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Nichts trennt die beiden Zwillingsschwestern wirklich. Doch dann verliebt sich Luisa unsterblich in Martin, Marias besten Freund. Der Kontakt wird weniger, wofür Maria der Schwester die Schuld gibt. Doch kurz nach der eigenen Hochzeit erreicht sie ein Anruf. Luisa ist schwer verletzt in einem Krankenhaus in Bayern. Sie ist aber nicht die Treppe heruntergefallen, wie alle glauben. Stattdessen beschuldigt sie ausgerechnet Martin. Kann Maria ihr glauben? Vor allem: Kann sie die Schwester mit ihren Kindern vor der Gewalt zu Hause retten? Anfangs unterschätzt sie die Gefahr...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Prolog
Teil 1
Kapitel 1 - Ein unbeschwertes Leben
Kapitel 2 – Hinaus in die Welt
Kapitel 3 – Wie eine Fremde
Kapitel 4 – Die Hochzeit
Kapitel 5 – Erwachen
Kapitel 6 – Zweifel
Kapitel 7 – In Gefahr
Kapitel 8 – In der Schwebe
Kapitel 9 – Ein schwerer Weg
Teil 2
Kapitel 1 – Unterschätzte Gefahr
Kapitel 2 – Neuer Versuch
Kapitel 3 – Freiheit
Kapitel 4 – Müde
Kapitel 5 – Abschied
Teil 3
Kapitel 1 – Neuer Anlauf
Kapitel 2 – Teil des Alltags
Kapitel 3 – In unser Gesellschaft
Kapitel 4 - Ein nie endender Kampf
Kapitel 5 – Kein Ausweg
Nachwort
Weitere Quellen während meiner Recherche
Freiwillig
Julia Augustin
Julia Augustin
Freiwillig
Berlin 2024
*
Das Honorar für diesen Roman spende ich dem Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland ABiD e.V.
*
Da stehe ich, halte die Waffe in der Hand.
Ich weiß, dass ich es tun werde.
Ich muss.
Es geht nicht anders.
Ich muss.
Entweder sie oder er.
Was ist er schon?
Ein Mensch?
Doch ich falle, falle so tief…
Auch ich war glücklich.
Auch ich konnte lachen.
Auch ich konnte mich verlieren.
Auch ich glaubte.
Ich vertraute.
Ich wollte
So vieles
Ich ertrank in Träumen
Ich verrannte mich in Sehnsüchten
Ich liebte sie
Freiheit
Nichts erschien mir schöner
Glück
Ich war glücklich
Unendlich
Frei
Was war ich frei!
Voller Ideen!
Voller Lebensmut!
Voller Gedanken über Zukunft
Vernunft
Liebe
Liebe tut bloß weh
Durch sie ist alles Vergangenheit
Ich war einmal
glücklich
hoffnungsvoll
frei
Heute kämpfe ich…
*
Das schönste Erlebnis meiner Kindheit war es, nicht allein zu sein.
Es geschah genau um 23:59Uhr, dass zuerst ich und am nächsten Tag wenige Minuten nach mir in jenem August meine Zwillingsschwester Luisa auf die Welt kamen.
Unsere Eltern hatten erst gar nicht damit gerechnet, gleich zwei Kinder auf einmal zu empfangen. Gewiss waren sie dadurch am Anfang sehr gefordert. Zumindest erzählen sie heute, dass vor allem ich sie ständig wach hielt. Ständig hatte ich eine Kolik, Fieber, Gelbsucht… - alles, was das erste Jahr so an Strapazen für ein Kind bereithalten kann.
Meine kleine Schwester hingegen fügte sich sofort in ihre Umgebung.
Sie jammerte nicht.
Sie weinte nicht.
Sie schrie nicht die ganze Welt mit ihrer zarten Babystimme zusammen.
Die Leute werden sicherlich meine Eltern um ein so pflegeleichtes Kind beneidet haben. Aber nach einiger Zeit habe ich sie dafür eines Besseren belehrt.
Wie soll man sich schließlich sonst schon als winziges Wesen bemerkbar machen?
Luisa und ich waren zwar als zweieiige Zwillinge geboren worden, doch hätten wir nicht unterschiedlicher sein können: Während ich meine Umwelt gerne mit meiner ungewöhnlich kräftigen Stimme tyrannisierte, fiel sie mit ihrer sanften Art kaum auf. Später in der Schule war sie die Fleißigere, die überall die Einsen sammelte. Ich kannte hingegen viele Noten. Ich war von Anfang an flexibel für das, was gerade verfügbar war. In den Pausen oder in den Ferien verschlang sie für ihr Leben gern irgendwelche Bücher, während ich mit meinen Freund:innen umher tobte oder lieber gleich eigene Geschichten erfand.
Dabei benötigten wir kaum andere Kinder, um unsere Freizeit zu füllen. Immerhin hatten wir uns beide. Wir beide erschienen nach außen wahrscheinlich wie Feuer und Wasser, aber in Wahrheit bildeten wir die perfekte Ergänzung. Wir wurden zweieiig geboren, doch wenn wir gemeinsam ganze Welten erschufen, uns versteckten, uns jagten, Abenteuer suchten, waren wir unzertrennlich.
Einmal hatten wir uns sogar beim Spielen auf den umliegenden Feldern verloren und gar nicht registriert, dass ein kräftiges Sommergewitter herangezogen war. Ganz vertieft suchten wir noch zwischen den Getreideähren einen geheimen Schatz, summten fröhlich, lachten und fantasierten: „Aus Spaß...“.
Da donnerte es plötzlich kräftig. Augenblicklich goss es wie aus Eimern.
„Gewitter!“, rief Luisa panisch und zitterte am ganzen Körper.
„Wir müssen nach Hause!“, drängte es mich.
„Nein!“, fasste sie mich am Arm.
„Los, worauf wartest du?“, wurde ich ungeduldig. „Papa sagt immer, dass man bei Gewitter auf dem Feld ganz leicht von einem Blitz getroffen werden kann. Dann leuchtet man“, überschlug sich die vor Panik schrille Stimme meiner Schwester.
„Und was ist schlimm, wenn man leuchtet?“, verstand ich mit meinen sechs Jahren nicht.
„Er hat gesagt, dass man sich ganz klein machen muss und hinhocken“, fing sie an zu weinen. „Wenn ein Blitz dich trifft, dann ist es vorbei.“
„Vorbei?“, lachte ich ungläubig. „Was denn?“
„Keine Ahnung“, zuckte sie mit den Schultern und schluchzte jetzt lauter.
„Dann hocken wir uns auf die Erde“, beschloss ich und hob mit meinen kleinen Fingern ernst ihr Kinn, damit sie mir in die Augen sah.
„Ich habe Angst“, kuschelte sie sich wie immer in meine Arme.
„Runter“, wurde auch mir bei den Blitzen und Donnern mulmig.
Das Gewitter rückte immer näher. Die Blitze spalteten den Himmel in mehrere Teile. Ich versteckte meine Augen hinter meiner kleinen Hand, um nicht alles sehen zu müssen.
Luisa weinte leise in meinem Arm.
„Hast du keine Angst?“, fragte sie, als ich meinen Kopf doch häufig zum Himmel drehte.
Genau in dem Moment krachte es gewaltig, sodass die ganze Erde zitterte. Unwillkürlich schloss ich die Augen. Unsere Hände krallten sich ineinander.
Ich vergaß zu atmen, dann japste ich nach Luft.
Wir drückten die Beine fest in die matschig gewordene Erde. Es schmeckte ekelhaft. Das ganze Gefühl war ekelhaft. Nass, kalt, erdig.
Wir hielten den Atem an. Luisas kleine Brust hob und senkte sich schnell.
„Was war das?“, flüsterte sie und ihre kleinen grünen Augen schauten mich mit Todesangst an.
„Leise!“, drückte ich uns wieder auf den Boden.
Wenn die nächsten Blitze den ganzen Himmel erhellten, kurz darauf die Erde unter uns vibrierte, schrien wir jedes Mal kurz leise auf.
Nie in meinem jungen Leben hatte ich solche Angst gehabt.
Wenn ein Blitz dich trifft, dann ist es vorbei…
Ich fürchtete, wir würden sterben.
Irgendwann kroch die Kälte in unsere Glieder, irgendwann atmeten wir nur noch erschöpft. Ich hielt mir die Ohren zu, kniff die Augen fest zusammen. Ich dachte an Prinzessin Lina und den verwunschenen Schatz. Ich dachte an unsere Eltern.
Dann wurde es schwarz um uns herum.
Vielleicht war es vorbei.
*
„Ich dachte, dass wir sterben werden“, erzählte ich unseren Eltern, die ihr Glück kaum fassen konnten, dass sie uns auf dem Feld gefunden hatten.
„Ich bin gestorben“, blickte meine Schwester starr aus dem Fenster des Autos.
„Hier ist der Schatz“, drückte ich ihr mein Lieblingsarmband in die Hand und lächelte.
„Du lügst“, lachte sie sofort.
„Der passt dir sogar“, freute ich mich, dass ihre Angst verflog.
„Ich habe auch einen Schatz für dich“, drückte sie mir dann etwas in die Hand.
Neugierig blickte ich hinab: Sie hatte mir ihren Ring geschenkt. Luisa sammelte damals mit großer Leidenschaft ausgerechnet diese Schmuckstücke. Sie hatte sogar versucht, unseren Eltern die Eheringe abnehmen zu können, war am Ende jedoch gescheitert. Stattdessen hatte sie zu unserem Geburtstag einen eigenen mit einem grünen Glitzerstein bekommen.
„Für mich?“, lachte ich ungläubig.
„Für mich?“, streckte sie scherzend ihren schmalen Arm mit meinem Armband vor. Natürlich war es eines meiner schönsten und ich hatte gar nicht viel darüber nachgedacht, sondern nur spontan gehandelt.
