der Vater blickt ausdruckslos auf das Päckchen.
„Magst du es nicht öffnen?“, fordert er.
„Das hat Zeit.“
Leontij zerrt ihn in die Küche. Den Wänden fehlt noch jede Farbe. Ein paar Fotos hängen provisorisch verloren im Raum.
Er schaufelt die Teigtaschen schweigend in sich. Dabei beobachtet der Vater ihn vom Balkon.
Daheim haben wir einen Garten.
„Du siehst so traurig aus“, befindet sie. Ihr blondes, langes Haar leuchtet golden in der Sonne. Die wenigen grauen Strähnen glänzen matt.
„Leontij und du, ihr müsst euch ein Zimmer teilen. Wir haben vorerst nichts Besseres gefunden. Und sprecht Deutsch! Bald werdet ihr nur noch von Deutschen umgeben sein.“ Er lächelt ein wenig zynisch dazu. Hat er etwa mehr erwartet?
„Gefällt es euch hier?“, wehrt er sich gegen den Kloß in seinem Hals.
Sie sehen sich an. Fast schockiert.
„Hast du fleißig gelernt? In zwei Wochen wird die Schule beginnen“, erinnert der Vater, als hätte er ihn nicht gehört.
„Ja.“ Er starrt auf den Teller. Das Essen schmeckt auf einmal nicht mehr.
Nachher legt er ordentlich seine Kleidung in den schmalen Schrank.
Leontijs Playmobilfiguren liegen überall auf dem dunklen Teppich verstreut.
Er blättert in seinem Heftchen über die Stadt. Studiert den Plan mit der Route an den zahlreichen Sehenswürdigkeiten vorbei. Wenn er erst einmal sich an die neue Umgebung gewohnt hätte, erst einmal als Tourist, dann als Wohnender, dann… - Bestimmt würde das Herz ihm leichter.
„Vladislav, wir benötigen in dieser Woche deine Hilfe. Dein Vater arbeitet schon zu viel.“
Warum zerplatzen Träume schneller, als wir sie leben?
Er kann ihr nicht böse sein. Dennoch fühlt er die Wut. Es ist genau jene, die ihn daheim selbst in den Nächten, in denen sie ihn schon allein gelassen hatten, stundenlang wach hielt. Er weiß, dass es nicht richtig ist, sich so bedingungslos in das Schicksal zu fügen. Aber ihm fehlt die Alternative. Eine, die akzeptabel für alle wäre.
„Und Leontij?“, bringt er mit aufeinander gepressten Lippen hervor.
Es wird gar nicht leichter, Ärger, Frust, Wut immer häufiger in sich zu fressen. Es wird gar nicht leichter, die Gegenargumente auf der Zunge zu zerdrücken. Es wird gar nicht leichter, schweigend, duldend sich immer wieder zu fügen. Es wird auch gar nicht leichter, das Spiel des eigenen Lebens bloß den anderen zu überlassen.
Für einen Moment blicken sie beide stumm zu dem kleinen Jungen. Der spielt begeistert, ohne sich von ihnen stören zu lassen. Er wünschte, dass er sich genauso in eine wundervolle Fantasiewelt flüchten könnte.
Er setzt sich schweigend neben den Bruder.
„Hast du mich vermisst?“
Plötzlich ist ihm die Antwort sehr wichtig.
Später fährt er mit dem Vater das erste Mal aufmerksam durch die Stadt. Tausende Reize strömen auf ihn ein. Werbeplakate mit sehr hübschen Frauen, lauter Farben, lauter Düfte, lauter Klänge. Ein ganzes Orchester tost in seinem Kopf. Eine ganze Parfümerie wirbt vor seinen Augen. Eine ganze Farbpalette zeigt sich mit abertausenden Mischtönen.
Sie fahren durch Wald mit einer Vielzahl von urigen Villen am See.
Dieses Gebiet erinnert schon eher an das Märchen des unbestreitbaren Luxus im fernen neuen Land.
„Wo sind wir?“, fragt er überwältigt von der immer wieder wechselnden Vielfalt.
„Willkommen in Berlin.“ Der Vater lächelt zum ersten Mal.
Es gibt weder eine gefürchtete Vorstellungsrunde noch erste Verständnisprobleme. Irgendwie scheinen sich die anderen Schüler auch nicht zu kennen. Alles geschieht anonym. Nur im Vorbeigehen. Wie lose, unverbindliche Treffen, die ebenso schnell, wie sie zustande gekommen sind, sich wieder im Nichts auflösen.
Während der eine noch den Erinnerungen nachhängt, hat der andere sich schon vollends von ihnen losgesagt, um nur noch die Zukunft zu sehen.
Vorsichtshalber setzt er sich in die letzte Reihe. Sonst könnte er in Verlegenheit geraten, tatsächlich sprechen zu müssen.
Das Mädchen neben ihm hat langes, dunkles, sehr glattes Haar.
„Isabel“, stellt es sich ein wenig schüchtern vor, während sein Herz auf einmal lauter schlägt.
Er ist jung. Er lechzt nach Leben. Er ist verführbar.
Am Anfang stammelt er nicht mehr als seinen Namen. Es sind die ersten Worte. Leichter redet es sich doch im stillen Kämmerchen mit seinem Buch.
Während der Lehrer spricht, erhascht er einzelne Wortfetzen, die entstellt, entfremdet ihn durchlaufen.
Es heißt „schaffen“, „leisten“, „lernen“ und auf der anderen Seite diese Unworte „Prüfung“, „scheitern“, „wiederholen“.
Die Schüler nicken hin und wieder, manche schreiben eifrig, schauen ernst, fast unbeeindruckt.
Isabels zarte Stirn liegt in Falten. Was sie wohl denkt? Was sie wohl fühlt?
Weiß er das über sich genau?
Er kramt ein Schreibheft heraus. Aus einem der Billigdiscounter. Die anderen nutzen Blöcke.
Sein Stift hat sich entschieden, wie die Heimat Abschied zu nehmen. Vorhang zu und ohne Zurück.
Ihm wird es plötzlich heiß. Alle schreiben vorbildlich und ihm fehlt es an einem Stift. Scheitern. Bereits zum ersten Mal.
„Soll ich dir einen Kuli leihen?“
Er hat nicht die leiseste Ahnung, was ein Kuli ist, aber er nickt dankbar. Sie hat ihn gerettet. Zum ersten Mal.
Für einen Augenblick treffen sich ihre Augen, verlieren sich auf der Reise, Abgründe zu ergründen. Ein stilles Lächeln durchzuckt ihre weichen, rot geschminkten Lippen, dann reiht sie sich wieder in die Reihen der anderen Fleißigen ein.
So schreibt er fremde Buchstaben für fremde Worte in einem noch fremden Land mit einem Kuli, der nicht einmal ihm gehört.
„Tschüss“, haucht sie beinahe atemlos, als sie ihre sicher viel zu schwere Tasche hebt und geht.
Tschüss, denkt er überwältigt von den ersten Eindrücken.
Vielleicht ist Deutschland gar nicht so schlecht.
Die Busse sind gerammelt voll. Eine Mischung zwischen Klein und Groß. Junge, kindliche Schüler, noch fern und verloren in ihrer Fantasiewelt. Dann die Halberwachsenen wie er auf der Suche nach ihrem persönlichen Lebensweg, verloren in den Verlockungen ihrer Zeit.
Die Luft ist drückend. Für einen Moment hält er zwischen all den verschwitzten Körpern die Luft an.
Tschüss, wiederholt er in Gedanken. Aber vielleicht ist somit der erste Schritt für etwas Neues getan.
***
Algebra von Vorn bis Hinten. Woraus leitet sich welche Formel her? Wie werden Integrale richtig gebildet? Kurven diskutiert und untersucht?
Sein Kopf ist eine Mühle. Er rattert Bekanntes durch, um es mit dem Neuen zu verknüpfen.
Eine Spur zu hektisch bringt er die ellenlangen Formeln von der Tafel zu Papier.
Wird er sie je wieder entschlüsseln können?
Sein Kopf raucht, er streikt irgendwann.
Nie hat er es eiliger gehabt, sich eine Pause zu gönnen. Er sieht sein Gesicht. Feuerrot im Spiegel.
Wie kann Isabels zarte Haut so blass bleiben? Bewegt überhaupt etwas dieses zarte Gemüt?
Was denkt er überhaupt über sie nach? Gibt es nicht tausende dieser Verlockungen hinter jeder Ecke?
Das Wasser klärt den Nebel seiner Gedanken.
Die erste Pause entpuppt sich doch bald als Spießrutenlauf. Er hört die Worte, hört sie sprechen, aber mehr als wieder diese entstellten Fetzen erreichen ihn nicht.
„Woher kommst du?“, fragt jemand zum ersten Mal, nachdem eine Welle brüllenden Lachens durch den Kreis gegangen ist, weil er das Wort Streber nicht verstanden hat. Damit, so erfährt er dann allmählich, werden all die Schüler bezeichnet, die zwei Jahre früher schon am Gymnasium gewesen sind.
