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Julia Augustin

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Beschreibung

Im Alter von vierundzwanzig Jahren erkrankte sie an Covid-19 durch die Tätigkeit im Krankenhaus als Medizinstudentin. Von heute auf morgen änderte sich ihr Leben. Früher sportlich, aktiv, voller Energie und Lebensmut blieb sie entgegen aller Hoffnungen bis heute krank. Diagnosen: Post-Covid-Syndrom und Myasthenia gravis, eine seltene Autoimmunerkrankung, die zu einer Muskelschwäche führt – bis hin zur Ermüdung der Atem-, Sprech- und Kaumuskulatur. Dennoch kehrte sie in das Leben zurück und arbeitet seit über einem Jahr als Ärztin in Weiterbildung. Dieser Betroffenenbericht ist ein berührender Bericht über das Leben mit körperlichen Einschränkungen und den Prozess der Akzeptanz, an einer unheilbaren, in ihrem Fall hochaktiven, chronischen und zugleich seltenen Erkrankung zu leiden. Mutig werden Erfahrungen mit Diskriminierung im täglichen Kampf um Anerkennung und Teilhabe als Mensch mit Behinderung, aber auch mit allem anderen, was uns als Lebewesen ausmacht, dargelegt und dabei ebenso Tabuthemen aufgegriffen. Das Honorar spendet die Autorin der Deutschen Myasthenie Gesellschaft e.V. für Forschung.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Auch ein Mensch

Vorwort

Kapitel 1 - Vergangenheit

Kapitel 2 – Krank

Kapitel 3 – Ein ungleicher Kampf

Kapitel 4 – Seitenwechsel

Kapitel 5 – Rückwärts

Kapitel 6 – Mensch mit Einschränkungen

Kapitel 7 – Eine Frage der Dosis

Kapitel 8 – Frau und Behinderung – Darf man lieben?

Kapitel 9 – Doppelleben

Kapitel 10 – Rückschläge

Kapitel 11 – Medikamente und ihre Besonderheiten

Kapitel 12 – Immer diese Ärzt:innen

Kapitel 13 – Hochaktiver Verlauf - Warten auf…

Kapitel 14 – Die Reise geht weiter

Mitten unter uns

Julia Augustin

Genauso wie du

Impressum

Julia Augustin

Genauso wie du

[email protected]

Berlin

Coverfoto: Laura Augustin

1. Auflage

Oktober 2023

Auch ein Mensch

Es gibt Menschen und Menschen – zumindest für manche.

Für die einen sind es eben die, die alles können.

Die, die da sind.

Sichtbar.

Die keine Probleme bereiten.

Menschen, die im Leben stehen.

Menschen, die stark sind.

Gesund.

Und dann sind da die anderen.

Wir.

7,8 Millionen Menschen in Deutschland. (1)

Mit Schwerbehinderung...

Mit Behinderung…

Mit Einschränkung...

3,1 Millionen im erwerbsfähigen Alter.

90% durch eine chronische Erkrankung. (2)

Krank.

Haben Probleme.

Bereiten Probleme.

Erfordern: Rücksicht.

Sind somit kompliziert(er).

Aber…

Wir sind mehr als

Eine Behinderung...

Mehr auch als zwei, drei…

Mehr als eine Krankheit

Sind ganz einfach: Mensch.

Wir sind

Mensch mit Plänen.

Mensch mit Wünschen.

Mensch mit Bedürfnissen.

Mensch mit Träumen.

Die nicht immer wahr werden können.

Doch wir kämpfen.

Wir kämpfen für uns.

Kämpfen gegen Erkrankung.

Kämpfen für Teilhabe.

Kämpfen gegen Diskriminierung.

Kämpfen, kämpfen…

Denn wir sind gar nicht anders als

Mensch ohne…

Wir haben nur das Plus.

Ein bisschen Gepäck auf dem Rücken.

Ein paar Steine mehr auf dem Weg.

Manchmal stolpert man.

Manchmal glaubt man, man geht unter.

Aber diese Welt hat für uns alle Platz.

Denn wir sind:

Auch (nur) ein Mensch.

1 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 22.06.2022: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html

2 rehadat-Statistik Juni 2022 : https://www.rehadat-statistik.de/statistiken/behinderung/schwerbehindertenstatistik/

Vorwort

Liebe Leser:innen,

ich war vierundzwanzig Jahre alt und Medizinstudentin, als ich durch einen Ausbruch im Krankenhaus an Covid-19 erkrankte. Von heute auf morgen veränderte sich alles.

Nach dreiwöchiger Quarantäne mit extremem Schlafbedürfnis, Muskelschwäche in Armen und Beinen, die selbst das Halten eines Buches erschwerte, Schmerzen in Muskeln und Gelenken, Luftnot, Gedächtnisproblemen und vielen anderen Symptomen, blieb ich krank. Diagnosen: Post-Covid-Syndrom und Myasthenia gravis, eine Autoimmunerkrankung, die zu einer Muskelschwäche führt – bis hin zur Ermüdung der Atem-, Sprech- und Kaumuskulatur.

Dennoch kehrte ich in das Leben zurück, beendete mein Medizinstudium, wechselte die Seiten und arbeite seit mehr als einem Jahr als Assistenzärztin in der Neurologie im Post-Covid-Bereich.

Aber schnell begriff ich: Das reicht nicht, um etwas zu verändern und den Betroffenen Gehör zu verschaffen. Denn selbst mit Ende der Pandemie bleiben die Langzeitfolgen gesellschaftlich und in einem ohnehin überlasteten Gesundheitssystem ein Problem. So trat ich für beide Krankheiten in einen Betroffenenverband ein und unterstütze den Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland e.V. im Gesundheitsbereich.

*

In dieser Autobiographie geht es um die ganz persönlichen Folgen in der Patientinnenrolle wie den Prozess der Akzeptanz, an einer unheilbaren, in meinem Fall hochaktiven und zunächst fortschreitenden Krankheit zu leiden, plötzlich als Mensch mit körperlichen Einschränkungen betrachtet zu werden, generell chronisch krank zu sein.

Trotzdem bleibt man mehr als diese Erkrankungen.

*

Daher stellen die folgenden Kapitel eine ganz persönliche Reflexion als chronisch Erkrankte – mit vergleichsweise seltener Unterform der hochaktiven Myasthenia gravis und Post-Covid-Syndrom ohne Chronisches Fatigue Syndrom - sowie Mensch mit körperlichen Einschränkungen dar.

Die genannten Therapieversuche und persönlichen Erfahrungen zum Umgang mit den Erkrankungen im Alltag sind die von meinen Behandelnden begonnene individualisierte Behandlung. Sie lassen sich somit möglicherweise nicht auf Ihre persönliche Situation übertragen.

Fachliche Informationen zu den Krankheitsbildern kann ich Ihnen als Assistenzärztin – und damit fehlender Spezialisierung - mit dieser Autobiographie nicht bieten – hier sei stattdessen auf die behandelnden Spezialist:innen, Leitlinien bzw. die Betroffenenverbände zur Beratung und Verteilung von Informationsmaterial verwiesen:

- Deutsche Myasthenie Gesellschaft e.V.: https://dmg.online/

- Long Covid Deutschland: https://longcoviddeutschland.org/

- Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e.V.: https://www.abid-ev.de/

Stattdessen möchte ich anderen Betroffenen mit dieser Erzählung Hoffnung geben, indem ich ihnen berichte, wie man weiterhin – selbst als Ärztin – am Leben und an der Gesellschaft teilhaben kann.

Außerdem dürfen Sie alle als Lesende sich während dieser Reise durch ein neues Leben auch zur Diskussion eingeladen fühlen. Schließlich entscheiden wir gemeinsam als Betroffene, Mediziner:innen, in der Politik und der Gesellschaft, wer und wie am allgemeinen Leben teilhaben darf, wen wir wie unterstützen.

*

Einen Beitrag zur Unterstützung haben Sie bereits mit dem Kauf dieses Buches geleistet, da mein Honoraranteil an die Deutsche Myasthenie Gesellschaft e.V. (Westerstraße 93, 28199 Bremen) für die Förderung und Realisierung von weiteren Forschungsprojekten bei einer seltenen Erkrankung gespendet wird.

Vielen Dank!

Julia Augustin

Kapitel 1 - Vergangenheit

„Wir sollten an den Rückweg denken“, schlage ich vor, als wir auf unserer Wanderung im Schwarzwald zwischen tauendem Schnee und Frühlingslandschaft vor dem Abzweig stehen.

Weg derzeit gesperrt, verkündet ein unscheinbares Schild an einem Baum neben dem schmalen Pfad.

„Du weißt, dass ich nie den gleichen Weg zweimal laufe“, protestiert Sophia1, meine Wanderfreundin schlechthin.

„Also weiter bedeutete...“, lache ich.

„Für uns ist doch eh kein Weg zu weit“, argumentiert sie.

„Aber wenn es dunkel wird, haben auch wir ein Problem“, finde ich am Ende doch einen Grund, der sie überzeugt.

Im Zug zurück schlafen wir wie immer nach den Wanderungen.

Nichts ist aber auch planbar. Bereits am ersten Tag überraschte uns kurz hinter Freiburg eine weiße Winterlandschaft im März. In der Tourist:inneninformation des schönen kleinen Ortes musterte man uns merkwürdig, als wir nach dem Wanderweg zum Fichtelberg fragten. Klar, die Tourist:innen aus dem Norden. Weshalb, erfuhren wir nach den ersten Kilometern, als man mit den Beinen im tiefen Schnee versackte (worauf wir natürlich bestens vorbereitet waren).

Trotzdem sahen wir in der einen Woche verborgene Wasserfälle, weite Täler, Wald - und Unmengen an Schnee.

*

Während des Studiums reiste ich eine Menge. Wenn man jung ist, möchte man ohnehin die ganze Welt erkunden. So zog es irgendwann in die Ferne nach Asien und Osteuropa.

Jede Reise ist eine Erfahrung über das Miteinanderleben. Man kann über den eigenen Tellerrand hinausschauen, fremde und vollkommen andere Kulturen kennenlernen. Hübsche Bauten und herrliche Landschaften mit eigenen Augen sehen, neue Speisen kosten. Sich dabei beim ersten Essen mit Stäbchen blamieren, weil die Nudeln einfach durchrutschen und das Wasser der Suppe jedes Mal aufspritzt, sodass man hinterher die Spuren auf der Kleidung nicht mehr verbergen kann.

