Dödel - City 1.0 - René Keßler - E-Book

Dödel - City 1.0 E-Book

René Keßler

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte von Horst und Tsuden. Beide sind aufgewachsen in der Stadt. Beide sind dort wieder gestrandet. In jenem Gemeinwesen, dass schwer beladen ist von den Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit. Beide versuchen, ihr Leben zu meistern, mit fraglichem Erfolg. Dies ist auch die jüngere Geschichte einer Stadt irgendwo in Ostdeutschland. Eine Stadt, die von unfähigen Politikern und korrupten Treuhändern zugrunde gewirtschaftet wurde. Die einst zu den reichsten im Land zählte und nun völlig pleite ist. Eine Stadt, die sich selbst blendet, die merkwürdige Menschen anzieht und wo minderes Niveau salonfähig ist.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Für meine Jungs

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zur Geschichte der Stadt

Episode 1 – Begegnung

Die Stadt I

Episode 2 – Rechnung

Die Stadt II

Episode 3 – Absage

Die Stadt III

Episode 4 – Wiederholung

Die Stadt IV

Episode 5 – Aufregung

Die Stadt V

Episode 6 – Aufbruch

Die Stadt VI

Episode 7 – Vollzug

Die Stadt VII

Episode 8 – Familienbande

Die Stadt VIII

Episode 9 - Alltag

Die Stadt IX

Episode 10 - Medizin

Die Stadt X

Episode 11 - Geschlossen

Die Stadt – XI

Episode 12 - Schnell raus hier

Die Stadt XII

Episode 13 - Versichert

Die Stadt XIII

Episode 14 - Besuchszeit

Die Stadt XIV

Episode 15 - Einbruch

Die Stadt XV

Episode 16 - Heimkehr

Die Stadt XVI

Episode 17 - Verzweiflung

Die Stadt XVII

Episode 18 - Arbeitssuchend

Die Stadt XVIII

Episode 19 - Hoffnung

Die Stadt XIX

Episode 20 - Bruderliebe

Die Stadt XX

Episode 21 - Weihnachten

Die Stadt XXI

Episode 22 - Bescherung

Die Stadt - XXII

Episode 23 - Enttäuschung

Die Stadt XXIII

Episode 24 - Schließung

Die Stadt XXXIV

Episode 25 - Abwicklung

Die Stadt XXV

Episode 26 - Arbeit

Die Stadt XXVI

Episode 27 - Mobilfunk

Die Stadt XXVII

Episode 28 - Besäufnis

Die Stadt XXVIII

Episode 29 - Erinnerung

Die Stadt XXIX

Episode XXX - Wiederkehr

Nachwort

Vorwort

Dies ist die Geschichte von Horst und Tsuden. Beide sind aufgewachsen in der Stadt. Beide sind dort wieder gestrandet. In jenem Gemeinwesen, dass schwer beladen ist von den Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit. Beide versuchen ihr Leben zu meistern, mit fraglichem Erfolg. Dabei müssen sie schnell einsehen, dass in der Stadt für sie eigentlich kein Platz mehr ist. Sie sind eher eine Last. Und so pendeln sie dahin zwischen Arbeitsagentur und Langeweile, immer im gleichen Trott. Vergessen in einer Gesellschaft, die bestimmt ist von hektischem Tun, Augen-und Smartphonewischerei und ubiquitärer Eintönigkeit.

Dies ist auch die jüngere Geschichte einer Stadt irgendwo in Ostdeutschland. Eine Stadt, die von unfähigen Politikern und korrupten Treuhändern zugrunde gewirtschaftet wurde. Die einst zu den reichsten im Land zählte und nun völlig pleite ist. Eine Stadt, die sich selbst blendet, die merkwürdige Menschen anzieht und wo minderes Niveau salonfähig ist. Wo viel schwadroniert und gelabert und wenig angepackt wird. Wo man sich in fast erbarmungswürdiger Hilflosigkeit zu immer neuen obskuren Phantasien hinreißen lässt, die, gleich einem Tropfen Wasser auf der heißen Herdplatte, erst ein wenig herumtänzeln, um dann recht schnell zu verdampfen. Es ist eine Stadt, wie es viele gibt hierzulande. Die in der großen Politik nur Beachtung findet, wenn es mal wieder gilt, eine Wahl zu gewinnen.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden, auch wenn durchaus Parallelen zu tatsächlichen Begebenheiten existieren sollten.