„Lauter Nirds“, winkt einer ab.
„Eingebildet seit der Babyschale“, erklärt ein anderer gewichtig.
„Halt dich fern von denen!“, mahnt ein dritter, „Die sind berechnend. Sie versuchen dich für ihre Interessen zu lenken, bloß weil sie eine Eins vor dem Komma haben.“
„Dann lassen sie dich fallen wie eine plötzlich brennende, ätzende Säure.“ Der Blondhaarige reißt die Augen weit auf. „So! Und du verstehst die Welt nicht mehr.“
„Denen ist nichts heilig“, warnt wieder der kleine dicke Junge. „Freundschaft schreiben sie groß, wenn sie damit Eindruck schinden. In Wahrheit ist das für sie ein absolutes Fremdwort.“
Ernsthaft, sorgfältig musternd treten sie noch näher an ihn heran.
Unwillkürlich weicht er einen Schritt zurück.
Nachdenklich verzichtet er auf weitere Fragen. Auf einmal türmen sich zwei Fronten auf. Doch auf welcher Seite lebt es sich besser?
***
Vorstellungsrunde auf Englisch. Seine Fremdsprachenkenntnisse beschränken sich leider auf Deutsch und Russisch. Deutsch war größtenteils ein Selbststudium.
Nach einiger Zeit begreift er jedoch nonverbal, dass die Frage „What about you?“ wohl an ihn gerichtet sein muss.
Wie nun reagieren? Er ist kein Tourist, der mit Händen und Füßen Auskünfte einzuholen sucht. Jetzt handelt es sich um tiefere Inhalte.
„What`s your name?“ Mit jeder Frage, die unverständlicher als die vorhergehende ist, blockieren seine Gedanken stärker. Irgendwie hat er vielleicht diese Worte sogar schon einmal gehört. Ihm ist fast so, als wenn er bloß ganz weit hinten in den Erinnerungen kramen müsste. Aber mit dem steinernen Gesicht der Lehrerin vor sich, die immer näher an ihn herantritt, bis er bald ihren Atem im Gesicht spüren wird, funktioniert das nicht. Da ist eine Sperre in dem Nebel. Da ist nichts als ein leeres Vakuum.
Und es geschieht bedauerlicherweise die erste gefürchtete Peinlichkeit: Alle drehen sich um, schauen ihn an. Belustigt, weil dort ein Fremder sitzt, der in seiner Fremdartigkeit tatsächlich sofort auffällt. Neugierig, weil es sicherlich spannender als der langweilige Sprachunterricht ist. Schadenfroh, weil endlich jemand anderes für sein Nichtkönnen, sein Scheitern büßen muss. Erleichtert, weil nicht sie es sind, denen diese privilegierte Aufmerksamkeit gehört.
Und dann gibt es noch ein paar wenige, die voller Mitleid, voller Ungläubigkeit wegen seiner Unfähigkeit schauen.
Er senkt die Lider. Wahrscheinlich ist sein Kopf wieder feuerrot. Wie ein Krebs, der erstarrt dem Tod entgegensieht, der schonungslos ihn treibt, die Wahrheit zu sagen: „Ich kann kein Englisch.“
Er hustet verlegen, rutscht auf seinem Stuhl unruhig umher, wünscht sich, er wäre mindestens zehn Zentimeter kleiner. Als änderte das etwas.
Sie sehen sich an. Einer nach dem anderen. Damit hat wohl niemand gerechnet. Darüber müssen sie erst unter Seitenblicken zu ihm tuscheln.
Er hustet noch einmal.
„Entschuldigung.“
Manche tauschen verächtliche Blicke. Was hat der Fremde dann hier verloren, wenn er nichts kann? Was beschmutzt er unseren Ruf?
Am liebsten würde er aufstehen, sein Heft, seine Tasche nehmen, die Tür öffnen und zurück in die weite Welt gehen. Oder zurück in die Heimat, wo doch alles irgendwie besser gewesen ist.
„Gut“, murmelt die Lehrerin und ihr Gesicht färbt sich auch krebsrot. „Oder nicht gut“, fügt sie dann leise hinzu. Sie schiebt sich eine ihrer blondgefärbten, langen Strähnen hinter die Ohren. Ihre weit hinter den riesigen Brillengläsern zurückliegenden Augen huschen nervös durch den Raum.
„Dann musst du die Sprache jedenfalls erlernen.“ Damit dreht sie sich um und kehrt ein wenig zu hastig zu ihrem Lehrertisch zurück, auf den sie sich wieder wie ein Brocken fallen lässt. Dabei ist sie gar nicht sonderlich kräftig.
Achso, denkt er irritiert, Um mehr handelt es sich nicht?
Beinahe könnte er erleichtert sein. Binnen Sekunden ist er für die Mitschüler aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der spannende Auftritt ist ihm erspart worden. Jetzt sprechen sie weiter in dieser seltsamen Sprache.
Er hätte gerne gewusst, was diese Fragen denn nun bedeuten. Aber zu fragen traut er sich nicht.
„Würdest du noch bitte einen Moment bleiben?“, stellt sich die Lehrerin ihm in den Weg, als er als einer der ersten den Raum fast fluchtartig verlassen möchte. Die Fluten fremdländischer Worte sind immer ermüdender mit der Zeit geworden. Zumindest hat sie ihn in Ruhe gelassen.
Er nickt schüchtern. Sie stemmt die kleinen Hände in die runde Hüfte. Er überragt sie um einen ganzen Kopf. Dabei schimpft der Vater ihn mit seinen 1,74 Meter jedes Mal als viel zu klein und schmächtig. Heimlich betrachtet er sich dann hinterher im Spiegel, lässt den Blick über die Schultern wandern, die wenigstens seit ein paar Monaten doch breiter zu wachsen scheinen. Lässt ihn hinabgleiten über die Arme, die er täglich für mehr Volumen trainiert. Schließlich zu den langen etwas knochigen Beinen.
„Kannst du wirklich gar kein Englisch?“, verlangt sie zu wissen. Ihre Stimme klingt ziemlich schrill in seinen Ohren.
Er nickt, flüstert fast: „Ja.“
Sie schnappt aufgebracht nach Luft, reckt die Hände wie um Hilfe suchend zur hässlichen weißen Decke. Dreißig Risse hat er in seiner „Freizeit“ gezählt.
„Aber ich kann Russisch“, fügt er leise hinzu. Als er lächeln möchte, zieht er bei ihrem fassungslosen Blick die Mundwinkel wieder schnell nach unten. Wahrscheinlich steht ihm das Unglück einfach besser im Gesicht.
„Ist das ein Witz?“, fährt sie ihn wütend an. Wieder streicht sie eine Haarsträhne nach hinten, schiebt sich danach die rot gerahmte Brille zurück.
„Nein, nein“, stammelt er und bereut die unachtsamen Worte. Panisch schaut er zur Tür. In fünf Minuten muss er irgendwo am anderen Ende der großen Schule für den nächsten Unterricht sein.
„Aha“, seufzt sie und lehnt sich an den Tisch, als benötige sie plötzlich Halt.
„Und wie stellst du dir den Unterricht hier bitte vor?“
Die grau-grünen Augen bohren sich in seinen Kopf. Er schluckt.
Warum sollte er sich Vorstellungen machen? Hatten nicht die Eltern den Schulbesuch organisiert? Waren nicht sie es ohnehin gewesen, die unbedingt kurz vor seinem Schulabschluss in der Heimat in die Fremde ziehen mussten?
„Ich weiß es nicht“, presst er die Lippen aufeinander. Instinktiv duckt er sich wie ein geprügelter Knabe vor dem nächsten Schlag.
Sie lacht! Schamlos, fassungslos, verächtlich. Sie lacht ihm einfach ins Gesicht.
„Und wer weiß das dann?“
Weil er nicht reagiert, fügt sie noch hinzu: „Na schön, ich erwarte, dass du zum nächsten Mal wie alle anderen die Hausaufgaben erledigst, die Vokabeln gelernt hast, dich am Gespräch beteiligst. Denn Rücksicht werde ich gewiss nicht nehmen. Heutzutage gibt es schließlich so viel Nachhilfeangebote. Das ist nicht mein Problem.“
Er fällt in sich zusammen. Welche Hausaufgaben? Welche Vokabeln? Wo soll er anfangen in dem ganzen Durcheinander? Welche Nachhilfeangebote? Wer soll die bezahlen? Was ist Nachhilfe überhaupt?
„Du kannst dann gehen“, bemerkt sie erst jetzt, dass er noch immer um einen Kopf geschrumpft neben ihr steht. Sie stopft ihre Bücher in die große, lackfarbene rote Tasche.
„Wo kann ich denn Nachhilfe nehmen?“, nimmt er all seinen Mut zusammen. Seine Stimmbänder quietschen jedoch unangenehm.
Fragend legt sie den Kopf schief. Dass er es tatsächlich wagt, ihr weiter naive Fragen zu stellen!