Am meisten hat sich bei mir eines eingeprägt: Die Gastfreundschaft.

Während wir in Deutschland eher vorsichtig gegenüber Fremden sind, kamen wir in Asien immer wieder in ihren Genuss. Ohne die Sprache zu sprechen, wurden wir in Georgien von den Pensionsbesitzenden kostenlos am Abend zum Essen eingeladen.

„Sie sprechen kein Russisch? Schade...“

Doch zum Glück gibt es die Übersetzungsmöglichkeiten durch das Handy. Damit kann sich ein Abend ganz schön in die Länge ziehen, wenn man die jeweils andere Kultur wirklich kennenlernen möchte. Und eines ist gewiss: Übersetzungspannen gibt es ebenso zahlreiche! Die werden jedoch höflich belächelt.

Es ist merkwürdig, dass man gerade in ärmsten Ländern wie Georgien sich blindlings vertraut. Wer könnte sich in Deutschland vorstellen, in einen Bus einzusteigen und erst beim Aussteigen nach stundenlanger Fahrt über die blühende Frühlingslandschaft zu bezahlen?

Dennoch war ich immer froh, zu Hause anzukommen. Wenn man Armut gesehen hat, zerfallene Häuser, überall Menschen mit schlechten Zähnen, Bettelnde, weil es kein Sozialsystem wie bei uns gibt, lernt man den eigenen Wohlstand neu zu schätzen. Anfangs gab es jedes Mal nach diesen Fernreisen eine Art Fremdeln im Zuhause. Allein der raue Ton, wenn alle Menschen gleichzeitig zur Bahn stürmen und sich am besten Ellenbogen in die Seiten rammen. In Taiwan hingegen überwachte besonderes Personal, ob sich auch wirklich alle Fahrgäste brav in der Schlange vor den Türen anstellten.

Oder die teils unfassbare Anonymität der Großstadt, wenn jemand vor den Augen zusammenbricht und ganz offensichtlich ein Notfall wird.

Das erlebte ich auf dem Nachhauseweg von meinem ersten Notfallkurs beim Medizinstudium. Die ersten weiteren Passierenden rannten davon. Als Helfende muss man andere direkt ansprechen.

Ich möchte nicht behaupten, dass in den Ländern keine Grobheiten bestünden. Der Kontakt zu den Bettelnden in Tiblissi war gewiss alles andere als schön. Am Ende lag jedenfalls mein Reisepass auf der Straße… Nur gestohlen wurde zum Glück nichts.

In Bangkok hatte der Krankenwagen im dichten Straßenverkehr trotz des Blaulichts keine Chance auf Vorzug.

*

Doch in meinem Leben bin ich nie ernsthaft fortgegangen. Zu sehr liebe ich diese Stadt. Zu sehr mag ich vor allem die Nahestehenden, die es nur dort gibt.

Und hier wartet täglich ein Abenteuer, sofern man ihm nur die Chance gibt.

Ich kenne bis heute nicht alle Kieze der Stadt. Dabei haben meine Freund:innen und ich bei unseren unschlagbaren Stadtspaziergängen einiges aufgeholt.

Mit dem Fahrrad befuhren wir zumindest große Teile der größten Radwege.

Am Abend besuchten wir die unterschiedlichen Theater, Kinos eher weniger. Oder wir kosteten uns kulinarisch durch, bestaunten die Galerien und Museen.

Wir nahmen am Tanzkurs teil. Dort wurden Johann2 und ich die wahren Lieblinge der Lehrenden. Ich konnte mir im A2-Kurs nicht die komplizierten Schrittfolgen merken. Er vertraute blindlings meinem Rhythmusgefühl.

Oder klopfte mir plötzlich auf die Schulter.

Überrascht hob ich den Kopf: „Was ist los?“

„Zeit für eine Drehung, schätze ich“, grinste er.

„Du musst führen!“, lachte ich.

„Das kannst du doch allein“, stimmte er ein.

Hinterher waren wir uns einig, lieber zum Salsa zu gehen. Dort musste man keine peinlichen Haltungsübungen vor dem Spiegel machen, sondern durfte sich auch mal verlaufen… Außerdem war die Stimmung jedes Mal ausgezeichnet.

*

Eines Morgens geschah ein Wunder: Auf den Feldern bei meinen Eltern lag so viel Schnee, dass ich ganz spontan mir die Langlaufski griff und bei herrlicher Morgensonne durch die Winterlandschaft stapfte. Irgendwo kreuzten die Rehe meinen Weg. Im Schnee entdeckte ich die Hasenspuren.

Als ich am Nachmittag in die Stadt zur Vorlesung fuhr, fühlte ich mich wunderbar frei und dachte mit stillem Lächeln: „Wenn ihr wüsstet, was ich heute Tolles erlebt habe...“

*

Das Studierendenleben ist ein sehr buntes Leben.

Dabei fühlte ich mich am Anfang an der Universität fehl am Platz. Ständig drehten sich Gespräche mit Kommiliton:innen um Prüfungen, Doktorarbeit, Karrierepläne.

So war ich nicht.

Nicht nur.

Aber wenigstens gab es bei den manchmal recht einsamen Vorlesungen einen treuen Kreis ähnlich Gesinnter. Dort konnte man Wissen nicht nur aufsaugen, sondern auch mal diskutieren.

Genauso wie in den zahlreichen Arbeitsgruppen oder öffentlichen Abendvorlesungen.

Manche meiner Freund:innen verstanden nicht: „Wie schaffst du es, dafür noch Kapazitäten zu haben? Du gehst außerdem noch arbeiten...“

Das stimmte. Vier Jahre lang verdiente ich mir ein bisschen Geld durch die Tätigkeit als Sitzwache im Schichtsystem. Das war sehr lehrreich. Vor allem machte es mir Spaß, weil ich dadurch nie bei allen elitären Ansprüchen der Universität vergaß, wofür ich persönlich studierte: Um Menschen zu helfen.

*

Dann begann das Jahr 2020.

Sophia3 und ich reisten spontan für ein Wochenende nach Hamburg. Bei kaltem und grauem Januarwetter wanderten wir durch die Speicherstadt und alle anderen Sehenswürdigkeiten wie die teure Elbphilharmonie ab.

Leider war das Glück nicht auf unser Seite, da eine gewaltige Sturmflut bevorstand. Daher entschieden wir uns nach Diskussion der Möglichkeiten und einem sehr frühen Besuch beim traditionellen Fischmarkt im Dunkeln für eine vorzeitige Abreise. - Wenigstens saßen wir dadurch nicht wie viele andere fest und hatten schon vorher fast alles gesehen.

*

Unterdessen breitete sich im fernen China eine seltsame Lungenkrankheit aus.

Als ich den ersten Artikel dazu in einer Fachzeitschrift beim Warten auf die Straßenbahn las, hatte ich ein ganz eigenartiges Gefühl.

In Deutschland blieb allerdings noch für einige Zeit die Normalität. Es fanden weiterhin Vorträge statt. Wir fuhren in den Skiurlaub.

Dann erschütterten die Bilder aus Italien alle.

„Wir müssen einkaufen gehen“, schlussfolgerte ich an jenem Abend.

Im Laden wurde ich noch seltsam angeschaut, weshalb ich so viel pH-neutrale Seife kaufte.

Eine Woche später waren die Regale leer.

Ich fuhr noch mit dem Zug zum Praktikum, um die ländlichere Versorgung kennenzulernen.

Am Abend besuchte ich eine Lesung von Mascha Kalekos Gedichten. Es war schon sehr leer in dem Saal. Aber diese Lesung, die Worte über Exil, den Schmerz des Schicksals habe ich tief in meinem Herzen bewahrt.

*

Einen Tag darauf änderten sich im Krankenhaus die Hygienevorschriften. Von nun an sollten alle mit Atemwegssymptomen getestet werden. Doch als die erste Patientin in diese ansonsten leere Rettungsstelle im Wald kam, hatte niemand einen Plan. Ich warf vorsichtig ein: „Sollten wir nicht Schutzkleidung tragen? Was ist eigentlich, wenn sie positiv wäre?“

Aber niemand wusste, wo man diese finden könnte.

Daher verabschiedete ich mich an diesem meinen letzten Tag sehr früh.

Im Zug verkündete die Bundeskanzlerin über alle Monitore den ersten Lockdown.

*

Dieser wurde für mich ein großes Abenteuer.

Die Großstadtstraßen waren so leer, dass ich ohne Sorgen mit dem Fahrrad zu meinen Sitzwachediensten bis zur Stadtmitte fahren konnte.

Im Freund:innenkreis telefonierten wir anfangs fast täglich. So etwas hatten wir noch nie erlebt.

Eine Freundin war auf der Suche nach Toilettenpapier. Sie hatte die Nachrichten zu Beginn für übertrieben gehalten. Andere isolierten sich zum Schutz.

Die Solidarität in der Gesellschaft war enorm. Es schien selbstverständlich, für die Risikogruppen wie die Großeltern einzukaufen. Für die bedeutete es eine große Umstellung, auf diesen sozialen Austausch zu verzichten. Dafür bekamen sie uns häufiger nach einer Fahrradtour durch die Stadt im Freien bei der Übergabe zu Gesicht.

Man hatte das Gefühl, als Gesellschaft gemeinsam etwas Gewaltiges zu leisten. In Deutschland erlebten wir eine vergleichsweise glimpfliche erste Welle.

Wir retteten gemeinsam Leben.

Ganz anders sah die Situation in Spanien oder anderswo aus.

Dort waren die Regelungen bedeutend strenger.

Während wir uns zum Spazieren oder Joggen verabreden konnten, durfte man dort die Wohnung nur zu besonderen Anlässen verlassen.

Selbst in Deutschland lernte ich, mich glücklich zu schätzen, einen eigenen Balkon zu haben.

*

Im Krankenhaus selbst herrschte aber große Unsicherheit. Niemand konnte richtig abschätzen, was einen demnächst erwarten würde. Die Bilder der Toten und Schwerstkranken ließen kurzzeitig an die eigene Verwundbarkeit denken.

Es wurde eine emotionale Belastungserprobung, da überall Schutzausrüstung fehlte. Man schloss sogar im Krankenhaus das Desinfektionsmittel weg, nachdem Fremde Vorräte gestohlen hatten…

Meine Schwester rief mich eines Tages panisch an: „Warum arbeitest du noch? Du hast Asthma! Ich habe Angst um dich.“

Ich beruhigte sie, versprach bestmöglich auf mich zu achten.