„Der ist wunderschön“, steckte ich mir den Ring an den Finger.
Verschwörerisch grinsten wir uns an.
„Du hast mich gerettet“, drückte ich meinen Kopf an sie.
„Du hast mich gerettet“, legte sie den ihren darauf.
„Gar nicht“, wehrte ich mich. „Du wusstest schließlich, dass man sich hinhocken muss.“
„Ja, schon“, wurde ihre Stimme leiser. „Aber ohne dich wäre ich vor Angst gestorben.“
*
Wir hatten eine wunderbare Kindheit. Uns fehlte es an nichts. Mama und Papa arrangierten alles, was sich ein Kinderherz erträumen kann. Wir verbrachten die schönsten Ferien, reisten bis nach Schweden oder Dänemark. Wir träumten, stellten uns in den Wind und riefen: „Wenn wir jetzt wegfliegen, wo werden wir landen?“
„In Afrika“, war ich stolz, einen anderen Kontinent zu kennen.
„Asien“, seufzte Luisa mit ihrem langen geflochtenen blonden Zopf neben mir.
„Was ist das Asen?“, fragte ich.
„Ein anderer Kontinent, Asien“, ließ sie die Augen geschlossen.
„Ich möchte die ganze Welt sehen“, drehte ich mich mit ausgestreckten Armen.
„Ja, die ganze Welt“, grinste sie neben mir.
„Andere Kinder kennenlernen“, träumte ich.
„Wir haben doch uns“, hielt sie inne.
„Andere Kinder“, beharrte ich allerdings.
Mama und Papa spielten viel mit uns. Mitunter verbrachten wir ganze Tage an den schönen Ostseestränden, warfen uns als Familie den Ball zu, wanderten und sammelten unterwegs hübsche Muscheln oder Steine, lachten.
In meiner Kindheit lachten wir fast immer.
*
Mama und Papa hatten sich bei der Arbeit kennengelernt. Er war eigentlich ihr Chef, aber sie nicht wie in all den Klischees die Sekretärin. Sie arbeitete als Apothekerin in seinem Familienunternehmen.
„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, platzten meine Schwester und ich eines Tages vor Neugier wie wohl alle Kinder.
„Beim Bewerbungsgespräch“, grinste Papa.
„Was ist das?“, fragte Luisa.
„Dabei war ich vorher stets treue Kundin“, lächelte Mama.
Unsere Eltern verband fast so viel wie uns Zwillinge. Sie verstanden sich ohne ein Wort. Selten stritten sie und niemals wurden sie laut dabei.
An ihrem Glück hegte ich keinerlei Zweifel.
Mama war in der Stadt aufgewachsen. Sie hatte sich im Urlaub mit einer Freundin beim Radfahren verletzt und sich daher in die Apotheke verirrt.
Zwei Wochen später saß sie dem Besitzer im Bewerbungsgespräch gegenüber. Sie war erst fünfundzwanzig Jahre alt, Papa dagegen schon fast vierzig.
Dennoch schien die Sache beschlossen.
So wuchsen wir in einem kleinen Landhaus mitten im mecklenburgischen Nirgendwo auf. Dort weckten noch der Hahn und die alte Kuckucksuhr im Wohnzimmer.
Man konnte nachts die Sterne direkt aus unserem Kinderzimmer zählen.
Um unser kleines Dorf mit den einhundert Einwohnern gab es nichts als Felder. Felder, Felder, nochmals Felder voller Weizen.
Im Sommer verbrachten wir fast den ganzen Tag gemeinsam an der frischen Luft.
Im Winter bauten wir Schneemannfamilien.
Im Frühjahr sangen wir mit den Vögeln.
Im Herbst beobachteten wir ihren Zug.
„Ich möchte auch ein Vogel sein“, legte ich mich in das Gras.
„Das ist viel zu langweilig“, kicherte Luisa albern.
„Du bist langweilig“, pikte ich sie verärgert in die Seite.
„Menschen können doch viel mehr“, riss sie ihre schönen Augen auf und spitzte die schmalen Lippen.
„Aber Menschen sind auch dumm“, setzte ich mich langsam auf.
„Vögel noch dümmer“, konterte sie.
„Sie führen keinen Krieg“, seufzte ich und dachte daran, was uns unsere Großeltern aus ihrer Kindheit erzählt hatten.
Von der Flucht aus Schlesien. Der Angst vor Flugzeugen. Dem Hunger. Dem Winter. Dem Tod.
„Vögel töten auch“, erwiderte Luisa nach einiger Zeit.
„Ich werde aber ein lieber Vogel werden“, gab ich mich noch nicht geschlagen.
„Du kannst genauso gut ein lieber Mensch werden“, wusste ich, ohne sie anzusehen, dass sie wieder ihr kluges Lächeln im Gesicht trug.
„Versprichst du mir, dass wir uns nie streiten werden?“, verlangte ich.
„Versprochen“, schlug sie in meine Hand ein und streckte wie als Beweis den Arm mit meinem funkelnden Armband zum Himmel.
„Wir werden uns immer vertragen“, träumte ich.
„Wir brauchen niemand anderes“, stimmte sie mir zu.
„Außer Freund:innen“, wurde ich nach einiger Zeit nachdenklicher.
„Aber du hast doch mich“, verzog sie die Stirn gekränkt.
„Klar. Du bist meine beste Freundin und Schwester und alles. Aber die anderen aus der Schule sind doch ebenfalls nett.“
Luisa sagte nichts.
*
Die schönsten Tage blieben unsere Geburtstage. An meinem freuten wir uns beide über die Geschenke – Luisa über die Bücher, ich über die Schreibhefte, das Spielzeug – und an ihrem genau einen Tag darauf erblühten erneut unsere Kinderherzen. Nie trennten wir und sagten: „Das habe ich bekommen. Das gehört dir.“
Wir beide feierten stets Geburtstag. Wir beide erhielten die Geschenke.
Uns trennte ein Tag, sodass ich in der Theorie die große Schwester blieb. Dabei erlebten wir alles im Doppelpack.
Über manches lachten wir. Zum Beispiel musste Mama nur mit Luisa in die Stadt zum Einkaufen fahren. Die Kleidung, die meiner Schwester gefiel, entzückte mich genauso. Der Unterschied war nur, dass ich schon damals Einkaufen wie die Pest hasste.
Stattdessen begleitete ich Papa gerne in die Apotheke, setzte mich still und artig daneben, beobachtete, wie er für jede hereinkommende Person ein nettes Wort parat hatte. Gerne schaute ich ihm dabei zu, wie er mit seinem schon schütteren blondem Haar und dem kugelrunden Gesicht, den tief zurückliegenden dunklen Augen hinter der Brille aufmerksam die Leute musterte, das Gesicht plötzlich zu einem warmherzigen Lächeln verzog, die kleinen Augen vor Feuer sprühten. Hinterher betrachtete ich mich selbst manchmal im Spiegel, zog die Mundwinkel nach oben, zeigte meine großen Zähne. Ähnlichkeiten entdeckte ich zu meinem Bedauern wenige. Ich hatte Mamas grüne Augen, das schmale Gesicht mit dem tiefen Haaransatz und den ständig kreuz und quer liegenden rot-braunen Locken. Nur die Interessen teilte ich eher mit Papa. Wir begeisterten uns beide für alles Mystische, Fabeln, Märchen, Geschichten. Eines Tages las er mir sogar ein Gedicht vor, dass ich als kleine Achtjährige noch gar nicht richtig verstand. Erst Jahre später wusste ich es besser zu schätzen und begriff, dass uns beide von Anfang an viel mehr verband.
Mama und Luisa liebten dafür die Tiere, das Einkaufen, Malerei.
Insofern war das ziemlich gut in unser Familie verteilt, denn niemand musste allein bleiben.
*
Als wir eingeschult wurden, besuchten wir beide nicht die gleiche Klasse. Papa und Mama hatten sich dafür stark gemacht, dass wir lernten, etwas getrennter Wege zu gehen. Dabei weinten wir beide am ersten Tag.
„Warum dürfen wir nicht in der Schule zusammen sein wie immer?“, schluchzte meine Schwester.
„Was ist falsch daran, wenn wir niemand anderes brauchen?“, fügte ich mit rasender Wut in mir hinzu.
Betroffen schauten unsere Eltern sich an.
Hatten sie vielleicht einen der größten Fehler begangen?
„Ich werde erst wieder in die Schule gehen, wenn wir dieselbe Klasse besuchen dürfen“, stapfte ich in unser gemeinsames Spiel- und Schlafzimmer.
Luisa sagte gar nichts mehr.
Wütend breitete ich mein Heft vor mir aus, erledigte die ersten Hausaufgaben.
„Maria, es war keine leichte Entscheidung“, hatte ich anfangs gar nicht bemerkt, dass sich Papa neben mich gesetzt hatte.
„Lass mich“, rückte ich noch immer wütend von ihm ab, als er mir zärtlich mit seiner großen Hand über den Kopf strich.
„Schau mal, jetzt teilt ihr beide alles. Aber eines Tages werden sich eure Wege gezwungenermaßen trennen. Ihr werdet eigene Freund:innen finden. Ihr werdet heiraten, eine eigene Familie haben...“, nervten mich seine sanft gesprochenen Worte sofort.
„Aber warum jetzt?“, legte ich meinen Stift beiseite und musterte ihn so wütend wie noch nie in meinem Leben.
„Wir dachten, dass es besser wäre...“, färbte sich Papas Gesicht rot, während seine Augen unsicher hin- und herhüpften.
„Trennungen schmerzen immer. Aber jetzt ist es noch leichter“, verstand ich ihn damals nicht.
„Ich werde nur mit Luisa in die Schule gehen“, widmete ich mich wieder dem Heft.