Dr. René Keßler

Zur Geschichte der Stadt

Kurz vor der ersten Jahrtausendwende nach christlichem Kalendarium soll die Stadt, besser die Gegend um sie herum, erwähnt worden sein. Ein Kaiser hat aus heute unerfindlichem Grund das Gebiet seiner Schwester geschenkt. Wie er damals jedoch wusste, wo sich dieser Landstrich tatsächlich befand, bleibt sein Geheimnis und das der Historiker. Schließlich gab es zu dieser Zeit noch keinerlei Landkarten.

Im 13. Jahrhundert ist angeblich ein Stadtrecht nachweisbar. Nach der Stadtgründung waren die Bürger dann offenbar so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass über zweihundert Jahre erst mal rein gar nichts passierte - zumindest ist nichts überliefert. Dann soll die Stadt Schauplatz in einem Krieg zwischen zwei Brüdern gewesen sein. Eine genauso hübsche wie erfundene Geschichte. Die nächsten hundert Jahre war wieder nichts Besonderes los, bis gleich einem Phoenix aus der Asche ein Herr der Stadt auftauchte, Schulen stiftete, Handwerk und Handel förderte, ja sogar mit großen Komponisten in Verbindung stand. Und obwohl zur gleichen Zeit der Dreißigjährige Krieg in den deutschen Landen tobte, hatte man scheinbar genügend Geld, um ihm ein Begräbnis zuteilwerden zu lassen, was einem König gut zu Gesicht gestanden hätte. Von seinen Nachfolgern wiederum ist in den weiteren Jahren nichts Spektakuläres zu berichten. Zwei Stadtbrände sind noch verbürgt und diverse Besucher.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert nahm die Stadt, wie viele damals, einen gewaltigen industriellen Aufschwung. Bis zum Ende der DDR-Zeit standen abertausende Arbeiter und Angestellte bei den großen Betrieben in der Stadt in Lohn und Brot. Dummerweise hat man es zu diesen reichen Zeiten versäumt, der Stadt ein Profil zu geben, was über Webstuhl und Presslufthammer hinausreicht. Zum Beispiel wäre eine Hochschule ein wahrer Segen für die Stadt gewesen. Aber mit der Bildung hatte man es hier schon immer nicht sonderlich. Dafür eher mit Trinken und Essen.

Dann kam die von nicht Wenigen so herbeigesehnte Wende. D-Mark inklusive. Die Ersten, die die bundesdeutsche Fahne in der Stadt gehisst hatten, waren auch die Ersten, die arbeitslos wurden - für lange Zeit oder für immer. Binnen Tagen und Wochen wurden die Betriebe reihenweise dicht gemacht, tausende Menschen auf die Straße gesetzt und das Ganze seitens der Verantwortlichen als Erfolg der Wiedervereinigung gefeiert. Von diesem Exzess politischer Verantwortungslosigkeit hat sich die Stadt in einem Vierteljahrhundert nie wieder erholt. Bis heute.