Dennoch war ich froh, als mein Arbeitsvertrag mit dem letzten Studienjahr aus Zeitgründen auslief.

Inzwischen wurden wir Studierenden überall händeringend gesucht. Rehabilitationskliniken versprachen gutes Geld. Die Gesundheitsämter waren überlastet. Am Ende erhielten sie zumindest in meiner Stadt wohl so viel (freiwillige) Angebote, dass ich auf einer Warteliste landete.

*

Mit den ersten Öffnungen durchforsteten wir im Freund:innenkreis die Stadtpläne nach noch unbekannten Parks, die man beim gemeinsamen Spazieren mit Maske erkunden könnte.

In der Zeit lernte ich meine Wohnumgebung neu kennen.

Meine Freund:innen fragten zudem: „Fährst du wirklich nur noch mit dem Fahrrad?“

Ich strahlte: „Ja. In der Bahn sitzt man so eng beieinander. Ich lerne ganz neue Sehenswürdigkeiten unterwegs kennen. Vor allem mache ich Sport.“

*

Sportlich wurde so der erste Urlaub, als wir noch nicht den großzügigen Lockerungen zur Sommerreisezeit vertrauten. Mit voll bepacktem Fahrrad ging es für ein paar Tage zum Zelten an die polnische Oder.

Abenteuer ließen natürlich nicht auf sich warten. Während uns die Mücken auffraßen, hatten wir als Neulinge bei Fahrradreisen kein Werkzeug zum Flicken des plötzlich an einem Morgen platten Reifens dabei. Am Ende drohte noch ein kräftiges Sommergewitter den Rückweg zu erschweren.

Dann ging alles geradeso gut. Wieder rettete uns die Hilfsbereitschaft der Einheimischen.

*

Traurig wurde mir die neue Situation bewusst, als in der Familie die ersten Entscheidungen über Feiern stattfanden.

Vertraute man der Politik, die sich nicht mehr allein auf Wissenschaft verließ oder nicht? Wollte man danach zwei Wochen Karenzzeit bis zum nächsten Besuch bei den weiterhin zu schützenden Großeltern abwarten?

Wer aber versorgte die inzwischen?

Die Pandemie machte einsamer.

Häufiger musste man zunehmend Stellung beziehen, warum man sich gerne vorsichtiger verhielt.

*

Ansonsten hatte ich gar nicht viel Zeit, darüber zu grübeln, was mir durch die politischen Einschränkungen fehlte. Das schriftliche Staatsexamen stand vor der Tür!

Außerdem fand ich als Medizinerin die Maßnahmen im Sommer eher zu lasch. Immerhin ging es darum, weiterhin Menschenleben zu schützen.

So war der nächste Teillockdown im Herbst 2020 unaufhaltsam.

Wie schön, ausgerechnet da nach dem Staatsexamen alle Freizeit der Welt zu haben!

Nun gut, noch immer kannte ich nicht alle Parks der Stadt. Im Wald konnte man Pilze suchen. Meine eine Oma und ich realisierten eine lang erwünschte Radtour. Gemeinsam sahen wir uns so oft wie nie im Garten, sodass ich an allen Jahreszeitenwechseln teilnehmen konnte. Am Abend schrieb damals ein Brieffreund täglich. Irgendwann traf man sich doch noch mit Maske in einer ausgestorbenen Stadt zum ersten und letzten Mal…

Es war eine verrückte Zeit.

Dann begann das Praktische Jahr, d.h. das letzte Studienjahr im Krankenhaus.

Innere Medizin hieß das für mich.

Ich hatte alles genau durchgerechnet: Im Winter würde mein Asthma (was damals als Risikofaktor für schwerere Verläufe zählte) nicht so beeinträchtigend sein. Wenn ich erkrankte, dann hätte ich noch Zeit zur Regeneration bis zum nächsten Staatsexamen…

*

Ich wurde wieder sozialer aktiv. Beim Corona-Newsletter einer Studierendengruppe traf ich auf Gleichgesinnte.

Wir versuchten die medialen Berichte auf die wissenschaftlichen Ursprungsquellen zurückzuführen. Warum vertraute man nicht den Expert:innen, sondern zitierte Preprint-Studien, Auftragsstudien, Meinungen vermeintlicher Fachspezialist:innen, die leider für alles sicherlich eine Expert:innenstellung haben, aber nicht für Virologie?

Mein Gott, in diesem Winter war alles so chaotisch! Sehenden Auges gingen wir auf eine Katastrophe zu.

Dabei gestaltete sich der Anfang noch ziemlich harmlos. Schnell bereitete man uns Studierende allerdings vor: „Das wird nicht so bleiben.“

Richtig.

Binnen Wochen war fast die ganze Innere Medizin des Krankenhauses zum sogenannten schwarzen Bereich geworden, d.h. für die Corona-Infizierten mit Isolierbetten reserviert. - Die Stimmung bei uns Studierenden sank teils in den Keller. Manchmal stritten wir.

„Wir schreiben nichts als Totenepikrisen“, berichtete eine Kommilitonin.

„Wahrscheinlich ist es nur eine Zeit, bis wir uns infizieren werden“, fürchtete eine andere.

Ich feierte zum ersten mal kein Weihnachtsfest mit meiner Familie, da ich pünktlich einen Tag vor dem Heiligabend zum dritten Mal zur Kontaktperson geworden war.

Alle waren für meine Rücksicht dankbar.

Wahre Feierlaune hatte ich ohnehin nicht mehr.

Schließlich gab es aber genau in der Weihnachtszeit einen Lichtblick: Der erste Impfstoff.

Doch halt: Neben der Impfpriorisierung galt für uns im Studium als Hürde die Hierarchie des Krankenhauses. Die, die von uns auf den Coronastationen oder Rettungsstellen aushalfen, wurden ausgelassen!

Auch erhielten wir nicht wie in anderen Kliniken spontan entschieden eine finanzielle Zuwendung für das erhöhte Infektionsrisiko. Nein, wir arbeiteten weiterhin kostenlos.

Eines Tages kontaktierte ich daher unsere Fachschaft. Am Ende sammelten wir Unterschriften.

Doch die Zeit lief davon.

Die nächste – gefährlichere – Virusvariante verbreitete sich.

*

Die Pflege des Krankenhauses schickte die Coronawertschätzung zurück. Wo blieben ihre versprochenen Covid-Bonusprämien? Immerhin arbeitete niemand näher am Menschen als sie. Dafür erhielten sie – wirklich wahr - drei Mandarinen mit Blatt.

Die Stimmung wurde immer angespannter.

*

Dank der Newsletterarbeit wusste ich zudem längst, dass die freundlich zur Verfügung gestellten FFP2-Masken längst nicht alle echt waren. Mal fehlte die CE-Kennzeichnung, mal war der Zahlencode zu lang, mal die Maske zu dünn, mal wie die meisten heute immer noch überhaupt nicht dicht anliegend.

Das gibt ein sehr beruhigendes Gefühl, wenn man zur Vorbereitung fleißig alle Hygienevideos vor dem Praktischen Jahr gesehen hat, sich nun jedoch mit der Wirklichkeit auseinandersetzen musste...

Dabei durften wir uns glücklich schätzen, nicht nur die OP-Masken zur Verfügung gestellt zu bekommen. Alles Material war schließlich rar.

Die Zeit fragte nicht.

Man nahm unsere Gesundheit auf politischer Ebene in Kauf.

Namen geändert↩

Name geändert↩

Name geändert↩

Kapitel 2 – Krank

Vorübergehend

Wie ein Vogel will ich fliegen

Weit hinaus ins Himmelblau

Wie ein Blatt im Winde wiegen

Himmelblau ist heute Grau.

*

Wie die Sonne will ich strahlen

leuchtend, wärmend, frei, so frei

Hoffnung in die Herzen malen.

Morgen geht das Grau vorbei.

*

„Der Patient, den du betreust hast, ist positiv“, schreibt mir eine Kommilitonin an meinem Studientag.

Es ist Januar 2021.

Die Impfungen laufen an.

„Wir sollten besonders vorsichtig sein. Aber Masken tragen wir sowieso und jetzt gehen wir spazieren“, verstaue ich mein Handy und begrüße meine Freundin Aziza1. „Ich habe nämlich gerade erfahren, dass ich wieder Kontaktperson bin.“

„Wieder mit dem Fahrrad hier?“, lacht sie achselzuckend.

„Du weißt: Wir sind unzertrennlich geworden“, scherze ich und streiche über den Lenker.

Dann spazieren wir etliche Kilometer wie immer an der Spree entlang. Für uns ist keine Temperatur zu kalt. Wir haben uns so viel zu erzählen. Mittlerweile hat sich meine arabische Freundin auch von ihrer durch die Arbeit eingefangenen Coronaerkrankung erholt. Es hat ein paar Wochen gedauert. In der Akutzeit fuhr ich bei Schneematsch zu ihrer Familie, um wenigstens eine Wärmflasche vor die Tür zu legen. Wie das in solchen Momenten ist, schneite es just an jenem Tag, sodass ich teilweise eine Schneewanderung aus der Strecke machte. Doch was macht man nicht alles für eine Freundin in Not? Und in Pandemiezeiten – waren wir uns einig – würden wir als Freund:innen füreinander da sein.

*

An jenem Januarabend verstärkt sich allerdings mein trockener Winterhusten. Ansonsten fühle ich mich aber noch so gut, dass ich selbst am Folgetag spazieren gehe.

Meine Großeltern sorgen sich am Abend beim Telefonat. Dieser Husten klinge immer tiefer.

Bestimmt bloß Reizhusten, beruhigen wir uns.

Aber in der Nacht bekomme ich Fieber, Kopfschmerzen.

Mein Kopf dröhnt so stark, dass ich sogar wach werde.

Am Morgen danach ist nichts mehr, wie es war.

Meine Gelenke schmerzen, als planten sie auseinanderzureißen. Dabei kann ich einiges an Schmerz aushalten.

Zudem streikt mein Kreislauf komplett. Ständig habe ich das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden.

Dann ist da das Problem mit dem Test. Für mich steht die Diagnose an sich fest. Allerdings brauche ich die für das Krankenhaus schriftlich. Problem: Man muss bis zur Teststelle gehen. - Eine Unmöglichkeit.