„Ihr jungen Leute seid doch immer so aktiv im Internet! Wie wäre es mit ein bisschen Eigeninitiative? Bin ich vielleicht die Mutti der Nation? So weit soll es noch kommen!“
Er flüchtet, lässt die Tür fast ins Schloss knallen. Das Dankeschön ist ihm im Halse stecken geblieben.
„Wie lange lernt ihr schon Englisch?“, fragt er den dicken Jungen aus der Pause.
Der beißt noch einmal von seinem dick belegten Brötchen ab.
„Seit der dritten.“ Das runde Gesicht grinst zufrieden. „Wieso?“
„Seit der dritten Klasse“, murmelt er benommen und geht allein zum nächsten Fach.
***
Beim Basketball erhält er zum ersten Mal seit gefühlter Ewigkeit die Bestätigung, vielleicht doch nicht ganz unnütz für dieses fremde Land zu sein. Er ist derjenige, der die beste Vorarbeit leistet, der viele Körbe wirft, der keinen einzigen Zweikampf scheut.
„Mann, voll gut! Wo hast du das gelernt?“, bewundern ihn die anderen aus dem Team.
Die zweite Runde beginnt. Mit eiserner Disziplin dribbelt er um seine Gegner herum, schüttelt sie mit ein oder zwei Haken ab. Dann der Pass zu einem seiner Mitspieler. Treffer! Innerlich seufzt er leise jedes Mal. Jeder Ball sitzt, jeder Schritt passt, dieses Spiel ist fast perfekt.
Schließlich ertönt der Abpfiff. 90 Minuten können eine ziemlich lange Zeit werden. Manche gratulieren ihm. Er ist erschöpft. Der Schweiß brennt in den Augen. Seine Zunge durstet. Aber er lächelt zufrieden mit sich und der Welt.
„Woher kennst du all die Tricks?“, umgeben ihn noch vollkommen begeistert die anderen.
„Weiß nicht.“ Er zuckt mit den Schultern. Auf einmal wird er ganz müde, rückt das Spiel wieder weit in den Hintergrund. „Das spielen wir manchmal.“
In den Gesichtern liest er weder den Spott bezüglich seines starken Akzentes noch das endlos scheinende, doch theoretisch bleibende Mitleid. Sondern er liest Bewunderung. Das ist ein sehr eigenwilliges Gefühl. Das fühlt sich gut an, ein bisschen fremd, aber er könnte mehr davon vertragen. Wer weiß, wofür das noch gut sein könnte…
***
„Wie ist die Schule gewesen?“ Zu Hause duftet es überall köstlich nach Borschtsch, jenem Nationalgericht mit Rindfleisch, Roter Beete und Schmand.
„Ganz gut.“ Er strahlt noch immer über beide Ohren.
„Ja?“, fragt sie ein wenig hoch mit ihrer zarten Stimme. „Wie sind die Mitschüler?“ Mit mütterlicher Neugier setzt sie sich ihm gegenüber. Dabei muss er ihr doch nicht alles erzählen!
„Okay“, brummt er, während er die Ereignisse vor den Augen Revue passieren lässt.
„Okay“, wiederholt er eine Spur breiter grinsend.
„Wie bist du im Unterricht zurecht gekommen?“ Sein Vater stellt wie immer die unangenehmen Fragen. Das sieht ihm wieder einmal ähnlich. Noch an einem Bissen Rindfleisch kauend, mustert er das faltige Gesicht. War der Vater früher schön gewesen? Ein ansehnlicher Mann? Konnte er gar lächeln? Freude zeigen, herzlich lachen, sich dabei sogar vergessen? Er ist nur immer kalt, so kühl, beherrscht. Gibt es ein Band zwischen ihnen? Bisher spürt er nur eine endlose Distanz. Sie sind sich kein bisschen ähnlich.
„Ganz gut“, lügt er ihm ausdruckslos ins Gesicht. Er mag nicht denken. Die Wahrheit ist nicht immer ein guter Freund.
***
Er fliegt mit dem Flugzeug. Weit über den Wolken. Er sieht schneebedeckte Berggipfel, glitzernd im Schein der Sonne. Ein einsames Kreuz steht auf der Spitze. Das Licht zerlegt sich an den kleinen Kristallen in tausend verschiedene Farben. Plötzlich befreien sich seine Arme aus dem Sitz, an dem er aus einem unerfindlichen Grund gefesselt ist. Er öffnet das Bullaugenfenster, spürt die eisige Kälte auf den Wangen und schwebt durch die bloße Kraft seiner Arme zum Gipfel hin. Er muss sie kaum auf und ab bewegen. Er schwebt einfach. Ihn umgibt eine Stille. Atemlos. Er lächelt glücklich. Glücklich, diesen Gipfel bald zu erklimmen. Dann wird er es allen beweisen können. Wer er wirklich ist, wer er wirklich sein kann, wer er wirklich sein möchte.
Da bemerkt er, während er weiter und immer weiter die Arme auf und ab bewegt, dass er kein Stück vorangekommen ist.
***
Zum ersten Mal hat er Unterricht mit den Nirds, Freaks oder wie sie sonst noch genannt werden.
„Wir sind in der Unterzahl“, prophezeit ein gewisser Mario. Die Namen wird er wohl auch neben den Vokabeln, den Inhalten, der Sprache lernen müssen.
„Da sind wir von Anfang an verloren“, befürchtet ein recht klein gebauter Junge mit türkisch klingendem Namen.
Das scheint doch sehr „ermutigend“!
„Ich möchte keine Zeit verschwenden. Der Stoff ist sehr dicht bepackt für dieses Semester. Sie möchten schließlich alle ein gutes Abitur erwerben, wenngleich ich davon ausgehe, dass ein geringer Prozentsatz von ihnen nicht einmal das erste Semester schaffen wird“, verkündet eine dürre, rothaarige Frau, an deren Ohren großer skurriler Schmuck mit jeder Kopfbewegung baumelt.
Als hielte sie bereits nach potentiellen Wackelkandidaten Ausschau kreist ihr Blick durch die Reihen.
Sie verteilt Bücher. Schmal sind sie. Dann muss er wenigstens nicht ganz so viel lernen! Zum Teil sehen sie sehr stark beschmutzt aus.
Der gute Mensch von Sezuan, liest er auf dem Einband.
Es ist ein Drama. Schon tauchen sie in eine fremde Welt ein, in der Götter nach einer Herberge suchen, um den letzten guten Menschen dieser Welt zu finden.
Suchen und finden. Enttäuschung und Überraschung. Eine Reise zwischen Gut und Böse.
„Zur nächsten Stunde schreibt ihr eine Erörterung zu dem Thema Gut und Böse.“ Ihre Stimme klingt scharf, unmissverständlich.
In seinem Hausaufgabenheft ist kaum noch Platz. Wann soll er diese ganzen Aufträge erledigen? Der Tag hat schließlich nur 24 Stunden. Auch sein Tag und irgendwann möchte er eventuell für ein paar Stunden Schlaf finden.
„Entschuldigung, was genau erwarten Sie?“, meldet sich ein schmal gebautes Mädchen mit dickem schwarz gelocktem Haar in der ersten Reihe zaghaft zu Wort.
Sie gehört zu denen. Die sind nämlich in den ersten Reihen vorbildlich jedes noch so unbedeutende Wort der Lehrerin mitschreibend, während sie sich um die hintersten Plätze bemüht haben.
„Ich denke, dass meine Formulierung eindeutig gewesen ist“, bügelt die Lehrerin das Mädchen mit einem Achselzucken ab.
Jetzt wird es spannend! Das spürt er. Es ist ein eigenwilliges Kribbeln in seinem Bauch. Unbewusst hat er die Luft angehalten.
„Vielleicht könnten Sie die Richtung vorgeben. Soll die Erörterung textgebunden sein oder textübergreifend? Oder wünschen Sie eine reine Definition der Termini?“
Auch wenn er der Schwarzhaarigen überhaupt nicht folgen kann, beeindruckt ihn irgendwie die Ruhe, die Unerschrockenheit, ja beinahe Frechheit, mit der sie ihre Fragen an eine Lehrerin stellt. Und dann der gewählte Ausdruck!
Das Mädchen gehört zu seinem Kunstkurs. Es nickt ständig ernst, wenn die Lehrerin spricht. - Eine merkwürdige Frau mit blond-grauem Haar und Pony, die über ihre eigenen Witze lacht.
Das Mädchen jedoch bleibt ernst, nickt verständnisvoll, selbst wenn sie die langweiligsten Aufgaben der Welt erteilt.
Isabel tippt neben ihm auf ihrem Smartphone. Wissen diese jungen Menschen, wie gut es ihnen in Deutschland geht? Wie glücklich sie sich schätzen können, zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden zu sein?
Sie schauen einen Film. Isabel verdreht genervt die Augen. Er gähnt ständig. In dem kleinen dunklen Raum herrscht akuter Sauerstoffmangel.
Mit monotoner Stimme wird ein Abriss über die Videotechnik präsentiert.