Resigniert hob er die Hände in die Luft und stand auf.
„Und heiraten möchte ich sowieso nie“, erklärte ich ihm an der Tür.
Abrupt hielt er inne, blickte mir erst forschend ins Gesicht, ehe er plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach.
„Auch du wirst eines Tages, wenn du ganz groß und erwachsen bist, jemanden finden.“
An dem Tag hasste ich ihn noch mehr. Er hatte seine Vorbildfunktion für mich verloren. Wie konnte er mich immerhin von dem liebsten Menschen meiner Kindheit ohne mein Einverständnis trennen? Wie sollte ich als Schulanfängerin solche abstrakten Gründe wie Heirat und Selbstentwicklung verstehen? Ich wollte nur eines: Bei meiner klugen Schwester bleiben.
Daher aß ich am Abend nichts. Ich streikte zum ersten Mal in meinem Leben. Auf Mamas Bitten und Papas Zureden hörte ich gar nicht, drehte mich in meinem Bett zur Wand und weinte, bis sie mich in Ruhe ließen.
Als sie mich am nächsten Tag für die Schule weckten, hatte ich Bauchschmerzen. Ich hielt die Augen einfach geschlossen.
Ich weigerte mich.
Ich weigerte mich, zu frühstücken.
Ich weigerte mich, mich anzuziehen.
Ich weigerte mich, das Haus zu verlassen.
Ich verweigerte mich allem.
„Wollen wir nicht spielen?“, stand Luisa am Nachmittag bei mir.
Mein Herz zitterte. Plötzlich überschlugen sich meine Gedanken.
„Ich weiß, dass du keine Bauchschmerzen hast“, erklärte sie ganz ruhig mit ihrer zarten und stets etwas schrill klingenden Stimme.
„Wir sehen uns doch vor der Schule und nach der Schule, in den Pausen“, setzte sie sich neben mich und strich durch mein krauses Haar.
Ihre Worte schmerzten.
Ich begriff, dass alles längst entschieden war.
„Ich möchte in deine Klasse“, verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Aber ich möchte mit dir spielen, keine bockige Schwester haben“, erwiderte sie.
„Ich bin nicht bockig“, spürte ich erneut Wut.
„Tu es für mich“, bat sie.
Sofort drehte ich mich um.
„Möchtest du das wirklich?“, schaute ich ihr tief in die Augen.
Sie nickte.
Unsere Kinderaugen bohrten sich ineinander, bis ich grinsen musste.
„Jetzt komm“, zog sie mich schon auf die Beine.
So aß ich zum ersten Mal wieder mit meinen sichtlich erleichterten Eltern, ging am nächsten Tag in meine Klasse. Zum Abschied winkten wir uns noch zu.
Nach der Schule gab es dann tatsächlich weiterhin unsere gemeinsame Zeit.
So lernte ich meinen ersten Freund kennen. Martin war mein Sitznachbar. Man konnte ihn immer gut ärgern, weil er ständig rot wurde. Er war kleiner als ich, schmaler gebaut, hatte noch blassere Haut als meine Schwester oder ich und leuchtend rotes Haar. Seine Augen waren hinter einer dick umrahmten Brille versteckt.
Während sich die anderen Kinder schnell zusammenfanden, blieben Martin und ich zurückhaltend. Ich sehnte die Pausen herbei, wenn meine Schwester und ich endlich wieder beisammen waren. Martin verbrachte sie ganz allein.
Aber eines Tages kam Luisa mit einem anderen Mädchen aus ihrer Klasse, Jennifer. Natürlich durfte ich mitspielen. Aber die Freundin meiner Schwester konnte ich nur schwer akzeptieren. Sie buhlte um Aufmerksamkeit. Sie machte Geschenke. Sie tuschelten, lachten.
Daher erklärte ich eines Tages, dass ich diesmal nicht dabei sein würde.
„Warum nicht?“, verstand meine Schwester nicht.
„Ich...“, kickte ich einen Stein beiseite.
„Lass sie doch“, freute sich Jennifer sichtlich.
Luisa sagte wieder gar nichts wie an jenem Tag, als man uns zum ersten Mal trennte, hielt nicht gegen oder protestierte. Sie drehte sich auch nicht um, als ich mich allein in eine Ecke auf dem Schulhof setzte. Sie bekam gar nicht mit, dass plötzlich Martin neben mir stand, mich fragte: „Wollen wir etwas spielen?“
Genauso wenig hörte sie zum Glück meine trotzige Antwort: „Nein, ich habe keine Lust!“
Sie erfuhr nicht, wie er sich, anstatt wegzurennen, neben mich setzte, sich erkundigte: „Warum weinst du?“
Sie sah nicht, wie ich am Ende aufstand und zum ersten Mal die Pause mit ihm verbrachte.
Martin war wirklich ein treuer Freund. Er machte alles, was ich sagte. Gemeinsam schufen wir unsere Traumwelten, gemeinsam verbrachten wir sogar die Nachmittage.
Luisa weinte deshalb beim ersten Mal. Dabei ließen wir sie mitspielen. Ich konnte doch nichts dafür, dass sie unsere Traumwelten nicht verstand und sogar langweilig fand.
„Du hast mich verraten“, warf sie mir vor.
„Du mich auch“, stritten wir uns zum ersten Mal.
„Ich?“, schrie sie.
„Ja“, beharrte ich. „Lade dir doch auch deine Jennifer ein!“
„Du bist gemein!“, weinte sie.
„Und du?“, weinte nun auch ich.
„Sag ihm für mich, dass er nicht mehr kommen soll. Du hast es mir versprochen, dass wir hier zu Hause alles nur zu zweit machen“, stand sie direkt vor mir.
„Nein!“, schaute ich ihr fest in die Augen.
„Versprich es!“, sprühten ihre Augen wild vor Zorn.
„Nein, ich kann das nicht!“, weinte ich.
„Du hast mich gar nicht mehr lieb!“, verließ sie da das Zimmer.
*
Von da an trennten sich unsere Wege immer mehr. Papa teilte unser riesiges Zimmer in zwei Hälften, damit Luisa in ihrem und ich in meinem Hausaufgaben erledigen oder Freund:innen empfangen konnten. Wir stritten uns häufiger, zogen uns sogar manchmal an den Haaren oder kniffen.
Irgendwann machten wir gar nichts mehr gemeinsam.
Meine Schwester verbrachte die Zeit mit ihren Freundinnen, die immer mehr wurden. Ich hatte Martin gefunden oder er besser mich.
So verging das erste Schuljahr.
*
Wahrscheinlich waren es am Ende die Ferien, der nächste Urlaub diesmal im norwegischen Fjord. Die Erfahrung, plötzlich im Ferienhaus ein Zimmer teilen zu müssen.
Luisas Einwand zu Beginn: „Du stinkst!“
Meine Antwort: „Du stinkst noch mehr!“
Unser plötzliches Kichern.
Das gleichzeitige zueinander Drehen.
„Du bist so dumm!“
Das erste Mal, dass wir uns wieder wie zwei kleine Schwestern umarmten. Sie mir das Armband vorstreckte, obwohl ihr Jennifer längst auch eines geschenkt hatte.
„Ich habe dich doch immer bei mir.“
Sie lächelte.
Ich strahlte.
„Deinen Ring habe ich auch...“
„Warum trägst du ihn dann nicht?“, war ihr jedoch aufgefallen.
„Soll ich?“, holte ich ihn aus meinem kleinen Schmuckkästchen hervor.
„Wenn ich weiterhin alles für dich bin, dann ja“, lagen wir Gesicht an Gesicht direkt nebeneinander.
„Gut“, steckte ich ihn mir an den Finger.
„Weil du das bist“, strich ich durch ihr immer länger werdendes Haar.
Im Urlaub konnten Mama und ich ihr lange Zöpfe flechten. Das Kämmen gefiel mir bald noch mehr.
„Du bist Rapunzel“, beschloss ich.
„Du die Ronja Räubertochter“, kicherte sie und fasste durch mein struppiges Haar.
„Pippi Langstrumpf“, neckte Mama. „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“
Vielleicht habe ich deshalb den Urlaub in Norwegen als einen der schönsten in Erinnerung.
Vielleicht vertrugen wir uns daher in Zukunft in der Schule besser. Manchmal spielten Martin und ich mit den anderen Mädchen, manchmal kam Luisa bei uns dazu.
Das zweite Schuljahr verging und so waren wir beide am Ende Klassenbeste.
Wir hatten sogar genauso viele Einsen auf dem Zeugnis. Zwar lagen uns nicht die gleichen Fächer, aber zumindest musste sich keine schlechter fühlen. Das änderte sich später etwas, als ich in der Pubertät Karussell fuhr und tief in das Notenspektrum fasste. Das änderte sich noch einmal, als Luisa sich zum ersten Mal verliebte und nicht mehr so fleißig lernte.
Aber für die Kindheit war vorgesorgt.
*
Im dritten Schuljahr zog eine neue Familie in unser Dorf. So lernten wir Emilia kennen. Die war ein sehr kräftiges, aber zugleich sehr herzliches Mädchen. Meine Schwester und ich mochten sie beide. Daher wurden wir beide auch zu den Geburtstagsfeiern eingeladen. Wir beide spielten am Wochenende mit ihr, wenn ihre Eltern im Krankenhaus und bei der Polizei arbeiten mussten.
Manchmal klingelte sie täglich am Nachmittag an unser Tür, da sie keine Geschwister hatte.
„Dafür muss ich nichts teilen“, zuckte sie mit den Achseln, als wir sie bemitleideten.
„Hä? Teilen ist doch nichts Schlimmes!“, kicherte ich.
„Schau mal: Ich trage sogar ihr Armband“, verriet meine Schwester.
„Und ich ihren Ring“, zeigte ich stolz.
„Dann sind wir drei eben Schwestern“, erklärte Emilia nachdenklich.