Tagelang liege ich im Gartenhaus meiner Großeltern wie in einem riesigen Glaskäfig im Bett. Draußen passieren meine Verwandten oder wacht Omas schwarzer Kater. Es liegt Schnee. Irgendwann hat jemand einen kleinen Schneemann mit rosa Hütchen vor das Fenster gesetzt.

Ich schlafe. Ich schlafe. Ich schlafe so viel.

„Hattest du Fieber?“, fragten manche später.

„Nein, nur eine erhöhte Temperatur am Anfang“, erinnerte ich mich dunkel.

„Warum lagst du aber im Bett?“, wunderten sie sich.

Ich weiß es bis heute nicht.

Da sind nur Schemen.

Ich hatte keine Kraft. Ich konnte nicht mehr Brot abschneiden, aß bloß gierig das, was mir auf das Fensterbrett gestellt worden war. Ansonsten fehlte mir die Kraft bei allem. Wenn ich am Computer einen Film sehen wollte, traf ich mit der Maus nach wenigen Minuten nicht mehr. Die Arme fühlten sich so schwer an. Zwei ganze Wochen lang wusch ich mir keine Haare, weil ich den Wasserhahn für heißes Wasser nicht aufdrehen konnte. Außerdem war alles so anstrengend.

Ich schlief. Ich schlief. Teilweise waren es vierzehn Stunden am Tag.

Dazwischen versuchte ich zu lesen, zu lernen.

Das mündliche Examen, wurde ich panisch.

Aber ich verstand nicht lange, was ich las. Irgendetwas stimmte mit der Konzentration nicht. Zeilen in Büchern wirkten ohne Inhalt.

„Das haben wir doch gerade besprochen“, lachte mich meine Schwester bei ihren täglichen besorgten Anrufen aus.

„Echt?“, hatte ich nach zehn Minuten Gespräch keinen blassen Schimmer, was wir je thematisiert hatten.

Ich tat noch weitere merkwürdige Dinge.

Ausgerechnet meldeten sich besonders viele Freund:innen und Verwandte. Doch aus irgendeinem Grund gehorchten meine Finger beim Schreiben nicht. Sie waren so schnell müde, dass ich keine Nachrichten mehr schrieb, sondern als Profilbild einstellte, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, ich würde mich demnächst melden, könnte bloß aktuell nicht schreiben.

Stattdessen versuchte ich ihre mitfühlenden Nachrichten zu verstehen.

Und ah - „Hallo Julia. Wie geht es dir?“, sprach Aziza plötzlich am anderen Ende. Offenbar hatte ich, statt das Programm zu schließen, sie angewählt.

„Mmh, ja...“, konnte ich mich wieder bald nicht mehr konzentrieren.

*

In der zweiten Woche kamen Luftnot und Herzrasen hinzu. Ständig war mir schwindlig.

Irgendwie versagte mein medizinisches Gedächtnis wiederum nicht ganz, sondern mahnte mich: „Du musst aufstehen, sonst bekommst du eine Thrombose!“

„Du weißt, dass die Luftnot meistens in der zweiten Woche kommt. Du weißt auch, dass man nicht viel tun kann...“

„Bitte bringt mir Strohhalme mit“, bettelte ich am Telefon bei meinen Eltern.

Artig gehorchten sie, sodass ich täglich im Wasser pustete. Der Husten saß so tief, dass es bereits beim Atmen schmerzte. Verzweifelt setzte ich mich mehrmals täglich an die Bettkante, führte die Atemübungen durch, die ich früher beim Gesangsunterricht gelernt hatte. Leider erinnert man sich nur an sie, wenn es akut wird. Außerdem klopfte ich mir, soweit möglich, die Lungen ab.

Sekretmobilisation, erinnerte ich mich dunkel.

Doch meinen Eltern, die täglich durch das große Glasfenster schauten, gefiel ich immer weniger.

„Du wirkst so apathisch“, sorgte sich meine Mutter.

„Deine Luftnot...“, überlegte mein Vater.

„Du brauchst einen Ärzt:in“, waren sie sich einig.

„Ah, ich weiß nicht… Lasst mich doch in Ruhe!“, wehrte ich mich.

Inzwischen schmerzten meine Arm- und Beinmuskeln bei kleinsten Bewegungen. Das war ein ganz feiner ekliger reißender Schmerz.

Aber auf mich hörte niemand.

Am Ende saß ich als Infektionsbacillus mit zwei FFP2-Masken übereinander, um niemanden anzustecken, bei meinem ct-Wert von 22 auf der Bank vor dem Isolationsraum der Rettungsstelle.

Nach einer gefühlten Ewigkeit riefen mich die gelb Eingekleideten auf. Nur mit Mühe konnte ich aufstehen.

„Können Sie bitte lauter sprechen? Ich verstehe Sie nicht“, bat man mich.

„Ich habe keine Kraft“, flüsterte ich und sehnte mich nach meinem Bett.

„Ihr Puls liegt bei 110/min. Sie sind wohl aufgeregt“, teilte man mir mit.

„Aber die Sauerstoffsättigung ist gut“, freute man sich.

Zur Erläuterung: Damals galt Covid noch als reine Lungenerkrankung, weshalb man nach damaliger S1-Leitlinie erst bei einer erniedrigten Sauerstoffsättigung stationär aufnahm, um dann das einzig therapeutisch Mögliche zu tun, nämlich erstens Sauerstoff zu geben, zweitens bei Versagen Dexamethason, drittens... – die Bilder von den Intensivstationen wurden damals oft genug medial gezeigt.

Die Ärztin schließlich war mehr damit beschäftigt, ob sie ihre Schutzkleidung tatsächlich anlegen müsste oder nicht. Schließlich würden es wohl doch alle im medizinischen Bereich früher oder später in dieser entsetzlichen Welle bekommen.

„Ich würde es anziehen. Ich habe mich auch bei der Arbeit angesteckt“, flüsterte ich kraftlos.

Zum Abschluss warf mir noch ein armer dafür abgestellter Student den Brief und ein paar Ibuprofentabletten gegen die Schmerzen zu.

Dann ging es endlich zurück ins Bett.

*

Die Wundertüte Corona spuckte bald ein paar kleine schuppige Hautveränderungen im Gesicht aus.

Ab Woche drei etwa hatte ich Schübe mit Gelenkschmerzen. Die sprangen durch den ganzen Körper. An den Tagen schlief ich besonders viel. Am besten erschien es mir, mich nicht zu bewegen. Dafür musste ich nachts ständig austreten.

Ich sah eine Dokumentationsreihe über den Vietnamkrieg. An einiges erinnere ich mich noch. Den Rest muss ich verschlafen haben.

Irgendwie schickte ich nach drei Tagen mühseligen Kampfes mit der Maus die noch kurz zuvor abgeschlossene Petition wegen der Impfungen im Praktischen Jahr mit unser Fachschaft ab.

Ansonsten blieb dieser Nebel im Kopf.

Stattdessen planten meine Freund:innen und Familie. Wie gehe es mit dem Studium weiter?

Ich saß vor meinem Computer und versuchte mich zu erinnern, was man noch einmal therapeutisch beim Herzinfarkt machte.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, alles neu erlernen zu müssen.

*

Nach drei Wochen teilte mir das Gesundheitsamt mit, dass ich trotz der letzten positiven PCR vor einer Woche die Quarantäne beenden könnte.

„Aber ich huste noch“, hörten sie es kurze Zeit später selbst noch immer tief scheppern. „Mir geht es noch genauso schlecht“, erinnerte ich an die eigenen Quarantäneregeln.

„Vielleicht hat ihr Husten einen ganz anderen Grund. Sie sollten sich ärztlich vorstellen“, riet man mir lapidar.

„Aber ins Krankenhaus darf ich mit Symptomen nicht“, argumentierte ich müde.

„Sie sind seit drei Wochen in Quarantäne. So lange war bei uns noch niemand zu Hause“, bügelte man mich ein weiteres Mal ab.

Das ist natürlich eine Begründung, ärgerte ich mich.

*

Letztlich ließ ich mich bis zum Krankenhaus fahren, in dem ich das Praktische Jahr absolvierte. Doch oh je: Zum Betriebsarzt führte eine Treppe. Kein Fahrstuhl in Sicht!

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, schleppte ich mich hinauf, musste allerdings nach wenigen Stufen verschnaufen. Die Luftnot war enorm. Erneut fehlte die Kraft.

Immerhin: Ich war negativ.

*

Als ich meinen Glaskäfig verließ, erwartete mich ein Empfangskomitee.

„Jetzt müssen wir täglich spazieren gehen, damit du wieder zu Kräften kommst“, plante mein Opa.

„Also ehrlich gesagt“, stützte ich mich erschöpft ab. „Ehrlich gesagt, bin ich zwar negativ, aber mir geht es unverändert schlecht.“

Wortlos verschwand er hinter der Ecke.

Unverständnis erfuhr ich genauso im Krankenhaus, als ich mich länger krankmeldete.

„Es ist Ihr Studium“, gab man mir auf den Weg.

„Und Sie wissen, dass ich mich bei Ihnen angesteckt habe!“, konnte ich mir nicht verkneifen.

„Seien Sie froh, dass Sie keine Impfung bekommen haben. Andere waren trotzdem krank“, drückte man in der nächsten Wunde.

*

Dann gestalteten sich die ersten dreihundert Meter Fußweg vom Gartenhaus zum Haus meiner Eltern, wo ich mich einquartierte, als erste Belastungserprobung.

Weinend lag ich im Bett, weil es sich anfühlte, als zerrissen meine Muskeln.

„Warum hast du nichts gesagt?“, entdeckten sie mich irgendwann.

„Ihr könnt mir auch nicht helfen“, wehrte ich ab.

Doch das stimmte nicht.

Sie tasteten nämlich und stellten entsetzt fest: „Deine Oberschenkelmuskeln sind so hart wie ein Brett. Das muss schmerzen! Möchtest du nicht Wärme ausprobieren?“

Das wurde meine Rettung. Bald bettete ich die Beine und Arme unter und über Wärmflaschen.

Außerdem massierten meine Eltern – Papa an dem einen Bein, Mama an dem anderen – die Muskeln. Das muss komisch ausgesehen haben. Aber es half.

Ich merkte, dass ich den Schmerz beeinflussen konnte.

Genauso stellte ich rasch einen Zusammenhang zur körperlichen Belastung fest.