Er blickt aus dem Fenster zu den roten Pflastersteinen, wo das Unkraut seinen Weg bahnt. Das erinnert ihn an Zuhause.
Aber Zuhause – wo ist das überhaupt?
„Hast du schon die Hausaufgabe für morgen?“, reißt Isabell ihn aus der Melancholie.
„Okay, welch Frage!“, lacht sie ihn aus. Wahrscheinlich hat sie seinen fragenden Blick bemerkt.
„Hast du sie denn erledigt?“, kontert er.
Grinsend winkt sie ab.
„Hey, Neuer, schon beim Flirt!“, stößt ihn ein Asiate unsanft von der Seite an, sodass es beinahe schmerzt.
Verärgert blickt er in dessen Gesicht. Es ist von einer Sintflut aus eitrigen Pickeln übersät.
Der Pulk der anderen Jungen fällt sofort in das hämische Gelächter mit ein.
Die Schwarzhaarige bleibt als einzige weiterhin ruhig. Sie wirft ihnen allen nur vernichtende Blicke zu, bis die Lehrerin sie zur Ruhe mahnt.
***
„Und mein Junge, wie hast du den dritten Tag überstanden?“, erkundigt sie sich, während ihr Gesicht von der großen Salatschüssel fast verdeckt wird.
„Ganz gut“, greift er zur Standardlüge. „Ganz gut“, wiederholt er müde, doch sein Kopf dröhnt.
„So laute Musik hier! Nimm Rücksicht! Du bist nicht allein auf dieser Welt!“, schimpft der Vater, als er später kommt. Er steht ganz plötzlich direkt neben ihm.
„So schlimm heute?“, verzieht er ungewohnt mitfühlend das Gesicht. Dann baut er sich wieder gefasst, streng vor ihm auf. Dabei ist er ohnehin größer als der im Bett liegende Sohn.
„Schon okay. Alles ist in Ordnung.“ Der Vater steht in der Sonne. Er möchte einfach einen freien Kopf.
***
Die S-Bahn ist überfüllt. In letzter Sekunde springt er noch durch die bereits blinkende Tür. Die Hausaufgaben wird er wohl später erledigen müssen. Nun kann er kaum mehr atmen. Der feuchte Atem der anderen Fahrgäste pustet in seinen Nacken, sodass ihm die Haare zu Berge stehen.
So schnell, wie ihn die Beine tragen können, verschwindet er in dem riesigen Schulbau. Die Deutschen lieben die Pünktlichkeit. Wer mag schon gleich zu Beginn unangenehm auffallen?
Doch dann ist er der Erste. Er wartet, spielt mit seinem Sintfluthandy. Sein Körper muss sich erst einmal von dem Stress erholen.
So wird es schließlich Viertel vor Acht. Hat er den richtigen Raum gewählt?
Eine Gruppe von Mädchen nähert sich. Vielleicht sind sie sogar jünger als er. Sie lachen, gestikulieren mit Händen und Füßen. Alle scheinen glücklich, froh lernen zu dürfen. Stattdessen empfindet er die Schule jetzt schon als lästig, als bloße Zeitverschwendung, als Störfaktor in seinem jungen Leben. Es gibt zahlreiche Orte, an denen er es sich eher vorstellen könnte, in diesem Moment zu sein. Die Schule jedoch taucht in diesen Träumen ganz gewiss nicht auf.
Eine Einzige lacht nicht, redet nicht, ja steht beinahe teilnahmslos daneben. Die Schwarzhaarige von dem Deutschkurs mit den frechen Worten!
Einige Jungen kommen nun auch. Einige von ihnen kennt er vom Sport.
„Hi, Kumpel, wie geht`s?“ Er lächelt. Er ist kein Fremder mehr, nicht irgendjemand von vielen. Vielleicht mögen sie ihn sogar.
Die Pausen werden geselliger. Sie spielen Karten, tauschen Bilder – verrückter oder verbotener als alles je gesehene. Der Vater würde es ihm mit Sicherheit nicht erlauben.
„Wer kommt alles zu meiner Party?“, fragt einer der wenigen Russen unter ihnen, Alexej. Alle grölen, feiern schon. Aber er ist nicht einmal eingeladen. Außerdem bezweifelt er ganz stark, dass seine Eltern es jemals zuließen.
Kann er je zu ihnen gehören?
***
„Gut ist, was nicht in Verbindung mit dem Schlechten steht. Gut ist, was man daher immer wieder tun würde. Gut ist, was einen Nutzen erweist, für einen Selbst, für die Umwelt, jetzt oder später. Böse ist hingegen, was uns schadet, was auf niederen Beweggründen beruht, was hinterhältig geplant wird, was zurückwirft, anstatt zu produzieren.“ Ihre Stimme klingt brüchig, aber irgendwie hört er gerne diesen Klang.
Eine halbstündige Diskussion entfacht, bei der sie feurige Worte verliert, feurig mit einem Jungen von den Freaks debattiert.
Er ist folgender Meinung: „Der Mensch ist am Beginn ein unbeschriebenes Blatt. Erst die unglückselige Verknüpfung von Ereignissen schafft das Böse.“
Sie behauptet: „In jedem Menschen gibt es eine gute und eine schlechte Seite. Aber welche Überhand gewinnt, ist biologisch vorbestimmt.“
Darauf erwidert er: „So ein Schwachsinn! Welcher Säugling, könnte einer Fliege etwas zu Leide tun? Welches Kind ist durchtrieben böse? Ich rede nicht von kleinen Probewutanfällen… Aber nimm einen Erwachsenen: Wie viel Fehler hat er begangen?“
Sie argumentiert weiter naturwissenschaftlich: „Bei einer Vielzahl von Verbrechern sind Störungen der Hirnfunktion entdeckt worden, die genetischen Ursprungs sind. Bereits in ihrer Kindheit sind sie durch außergewöhnliches soziales oder aggressives Verhalten aufgefallen.“
Er greift ein: „Und wie viel Menschen haben solche Störungen und sind kein bisschen böse? Möchtest du vielleicht gar psychisch Kranke unter Generalverdacht stellen? Wie erklärst du es dir dann, dass viele deiner Verbrecher – um auf dem Niveau zu bleiben – wie erklärst du es dir dann, dass immer wieder ein sozialer Teufelskreis, eine verlorene Kindheit in dem Zusammenhang vorliegen?“
„Das ist nicht von der Hand zu weisen“, pflichtet sie ihm bei, „Aber betrachte zwei Geschwisterkinder. Sie genießen die gleiche Erziehung und gehen unter Umständen trotzdem vollkommen verschiedener Wege. Im Übrigen gibt es bereits Kinder, die durch Aggressivität auffallen. Und schließlich bliebe ihnen nach deiner Argumentation immer noch die Wahl, sich an den positiven Beispielen zu orientieren. Aber hat es nicht gerade etwas zwanghaft Vorherbestimmtes, welche Rolle sie spielen werden?“
Er beharrt: „Kann ein Mensch nicht erst ab einem gewissen Alter moralisch denken und handeln?“
Sie lächelt zynisch: „Geschieht denn Böses bloß bewusst hervorgerufen?“
Sie diskutieren über Verbrecher, über Kriege. Niemand könne vorhersagen, wie viel Moral er unter Angst um eigenes Überleben vertrete.
„Wenn die Situation den Rahmen gewährleistet, überschreiten unzählige Grenzen, ohne auch nur im Geringsten Zweifel zu hegen. Gib ihnen die plausible Rechtfertigung und sie werden zum geeigneten Werkzeug des Bösen.“
Seine Gedanken wandern fort, verlieren sich in den Blättern der Alleestraße, durch die sich einsam die Sonnenstrahlen kämpfen.
Ihr Deutschen seid schon eigenwillig. Was zerbrecht ihr euch den Kopf über Kriege in einem vorbildlichen Land des Friedens? Wer soll ihn euch schon nehmen? Was streitet ihr zudem über Eventualitäten, die euer Leben gar nicht tangieren?
Er wartet bis das Mädchen wieder mit todernster Miene den Raum verlässt. Ihre Arme berühren sich beinahe. Falls es es wahrgenommen hat, lässt es sich das keineswegs anmerken.
Auf einmal fühlt er sich benommen, gefangen in einem Augenblick.
***
Das Mädchen kommt morgens erst spät. Wieder mit ernster, trauriger Miene. Die schwarzen Locken fliegen schwungvoll, als es sich etwas ungeschickt setzt.
Er weiß nicht, weshalb. Und es gäbe tausende Gründe, weshalb nicht. Aber er starrt. Er schaut. Staunend und mit offen stehendem Mund. Benommen wie am Tage zuvor. Verwundert. Vernebelt. Verführt.
Warum er? Warum sie? Warum jetzt? Warum hier an diesem Ort?
Warum kannte er das nicht vorher, dieses Gefühl?