*
Aber die gemeinsame Freundschaft endete abrupt, als Emilia irgendwann komische Verhaltensweisen an den Tag legte. Sie sagte häufiger gemeine Sachen oder versuchte, mich allein für sich zu gewinnen.
„Heute können doch nur wir miteinander spielen. Deine Schwester ist noch nicht einmal da“, verdrehte sie die Augen.
„Sie wird gleich kommen“, rührte ich mich jedoch keinen Zentimeter.
„Warum macht ihr immer alles zusammen?“, rückte sie näher an mich.
„Warum soll sie nicht dabei sein?“, schaute ich sie ernst an.
„Ich möchte heute nur mit dir spielen“, legte sie ihren Kopf auf meine Schulter.
„Weißt du was“, schüttelte ich sie von mir und stand wütend auf. „Du nervst mich manchmal!“
Noch in derselben Woche versuchte sie ihr Glück daher bei meiner Schwester.
Auch sie blieb standhaft.
Als ich allerdings von diesen Versuchen erfuhr, wurde ich wütend: „Ich möchte nicht mehr mit Emilia befreundet sein.“
„Warum denn?“, setzte sich Luisa an meine Seite.
„Sie ist komisch“, schoss ich einen Stein beiseite.
„Sie hat es doch nicht geschafft“, legte meine Schwester ihren Arm um meine Schulter.
„Was?“, schaute ich unzufrieden auf. „Was hat sie nicht geschafft?“
„Sie ist eifersüchtig“, zuckte sie grinsend mit den Achseln.
„Sie macht alles kaputt“, blieb ich missmutig.
Doch am Ende ließ ich mich zu den Spielen überreden. Tatsächlich wagte Emilia keinen weiteren Versuch.
Nur als Luisa und ich eines Tages wegen einer Kleinigkeit stritten, kam sie durch Zufall dazu und schlug ohne Vorwarnung meine Schwester direkt ins Gesicht. Die brach sofort in Tränen aus.
In dem Moment ging mir ein Lichtlein aus.
Binnen Sekunden drehte ich mich um und schrie Emilia an: „Hau ab! Hau ab! Verschwinde! Warum tust du so etwas?“
Überrascht erstarb augenblicklich deren diabolisches Grinsen. Mit großen Augen schaute sie mich an.
„Luisa, Luisa! Es tut mir Leid“, nahm ich meine Schwester in den Arm.
Die schluchzte weiter herzzerreißend. Niemand hatte sie bisher geschlagen. Selbst wir beide kniffen uns maximal, was jedoch selten war.
„Ich wollte dir doch nur…“, weinte Emilia jetzt auch.
„Verschwinde“, knurrte ich böse und funkelte sie wütend an.
„Ich wollte dir doch nur helfen!“, setzte sich das andere Mädchen daneben.
„Niemand wird meine Schwester schlagen. Verstehst du? Niemand!“, rückte ich von ihr.
Die beiden versöhnten sich danach, aber ich blieb hart.
Für mich endete die Freundschaft.
Stattdessen verbrachte ich Zeit mit Martin oder neuerdings mit zwei Mädchen aus der Schulklasse.
„Warum möchtest du nicht mitkommen? Jetzt machen wir viel weniger zusammen“, legte sich Luisa eines Nachmittags traurig zu mir auf das Bett.
„Sie hat dich geschlagen“, erinnerte ich und griff beschäftigt nach meinem Buch.
„Sie hat sich entschuldigt!“, verteidigte meine Schwester zu meiner Überraschung.
„Sie hat dich geschlagen“, drehte ich mich zur Seite, um ihr zu verdeutlichen, dass meine Entscheidung feststand.
„Irgendwann muss man verzeihen“, hielt sie in der Tür inne.
„Meine anderen Freund:innen machen das nicht“, klappte ich das Buch zusammen und schob mich an ihr vorbei.
*
Als wir zehn Jahre alt waren, wurde Mama noch einmal schwanger.
Luisa und ich fanden das richtig aufregend und stritten uns ständig über den Namen. Vor allem wollten wir alles darüber erfahren, woher die Kinder kommen, wie sie wachsen, wie sie entstehen.
Unsere Eltern schenkten uns am Ende ein Buch. Sie meinten, dass es allmählich ohnehin Zeit sei, sich mit dem Erwachsenenwerden auseinanderzusetzen.
Kichernd blätterten wir die Seiten durch.
„So ein Blödsinn! Hast du eine Brust?“, beäugten wir uns lachend.
„Wir werden Kinder bleiben“, beschloss ich.
„Für immer? Du spinnst“, grinste sie.
„Warum nicht? Ist doch schön! Wir können spielen, lernen, spielen, träumen…“, fantasierte ich.
„Wenn ich irgendwann einen Sohn wie Mama habe, wird er Jakob heißen“, legte Luisa fest.
„Weshalb Jakob?“, setzte ich mich im Gras auf. „Wie bei Bruder Jakob“, sang ich.
„Du bist albern. Du bist wirklich noch ein Kind!“, fand sie es nicht lustig.
„Was ist schön daran, erwachsen zu sein?“, forderte ich sie heraus.
„Man kann heiraten…“, lächelte sie verträumt.
„Oh Gott“, ließ ich mich theatralisch ins Gras fallen.
„Maria!“, schüttelte mich meine Schwester, als ich mich ohnmächtig stellte.
„Und dieser Herzschmerz. Romeo, oh, Romeo…“, griff ich an meine Brust und rannte vor ihr auf und ab. „Ganz ehrlich: So etwas Dummes!“
Sie brach in schallendes Gelächter aus.
„Du wirst Schauspielerin werden und anderen die Herzen brechen“, strich sie durch ihr langes Rapunzelhaar.
„Schauspielerin ja“, schnippte ich zufrieden mit den Fingern. „Aber Herzen möchte ich gewinnen, nicht zerstören.“
*
Am Gymnasium trennten sich ein weiteres Mal die Wege. Eine ganze Stunde lang mussten wir am Morgen mit dem Bus bis in die Stadt fahren. Luisa weckte mich stets mit voller Energie, wenn mein Wecker schon zum dritten Mal schrillte. Verschlafen startete ich in den Tag. Ich hasste das zeitige Aufstehen.
Genauso bedeutete für mich die Schule eine Umstellung. Manche Kinder, die aus der Stadt kamen, waren so anders als wir. Die Mädchen spielten kein Fußball, kletterten oder rannten wild. Stattdessen tuschelten sie in ihren Kreisen und beobachteten die wenigen Jungen in der Klasse.
„Wie findest du…?“, kreisten die Gespräche bald nur noch darum.
„Er ist eigentlich ganz süß, oder?“, schwärmten sie.
„Heute hat er mich aber länger als dich angesehen. Bilde dir nichts darauf ein!“, konkurrierten sie.
„Maria, du bist so still!“, entdeckten sie mich, wie ich mich an die kalte Schulmauer lehnte und die Augen unter der wärmenden Sonne schloss.
„Hast du einen Freund?“, bauten sie sich vor mir auf.
„Hm?“, wischte ich mir müde über die Augen.
„Oh, sie wird rot!“, schauten sie sich merkwürdig an.
„Ja, nicht nur einen“, machte ich mir einen Spaß daraus.
„Aha, so eine bist du!“, rümpften sie die Nase.
„Und habt ihr euch schon geküsst?“, traten sie neugierig näher.
„Was?“, rief ich aufgebracht. „Also, also… Wir spielen Fußball und so…“
*
In der siebten Klasse hatten jedoch immer mehr Mädchen ihren ersten Freund. Die ersten hatten ihre Menstruation. Die Körper veränderten sich. Manche sahen bereits wie kleine Erwachsene aus. Sie schminkten sich. Sie färbten die Haare. Sie verhielten sich so komisch und albern. Manchmal kicherten sie ohne Grund, bis selbst den Lehrer:innen die Geduldsschnur platzte.
Überhaupt: Mir waren sie peinlich.
Da schätzte ich es umso mehr, zu Hause mit Martin und seinen Kumpels wie in früheren Zeiten beim Fußball dabei zu sein.
Mich interessierten diese Dinge noch gar nicht. Ich las noch immer gerne Bücher, schrieb Geschichten, Gedichte, träumte viel. Mit Schminke konnte ich nichts anfangen. Mit Jungen außer beim Spielen erst recht nichts.
Einmal sprach es sich herum, dass wohl jemand Gefallen an mir hätte.
„Und? Werdet ihr euch treffen?“, ließen die anderen Mädchen nicht locker.
„Ich bin erst zwölf!“, nahm ich verwirrt meinen Rucksack auf die Schulter.
„Die hat doch eh viele Freunde… Wie heißen die eigentlich?“, folgten sie mir.
„Ihr habt vielleicht Probleme“, verdrehte ich genervt die Augen.
Zu Hause erzählte ich meiner Schwester von den langweiligen Gesprächen. Bestimmt erging es ihr ähnlich. Meine Idee war, dass wir beide eventuell wieder häufiger die Pausen miteinander verbringen könnten wie in früheren Zeiten. Dann gäbe es bestimmt andere Themen!
Aber sie überraschte mich: „Ehrlich gesagt wünsche ich mir auch einen Freund“, lehnte sie sich zurück und verbarg ihr Gesicht.
Trotzdem sah ich, dass ihre blassen Wangen sich rot färbten.
„Bist du etwa verliebt?“, grinste ich fassungslos.
„Ich weiß nicht“, spähte sie zwischen ihren Fingern hervor.
„Ne, oder?“, brachen wir beide ohne Grund in Lachen aus.
„Das ist wahrscheinlich ziemlich dumm“, schämte sie sich.
„Nein, natürlich nicht. Was stand in Papas und Mamas Buch?“, zog ich es aus dem Regal.