Noch etwas veränderte sich: Diese Verwirrtheit besserte sich. Am Anfang bedeutete das für mich gar keinen Segen, weil ich dadurch meine Situation allmählich begriff: Gestern noch mitten im Leben, sportlich, heute konnte ich mit meinen Anfang zwanzig Jahren weiterhin nur winzige Absätze schreiben, wenige Meter am Stück laufen, hatte Schmerzen, weiterhin Husten…

Da war eine tiefe Traurigkeit in mir. War das vielleicht alles nur ein Albtraum?

Die Diagnose stand für mich fest: Das muss wohl ein Long-Covid-Syndrom sein. Immerhin hatte ich zu dieser relativ neuen Krankheit meinen letzten Artikel für den Covid-Newsletter geschrieben.

Daher nutzte ich die Zeit und saugte alle Informationen und Erfahrungsberichte in mich auf. Irgendwie musste man doch selbst etwas bessern können!

Da stieß ich schon auf das Schlüsselwort der heutigen Leitlinien: Pacing, das Energiemanagement. In ganz kleinen Schritten müsse man die Belastungsgrenzen durch die Krankheit austesten, um ggf. sie auszuweiten oder anzupassen.23 Das klang nach etwas Langwierigem.

„Sie benötigen Zeit“, gab mir mein Hausarzt ebenfalls auf den Weg, als er EKG, Röntgenbild der Lunge und Kopf-MRT auswertete. „Das ist wohl dieses Long-Covid. Den meisten soll es nach drei Monaten besser gehen.“

Entsetzt schaute ich ihn an. „Ich darf aber im Praktischen Jahr regulär nur maximal dreißig Tage lang fehlen...“

„Ja, Sie brauchen Geduld“, seufzte er.

„Und meine Schmerzen?“, erinnerte ich an die Muskulatur. „Ich werde manchmal nachts davon wach.“

„Sie können Ibuprofen ausprobieren“, wirkte er hilflos.

*

Als erstes arbeitete ich an meinem Gedächtnis.

Wenn man täglich das Gleiche liest, müsste doch irgendetwas hängen bleiben, motivierte ich mich.

Daher wiederholte ich tagelang die gleichen Kapitel über Infektiologie oder las Fälle. Außerdem kontaktierte ich meine Lerngruppe. Dadurch war ich gezwungen, zu jeder Woche mich mit ihnen zu drei Krankheitsbildern auseinanderzusetzen. Da der Stift nach wie vor nicht lange in der Hand gehorchte, musste ich ein besonders gutes Gedächtnis haben.

Ich schrieb Symptomtagebücher, um den leisesten Hauch einer Verbesserung nicht zu übersehen. Ich notierte die Schmerzstärke und -lokalisation, Einflussfaktoren, Konzentrationszeitspanne, Gehstrecke, weitere Symptome.

Außerdem ging ich täglich die gleichen Wege spazieren. Im Nu kannte ich jede Sitzgelegenheit unterwegs, wenn die Kraft nachließ. Zur Not genügte mir der Bordstein.

Aber ich hatte ein Ziel: Ich wollte wieder mein früheres Leben zurück.

Zurück in meiner Wohnung leben.

Zurück ins Studium.

*

Nach ca. einem Monat ernsten Eigentrainings unter Pacing mit Freund:innen oder Familie fühlte ich mich bereit zur Rückkehr.

Zur Vorbereitung übte ich in Begleitung die fünf Stockwerke Treppen zur Wohnung mit Pausen zu meistern.

Dann tat sich eine neue Hürde auf: Einkaufen gehen.

Als ich im Laden stand, fühlte ich mich, als würde mein Kopf von Reizen überschwemmt. Überall wuselten Menschen, vermischten sich Geräusche. Dazwischen stand ich mit einem Zettel auf der Suche nach etwas Essbarem für die Woche.

Ich fühlte mich wie in einem Tunnel, in dem die Lichter ganz stark blenden.

Doch eisern biss ich mich durch, bis ich an der Kasse anstehen musste.

Dort spürte ich, wie meine Beine an Kraft verloren und schmerzten. Irgendwann überlegte ich deshalb, den Einkauf stehen zu lassen und zu gehen.

Am Ende siegte jedoch die Verbissenheit.

Nur die nächsten Einkäufe versuchte ich besser zu planen, um nicht zu viel Zeit zu benötigen.

*

Ich wollte so viel wie möglich wieder selbstständig schaffen.

Wäsche zum Beispiel waschen. Aus irgendeinem Grund wurde mir dabei schwindlig, reichte die Kraft in den Beinen nicht zum längeren Stehen.

Aber wo steht denn geschrieben, dass man Wäsche im Stehen sortieren muss? Man kann die Truhe genauso gut ausschütten und sitzend sortieren.

Trotzdem hat man es allein geschafft.

*

Die Zeit schritt voran.

Manchmal hatte ich vor Erschöpfung das Gefühl, gar nichts zu schaffen. Dabei war das ganz rational betrachtet falsch. Ich ging schließlich noch einkaufen oder kümmerte mich, so gut es ging, um den Haushalt. Ich schaffte es bloß nicht an einem Tag mal nebenbei wie früher.

Daher erinnerte ich mich an eine Psychologiestunde beim Studium über Tagesstrukturierung in Stresssituationen. Vielleicht würde es mir ebenso helfen, eine Prioritätenliste zu schreiben.

Folglich entwarf ich ganze Wochenpläne, in die ich alles idiotensicher eintrug.

Montag: Müll rausbringen, lernen, Anruf sowieso…

Dadurch entwickelte ich eine Struktur, hatte eine Gedächtnisstütze, konnte Angenehmes mit Unangenehmen verbinden, hatte vor allem allerdings schwarz auf weiß, dass sich mein Gefühl täuschte: Ich hatte etwas geschafft.

Außerdem reduzierte dies das Stressgefühl, das aus irgendeinem Grund aufkam, sobald ich etwas planen musste.

So viele Dinge wurden plötzlich zu unüberwindbar scheinenden Problemen.

Was war nur mit mir los, dass ich gar keinen Stress mehr tolerierte?

*

Meine Freund:innen trösteten mich.

„Du musst wieder deine Geschichten schreiben“, rieten sie.

„Ich kann leider nicht mehr schreiben. Meine Arme und Hände sind so müde und schmerzen“, war ich resigniert. In der Tat vermisste ich das Schreiben. Aber die Kraft benötigte ich für die alltäglichen Basics.

„Du kannst doch diktieren“, gaben sie sich nicht geschlagen.

Das überzeugte mich.

Ich musste zwar bald feststellen, dass meine Produktivität mit diesem Gehirnnebel nach wenigen Zeilen stark nachließ, aber für das seelische Gleichgewicht tat es sehr gut. Zudem konnte ich dadurch selbstständig zeitnaher auf Nachrichten oder E-Mails antworten.

Ich sammelte sogar Links und Themenvorschläge für unseren Covid-Newsletter, weil man nach den Wochen nicht ganz auf mich verzichten wollte.

Auf diese Weise kehrte ich zurück ins Leben.

Ich begriff einen Gedanken, den ich heute häufig meinen Patient:innen sage: „Man kann an vielem teilnehmen. Es ist nur die Frage, wie. Vielleicht geht es nicht so wie gewohnt. Aber ist es dadurch absolut unmöglich?“

*

Ein weiterer Lichtblick wurde ein Termin bei meinem Pulmologen zur Asthmakontrolle. Er stellte nämlich unter Belastung schon einen Abfall der Sauerstoffsättigung fest.

So kam ich zu meinem Herz-MRT, das zum Glück keine Myokarditis, also Herzmuskelentzündung, sondern bloß einen kleinen Perikarderguss, d.h. Flüssigkeitsansammlung um das Herz, ergab.

Doch damit nicht genug: Beim nächsten Mal führte mein Arzt den Belastungstest mit mir persönlich durch. Überrascht fragte er: „Sind sie aufgeregt?“

Ich antwortete mit Blick auf den Ruhepuls von über 100 Schlägen/ Minute: „Nein, aber das war jetzt schon häufiger so.“

Im Nu saß ich wieder bei der Kardiologin, die mir ein Langzeit-EKG mitgab. Das Ergebnis: Eine inadäquate Sinustachykardie, d.h. das Herz schlägt gemessen an der Tätigkeit (Essen, Sitzen nach Begleitprotokoll) viel zu schnell.4

So kam ich zu meinem Ivabradin. Den zusätzlichen Betablocker vertrug ich nicht.

Vorsichtig fragte ich: „Kann das auch Zeichen für Stress sein? Für mich ist alles noch sehr anstrengend.“

Kurz musterte sie mich: „Ich denke, dass Sie wieder Ihr Praktisches Jahr fortsetzen sollten. Sie sind schon lange genug krank.“

*

Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet. Meine Gehstrecke war schließlich noch kurz. Die Muskelschmerzen schränkten ein. Ich konnte noch immer nicht viel schreiben.

Doch auch meine Freund:innen und Familie rieten: „In einem Monat sind die drei Monate vorbei. Wahrscheinlich wirst du wieder gesund sein. Dann ärgerst du dich, dass du jetzt für die nächsten anderthalb Jahre entschieden hast und selbst das erste Tertial wiederholen musst. Mit deinen Fehlzeiten kämst du noch durch die Pandemieverordnung durch das Praktische Jahr, wenn du alle Lernziele erreichst. Schließlich sollen wir keine Nachteile erfahren. Du kannst nichts verlieren, wenn du es versuchst.“

*

Daher rief ich beim PJ-Beauftragten an, schilderte meine Situation. Ehrlich erklärte ich, was ich noch könne.

Indirekt dachte ich: Das war es dann aber auch.

Ich glaubte, dass er mich auslachen würde und sagen: „Sie sind offenbar noch sehr krank. Bleiben Sie zu Hause.“

Aber zu meinem Erstaunen meinte er optimistisch: „Das bekommen wir hin.“

Name geändert↩

Koczulla AR et al. S1-Leitlinie Long/Post-Covid. AWMF 2022:73.↩

Goudsmit E. Pacing bei CFS: Eine Anleitung für Patienten. (Zugriff August 2023; http://www.cfs-aktuell.de/index-Dateien/Goudsmit.pdf)↩

Sossalla S., Vollmann D. Die inadäquate Sinustachykardie. Dtsch Med Wochenschr 2015; 140: 603–607.↩

Kapitel 3 – Ein ungleicher Kampf

Nur ein bisschen Zeit

Nur ein bisschen Zeit

Ist ja nicht,

als warte man.