Sie heißt Jasmin. Wie der Duft der exotischen Pflanzen. Wie der Hauch nie geglaubter Träume. Da ist so vieles an ihr, das er erfassen möchte. So viele kleine Regungen, wenn sie beinahe schüchtern lächelt. Dieses sanfte Lächeln, mild, nachgiebig, das sofort wieder erstirbt. Sie sieht doch viel hübscher aus mit einem Strahlen auf den Lippen! Viel verzaubernder, viel zu friedlich für diese raue Welt! Weiß sie es nicht? Kann er es ihr sagen?
Ihr Körper ist zart, fast zerbrechlich. Ziemlich klein, mit dünnen, fast dürren Ärmchen, schmalen, fast vornehmen Handgelenken. Mit dünnen Beinen, gut geformt. Einem edlen, schmalen, langen Hals. Und weit aufgerissene Augen so schwarz wie die Nacht.
***
„Warum hilfst du deiner Mutter nicht, wenn du zeitiger zu Hause bist?“, schnaubt der Vater wütend am Abend.
Hat er nicht sich wenigstens ein bisschen Freizeit verdient nach den harten Hausaufgaben, die ohne Sinn, ohne Verständnis nach all den Stunden blieben? Hauptsache dort steht etwas. Halb richtig oder halb falsch. Im Grunde ist es doch egal. Hat er es ohnehin eilig gehabt, sich über andere Dinge Gedanken zu machen. Über das Mädchen, über die Pausen. Über dessen Blicke, fast schüchtern, ja sogar schockiert, als es ihn gesehen hat. Hat es etwa Angst?
„Ich rede mit dir, Vladislav“, wird die Stimme des Vaters lauter.
Er kaut weiter auf seinen Kartoffeln herum. Sie schmecken nicht wirklich. Wahrscheinlich lagen sie zu lange im Wasser. Hat die Mutter sie vergessen beim Lesen in ihren komischen Frauenzeitungen. Wird Jasmin irgendwann auch solchen Blödsinn lesen?
Gewiss nicht. Dazu scheint sie viel zu intelligent. Viel zu nachdenklich.
Das dient schließlich gerade dem Gedankentod. Lästige Erinnerungen oder Ereignisse werden durch irreale Leichtigkeit fort gewischt.
„Mir reicht es! Wir können auch andere Mittel anwenden!“, schlägt die Hand des Vaters plötzlich laut neben ihm auf den Tisch. Erschrocken zuckt er zusammen. Er verschluckt sich zu allem Übel. Die Mutter klopft ihm auf den Rücken, überlässt aber ansonsten wie immer dem Streitsüchtigen das Feld.
„Was machst du eigentlich den lieben langen Nachmittag lang? Chattest du im Internet? Das lässt sich ändern. Das ist mir sowieso längst ein Dorn im Auge.“ Bestimmt hat der Vater wieder einen hochroten Kopf. Dann schnaubt er noch immer so komisch neben ihm.
Gewöhnlich steigt in ihm irgendwann in solchen Momenten die Wut auf, wenn der Alte ihn einfach nicht in Ruhe lassen kann.
Aber nicht diesmal. Diesmal ist der Tag viel zu schön für solche Gefühle! Die wären bloß lästig. Er lächelt stattdessen verträumt.
„Bist du verrückt geworden?“, prustet der Vater. Das klingt gefährlich nahe am Hyperventilieren.
„Nein!“ Das ist so komisch, dass er das Lachen nicht verkneifen kann.
„Du findest es wohl lustig! Da haben wir ja etwas Schönes groß gezogen“, wendet er sich voller Hass zur Mutter.
Wie reagiert sie?
Schweigend! Das verwundert ihn schon gar nicht mehr.
„Zufällig hatte ich zu tun“, juckt es ihm in den Fingern.
Dass der Vater ihn nicht leiden kann, scheint seit seinem zwölften Geburtstag ein ungeschriebenes Gesetz.
„Zu tun hattest du? Oho, du bist wohl gar beschäftigt?“, höhnt dieser Mann.
Er blickt in das hässliche, wutverzerrte, faltige Gesicht.
Glücklicherweise ähnelt er diesem runden Kopf kein bisschen. Das wäre ihm nur peinlich.
„Ja, ich muss nämlich Englisch lernen.“ Er schluckt. Nur mit Mühe kann er seine Verachtung unterdrücken. Wie kann die Mutter mit so einem Streithals zusammenleben? Wie hält sie das tagein, tagaus aus?
„Gibt es etwa Probleme?“, stürzt sich der Vater wie ein Geier auf das nächste unangenehme Thema.
„Nein“, presst er zähneknirschend hervor. „Aber ich habe bisher kein Englisch gelernt, wie du weißt. Die anderen hingegen haben in der dritten Klasse spätestens damit begonnen.“
Der Vater schweigt, mustert seinen Sohn, der ihm ganz fremd ist, mit diesem eigenartigen Blick.
Glaubt er es wieder nicht?
„Da hast du dich wohl vorher schlecht informiert“, winkt der nach kurzer Pause verächtlich ab.
„Ihr habt es mir nicht gesagt!“, gibt er das Kontra.
Der Vater bricht in Lachen aus. Die Augen sind zu Schlitzen verengt.
„Wie alt bist du, Vladislav? Drei Jahre alt? Zehn? Oder doch schon Sechzehn?“
Die Mutter greift mit gesenktem Blick wieder zur Zeitung.
Sein Bruder hat sich bereits in sein Zimmer verdrückt.
Armer Leontij! Hoffentlich wird der Vater an ihm später mehr Haare stehen lassen!
„Leidest du an Vergesslichkeit?“ Er bereut die Frage sofort. Sie ist ihm, ohne nachzudenken, aus dem Mund gerutscht.
„Gut, du hast es nicht anders gewollt. Kein Internet in diesem Monat, kein Taschengeld. Du musst erst einmal Achtung lernen.“
Der Vater steht auf und schaltet den Fernseher ein.
„Ich will dich hier heute nicht mehr sehen, Vladislav.“
Das hat er noch nie gesagt. Das ist wohl ein wunder Punkt in diesem ungerechten Mann.
Ein Monat lang kein Internet! Wie soll er da die Hausaufgaben erledigen?
Wie immer hat es der Alte am Ende doch noch geschafft, ihm die gute Laune zu verderben. Muss er denn alle dazu zwingen, missmutig wie er selbst durch das Leben zu schreiten?
„Wie soll ich bitte meine Hausaufgaben erledigen?“, fragt er mit dem Stapel Teller in der Hand.
Der Vater stellt den Fernseher demonstrativ lauter.
„Mama, sag doch etwas!“, ruft er verzweifelt. „Wie soll ich bitte ohne Internet meine Hausaufgaben erledigen?“
„Bei uns hat das früher auch funktioniert“, brummt es vom Fernseher.
Oh, wie sehr hasst er diesen Mann, der sich sein Vater nennt und ihn immer wieder demütigt!
„Wir haben aber nicht einmal Bücher hier zu Hause, mit denen ich lernen könnte!“, brüllt er ihn an.
Einfach abstoßend, dass sich dieser Brocken dort auf dem Stuhl kaum bewegt, kurz mit den Schultern zuckt. Nicht mehr.
„Geh doch in die Bibliothek! Du möchtest schließlich immer selbstständig sein. Lerne, dir zu helfen.“
Er tritt getroffen einen Schritt zurück. Mit der Schulter stößt er sich dabei am Türrahmen.
„Bin ich dir einfach egal? Lässt dich mein Leben so kalt?“ Jetzt ist die Frage raus. Beinahe hörbar stockt der Mutter nun doch der Atem, hält sie beim Lesen inne.
„Wofür brauchst du denn das Internet?“, fragt sie mit verräterisch sanfter Stimme.
Das schmerzt ihn fast noch mehr als die Kälte des Vaters.
Ohne eine Antwort stellt er die Teller in der Küche ab, knallt sie ein wenig laut in die Spüle, würdigt sie keines Blickes mehr und geht aus dem Zimmer. Mit lautem Krachen fliegt die Tür ins Schloss.
Das „Pass mit dem Geschirr auf!“ „Die Tür kannst du bezahlen, wenn sie kaputt geht“ erreicht ihn nicht mehr.
Unschlüssig steht er im kleinen Flur zwischen den Schuhen, dem voll behangenen Kleiderständer. Er greift nach der Schale auf dem kleinen Schuhschrank, den der Vater selbst gebaut hat. Er greift nach dem Schlüssel, knetet ihn in seiner Hand, bis es weh tut.
Warum ist diese Welt so grausam?
Dann schließt er sich im Bad ein, lässt das Wasser laufen, gönnt sich ein heißes Bad. Das Wasser ist so heiß, dass es auf der Haut brennt.
Die Mutter pocht an die Tür, drückt die Klinke mehrmals vergeblich.
„Ich muss zur Toilette, Vladislav!“
Es interessiert ihn nicht.
Er ist ihnen egal. So existieren sie für ihn auch nicht mehr.
Leise fängt er an zu summen. Ein Kinderlied eigentlich. Manchmal singt er es heimlich für Leontij, wenn der wieder seine Albträume hat.
Sein Bruder ist der Einzige, der ihn liebt.
Als er schließlich die Tür öffnet, dampft es aus dem kleinen Badezimmer.