„Es ist alles so verrückt!“, drückte sie mich mit einem ganz seltsam verträumten Blick.
„Wie heißt er?“, legte ich mich neben sie.
„Jonas“, hörte ich bereits an ihrer Stimme, wie schlimm es um sie stand.
*
Die Sache verlief allerdings nicht lange gut. Am Anfang schienen sich die beiden tatsächlich gefunden zu haben. Sie gingen zusammen ins Kino. Luisa schminkte sich zum ersten Mal mit ihren dreizehn Jahren wie eine Erwachsene. Ich durfte ihr stundenlang die Haare frisieren.
Sie hatte sich verändert. Vor allem aber wurde sie ruhiger.
Doch eines Tages traf ich sie weinend in ihrem Zimmer an.
„Was ist los?“, strich ich ihr zärtlich über das lange goldene Haar.
„Lass mich“, schluchzte sie.
„Okay…“, setzte ich mich stattdessen auf ihr Bett und beobachtete sie genau.
Die schwarze Wimperntusche war bereits unter den Tränen in ihrem Gesicht verlaufen. Der rote Lippenstift hatte seine Spuren auf ihrer schmalen Hand hinterlassen. Die blasse Haut wirkte dadurch noch heller als sonst. Überhaupt hatte sie Augenringe und wirkte wahnsinnig unglücklich. Am liebsten hätte ich sie in meine Arme wie früher geschlossen, als ich sie immer vor allem und jedem beschützen wollte.
Jetzt knurrte sie jedoch: „Warum gehst du nicht? Geh einfach! Lass mich in Ruhe!“
„Was ist mit dir los?“, erwiderte ich gekränkt.
„Lasst mich einfach alle in Ruhe! Ich bin doch eh niemandem wichtig!“, wurde ihr Schluchzen lauter.
Sprachlos stand ich im Türrahmen.
Was war mit meiner Schwester los?
„Gut, ich werde gehen“, erklärte ich mit einem Kloß im Hals. „Aber eines möchte ich dir sagen: Du bist mir wichtig!“
Krachend flog die Tür hinter mir ins Schloss.
Ich spürte eine solche Wut in mir. Wie konnte sie so etwas über mich denken? Wie konnte sie überhaupt so etwas sagen? Was konnte ich dafür, dass sie unglücklich an diesem Tag war?
Ja, das war die Pubertät! Auch meine Gefühle kreisten. Meine Gefühle fuhren wohl täglich Achterbahn. Ich interessierte mich nicht wirklich für diese Dinge wie die anderen Mädchen. Ich war viel zu sehr mit meinem eigenen Körper beschäftigt, meinen Gefühlen. Sie schwankten von jetzt auf gleich. Eben hatte ich alles gut gefunden, war euphorisch durch die Welt gegangen, drei Sekunden später kippte es. Im nächsten Moment fiel ich in ein tiefes dunkles Loch. Ich vergrub mich in Büchern, schrieb Geschichten, die ich am nächsten Tag verwarf.
Manchmal gesellte ich mich wie an jenem Tag zu Martin und seinen Freunden. Dort konnte ich alle meine Wut in den Ball stecken, schoss mit ganzer Kraft zur Not gegen den Pfosten, rannte, bis mir die Lunge in den Kniekehlen hing.
Aber diesmal hatten sie einen anderen Plan.
„Es ist viel zu warm“, hielten sie sich an dem Sommertag im Schatten am Rande des Fußballplatzes auf.
„Ihr seid langweilig“, entglitt es meinen sonst so stillen Lippen.
„Wir wollen an den See“, lachte Martin, der neuerdings Pickel auf seiner Stirn bekam.
„Okay“, stemmte ich zögerlich die Hände in die Hüften und musterte sie. „Wann?“
„Wenn du möchtest jetzt“, holten sie ihre Fahrräder.
Unterwegs beruhigte ich mich etwas. Dabei fuhr ich wie der Henker vorne weg. Die Äste schlugen mir manchmal beinahe ins Gesicht. Aber dadurch hatte ich das Gefühl, noch am Leben zu sein. Genauso erfüllte es mich mit einer Zufriedenheit, wenn die Räder durch das hohe Tempo über die Löcher hüpften.
„Du bist verrückt!“, rief Martin, als wir schweißgebadet an dem kleinen idyllischen See ankamen.
„Wie schön!“, breitete ich mich der Länge nach auf dem Holzsteg aus und schloss die Augen.
Irgendwann berührte etwas ganz sanft meine Hand. Erschrocken riss ich die Augen auf und schaute direkt in Martins blaue. Für wenige Sekunden irritierte mich sein Blick. Dann schaute er errötend auf das Wasser.
„Was ist?“, lachte ich, um eine plötzliche Unsicherheit zu überspielen.
„Du bist wie ein Junge“, ließ er die Beine baumeln und grinste.
„So, so“, lehnte ich den Kopf zurück und schaute in den blauen Himmel.
Die anderen Jungen winkten bereits aus dem See und bespritzten uns.
„He!“, beschwerte ich mich und sprang auf.
„Gehst du nicht schwimmen?“, folgte mir Martin und schaute mich kurz erneut mit diesem merkwürdigen Blick an.
„Ich habe meine Badesachen vergessen“, log ich. In Wahrheit hatte ich meine Menstruation zum zweiten Mal.
„Ach so…“, nickte er, als verstehe er wie ein Erwachsener sofort.
Wahrscheinlich verstand ich an diesem Tag, dass wir ab jetzt keine Kinder mehr waren.
*
Am Abend klopfte es zaghaft an meine Tür.
„Ich schlafe!“, beschwerte ich mich.
„Von wegen“, schlich Luisa herein und schob mich beiseite, um neben mir Platz zu finden.
„Geht es dir besser?“, drehte ich mich gähnend zu ihr.
„Keine Ahnung“, spürte ich, wie sie erneut mit den Tränen kämpfte.
„Was ist passiert?“, strich ich zärtlich durch ihr Rapunzelhaar, bis sie sich wie früher wie ein kleines Baby in meine Arme schmiegte.
„Er hat eine andere Freundin“, flüsterte sie und augenblicklich bebte ihr ganzer Körper.
„Wer?“, verstand ich nicht sofort.
„Sie haben sich geküsst!“, schluchzte sie.
„Oh“, rauschten meine Gedanken.
„Und mir hat er gesagt, dass ich gehen soll. Er habe keine Zeit…“, lagen wir Wange an Wange.
„Dieser Idiot!“, ballte ich die Hand zur Faust.
„Es tut so weh!“, bebte ihr Körper erneut an meinem.
„So ein Idiot!“, wiederholte ich immer wieder und seufzte innerlich: Deshalb sind wir viel zu jung für solche Dinge.
„Ich schäme mich so“, hörte ich sie sagen.
„Wofür?“, tastete ich nach ihren Wangen.
„Für alles. Ich habe alles falsch gemacht“, weinte sie.
„Er ist ein Idiot. Du hast jemand Besseres verdient!“, flüsterte ich, bis sie irgendwann in meinen Armen einschlief.
Warum hat mir niemand vorher gesagt,
was lieben heißt?
Ich bin
wie eine Reisende
eine Träumerin
eine Mondsüchtige
Sehnsüchtig
Deine Worte
Gesten
Mimik
Hier in mir
Überall
Wann sehen wir uns nur wieder?
Was bin ich geworden und was war ich
Wie schön kann Leben doch sein
Stell keine Bedingungen
Denn ich folge dir
Mahne nicht
Denn ich weiß
Ich warte schon zu lange
Stunden werden zu Tagen
Tage werden zu Minuten
Und ich…
Ich warte
Ich sehne
Ich vermisse
So entsetzlich
Hörte ich nur ein Wort von dir
Ich werde dir folgen,
wo immer du bist.
Ein Traum ist wahr geworden
Ich brenne und verbrenne
Ich fliege und ich falle
Wo immer du bist,
fordere nicht:
Ich bin doch ohnehin bei dir.
*
Mit sechzehn Jahren begann ich zu träumen.
Ich wollte fort aus dem kleinen Kaff. Ich wollte die ganze Welt sehen. Ich wollte in den Himalaya reisen, in Afrika gegen Hunger kämpfen, die schönsten Landschaften der USA sehen, in der Einsamkeit Alaskas meinen Weg finden. Täglich durchstöberte ich die Bücher oder durchforstete das Internet.
Hinterher überschüttete ich meine beiden Geschwister mit meinen Plänen.
Mein kleiner Bruder verstand sie natürlich mit seinen sechs Jahren noch nicht, sondern lachte komisch, weil er immer bei uns Mädchen dazugehören wollte.
Luisa runzelte bloß die Stirn. Wir waren wie Feuer und Wasser. Ich hatte das Gefühl, so viel Energie in mir zu tragen, die Kraft zu besitzen, die ganze Welt zu erobern. Sie hingegen wirkte wie ein mindestens dreifach langsamerer ruhiger Fluss in einem einsamen Tal.
„Was soll das für ein Leben sein, wenn du nie da bist?“, mahnte meine Schwester.
„Ich kann euch zwischendurch besuchen kommen“, hatte ich die Lösung parat.
„Schon klar“, räumte sie den Memorykasten mit Friedrich, unserem Bruder, ein.
„Ihr könntet mitkommen“, setzte ich mich aufgeregt zu ihnen.
„Natürlich“, lachte sie ungläubig und schaute nicht einmal auf.
„Das wäre das Schönste. Gemeinsam erobern wir die Welt!“, träumte ich.
„Du bist verrückt!“, seufzte sie auf ihre erwachsene Art und strich wie Mama dabei eine Haarsträhne hinter das spitze Ohr, während sie dazu die Stirn streng kräuselte.
„Komm mit, dann wirst du sehen, wie schön das Leben sein kann!“, griff ich nach ihrer Hand.