Daheim und überall.

*

Nur ein bisschen Zeit

Ist ja nicht ein Leben lang

Vorher, nachher…

Es braucht Zeit.

*

Die Frage bleibt nur: Wann?

Nur ein bisschen Zeit

Das sagt sich nur so leicht:

Auch ich hatte Pläne.

*

In der Chirurgie konnte man am Anfang nicht viel mit mir anfangen. Niemand wollte mich überlasten. Für alle war Long-Covid irgendwie ein Begriff, aber zum ersten Mal begegneten sie einer Betroffenen.

Daher gab ich vor, was ich mir zutraute. Immerhin wollte ich lernen.

An meinem ersten Tag in der Rettungsstelle meinte ein Arzt lobend zu mir: „Du hast gar keine Konzentrationsprobleme. Du weißt so viel!“

Kurze Zeit später schloss ich die Augen am PC, da die Erschöpfung zunahm.

„Na, Langeweile?“, entging es ihm nicht.

„Nein, Entschuldigung. Ich glaube, dass ich nur eine der Mehrpausen gerade benötige“, verschwand ich eilig.

Am Ende des Rettungsstellentages nach über acht Stunden Arbeit lernte er dann doch meine Konzentrationsprobleme kennen. Ich war so erschöpft, dass ich nicht mehr wusste, wie man das Routine-EKG anlegen soll. Irgendetwas stimmte in den Ableitungen nicht. Der Famulant konnte mir leider auch nicht helfen.

Für mich hatte ich vor der Wiederaufnahme des Praktischen Jahres aber eine rote Linie festgelegt: Ich würde nicht zu einer Gefahr für Patient:innen werden. Ich müsste ehrlich bleiben.

Daher ging ich zu dem Arzt und gestand ihm mein Problem, fügte noch hinzu: „Ansonsten würde ich jetzt in den Feierabend gehen.“

Zu Hause fiel ich in das Bett. Die Muskelschmerzen waren stärker. Ich verstand, dass ich meine Grenze überschritten hatte. Wollte ich das letzte Studienjahr wirklich länger als die erste Woche durchhalten, müsste ich schneller die Bremse ziehen, d.h. erstens keine Überstunden möglichst unbezahlt machen, zweitens erst einmal mit leichterer Tätigkeit beginnen.

Schweren Herzens ging ich am nächsten Morgen (meinem Geburtstag) in die Rettungsstelle und erklärte: „Guten Morgen, ich wollte nur Bescheid sagen. Ich habe gestern richtig viel gelernt. Das hat mir Spaß gemacht. Leider habe ich allerdings gemerkt, dass ein ganzer Tag in der Rettungsstelle für mich durch das Long-Covid-Syndrom noch zu viel ist.“

Die Ärztin nickte. „Wir haben gestern, als du gegangen warst, einmal nachgelesen. Dafür hast du dich wirklich gut geschlagen“, überraschte sie mich. „Wenn du möchtest, bist du auch stundenweise willkommen.“

Auf diese Weise plante ich in Rücksprache mit dem zuständigen Oberarzt meine eigene Rotation. Ich lernte in den Tertialwochen eine Menge von Handchirurgie, Notversorgung bis hin zu modernsten allgemein- und unfallchirurgischen Techniken. Selbst die D-ärztliche Versorgung und Sportmedizin waren dabei.

Dank des Ivabradins1 wurde ich zudem kognitiv leistungsfähiger und war nicht mehr so erschöpft.

Beim Schreiben der Briefe verschwand ich im Nachbarraum, um die Störgeräusche auszublenden. Außerdem bemerkte man dadurch nicht, dass ich immer wieder die schweren Arme hängen lassen musste. Eines Tages wurde ich in die Kunst des Diktierens eingeführt! Das war meine Stunde.

*

In Kontakt mit den anderen Studierenden erlebte ich ein Schlüsselereignis. In der Mittagspause meinte einer der neuen Kommilitonen: „Verzeihung, wahrscheinlich habe ich dich das gestern schon gefragt: Wo studierst du noch einmal?“

Ehrlich gestand ich daraufhin: „Kein Problem. Das kenne ich auch. Wie heißt du noch einmal?“

Ich fühlte mich richtig erleichtert, nicht mehr überspielen zu müssen, dass ich mich ständig unsicher fühlte, ob ich die gleichen Fragen bereits vorher gestellt hatte. Bestimmt würden das andere sofort merken.

Früher hatte ich mich blind auf mein allseits gelobtes personelles Gedächtnis verlassen können. Jetzt benötigte ich Eselsbrücken oder wurde aus Scham ruhiger.

Ich verstehe heute umso besser die Betroffenen einer Demenz, die im Anfangsstadium ihre Lücken bemerken.

Man fühlt sich so nackig. Man denkt, dass alle einen für verrückt halten müssen.

Aber da saß jemand ohne Long-Covid-Syndrom, der offenbar ein ebenso lückenhaftes Gedächtnis besaß. War ich eventuell früher bloß besonders gut im Merken?

Denn das Lernen funktionierte inzwischen ganz gut und in der Chirurgie konnte ich mein Wissen hervorragend abrufen.

Dadurch, dass ich weiterhin nicht viel am Stück schreiben konnte, musste ich mir ohnehin vieles merken.

Das war so ähnlich wie früher beim Gesangsunterricht. Damals hatte ich noch keine Kontaktlinsen als Jugendliche und war andererseits zu eitel, die Brille regelmäßig zu tragen. Bei starker Kurzsichtigkeit erschwert das allerdings etwas das Lesen der neuen Liedtexte. Daher merkte ich mir jedes Wort meiner Gesangslehrerin, bis sie eines Tages verlangte: „Wir beginnen mit Strophe zwei...“

Und dann ungläubig fragte, als ich aufflog: „Hast du dir das immer alles gemerkt?“

* Nur eine Sache ließ mir keine Ruhe: Die Kraft in Armen und Beinen besserte sich gar nicht.

Daher sprach ich beim nächsten Arztbesuch meinen Hausarzt direkt an: „Ich sehe ein, dass ich dieses Long-Covid-Syndrom habe. Aber ich verstehe nicht, warum man nicht das Hauptsymptom untersucht. Ich habe ebenso eine Kraftminderung. Kann man das nicht einmal neurologisch abklären wie bei anderen, die keine Coronaerkrankung vorher hatten?“

„Drücken Sie mal meine Hände!“, forderte er mich auf.

„Das kann ich. Aber ich halte das nicht lange durch“, leistete ich Folge.

Nachdenklich verschwand er hinter seinem Bildschirm. Er ist ein sehr gewissenhafter Arzt. Aber für ihn war die Erkrankung wie für alle anderen neu. Niemand dachte zu dem Zeitpunkt außerdem an eine Muskelerkrankung.

„Das kann man machen… Soll ich Sie krankschreiben?“, überlegte er.

„Nein! Wenn ich krank bin, erwartet man, dass ich eines Tages gesund wiederkommen werde...“, protestierte ich.

*

Außerdem lief es gerade gut. Ich absolvierte doch noch mein Praktisches Jahr. Mit Härtefallantrag auf Basis der Pandemieverordnung hatte ich somit die Chance, das Studium zumindest abzuschließen.

Natürlich war mein Tag genau getaktet.

Es lohnte sich der kurze Arbeitsweg. Ich wusste, wo ich in die Bahn einsteigen musste, um sitzen zu können.

Am Nachmittag fiel ich ins Bett, las maximal ein paar Examensfragen zur Vorbereitung und zum Gedächtnistraining.

Den Einkauf übernahmen dankenswerterweise meine Verwandten.

Mit Freund:innen kommunizierte ich seltener, schrieb Listen, wer schon besonders lange wartete.

Kurze Spaziergänge fanden am Wochenende statt.

Alles musste geplant werden, gelang nicht mehr sofort.

*

Wie sollte ich also nebenbei noch zu einer neurologischen Praxis in der Stadt kommen, die die Symptome ernst nahm?

Mein Vater riet: „Frag doch im Krankenhaus nach!“

Der Gedanke behagte mir anfangs gar nicht. Immerhin plante ich dort mein letztes Tertial...

Aber die Not zwang mich zu Kompromissen.

Der Oberarzt am Telefon schloss das Vorgespräch mit: „Wahrscheinlich werden wir Sie stationär aufnehmen müssen. Da stehen viele Untersuchungen an, die Sie bei Ihren Beschwerden kaum nebenbei schaffen werden...“

Der Gedanke gefiel mir noch weniger.

Stationär? Mit welchen nicht mehr vorhandenen Urlaubstagen sollte das möglich sein?

*

Dann ging alles schnell.

Die drei Monate Long-Covid-Syndrom waren vorbei. Ich war leider nicht wiederhergestellt, rutschte in der Statistik also weiter bzw. wurde ich nach heutigen Kriterien erst zu einer Post-Covid-Erkrankten.2

Das Verständnis ließ nach. Es wäre Zeit, sich mehr zu fordern, meinten einige.

Freund:innen wurden ungeduldig.

Es gibt einen sehr treffenden Spruch aus der politischen Satire, den ich bei Extra-3 einst hörte: „Warum hat niemand gesagt, dass Long-Covid wirklich so lang geht?“

Aber anstelle einer Besserung kamen Probleme hinzu.

Am Abend sah ich immer Schatten meiner Arme, die ich auf das Ivabradin (Herzmedikament) schob. Manchmal war alles nur verschwommen.

Neuerdings musste ich zudem die Arme beim Haare kämmen absetzen.

Bestimmt eine Verspannung, beruhigte ich mich.

Doch die Beschwerden traten bald täglich auf.

Immer häufiger fielen mir Dinge aus der Hand.

Du bist unachtsam, hektisch, mahnte ich mich.

Eines Tages schaffte ich es nicht mehr, nach oben in der Garderobe zu greifen, um meine Jacke herunterzunehmen. Das machte mir Angst.

Schon eine seltsame Verspannung.

Am Ende zog ich sie aber von unten vom Kleiderbügel.

Im OP-Saal hatte ich trotz der heimlichen Atemübungen zur Stressreduktion auf der Toilette zwischendurch, der Sitzpausen und Wärmeanwendungen mit allen möglichen freiverkäuflichen durchblutungsfördernden Cremes und großflächiger Diclofenac-Anwendung Schübe stärkster Muskelschmerzen. Mir wurde manchmal richtig übel.