Ohne einen Blick stapft er an der Mutter vorbei.
Der Vater schimpft sofort wegen der Wasserverschwendung und der Feuchtigkeit.
Redet doch, ereifert euch. Mich trefft ihr damit nicht mehr.
Leontij liegt in seinem Bett und schluchzt leise unter der Bettdecke.
Das macht er jedes Mal, wenn es einen Streit gibt.
Wie zerbrechlich ist diese Kinderseele!
Zärtlich streicht er über den kleinen Kopf, streicht durch das strohblonde Haar, wischt mit seinen Fingern sanft über die feuchten Wangen.
„Du musst nicht weinen“, flüstert er.
Aber der Kleine schluchzt noch heftiger.
„Ich will nicht, dass ihr immer streitet!“, drückt sein Bruder seine Hand an seine Wange.
„Ich auch nicht“, seufzt er und hangelt seinen Schlafanzug zu sich. „Manchmal hat man leider keine Wahl.“
„Warum nicht?“, verlangt der Kleine sofort eine Erklärung.
Ruhig streift er sich das Oberteil über die Arme. Viel zu schmächtig hat der Vater ihn genannt! Wenn der wüsste…
Für die Hose setzt er sich wie ein alter Mann auf das Bett. Der Mond leuchtet durch das kleine Fenster und wirft Schatten auf den Fußboden. Er zieht den Vorhang zu.
„Weißt du, Leontij, manchmal muss man sich wehren, wenn jemand ein Unrecht tut. Wenn man immer nur erduldet, einen Schlag nach dem anderen einfach schweigend erträgt, dann zerbricht man.“
„Liebst du Papa nicht?“, piepst der Junge plötzlich ängstlich.
Abrupt steht er auf und greift nach der kleinen, warmen Hand.
„Glaubst du das etwa, Leontij?“
Wieder ertönt nur das Schluchzen.
„Manchmal ja.“
Er überlegt. Wie kann er es am besten erklären, was er empfindet? Weiß er selbst das so genau?
Manchmal sind da diese furchtbaren Tage, an denen er einen solchen Hass verspürt, einen solchen Ekel, eine solche Verachtung.
Manchmal gibt es jedoch ein paar wenige Erinnerungen an bessere Zeiten. Ein paar wenige Gesten, die ihm etwas Dank abringen.
„Vater und ich müssen uns erst daran gewöhnen, dass ich erwachsen werde. Das ist wahrscheinlich der Grund“, seufzt er schließlich.
„Warum sagt Mama nichts?“ Wie viel erkennt dieses unschuldige Geschöpf!
„Das ist eine Sache zwischen Männern. Verstehst du das?“
„Ja.“ Das Schluchzen hat aufgehört.
„Ich habe dich lieb, Vladislav“, schmiegt sich sein Bruder dann wieder an seinen Arm. „Ich hoffe, dass wir uns nie streiten.“
„Ich dich auch, mein Kleiner“, streicht er gerührt weiter über den Kopf, bis sich der Schlaf über den Engel legt.
***
Eines Morgens, während er fleißig über seinen unlösbaren Hausaufgaben brütet, kommt sie noch blasser, noch erschöpfter als sonst.
Die Augen scheinen verquollen, gerötet. Da ist nichts mehr in ihnen. Bloß eine gähnende Leere. Oder bildet er sich das ein?
Wer hat der Rose den Dolch gegeben? Wer lässt sie so sehr bluten? Erkennen denn die anderen, die sich ihre Freundinnen nennen, nicht ihren Schmerz?
Er legt den Stift aus der Hand. Eine Spur langsamer als die Tage zuvor. Eine Spur bedeutsamer.
Er muss nicht einmal nachdenken.
Vielleicht ist das der Moment, in dem sich zwei Geschichten plötzlich kurz verbinden und vollkommen neuer Wege gehen.
Vielleicht ist es auch der Moment, in dem sie plötzlich den Kopf umdreht und ihm unerschrocken direkt in seine himmelblauen Augen sieht. Als habe sie die ganze Zeit über seine Blicke in ihrem Rücken gespürt. Seine Blicke, die ihre Bewegungen eingefangen haben. Die großen wie die kleinen. Das Setzen wie das Lachen. Die Worte wie das Schweigen. Den Anfang und das Ende.
Vielleicht ist es der Moment, nachdem sie begriffen hat, dass es gewiss alles andere als purer Zufall ist, wenn er tagtäglich, jeden Morgen, besonders zeitig am Nachbartisch sitzt, sich an Hausaufgaben wagt, die er im Grunde schon gedanklich abgehakt hat.
Vielleicht ist es also der Moment, in dem sie zu verstehen beginnt. In dem sie ihn zu verstehen beginnt, ihm einen Platz in ihrem Leben zugesteht. Ihm eine Chance gibt. Ihn in ihr Herz lässt.
Vielleicht wird es so zu dem Moment, in dem er viel zu spät begreift, dass der neue Weg kein Zurück kennt und steiniger würde als alles je zuvor.
Vielleicht wird es so der Moment, der sein Schicksal ändern sollte.
***
„Vladislav, ich möchte Sie gerne kurz sprechen“, verkündet die gefürchtete Geschichtslehrerin, die niemand herauszufordern wagt.
Unwillkürlich zuckt er zusammen. Hat er sich nicht schon klein genug, unauffällig genug verhalten?
„Ich weiß nicht, aus welchem Land Sie kommen, aber Sie müssen einsehen, dass ich darauf nicht ewig eine Rücksicht nehmen kann.“
Beginnen sie sich jetzt gar zu verbünden?
So sind sie wohl, die Menschen. Kalt. Ohne Mitgefühl. Ohne Verständnis. Denn schließlich handelt es sich nicht um ihre Leben. Wenn dann ein Fremder kommt, bleibt er weiter für sein Leben verantwortlich. Hilfe ist für sie ein fremdes Wort, das Rätsel der Sphinx. Eventuell erkennen sie die Notwendigkeit viel zu spät.
„Sie sitzen teilnahmslos dort hinten in der letzten Reihe. Sie starren Löcher in die Luft, sodass ich manchmal kontrolliere, ob gar Renovierungsbedarf besteht.“
Sie lacht kurz. Ohne jede Herzlichkeit, ohne jeden Humor. Der Witz ist er. Der Humor nichts als ihre Verachtung gegenüber dem Schüler. Das Lachen nur die Doppelzüngigkeit.
„Ich höre nie auch nur ein einziges Wort von Ihnen. Fast glaubte ich, Sie wären stumm.“
Ihn bestürzen solch harte Sätze, die sich wie eisige Messerklingen in seine Seele bohren.
„Ich hatte erwartet, dass jemand in Ihrer Situation erkannt hat, dass das hier kein Schlaraffenland ist. Dass er für das kämpfen muss, was er erreichen möchte.“
Welche Mittel besitzt er denn?, könnte er sie fragen.
Aber schon setzt sie noch zum letzten Hieb an oder vorletzten. Das zählt gar nicht mehr.
„Sitzen Sie bei den anderen Kollegen genauso verträumt? Dann rate ich Ihnen eines: Lassen Sie es gleich oder geben Sie sich einen Ruck.“
Er schließt unwillkürlich kurz die Augen, atmet tief durch.
Ihre faltigen Höhlen verengen sich. Die Lippen liegen fest aufeinander gepresst. Die Blicke durchbohren ihn.
„Ich verstehe nicht so gut“, wehrt er sich gegen den wachsenden Kloß in seinem Hals.
„Verzeihen Sie, aber was haben Sie gerade gesagt?“
Sie betont jedes Wort, als wäre er der dümmste Mensch auf Erden.
Sie fixieren sich einander, während er wünscht, er hätte endlich ein besseres Leben.
„Vielleicht muss ich Sie aus der Reserve locken“, lächelt sie auf einmal fast freundschaftlich.
Doch er traut der abrupten Kehrtwende nicht.
„Ich habe mir daher überlegt, Ihnen einen Vortrag aufzutragen. Beweisen Sie mir, dass Sie mehr können, als zu schweigen oder Löcher in die Luft zu starren. Beweisen Sie mir, dass Sie hier eine Berechtigung haben!“
Das fehlte ihm gerade noch! Ein Vortrag ohne Internet!
Er fängt an zu lachen.
Sie steht nun ganz steif, ganz irritiert.
„Ich habe nicht einmal Internet“, hebt er entschuldigend die Hände.
Keine Reaktion.
„Ich kann daher nicht recherchieren, nichts vorbereiten.“
„Aber sie können reden.“ Schnell mustert er sie wieder.
Hat er sich gerade verhört? Versteht ihn denn tatsächlich kein einziger Mensch auf dieser Erde?
„Wenn Ihnen das genügt...“
Die ersten Schüler stürmen bereits zum Bus. Er wird sich danach noch mit Kunst quälen müssen. Langweilige Kameraführung studieren müssen.
„Wusste ich es doch!“, lacht sie da.
Die grauen Augen blitzen plötzlich.