Abrupt zog sie die zurück und musterte mich pikiert.
„Wie möchtest du je einen Mann finden?“, stand sie auf und musterte mich abschätzig.
„Ich bin sechzehn!“, lachte ich und schob den Stuhl zurück.
„Ja, und du hattest nicht einmal einen Freund bisher“, drehte sie sich auf dem Absatz um.
„Ist das schlimm?“, folgte ich ihr neugierig.
„Das ist schon komisch“, hielt sie neben mir und rümpfte ihre Nase so eigenartig. Das tat sie häufiger in der letzten Zeit. Dabei wirkte diese Geste so hochnäsig und passte überhaupt nicht in ihr zartes, beinahe noch kindliches Gesicht.
„Vielleicht werde ich ihn unterwegs kennenlernen“, tanzte ich vor ihr den Gang entlang.
Mein kleiner Bruder lachte unentwegt, obwohl er vermutlich nichts von unseren Worten verstand.
*
Mit dem Abitur stand mein Plan fest: Ich würde das Dorf verlassen. Ich würde nach Heidelberg oder Hamburg gehen. Hamburg erschien mir bald weltoffener, wie das Tor in die Freiheit.
Meine Eltern schauten sich an jenem Abend entsetzt an.
„Wovon möchtest du leben?“, fand Mama als Erste die Sprache wieder.
„Ich werde neben dem Studium arbeiten“, erklärte ich und war stolz auf meinen meiner Meinung nach ausgereiften Plan.
„Als was?“, schaute sie mich mit genauso distanziertem, beinahe abschätzigem Blick wie meine Schwester an.
„Keine Ahnung, was gerade gesucht wird. Kellnerin, irgendwelche Schreibsachen…“, faltete ich die Hände ineinander.
„Na ja…“, seufzte Papa.
Augenblicklich verstummten alle und musterten ihn neugierig. Auf einmal legte ich all meine Hoffnung in ihn.
„Was möchtest du studieren?“, fragte er als einziger.
„Psychologie“, strahlte ich.
„Psychologie?“, prusteten Mama und Luisa gleichzeitig.
„Ja“, erwiderte ich ernst. „Das ist mein Wunsch.“
„Die haben doch am Ende selbst alle einen Dachschaden“, lachte meine Schwester mit einem ungewohnt arroganten Blick.
„Dachschaden?“, rief ich ungläubig.
„Ehrlich, das ist nichts für dich, Maria!“, schaute sie mich fast mitleidig an.
„Weißt du was: Die Welt ist kränker, als man glaubt!“, verließ ich wütend den Tisch.
Dachschaden, hallte das Wort in mir noch nach.
„Aber mich lässt du allein zurück. Das ist dir egal“, hatte ich gar nicht bemerkt, dass sie mir gefolgt war. „Du denkst nur an dich!“, fiel ihre Tür krachend ins Schloss.
Seufzend setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schaute in die untergehende Sonne über den Feldern.
*
Ich bin mir nicht sicher, ob es einen Zusammenhang gab. Auf jeden Fall gingen Luisa und ich uns in den nächsten Wochen aus dem Weg.
Dann wartete eine der größten Enttäuschungen in meinem Leben eines Tages auf mich. Martin saß eines Nachmittags bei uns am Tisch.
„Luisa hat ihren Freund mitgebracht“, flüsterte Mama aufgeregt.
Schon wieder ein neuer, verdrehte ich innerlich die Augen.
Aber da traf es mich wie der Blitz.
„Hi“, grüßte mich Martin distanziert.
„Hallo“, streckte ich ihm höflich die Hand entgegen.
„Lange nicht mehr gesehen“, konnte ich mir nicht verkneifen.
Tatsächlich hatte er mir in letzter Zeit immer wieder erzählt, zu sehr mit dem Lernen beschäftigt zu sein.
Daher fühlte ich mich so verraten. Hinzu kam seine merkwürdig abweisende Art. Sein irritierter Blick, wenn ich offenbar etwas zu laut lachte.
Meine Schwester und er wirkten hingegen sehr vertraut miteinander. Sie sprachen mit der gleichen übertrieben vornehmen Art und Weise.
Ich konnte nicht anders. Ich beobachtete sie die ganze Zeit über. Ich starrte. Ich begriff nicht.
Am Abend weinte ich aus einem mir nicht ersichtlichen Grund.
Ich fühlte mich so verraten.
Ich fühlte mich so allein.
Aber jetzt stand fest: Ich würde gehen.
Ich musste.
*
Mein erstes Semester in Hamburg war wie ein Sprung mitten in das Leben. Täglich gab es etwas Neues zu entdecken. Ich sog all diese Eindrücke in mich. Mit Freude nahm ich an den gemeinsamen Abenden der Studierenden teil, gemeinsam zogen wir bis spät in die Nacht durch die Straßen. Oder wir eroberten nach und nach die unzähligen Bars der Stadt. Wir fuhren mit dem Fahrrad bis in die Außenbezirke. Wir unternahmen als erste Seminargruppe einen gemeinsamen Ausflug und reisten ausgerechnet nach St. Peter-Ording, als die allgemeine Reisezeit begann.
„Perfektes Timing!“, streckte sich neben mir meine beste Studienfreundin, Kira, unter der Sonne.
„So viel Menschen!“, staunte ich immer wieder.
„Komm, mach einfach die Augen zu!“, legte sie sich ein Tuch über die Augen.
„Wahnsinn!“, staunte ich weiter.
„Gibt Spannenderes, Maria!“, kniff sie plötzlich leicht meinen Arm.
„Hm?“, drehte ich mich lächelnd zu ihr.
„Landei“, feixten sie und die anderen.
„Das Landei geht schwimmen. Wer kommt mit?“, schlüpfte ich im Nu aus meiner Kleidung und rannte los.
Der Sand flog unter meinen schnellen Schritten nach rechts und links. Am Wasser umkurvte ich zwei kleine Kinder, die laut ihre Sandburgen bauten. Schon spürte ich das herrliche Nass!
*
Die Zeit in Hamburg verflog so schnell!
Zwischenzeitlich besuchten mich meine Eltern mit Friedrich. Meine Schwester hatte unterdessen ihr Architekturstudium in Dortmund begonnen.
Ich konnte nicht begreifen, warum sie sich ausgerechnet dieses Fach ausgewählt hatte und eine so hässliche Stadt im Industriegebiet. Aber vielleicht war Martin daran Schuld, der unbedingt dorthin für Kriminalistik wollte.
„Das ist etwas Ernsteres“, war sich Mama sicher und lachte immer so komisch bei diesen Neuigkeiten.
„Hast du schon gehört...?“, erkundigte sie sich außerdem regelmäßig.
Ehrlich gestand ich: „Wenn ich mich nicht bei ihr melde, erfahre ich gar nichts.“ Wie immer spürte ich dabei diesen tiefen Groll über den doppelten Verrat, einen Freund und meine liebe Schwester, wie ich glaubte, ein Stück weit verloren zu haben.
Insofern hatte ich gar kein Bedürfnis, sie zumindest ein einziges Mal während des Semesters zu besuchen. Zu meinen Eltern und meinem Bruder hingegen fuhr ich einmal monatlich.
„In den Ferien werden wir wieder alle beisammen sein“, träumte Papa einst.
„Ja, das wird schön!“, freute sich Friedrich, der uns offenbar sehr vermisste.
„Ich werde mit ein paar Freund:innen verreisen“, offenbarte ich.
„Freund:innen?“, hinterfragte Mama skeptisch.
„Ja, wir wollen in die Niederlande“, erklärte ich mit stiller Vorfreude.
„Wieso ausgerechnet dorthin?“, teilte sie meine Begeisterung gar nicht.
„Wieso ausgerechnet dorthin?“, wiederholte ich pikiert ihren Satz. „Das ist deine Antwort? Im Ernst: Ich erzähle dir von meinem neuen Leben und das einzige, das dir dazu einfällt, ist Wieso ausgerechnet dorthin?“, platzte es aus mir.
„Und warum?“, verzog sie jedoch streng keine Miene, sondern lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Weil es cool ist“, stieß ich meinen Teller wütend beiseite.
„Du hast noch nicht aufgegessen“, lachte Friedrich sofort und wartete neugierig, wie unsere Eltern reagieren würden.
„Was sind das für Freund:innen?“, bemühte sich Papa, die Wogen zu glätten.
„Wir machen richtig viel. Und, was ich euch noch erzählen wollte: Vielleicht wollen wir im nächsten Semester eine richtige WG zusammen gründen“, schwärmte ich.
„Und das Studierendenwohnheim?“, verdrehte Mama die Augen.
„Das ist komplett etwas anderes, Mama! Dort wären wir wie eine Familie“, erklärte ich ihr.
„Deine Familie sind immer noch wir“, ärgerte mich erneut ihr Tonfall.
„Wie viele würden eine WG mit dir gründen?“, legte Papa ihr sanft die Hand auf den Arm, als sie gerade etwas erwidern wollte.
„Kira, Milena und Sam“, zählte ich auf und lächelte dankbar, dass immerhin er auf meiner Seite schien.
„Ein Mann?“, entrüstete sich Mama.
„Er ist aber homosexuell. Keine Angst also“, kicherte ich.
„Nehmt ihr auch Drogen?“, kam ihre nächste Frage ganz überraschend.
„Mama!“, entfuhr es mir. „Wir feiern gerne, aber wir sind nicht dumm!“
„Na, wenigstens etwas...“, räumte sie den Tisch ab und verschwand in der Küche.
Hinterher war ich froh, als ich wieder in den Zug einstieg, meine Kopfhörer aufsetzte, um der neusten Musik, die mir Kira geschickt hatte, zu lauschen und in meine freie Welt zu fahren.