Am nächsten Tag änderte sich mein Gangbild. Ich stolperte über meine eigenen Füße. Jetzt starrten mich die Leute auf dem Gang an.

„Na, soll ich ein Bett vorbereiten?“, stichelte einer der OP-Pfleger.

„Ein Rollstuhl würde mir genügen“, gab ich eiskalt zurück.

Am Fahrstuhl hielt mich einer der Chirurgen auf: „Julia, bleib morgen bitte zu Hause. Mit deinem Bein stimmt etwas nicht. Du läufst so komisch.“

*

Ich hatte Angst. Es ging so schnell rückwärts, statt vorwärts.

Ich meldete mich krank.

Ich rief noch einmal in der Neurologie an, bat freiwillig um einen zeitnahen Aufnahmetermin.

Meine Gehstrecke lag mittlerweile bei maximal 500 Metern in 45 Minuten durch die vielen notwendigen Sitzpausen. Meine Füße schienen am Boden zu haften.

Daher verbrachte ich die meiste Zeit liegend oder sitzend.

Praktisches Jahr, ade!

*

Eine Woche später durfte ich zum Post-Covid-Check in die Klinik kommen.

Endlich passierte etwas! Ich war voller Hoffnung! Da war dieses ungewisse Gefühl in mir, dass man mir helfen würde.

Am Anfang fanden in der Tat eine Menge Untersuchungen statt. Dazwischen legte ich mich hin oder schlief.

Das Laufen wurde ein bisschen besser. Zum ersten Mal beobachtete ich, dass der Morgen meine Tageszeit war, während ich am Abend über die Gänge stolperte.

Nur die Therapien wurden zur Belastungsprobe. Bei der Ergotherapie fehlte mir schlichtweg die Kraft in den Händen, um einen Korb zu flechten.

„Ruhen Sie sich aus!“, riet man mir.

Aber in mir breitete sich eine Traurigkeit aus.

Monatelang hatte ich mich auf das konzentriert, was ich wieder konnte. Ich war ins Praktische Jahr zurückgekehrt.

Selbstbewusst hatte ich meiner Oma geantwortet, als sie meinte: „Das ist alles ein verlorenes Jahr für dich. Was kannst du noch? Du kannst nicht mehr Fahrrad fahren, nicht mehr laufen...“

Da hatte ich hinter meinem Computer und den Lernaufzeichnungen aufgeblickt und selbstbewusst gelacht: „Aber ich kann wieder lernen. Mein Kopf arbeitet. Ich werde noch die Prüfung absolvieren. Irgendwann müsste ich eh dafür lernen. Jetzt kann mich wenig ablenken.“

Doch hier bei der Ergotherapie wurde ich ständig mit meinen Grenzen konfrontiert. Ich fühlte mich so nutzlos!

An den Abenden weinte ich still.

Bei der Physiotherapie musste ich mich zudem behaupten.

„Wir machen einen Spaziergang“, schlug die Therapeutin vor.

„Aha“, schielte ich zu meinem Camping-Hocker, den ich normalerweise zu meinen kleinen Ausflügen für die Sitzpausen mitnahm.

„Nicht immer hinsetzen“, drängte man aber unterwegs.

„Ich habe Schmerzen“, spürte ich, dass meine lang erarbeitete Belastungsgrenze überschritten wurde.

„Sie haben immer Schmerzen“, schmetterte man mich ab.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, fragte: „Verstehe ich das richtig, dass ich den Schmerz ignorieren soll, bis es gar nicht mehr geht?“

Überrascht sah die Therapeutin mich an: „Das klingt sehr brutal.“

„Aber genau das machen Sie gerade mit mir“, merkte ich, dass ich vorher nicht hätte nachgeben dürfen.

Die Quittung erhielt ich an den Folgetagen. Das Wochenende verbrachte ich nämlich bis zur anschließenden Rehabilitation im Bett.

Aber am Ende retteten mich die Ärzt:innen.

Sie boten mir ein Medikament an, weil sie davon ausgingen, dass ich möglicherweise eine Autoimmunerkrankung hätte. So kam ich zu Prednisolon.

Die Physiotherapeutin und ich haben uns später als Kolleginnen bestens verstanden. Damals fehlte schlichtweg das Wissen zur Behandlung. Alle tappten im Dunkeln, versuchten von herkömmlichen Therapien zu übertragen. Manchmal nahmen sie einen vermutlich nicht ernst genug…

Die Strategie des Pacings (Energiemanagements) wurde erst später bekannter.

*

Aber mit dem Prednisolon ging es bergauf.

Nach wenigen Tagen konnte ich flüssig und schnell laufen, wieder ohne Unterbrechungen Haare kämmen, besser schreiben, hatte kaum mehr Schmerzen, war wach und sprudelte vor Leben. Die Therapeut:innen waren beeindruckt.

Vorher konnte ich als jüngste Patientin weder schwimmen noch irgendetwas ansatzweise Sportliches tun.

Jetzt hatte ich das Gefühl, tatsächlich rehabilitationsfähig zu sein.

Das Therapieangebot war unwahrscheinlich vielseitig. Schnell machte ich Wärmeanwendungen als verbessernd aus.

Die Therapeut:innen gewöhnten sich daran, dass ich häufiger Pausen benötigte, oder beim Nordic Walking die Stöcke schleifen ließ, um die noch leicht schmerzenden Arme zu schonen.

Für das Jahr 2021 war ich von dem in kurzer Zeit aus dem Boden gestampften Rehabilitationsprogramm beeindruckt. Allerdings habe ich offenbar das Glück gehabt, nicht in einer anderen Klinik gelandet zu sein. Eine Vielzahl von Patient:innen hat mittlerweile schließlich über ihre gar schädigenden Therapieversuche berichtet. Erste Studien zu notwendigen Besonderheiten sind aufgrund ihrer kleinen Fallzahl sehr eingeschränkt aussagekräftig und nicht nach Symptomen oder Formen des Long-Covid-Syndroms differenziert.345

*

Mit dem Prednisolon lernte ich zwischen den Therapien, anstatt zu schlafen.

Ich plante voller Hoffnung mein zweites Comeback ins Praktische Jahr.

Aber die Laborwerte waren da.

„Ihre Acetylcholin-Autoantikörper sind leicht positiv“, erklärte man mir mit ernster Miene bei der Visite. „Wir müssen daher erneut die Elektrophysiologie durchführen. Außerdem werden Sie ein weiteres Medikament (Kalymin) erhalten, das die Konzentration des fehlenden Botenstoffes erhöht.“

Meine Gedanken kreisten.

Ich hatte Angst.

Ich wollte auf keinen Fall, dass bei dieser Untersuchung etwas herauskäme. Selbst die Erklärung eines vorübergehenden myasthenen Syndroms beruhigte mich gar nicht.

Zu sehr war mir das Krankheitsbild der Myasthenia gravis, einer Autoimmunerkrankung, die zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche bis hin zur Einschränkung der Atemmuskulatur führt, durch das Studium bekannt. Man gehe zwar davon aus, dass die Covid-Erkrankung bloß vorübergehend ein ähnliches Krankheitsbild erzeugte, dass sich mit Abklingen des Post-Covid-Syndroms besserte, aber meine Beeinträchtigungen hatten sich ohne die Medikamente im Nachhinein sehr schwer angefühlt. Ich hatte mich versucht, auf das Positive zu konzentrieren, doch mit den Medikamenten verstand ich, dass ich mit Pacing (dem Energiemanagement) allein nicht weitergekommen wäre.

Zum Glück hatte man sich genau die Symptome angeschaut und andere Erkrankungen und Folgeerkrankungen von Covid ausschließen wollen!

So klang es andererseits verlockend, mit einem Medikament meine Sorgen loszuwerden und wieder im Leben zu stehen. Die Symptome waren schließlich da. Jetzt ging es nur noch um den Namen.

Die Therapeut:innen bemerkten sofort den Effekt. „Sie haben heute so viel Kraft in den Armen und Beinen!“, staunten sie.

Ich fühlte mich zwiegespalten. Auf der einen Seite konnte ich mittlerweile sogar eine kurze Strecke joggen. Mit offenem Mund beobachteten mich die Mitpatient:innen. Wir hatten eine stille Leidensgemeinschaft gebildet. Endlich war man kein Alien mehr, der sich allein durchkämpfen musste. Da waren etliche, die ähnliche Beschwerden hatten, ähnliche Sorgen teilten, ähnliche Erfahrungen des Wartens kannten.

Auf der anderen Seite beunruhigte mich diese neue Diagnose.

„Da kannst du dein Praktisches Jahr vergessen“, riet mir eine der anderen Patientinnen, eine Infektiologin.

„Nein, ich werde es machen. Ich habe gar keine Wahl. Ich habe nicht einmal einen Abschluss. Außerdem erhalte ich nicht wie ihr Verletztengeld, da ich im Studium unbezahlt beschäftigt war...“, fasste ich meine Perspektive zusammen.

Meine Behandelnden blieben ebenfalls skeptisch. „Sie sind noch ganz schön krank...“

„Ich kann allerdings wieder...“, argumentierte ich.

Dann machte mir das Prednisolon einen Strich durch die Rechnung. Leider darf man nämlich nicht die hohe Dosis von 30mg/d ewig nehmen, weil ansonsten die Nebenwirkungen überwiegen. Einen kleinen Bauchansatz hatte ich bereits entwickelt. Diabetes, Bluthochdruck, Osteoporose etc. wollte ich natürlich nicht bekommen.

Aber die Reduktion gelang nicht. Plötzlich lag ich wieder kraftlos und schmerzgeplagt bei den Therapien. Es schien, als drehte sich die Zeit rückwärts.

*

Mein Opa besuchte mich, brachte mir liebevoll die frischen Erdbeeren aus dem Garten vorbei. Nur seine Worte lösten in mir kein Wohlbehagen los: „Du verschwendest deine Zeit hier. Es gibt eine Ärztin, die mit Blutwäsche die Patient:innen heilt. Dorthin musst du gehen. Ich habe davon im Radio gehört. Hier habe ich dir ihren Namen notiert.“

„Ehrlich gesagt fühle ich mich in dem Krankenhaus hier gut aufgehoben. Hier klärt man genau die Symptome ab, schließt andere Erkrankungen gewissenhaft aus, überträgt von bekannten Behandlungsmustern. Das ist sehr fortschrittlich. Eine Blutwäsche ist keine Kleinigkeit und soweit ich weiß, gibt es dazu keine Studien“, argumentierte ich.