„Cicero als antiker Politiker, fabelhafter Redner, Schriftsteller. Das wird genau Ihr Thema!“
Freudig klatscht sie in die Hände.
Wer zum Teufel war Cicero? Wer straft sein Kind mit solch einem Namen?
„Ich habe wirklich kein Internet“, erklärt er deshalb hastig.
„Ich denke wirklich, dass das Thema passt.“ Sie lächelt listig wie ein Fuchs.
„Möglicherweise ist das die einmalige Chance, um der wunderschönen Bibliothek der Schule einen Besuch abzustatten. Die alten Bücher erhalten viel zu selten diese Ehre.“
Schon jetzt hasst er diese Frau. Sie möchte ihn überhaupt nicht verstehen. Sie möchte ihm Steine in den Weg werfen, legt sie noch über die anderen Felsblöcke. Dann steht er vor einer Mauer, kommt gar nicht mehr voran.
***
Schweren Herzens sucht er nach dem langen Tag die Bibliothek auf. Kein Wunder, wenn sich so selten jemand dorthin verirrt. Versteckter hätte sie sich nicht befinden können: in einem Seitengang am Lehrerzimmer.
Die Tür quietscht leise, als er sie vorsichtig öffnet. Unbewusst hält er kurz den Atem an.
Es gibt keine verstaubten Regale mit vermeintlichen alten Schätzen.
Ziemlich bunt ist der kleine Raum. Bücher in verschiedensten Größen füllen die Schränke.
Literatur, Sachbücher, Nachschlagewerke, Lehrfilme. Mit einem Finger streicht er über die Ablagen.
Selbst Wörterbücher stehen hier. Sogar für Englisch.
Er lacht entzückt! Zwingt das Schicksal nicht auf seltsame Weise manchmal zum Glück?
Eine englische Grammatik. Ehrfürchtig zieht er das Buch heraus.
Das scheint gar nicht so schlecht geschrieben zu sein.
Er nimmt es mit. Auf einmal verspürt er so etwas wie wahre Motivation.
„Kann ich dir helfen?“, baut sich ein kleiner, dünner Junge mit kugelrunden Brillengläsern neben ihm auf.
„Weißt du, wer Cicero ist?“
Der Junge lacht. Seine Zähne leuchten ungewöhnlich weiß.
„Du solltest besser fragen, wer Cicero gewesen war.“
Er schmunzelt.
„Ist er also schon tot?“
Der andere schiebt grinsend die Brille auf der Nase höher. Seine Wangen strahlen voller Farbe.
„Du kennst tatsächlich nicht den großen Cicero? Leider war er nicht groß genug, um mehrere Jahrtausende zu überleben.“
Der Junge ist ihm sympathisch. Wie alt wird er wohl sein? So alt wird er oder jünger? Jedenfalls sprühen seine Augen vor belustigter Neugier.
„Ich muss einen Vortrag halten“, seufzt er.
„Glückwunsch. Bei der Müller?“ Der Junge klopft ihm mitleidig auf die Schulter.
„Ja, leider.“
„Ein Schüler zieht in jedem Jahr das Sonderlos.“
Er nickt.
„Ich heiße Anton.“
„Vladislav“, streckt er ihm die Hand entgegen.
Der Junge lächelt. Auf seinen Wangen blitzen lauter Sommersprossen. Dabei ist wohl das Haar das ungewöhnlichste: Feuerrotes, leuchtendes Haar. Bisher kennt er das nur von den Chemikalien, die sich manche Mädchen hineintun.
Allerdings scheint dieser Orange-Rotton in der Tat Natur zu sein.
„Bist du neu hier?“ Er führt ihn zwei Gänge weiter. Dabei bemüht er sich, keines der Bücher mit seiner Tasche aus den Reihen zu reißen.
Er nickt.
„Und du?“
„Altes Fleisch.“, wieder hüpfen die Sommersprossen auf und ab.
„Wird Zeit, dass es einen Abschied gibt.“
„In welchem Jahrgang bist du?“
Sie haben die Geschichtsabteilung erreicht. Genauer gesagt, die drei Reihen mit wenigen historischen Werken.
„Das letzte Jahr. Wie ich das Ende herbeisehne...“
Er findet gar nichts über Cicero. Enttäuscht blickt er zu Anton.
„Die Auswahl ist nicht gerade eine Wahl. Ich weiß. Du kannst es noch bei den Lateinbüchern versuchen.“
Die Panik greift schon wieder nach ihm.
„Hast du außerdem kein Internet? Die meisten wissen gar nicht mehr, was Bücher für einen Wert besitzen. Da werde ich ziemlich einsam beizeiten.“
„Leider nicht.“ Er seufzt traurig.
Anton beginnt noch breiter zu strahlen.
„Ich glaube, dass ich dann heute doppelt zu deinem Retter werde. Komm mal mit!“ Er führt ihn ganz ans Ende des schmalen Ganges, um die Ecke herum zu einem Tisch mit drei Computern.
Überrascht schaut er den Jungen an.
„Sie haben zwar bald historischen Wert, aber leisten noch volle Arbeit. Du solltest nur nicht in den Pausen kommen. Da sind sie schnell belegt.“
„Danke“, lächelt er. Anton ist wirklich seine Rettung.
***
„Warum kommst du so spät?“ Sie haben ihn bereits erwartet und ihre Mienen verheißen gewiss nichts Gutes. Zu schmerzlich ist ihm noch der letzte Streit präsent.
Der Vater und er haben sich seitdem gemieden, sofern dies möglich gewesen ist.
„Wir haben mehrmals versucht, dich zu erreichen.“ Über die Mutter ist er mehr erstaunt! Ihre Stimme klingt fast weinerlich, bedauernd. Oder ist das Enttäuschung? Warum trifft ihn das so sehr?
Zwei Kinderaugen lugen ängstlich durch den Türspalt. Leontij ist noch viel zu sensibel!
„Möchtest du uns nicht wenigstens antworten? Meinst du nicht, dass wir eine Erklärung verdient haben?“ Wie immer schwingt der Zorn bedrohlich in der Stimme des Vaters mit.
„Es hat eben länger gedauert“, seufzt er, innerlich verärgert. Am liebsten würde er ihnen sagen: „Ihr verbietet mir doch den Internetzugang.“
Stattdessen zuckt er keineswegs verlegen mit den Achseln. Mittlerweile verspürt er eine unheimliche Wut auf diese Menschen, dieses Leben, diesen Tag. Alles hätte noch gut werden können…
Die Hand packt ihn hart und fest wie eine Klaue, als er versucht, den Türspalt zu vergrößern. Sein Bruder hat sich sofort unter seiner Bettdecke verkrochen und schluchzt leise.
„So weit soll es noch kommen!“ Er wird in die Küche gezerrt.
Nicht einmal Lust oder Kraft verspürt er, sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren.
„Setzen!“, bellt der Vater. Dessen grüne Augen blitzen giftig.
Aber da möchte er es ihm zeigen, einmal sich stark fühlen dürfen. Viel zu lange hat er schließlich ihretwegen sich geduckt und geduldet! Diesmal wird er ihm Parole bieten! Diesmal wird er sich nicht dem Diktator beugen! Wird nicht still die verletzenden Worte schlucken! Diesmal wird er sich auflehnen, dem Vater endlich einen Denkzettel verpassen!
Denn der hat überhaupt kein Recht dazu, ihm das Leben ständig zu vermiesen. Ihn ständig aus den Wolken zu zerren, wenn er nur daran denkt, ein Stück vielleicht für wenige Minuten fliegen zu können.
„Ich muss Hausaufgaben machen.“
Doch noch ehe er sich wieder erheben kann, wird er schmerzhaft auf den Stuhl gedrückt.
Die Mutter jammert leise, verzieht sich dann ins Badezimmer.
Lauf nur, schau doch lieber weg! Ich kann mich schon allein verteidigen. Wundert euch allerdings nicht, wenn ich dann zu anderen Mitteln greife.
„In meinem Haus wirst du tun und lassen, was ich dir sage. Und wenn ich dich etwas frage, hast du mir gefälligst zu antworten!“
Du hast nicht einmal ein Haus, denkt er still und grinst verbittert.
„Also: Wo warst du?“ Er spürt den feuchten, ekelerregenden Atem, der ihm von der Seite schnaubend ins Gesicht bläst. Er starrt auf den weißen, hässlichen Fensterrahmen, schweigt.
„Gut, du hast es nicht anders gewollt...Irina, hol bitte seine Musikanlage!“, droht der Vater.
Doch er bleibt eisern, schweigt mit den Händen über den Ohren, starrt dieses Monster mit weiten Augen an.
„Die war ohnehin viel zu teuer“, murmelt dieser fremde Mann dort, der sich sein Vater nennt, während sich der Griff entspannt.
„Du tust gerne, wozu du kein Recht hast“, findet er endlich Worte, als der Alte aufstehen möchte.
Der stutzt sofort. Hat er etwa tatsächlich ein Widerwort gehört?