Zum ersten Mal kam mir das Dorf meiner Kindheit wie ein viel zu enges Korsett vor. Überhaupt hatte das Leben dort nichts mit der Weltoffenheit der Hafenstadt gemeinsam.
*
„Wie war es bei der family?“, stießen Kira und ich am Abend mit einem Glas Rotwein an.
„Großartig!“, verdrehte ich die Augen.
„Wie sind die so?“, spielte sie mit ihren langen blonden Locken.
Ganz kurz erinnerte mich die Geste an meine Zwillingsschwester. Ganz kurz fühlte ich mich daher wehmütig.
„Die sind schon okay. Geht eben um Erwachsenwerden und so...“, winkte ich müde ab.
Am Abend gingen wir gemeinsam in einen Club und tanzten, bis meine angestaute Wut endlich nachließ.
„Was für ein Abend!“, stützte sich Kira angetrunken auf meine Schultern auf dem Nachhauseweg. Glücklicherweise wohnte sie im gleichen Wohnheim wie ich, nur in einer anderen Küchengemeinschaft.
Befreit schaute ich in den Sternenhimmel. Ganz in der Ferne hörte man die Möwen schreien.
Plötzlich schrie meine Freundin laut vor Begeisterung, sodass uns einige Passierende mit gerunzelter Stirn musterten.
„Was ist?“, lachte ich.
„Was für ein Leben!“, schrie sie immer wieder, bis wir beide kichern mussten.
*
Das Studium selbst gefiel mir ebenfalls. Mit richtiger Gier sog ich das Wissen in mich, nahm an allen Vorlesungen teil, verbrachte mitunter Stunden in der Bibliothek. Ich fand es so interessant, über die menschliche Psyche zu lernen. Ein bisschen wurde das zu einer Reise zu mir selbst.
„Ich verstehe nicht, wie du noch immer lernen kannst“, setzte sich Kira stöhnend neben mich und lehnte müde den Kopf an meine Schulter.
„Schau mal, was ich entdeckt habe“, schob ich ihr einen der neuen Schätze über Persönlichkeitstheorien zu.
„Nein danke. Bei mir ist der Speicher übervoll“, wehrte sie stöhnend ab und legte den Kopf auf den Tisch.
*
In den Ferien reiste ich für vier Wochen zu meiner Familie.
Ich muss schon zugeben, dass ich anfangs gemischte Gefühle hatte. Die Wechsel zwischen dem ruhigen Leben im Dorf und dem blühenden Stadtleben bedeuteten jedes Mal einen Kulturschock.
Früher hatte ich die Einöde der Natur geliebt, mich an den wehenden Getreideähren erfreut, jetzt aber langweilte mich all das. Ich lechzte nach Neuem!
„Luisa ist schon da“, umarmte mich Mama.
„Schön“, spürte ich, wie mein Herz hämmerte.
„Endlich sind wir alle wieder beisammen“, lächelte sie die ganze Fahrt über.
Zu Hause spielten meine Schwester und Friedrich gerade Federball, als wir ankamen.
„Maria!“, stürmte er los.
„Schwesterherz“, umarmte sie mich und nahm mir mit dieser zärtlichen Begrüßung meine ganze Anspannung.
„So schön, dich zu sehen“, ließen wir uns am Anfang gar nicht los.
„Sag bloß, dass du mich vermisst hast“, grinste sie.
„Du nicht?“, flüsterte ich in ihr Ohr.
*
So wurden es wunderbare Semesterferien. Ich war irgendwann richtig im Urlaubsstress. Meine Eltern hatten ein buntes Programm geplant, bei dem wir als Familie am Wochenende gemeinsame Ausflüge mit dem Fahrrad oder als Wanderung unternahmen. Mit der Zeit lernte ich dadurch meine Heimat, die Erde meiner Kindheit wieder mehr schätzen, wenn wir gemeinsam in dem hohen Gras picknickten, den Vögeln lauschten, in einen einsamen Badesee hüpften.
Wochentags nahm ich meinen Bruder in seiner Ferienzeit zu Zugfahrten in weiter entfernte Gegenden oder Radtouren mit. Luisa verbrachte unterdessen die Zeit mit Martin, der ebenfalls zu Besuch bei seiner Familie war.
Irgendwie war ich in den ersten Wochen froh, ihm nicht zu begegnen. Ich hatte so ein ganz komisches Gefühl im Bauch, wenn ich darüber nachdachte. Immer waren da diese Zweifel und Wut in mir, weshalb für ihn mit dieser Beziehung zu meiner Schwester von einen auf den anderen Tag unsere Freundschaft gestorben war. Kein einziges Wort hatte ich seitdem von ihm gehört. Somit hatte er Jahre, mehr als ein Jahrzehnt gemeinsamer Erinnerungen in meinen Augen zertrampelt. Denn plötzlich fragte ich mich: Was war ich denn vorher für ihn?
Ausgerechnet dann erinnerte ich mich an jenen Tag einst am See mit seinen Kumpels, an jenen merkwürdigen Blick für Sekunden in seinen blauen Augen.
Ein Frösteln überkam mich. Mir wurde mulmig im Magen.
Ich fühlte mich benutzt.
Am Ende beendete ich seufzend diese schweren Gedankengänge.
Alle hatten immer prophezeit, dass die Trennung durch den Lauf des Lebens von meiner Zwillingsschwester schmerzhaft würde. Nun verstand ich, dass sie Recht hatten.
Dabei wartete noch so viel mehr Schmerz…
*
Die Beziehung zu meinem Bruder Friedrich gestaltete sich aufgrund des Altersunterschiedes komplett anders. Manchmal betrachtete ich ihn als große Schwester bei unseren Ausflügen als mein erstes Kind. Ich freute mich mit ihm über die Naturwunder um uns herum, ich genoss seine kindliche Begeisterung und Neugier für alles auf unseren Routen. Stundenlang spielten wir zur Not gemeinsam Fußball, bis der einzige Junge aus dem Dorf in seinem Alter sich trotz der Ferien auf den Platz verirrte.
Durch Friedrich konnte ich ein Stück weit selbst ein Kind bleiben, ausgelassen sein, ohne dass jemand daran sofort Anstoß nahm.
*
Eines Abends klopfte es leise an meine Zimmertür. Ich hatte gerade mein Telefonat mit Kira beendet. Geduldig hatte sie meiner ausführlichen Schwärmerei über die Landidylle gelauscht. Am Ende lautete ihr Kommentar: „Solange du wiederkehrst…“
„Natürlich!“, lachte ich und freute mich, von so wunderbaren Menschen überall umgeben zu sein.
„Herein“, rief ich, als ich mit diesem positiven Gefühl im Bauch auf meinem Bett lag und mit Kopfhörern der Musik lauschend in die Sterne schaute.
„Du bist noch wach?“, schloss Luisa leise die Tür und blieb unschlüssig stehen. Das lange blonde Rapunzelhaar fiel um ihren zarten Körper bis zur Hüfte. Das lange rosafarbene Nachthemd hing viel zu weit um ihre schmale Körperform. Ihre schönen zarten grünen Augen flackerten.
„Möchtest du dich nicht setzen?“, richtete ich mich auf und schob ihr meinen Stuhl zu.
„Stör ich?“, zögerte sie.
„Wieso solltest du? Du bist meine Schwester!“, grinste ich, obwohl ich spürte, dass dies ein ernsteres Gespräch werden könnte.
„Ich wollte dein Telefonat nicht unterbrechen“, nahm sie wie eine feine Dame Platz und schlug die langen dünnen Beine übereinander.
„Hast du nicht… Außerdem war es Kira, meine beste Freundin aus Hamburg. Mit der würdest du auch ständig lachen“, winkte ich ab und spürte eine Spannung, was meine Schwester jedoch zu mir führte.
Verbrachte sie nicht gewöhnlich die Abende bei…? Was machte sie den Tag über?
Erstmals begriff ich, dass ich gar keine Ahnung mehr über ihr Leben hatte.
„Du musst mir von deinem Leben in Hamburg erzählen“, faltete sie die schmalen, langen Hände und lächelte sanft.
Offenbar dachten wir dasselbe.
„Du mir von Dortmund!“, stützte ich mit breitem Grinsen die Hände auf die Knie.
„Abgemacht!“, wendete sie den Kopf kurz von mir, um mir im nächsten Augenblick fest in die Augen zu sehen.
Ausführlichst unterrichtete ich sie daraufhin über das wilde Studierendenleben, die Vorlesungen, die Stunden in der Bibliothek, die Abende in den Bars, Diskotheken, die Ausflüge an den Wochenenden…
Sie nickte immer wieder aufmerksam, wurde allerdings immer stiller mit der Zeit.
„Vielleicht werden wir in eine WG gemeinsam ziehen. Ich muss bloß noch Papa und Mama überzeugen“, schloss ich und legte, ohne nachzudenken, meine Hand auf ihre Knie.
„Verstehe ich“, schob sie etwas zu hastig eine ihrer langen Haarsträhnen hinter das Ohr. Doch an ihrer zittrigen Stimme merkte ich, dass sie irgendetwas beschäftigte.
„Und…?“, wollte ich überleiten.
„Nein, noch du!“, lachte sie und umfasste meine Hände, wobei sie mir tief in die Augen schaute.
„Abgemacht!“, zwinkerte ich.
„Bist du dir sicher, dass ihr auch zusammen wohnen wollt?“, schien sie besorgt.
„Ja, klar, wir verstehen uns…“, verstand ich die Frage nicht.
„Na ja, ich denke, dass Zusammenleben und sich gut zu verstehen, ein Unterschied ist“, erklärte sie und schaute dabei zu Boden.
„Wir heiraten doch nicht! Wir kochen zusammen, so wie ich manchmal mit den Mitbewohnenden im Wohnheim“, zählte ich auf.
„Hast du auch einen Freund?“, irritierte mich die nächste Frage.