„Das Geld soll nicht deine Sorge sein“, erwiderte er knapp. „Wir sind froh, wenn du gesund bist und dein Studium beenden kannst.“

„Es klingt unseriös“, gab ich zu. „Manchmal wird die Not der Menschen mit unglaubwürdigen Heilversprechen ausgenutzt.“

„Irgendwann wirst du denken: Hättest du auf den Opa gehört“, verabschiedete er sich mit seinem allbekanntem Totschlagargument.

Tatsächlich überzeugten mich die wenigen Fallberichte nicht. Sicherlich glich sich der Ansatz mit der versuchsweisen Prednisolongabe. Aber eine Blutwäsche, H.E.L.P-Apherese, wie sie speziell heißt, war mir zu intensiv, um damit die Therapie zu beginnen.

Daher blieb ich bei 10mg/d Prednisolon. Darunter waren die Muskelschmerzen erträglich. Die Kraft blieb auch stabil. Ich konnte sogar ganz kurze Strecken mit dem Fahrrad fahren. Das Abstützen mit den Armen am Lenker war neben der Luftnot die größte Einschränkung.

„Wo machen Sie denn Ihr nächstes Tertial?“, fragte man mich neugierig.

„Hier“, grinste ich. „Ich wollte mich noch vorstellen.“

*

Schon wechselte ich die Seiten.

Mit wahrer Begeisterung nahm ich an diesem Leben wieder teil. Es fühlte sich so gut an, am Morgen im weißen Kittel zur Frühbesprechung zu gehen, die verschiedenen Stationen zu durchlaufen, dem Ziel, der Prüfung, immer näher zu kommen.

Vor allem aber arbeitete ich in der Klinik, in der Abteilung, in der ich schon immer anfangen wollte.

Ich hatte wieder ein ansatzweise normales Leben zurück.

An den Wochenenden übte ich mit meiner Lerngruppe mit großer Begeisterung die Fallbeispiele. Dadurch machte selbst das Lernen Spaß.

Es kam der Herbst. Die Prüfung rückte somit immer näher. Ich hatte bereits einen Termin. Kurz vor Weihnachten sollte es soweit werden.

Ich war optimistisch.

*

Wahrscheinlich verkraftete ich dadurch auch die Enttäuschungen. Natürlich blieben sie nicht aus. Nicht umsonst heißt es immer, dass man gerade in den Krisen des Lebens wahre Freund:innen, wahre Verbündete erkennt.

Eine Freundin meinte: „Lass uns am besten treffen, wenn du wieder gesund bist.“

Ich antwortete irritiert: „Ich weiß nicht, wann das sein wird und ob es geschehen wird. Sie sprechen hier von bis zu einem Jahr. Nur habe ich so ein myasthenes Syndrom… Aber ich kann doch laufen, nur nicht so weit. Ich absolviere sogar mein Praktisches Jahr...“

„Ich möchte dir nur entgegenkommen“, entgegnete sie mir etwas gereizt.

„Das ist nett von dir. Aber wenn ich ein Entgegenkommen benötige, sage ich das selbst“, sprach ich die Wahrheit aus.

*

Die nächste Enttäuschung erlebte ich mit meiner Lerngruppe. Offenbar machte sich Neid breit, als sich abzeichnete, dass ich tatsächlich trotz der Erkrankungen mein Praktisches Jahr wie die anderen abschließen würde.

Ein Freund kommentierte: „Erstaunlich, worauf man so im Leben neidisch sein kann.“

Aber deren Bemerkungen wurden immer gemeiner.

„Was hast du denn als Long-Covid-Beschwerden?“, stellten sie mich in Frage.

„Aha…“, lachten sie komisch.

Außerdem bekam ich mit, dass man sich parallel traf. - Ohne mich. Da ich zudem keinen Turbo-Endspurt beim Lernen hinlegen konnte, ohne meine Pacing-Strategie (Energiemanagement) komplett über Bord zu werfen, zog ich mich zurück.

Das Medizinstudium ist auch für Gesunde keine Kleinigkeit. Die Kunst ist es, vor den Prüfungen die Nerven zu behalten. Daher müsste ich mit Post-Covid-Syndrom erst recht auf die Grenzen achten und auf das richtige Maß zwischen Pauken und Pausieren.

Mein Weg ging nur allein weiter.

Ich wollte es schaffen.

*

Auf der anderen Seite lernte ich neue Menschen kennen. Maja6 begegnete mir beim Praktikum und steht seitdem treu an meiner Seite.

Wir ehemaligen Mitpatient:innen spendeten uns gegenseitig Mut, während wir teilweise in kleinen Schritten zurück in unsere Berufe kehrten.

Es gab einen Wechsel der Gesichter.

Manche hatten mich nie anders kennengelernt. Trotzdem schienen sie sich nicht abschrecken zu lassen.

*

Dann bekam ich kurz nach dem Praktischen Jahr einen Atemwegsinfekt. Doch trotz täglicher Dampfinhalationen schwächte mich die Erkältung stark. Zum ersten Mal lernte ich kennen, was es bedeutet, immungeschwächt durch das Kortison zu sein.

Die Kraft wurde schlagartig weniger. Die Muskelschmerzen erschwerten selbst das Essen, weil ich das Besteck nicht lange halten konnte.

In meiner Verzweiflung lud ich mich bei meinen Eltern zum Mittagessen ein.

Irgendwann fragte meine Mutter vorsichtig: „Gibt es eigentlich einen Grund dafür, dass du den einen Arm so hängen lässt? Darf ich dir vielleicht helfen?“

Da konnte ich ihnen mein Problem nicht mehr verheimlichen.

Tatsächlich war es eine Erleichterung, sich das Essen mundgerecht schneiden zu lassen. Es fühlte sich bloß ungewohnt an. Allerdings fühlte ich mich zu schlecht, um zu genau darüber nachzudenken.

Das war vielleicht ein Schutz.

*

Danach retteten mich meine ehemaligen Kolleg:innen vom Neurologietertial. Sie planten nämlich einen neuen Therapieversuch mit sogenannten ivIg, also Immunglobulinen über die Vene. Dies hilft bei manchen Autoimmunerkrankungen. Die Hoffnung war, endlich von der hohen Kortisondosis loszukommen.

„Du kannst nichts verlieren. Du möchtest doch keine Osteoporose haben“, sprachen sie mir Mut zu.

Ja, ich hatte nichts zu verlieren.

Somit reiste ich mit einer Reisetasche voller Lernbücher an. Während die Infusionen an fünf Tagen über jeweils vier Stunden durchliefen, löste ich weitere medizinische Fälle zur Prüfungsvorbereitung.

„Wann hast du das Staatsexamen?“, fragte man mich.

„Im Dezember. Aber ich habe alle Bücher bereits einmal gelesen“, wurde ich optimistisch.

Sicherlich half mir das zusätzlich wegen der Beschwerdezunahme unter Infekt erhöhte Prednisolon.

„Du sollst zumindest annähernd gleiche Chancen wie andere haben“, überlegte das Ärzt:innenteam. „Danach müssen wir wirklich reduzieren...“

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So gewann ich fünf Wochen Lebenszeit.

Ich lernte von früh bis spät. Meine Konzentration war großartig. Ich hatte so viel Energie. Das Pacing (Energiemanagement) hatte ich zudem mittlerweile so gut verinnerlicht, dass ich gar nicht mehr bewusst an Pausen denken musste. Ich plante feste Essenszeiten und feste Entspannungszeiten. Doch durch die Dosiserhöhung hatte ich so viel Energie wie früher. Ich konnte sogar für acht Minuten ohne Training joggen.

Aziza7 meinte lachend: „Da bist du besser als ich.“

Außerdem traf ich mich regelmäßig mit Freund:innen. Wir spazierten, schauten uns die Stadt in meiner Umgebung an. Sie waren beeindruckt über meine plötzliche Gehstreckenverbesserung. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen, plötzlich wieder so viel selbstständig machen zu können und den Sitzhocker dabei so vergleichsweise selten zu benötigen. (Klar, meine Freund:innen benötigten gar keinen Hocker.)

Sie wunderten sich nur bald: „Hast du nicht bald dein letztes Examen? Wie kannst du so ruhig bleiben und dich so häufig treffen?“

Zufrieden lächelte ich: „Ich werde heute etwas länger lernen.“

Denn Schlaf benötigte ich sehr wenig in der Zeit.

Ich war voller Euphorie, voller Hoffnung.

Meine Lebensfreude steckte sie an.

Ich wich nur einem Thema aus: Auf keinen Fall wollte ich über die Zukunft sprechen.

Stattdessen antwortete ich: „Ich habe jetzt fünf Wochen Lebenszeit geschenkt bekommen. Verstehst du, warum ich sie nicht nur mit dem Lernen füllen möchte?“

Es waren fünf Wochen, in denen ich mein früheres Leben führen durfte.

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Dann sah ich den ersten Film über Long-Covid von Herrn Hirschhausen. Er bewegte mich wie wahrscheinlich die meisten Betroffenen sehr, wenngleich der Handlungsstrang auch sehr dramatisch aufgebaut war. Aber Herr Hirschhausen hat seinen Namen genutzt, um auf ein gewaltiges Problem hinzuweisen. Damit hat er sehr vielen Menschen geholfen.

Eine Freundin, die ich in der Klinik kennengelernt hatte, kontaktierte mich danach.

„Hast du auch den Film gesehen?“

„Ja“, tauschten wir uns aus.

„Ich werde die Blutwäsche machen“, entschied sie.

„Ich werde noch abwarten“, blieb ich skeptisch. Irgendetwas hatte mich an der Mimik dieser Ärztin in dem kleinen Ort irritiert. Es ist wirklich nur ein Bauchgefühl. Gut, und vielleicht auch an den angeblich so riesigen Blutgerinnseln… Warum haben Betroffene dann keine Thrombosezeichen oder Zeichen eines Gefäßverschlusses?

Aber die Freundin hatte mit ihrem Alter von Ende fast 30 Jahren und Chronischem Fatiguesyndrom seit Pandemiebeginn nichts zu verlieren. Sie kann bis heute nicht mehr arbeiten, sich mit Freund:innen treffen, ein Buch lesen, einkaufen gehen, überhaupt allein leben.

Dafür kämpft sie.

Bis heute.