„Pass mal auf, Vladislav!“, hebt er drohend den Zeigefinger, „Du bewegst dich auf ganz dünnem Eis. Ich möchte gar meinen, dass der Boden unter dir längst bricht. Wann begreifst du endlich, wer hier das Sagen hat? Wer hier Recht hat und wer nicht?“
Er muss lachen. Das möchte er gar nicht. Aber er lacht. Weil diese ganze Situation absurd ist. Weil dieser ganze Tag absurd ist. Weil alles, seitdem sie in Deutschland sind, absurd ist. Sinnlos. Lächerlich. Einfach verrückt.
„Und Recht hast etwa nur du? Nicht einmal Mutter, die du schön zu beherrschen weißt? Du magst es doch nur nicht, wenn man deinem Befehl nicht Gehorsam leistet! Du magst es nur nicht, wenn man dich in Frage stellt, weil du lächerlich bist! Einfach lächerlich. Ich kann dich gar nicht mehr ernst nehmen.“ Er ist aufgesprungen. Der Vater hat sich gesetzt, atmet ein bisschen schwer.
Damit ist jedoch nicht genug! Viel zu lange hat er die Wut mit sich getragen!
„Du möchtest mein Vater sein? Dann sage ich dir etwas: Du bist erst mein Vater, wenn du mich so akzeptierst, wie ich bin. Ich bin sechzehn Jahre alt, kein Baby.“
„Vladislav“, bettelt die Mutter hilflos.
Zornig dreht er sich zu ihr: „Ich frage mich, wie du das über dich ergehen lassen kannst. Allerdings denke ich, dass du tief in deinem Herzen mich verstehen kannst.“
Ihr Gesicht erblasst, sie wirkt wie erstarrt.
Ja, so hat der Sohn noch nie zu ihnen gesprochen!
„Irina, die Musikanlage!“, erinnert der Vater schneidend. „Der Junge ist wohl übergeschnappt.“
Sie rührt sich nicht, bekommt einen ganz glasigen Blick. Er beobachtet jeden ihrer Züge, denn er ahnt innerlich, dass er sie somit vom Gehorsam abhält.
„Ihr habt wohl alle zu wenig frische Luft geatmet! Dann hole ich sie eben selbst.“ Behäbig bewegt sich der Alte in das Kinderzimmer.
„Leontij ist dir wohl auch egal! Schließlich hört er genauso gerne seine Hörspiele“, ruft er ihm hinterher. Der Vater behandelt ihn wie Luft. Auf diese Weise haben sie demnach den Ausgangszustand wieder erreicht.
Kein Protest ertönt aus dem Kinderzimmer. Eigentlich überhaupt kein Laut.
Begreift dieser Mann nicht, dass er sich damit auch die Liebe des Jüngsten zunichte macht?
„Wir haben uns große Sorgen gemacht, Vladislav.“ Die Mutter beginnt in der Küche Ordnung zu schaffen. Es ist bloß fraglich, wie viel in makelloser Ordnung aufgeräumt werden kann.
„Ich muss einen Vortrag vorbereiten. Da ich kein Internet habe, bin ich in die Bibliothek gegangen“, erklärt er ihr erbost.
Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass zumindest sie ihn besser verstehen würde.
Augenblicklich hält sie inne.
„Und weshalb sagst du nichts?“
Er wünscht sich, dass sie ginge. Dass sie die Tür schlösse und mit sich den verfluchten Tag wegnähme.
***
Woher weiß ein Mensch, wann das Schicksal beschließt neue Wege zu gehen? Woher weiß ein Herz, wann es sich lauter zu schlagen lohnt, bis es in der Brust fast zerspringt? Woher weiß die Welt, dass sie plötzlich endlos wird?
Ohne zu denken, ohne zu wissen, ohne abzuwägen, finden sie sich ganz zufällig und doch vertraut.
Er kann nicht anders, hat überhaupt keine andere Wahl, als in diesen dunklen Augen zu ertrinken, in diesem sanften Lächeln zu zerfließen. Und doch geht er nicht unter. Denn er lernt erst das Schwimmen.
Während er in seinem Kreis und sie in dem ihren sich nur am Rande an den so gewöhnlichen Gesprächen beteiligen, steht zwischen ihnen die Welt still. Hält er unwillkürlich den Atem an, wenn ihre Blicke klar und unmissverständlich ihn streifen. Dann ist es, als würden sie sich messen, abschätzen. Wie viel wäre zu viel, wie viel noch nicht genug? Darf man schon weiter gehen? Was ist das, was dort so brennt?
Es beginnt eine Flamme, ein Feuer zu brennen, das lediglich sie beide nährt. Ihr stilles Geheimnis, das Nächte zur Qual macht, das den Schlaf raubt, dennoch belebt und am Leben hält.
Wie viel Länder musste er durchreisen, wie viel Ozeane durchqueren und aus wie viel Tälern steigen, um ohne Vorwarnung von heute auf morgen zu verbrennen?
Und warum sie? Warum jetzt? Womit verdient er dieses Glück?
Endlich hat er eine Verbündete gefunden! Endlich gibt es etwas, das zumindest für die wenigen gezählten Minuten allen Ärger, alle Sorgen, allen Schmerz und alle Ängste von ihm nimmt.
***
„Warum bist du hergekommen?“, fragt ihn ein Junge, der bisher schüchtern in den Pausen neben ihm gesessen hat.
Die Frage verwirrt ihn: Es hat etliche Gründe gegeben, ganze Verkettungen glücklicher und unglücklicher Ereignisse.
„Für eine bessere Zukunft“, entscheidet er sich daher diplomatisch.
„Eine bessere Zukunft?“ Der Junge lacht freundlich, fast so nett wie Anton aus der Bibliothek.
„Ist es in der Ukraine so wenig lebenswert?“
Auf der einen Seite steht da das weite Feld trauriger Fakten. Auf der einen Seite denkt er mit schmerzhaftem Brennen in der Brust an die Armut, das soziale Ungleichgewicht, die Revolten.
Aber auf der anderen Seite sprechen sie nicht über irgendein x-beliebiges Land, sondern über die Erde seiner Wurzeln, seine Heimat.
„Tja, Deutschland scheint wohl attraktiver“, fügt der Junge schließlich an.
Er entscheidet sich, über die verletzende Unwissenheit hinwegzusehen. Eventuell ist der doch nicht wie Anton mit dem Feuerhaar.
„Magst du mir ein wenig über die Ukraine erzählen? Hat dort nicht erst die Fußball-Europameisterschaft stattgefunden?“
Er nickt, wobei er versucht, zu begreifen, wie anders die Welt des anderen aussehen muss, dass er mit solcher Naivität Fragen stellt.
„Zum Teil aber auch in Polen.“
„Ja, ja, das stimmt! Da habe ich einen Dokumentarfilm gesehen, in dem gezeigt worden ist, welche Unterschiede zwischen den Ländern bestehen.“
Der andere lächelt stolz. Möglicherweise weiß er doch zumindest ein bisschen.
„Ist die Infrastruktur tatsächlich so schlecht in manchen Regionen?“
„Jetzt ist sie besser als zuvor. Aber da sind Unmengen an Geld dafür geflossen“, erinnert er sich traurig an die heftigen Vorwürfe wegen der Korruption.
„Werden denn die Bauten nicht mehr genutzt?“, erkennt der andere sofort.
„Mal sehen“, brummt er und mag das Gespräch beenden.
Doch der andere platzt beinahe vor Neugier.
„Sind nicht auch einige Politiker nicht angereist - aus Protestgründen?“ Er seufzt. Natürlich versteht er die Anspielung auf das Duell der großen Reichen. Für ihn macht das nicht mehr viel Unterschied, gibt es keine bessere oder schlechtere Seite. Außerdem denkt man darüber nicht nach.
„Damit wäre wohl auch deine Frage beantwortet“, murmelt er und beschließt sich lieber auf Deutschland zu konzentrieren, jetzt, da die Heimat doch nur wie eine schmerzliche Erinnerung in den Schatten seiner Gedanken kreist.
***
„Wie kommst du mit deinem Vortrag voran?“, stellt sich Anton am Nachmittag zu ihm, als er recherchiert. Diese Computer sind eine wahre Geduldsprobe!
„Magst du auch eine Limo?“
Im Nu öffnet er ihm eine zweite Flasche. Das prickelnde, süße Getränk rinnt den Rachen hinab. Genießerisch schließt er die Augen.
„Anstrengend, nicht wahr? Ich habe schon den Qualm gesehen“, lacht der Junge zwinkernd.
„Den Qualm?“, stutzt er.
„Das sagt man so, wenn jemand zu viel nachdenken muss, dass Gehirn auf Hochtouren läuft.“
„Die schmeckt gut“, dankt er Anton für die Erfrischung.
„Etwas muss ich mir doch gönnen, wenn ich schon immer einsam hier sitzen muss.“ Das rote Haar leuchtet in der Sonne, als er sich einen Stuhl mit heranzieht.
„Wie steht es um Cicero?“, liest er den Artikel auf dem Bildschirm.