„Ja, Sam, der möchte auch in die WG. Der ist jedoch homosexuell“, kicherte ich.
„Du weißt, was für eine Art von Freund ich meine“, lächelte sie verschwörerisch.
„Weißt du“, stand ich auf und streckte mich. Irgendwie verwunderte mich dieses plötzliche nahe Gespräch. Auf der einen Seite war ich froh, dass wir trotz der langen Distanz sofort über alles reden konnten – aus meinem Leben. Andererseits merkte ich mit ihren Fragen, wie sehr sich unsere Prioritäten unterscheiden mussten.
„Weißt du…“, suchte ich nach den passenden Worten. „Ich glaube, dass ich erst frei sein muss, bevor ich mich binde.“
Kurz herrschte Stille. Ein beinahe belustigtes Grinsen huschte über ihre vollen Lippen.
„Du hast Angst…“, ließ sie mich in der nächsten Bewegung erstarren.
„Angst?“, brach ich in schallendes Gelächter aus.
„Ja, Martin sagt, dass du Angst hast…“, sagte sie ruhig.
Sofort schwirrte mein Kopf.
Martin sagt...
Wie kam er dazu, über meine nicht vorhandenen Partnerschaften zu philosophieren?
„Tut mir Leid, ich meinte das nicht als Vorwurf. Du bist, wie du bist“, missverstand sie mein bestürztes Gesicht und umarmte mich. Dieses Verhalten irritierte mich ebenfalls.
„Nein, das ist es nicht. Aber…“, schaute ich sie an. „Warum denkt er über mein Liebesleben mit dir nach? Ich meine…“, spürte ich, wie ich errötete. „Wir waren immer beste Freund:innen, bis er mich von heute auf morgen im Stich ließ – angeblich, weil er keine Zeit mehr hatte. Später erfuhr ich, dass ihr beide euch gefunden hattet“, gestand ich ehrlich.
„Bist du eigentlich eifersüchtig deshalb?“, wurde ihr Gesicht wieder streng und distanziert.
„Eifersüchtig?“, sprang ich fassungslos auf. „Wer behauptet das?“
„Du hattest nie einen Freund… Und Martin sagt…“, nervten mich ihre Worte allmählich.
„Ganz ehrlich, Luisa: Mir ist es vollkommen egal, was Martin sagt oder meint oder denkt. Wir waren nämlich immer nur Freund:innen und heute sind wir nicht einmal mehr das.“
Schnell atmend setzte ich mich wieder auf das Bett.
Dieses Gespräch überforderte mich langsam. Es wühlte mich auf. Ich spürte eine solche Wut in mir.
Warum verbreitete jemand solche Gedanken über mich?
„Ich glaube dir“, erklärte sie tonlos, nachdem sie mich lange Zeit über musterte. „Ich weiß, dass er mich liebt…“
„Ja?“, griff ich das Thema auf, obwohl es mich mittlerweile gar nicht mehr interessierte, sondern bloß Wut schürte. „Dann erzähle mal aus deinem Leben!“
„Da gibt es gar nicht so viel“, wurden sofort ihre Gesichtszüge weicher und die Stimme sanfter.
„Mich interessiert genauso das Wenige“, grinste ich und schluckte die noch immer brodelnde Wut hinunter.
„Die Wochenenden gehören uns beiden. Das ist Zeit wie Unendlichkeit“, leuchteten ihre Augen ungewohnt feurig. „Es gibt bloß uns beide. Wenn du wüsstest, wie schön es ist, neben ihm aufzuwachen, stundenlang dieses Gesicht zu beobachten, jede kleinste Regung, weil ich noch immer nicht alle verstanden habe, sich am Tisch gegenüberzusitzen, über Gott und die Welt zu reden. Oder wir sprechen über gar nichts. Trotzdem fühlt es sich besonders an. Dann nimmt er meine Hand, schaut mir tief mit seinen Engelsaugen ins Gesicht und flüstert in mein Ohr: >Meine Prinzessin, wohin wollen wir heute reisen?< Noch nie war ich so glücklich. Noch nie habe ich jemanden so gut verstanden. Und er, er kann meine Gedanken lesen. Du müsstest“, überschlug sich ihre Stimme plötzlich fast, während sie schwärmte: „Die hat er mir vor zwei Monaten geschenkt“, zeigte sie auf ihre Kette.
Sie war golden, nicht sonderlich auffällig. An dem Halsband hing ein einzelner grüner Edelstein.
„Luisa und Martin – Für die Ewigkeit“, drehte sie ihn um und las vor.
„Klingt romantisch“, versuchte ich ihr Leben zu verstehen, das mit achtzehn Jahren komplett anders erschien.
„Ja“, schmolzen ihre Augen.
Sie seufzte. Ihre Brust hob und senkte sich schwer. Ihr Blick wirkte sehnsüchtig.
„Wenn du wüsstest, in welches Loch ich falle, wenn wir uns wochentags trennen müssen. Ich denke, dass ich keine Minute ohne ihn leben kann“, schockierten mich ihre nächsten Worte kurz.
„Hast du auch Freund:innen?“, erkundigte ich mich. „Verbringt ihr dann die Wartezeit, damit sie nicht so lang scheint…“
„Nein, die sind alle…“, setzte sie sich augenblicklich kerzengerade und schob erneut eine Haarsträhne hinter das Ohr. Offenbar tat sie dies immer dann, wenn sie verlegen wurde. „Die sind alle so abgedreht. Martin sagt immer, dass ich viel zu klug für die bin.“
„Du hast niemanden an der Uni?“, vergewisserte ich mich.
„Ich habe auch gar nicht so viel Zeit. Weißt du?“, grub sie die Hände nervös ineinander.
„Selbst wochentags, wenn er nicht da ist…?“, hakte ich nach.
„Die feiern, betrinken sich, sind niveaulos. Martin nennt sie niveaulos. Damit hat er natürlich Recht. Das bin ich nicht…“, schlug sie die langen Beine neu übereinander und schaute mich plötzlich direkt an.
„Fühlst du dich nicht…“, suchte ich nach Worten, weil mir dieses Leben weiterhin so fremd und anders erschien. „Fühlst du dich nicht einsam?“
„Nein“, lächelte sie fast gutmütig. „Wir telefonieren an jedem Abend. Ich muss mich manchmal beeilen, überhaupt noch die Vorlesungen auszuarbeiten oder Aufgaben zu erledigen, ehe er endlich anruft.“
„Ihr telefoniert also täglich?“, erkundigte ich mich.
„Mindestens! Er vermisst mich doch auch“, strahlte sie.
„Okay…“, nickte ich nachdenklich. „Und er? Trifft er sich nie mit Freund:innen?“
„Die sieht er beim Sport. Manchmal trinken sie noch ein Bier zusammen. Du weißt schließlich, wie Männer sind“, verstand ich ihren Scherz nicht wirklich.
Niveaulos, hallten die Worte über meinen Lebensstil letztlich nach.
„Machst du einen Sport?“, riss ich mich von den Gedanken los.
„Ich habe mich zum Zumba angemeldet“, erzählte sie da. „Martin hat mir das herausgesucht.“
„Martin sucht dir den Sport aus? Kein Ballett wie in der Schule?“, staunte ich.
„Er meint, dass das für die Gelenke ungesund sei und er dann mein Tanzpartner sein müsste“, kicherte sie aus für mich schwer begreiflichem Grund.
„Du mochtest aber immer Ballett…“, argumentierte ich.
„Aber jetzt nicht mehr“, verengten sich kurzzeitig ihre schönen Augen wie eine Warnung.
„Ist das nicht wie ein Kulturschock?“, versuchte ich humorvoll, sie zu verstehen. „Ich meine, dass zwischen der Musik beim Zumba und beim Ballett früher doch Welten liegen…“
Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Ganz kurz erstarrte sie in der Bewegung, glitt der weiche, verträumte Blick aus dem Fenster.
„Ich habe mich daran gewöhnt“, rechnete ich bald gar nicht mehr mit einer Antwort.
„Wie…?“, runzelte ich die Stirn.
„Weißt du, wenn man in einer Beziehung ist, ändern sich einfach Sachen. Okay?“, klang ihre Stimme schneidend, als sie mich unterbrach.
„Verstehe“, schluckte ich.
Ein Schweigen trat ein.
Erneut wendete sie das Gesicht von mir aus dem Fenster. Ihre Miene wirkte undurchdringlich.
Eine Traurigkeit überkam mich.
Warum konnte sie nicht offen über ihr Leben reden, wie sie nach dem meinen gefragt hatte?
Ein Gähnen ging durch meinen Körper. Es war bestimmt schon spät.
Vorsichtig spähte ich auf meine Uhr.
Tatsächlich: Mitternacht nahte.
„Du bist müde?“, stellte sie fest und lächelte eigenwillig.
„Du nicht?“, klopfte ich ihr freundschaftlich auf die Schulter.
„Ich kann immer nicht schlafen, wenn…“, seufzte sie. „Ohne ihn…“
„Dann grübelst du?“, bemühte ich mich um einen einfühlsamen Ton.
„Diese Sehnsucht ist so entsetzlich…“, schlug sie die Hände vor das Gesicht.
„Liebe ist schon merkwürdig“, erklärte ich und stand auf, um mir die Zähne zu putzen.
„Maria?“, blieb sie sitzen, bis ich die Tür öffnete.
„Ja?“, gähnte ich erneut.
„Darf ich bei dir schlafen?“, schmolzen ihre Augen.
Du sagst
Du liebst mich
Dann schaust du mich an
Gehst
Sagst gar nichts
Du sagst
Du vermisst mich
Dann mahnst du mich
Bin ich auch treu?
Da ist etwas zwischen uns
Da ist dieser Zweifel
Da ist wieder Schmerz
Du
Ich…
Du sagst
Du liebst mich
Du weinst