Episode 1 – Begegnung

Sie haben sich an einem jener tristen Novemberabende kennengelernt, an denen man lieber aus dem Fenster springt, als auch nur einen Moment an Frohsinn zu denken. Horst, der arbeitslose Bergmann, und Tsuden, die Teilzeitkellnerin. Mitten im tristen Grau wabernder Nebel, die die ohnehin nicht freundliche Straße noch unheimlicher erscheinen ließen, sind übereinander hergefallen - wörtlich genommen. Sie trat gerade in dem Moment rücklings aus der Tür, bemüht mit ihrer rosafarbenen Jacke unter keinen Umständen die klebrige Hauswand zu berühren, als er, nur einige Sekunden unaufmerksam, einen Schritt nach hinten machte. Und urplötzlich lag sie auf ihm. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Tsuden - diesen exotischen Namen verdankt sie ihrer Mutter, der deutsch-sowjetischen Freundschaft in der DDR und einer heftigen Zeit an der Erdgastrasse irgendwo in der russischen Steppe - damals in den Siebzigern. Als die Kragenenden noch weit über die Schultern ragten und Poster von ABBA oder den Bay City Rollers aus keinem Jugendzimmer wegzudenken waren. Tsuden - das bedeutet "zarte Blüte" in irgendeiner dieser asiatischen Regionalsprachen, ihre Mutter hat es ihr vor vielen Jahren einmal erklärt - sie hat es vergessen. Immer wenn sie sich unter Stöhnen in ihre Lieblingsjeans manövriert, muss sie an diese Übersetzung denken. Dann lächelt sie süßsauer und denkt an die Zeit zurück, als der Name noch zutraf und ihre Figur auf jeder Jugendtanzveranstaltung für Aufsehen und so manche Spontanerektion bei den Junghengsten sorgte. Sie war jetzt neunundvierzig Jahre - ein Alter, in dem Frauen ihres Schlages nicht mehr wählerisch sein dürfen wenn es um Paarung ging.

Nein, nicht dass sie keine Chancen gehabt hätte, damals als Jungfacharbeiterin für Elektronik in der Stadt, wo sich ihre Mutter berufsbedingt niedergelassen hatte. Sie war beliebt, hatte schon als Backfisch einen Hauch von Verruchtheit und brauchte sich demzufolge über fehlende Avancen nicht zu beklagen. Kurz nachdem sich ihr Vater in seinem Betrieb einer blonden Volontärin zuwandte und eines Abends nicht mehr nach Hause kam, tröstete sich ihre Mutter recht rasch mit einem Fünfzigjährigen, dessen Bauchumfang vom Umfang seines Bankkontos noch übertroffen wurde. Es läuft ihr heute noch eisig den Rücken herunter, wenn sie sich an die plumpen Hände dieses Mannes erinnert, die, gleich unförmigen Würsten fett und glänzend viel zu oft ihren Kopf und ihre Hüften betatschten, während ihre Mutter wegsah. Kein Wunder, dass sie mit sechzehn von zu Hause fortlief und sich mit wechselnden Partnern, nicht wenige doppelt so alt wie sie, einen mehr oder minder großen Lebensabschnitt teilte. Dank eines drahtigen Holländers, der jedes Jahr zweimal im Interhotel der Stadt logierte, um an einer nahegelegenen Messe Geschäfte zu machen und der eine Schwäche für schlanke Siebzehnjährige hatte, erwarb sie sich Westgeld und somit ein klein wenig von diesem Zustand, welchen nicht wenige als Freiheit bezeichneten. Damals im Ostteil eines zerrissenen Landes. Es machte ihr nichts aus, mit ihm ins Bett zu gehen, während vom Nachttisch her eine sehr blonde Frau mit rosigen Wangen und zwei ebenso blonde Kinder goldgerahmt herüber lächelten. Und in Erwartung devisenglänzender Belohnung ließ sie Dinge zu, die ihr noch heute die Schamesröte in Gesicht treiben. Aber die neidischen Blicke der Freundinnen bei der nächsten Disco, wenn sie die neueste Westmode auftrug und nach Intershop riechend den Kerlen den Kopf verdrehte, ließ dies alles damals in einem anderen Licht erscheinen.

An ihre erste Ehe mit Volker erinnerte sie sich kaum noch. Nur manchmal, wenn sie kellnerte, erkannte sie ihn in den glasiggeilen Blicken manches Gastes wieder, wenn er frühmorgens von seiner Sauftour zurückkam, stinkend und manchmal noch die Spuren billigen Lippenstiftes am Hemd. Volker war ihr Arbeitskollege, sah passabel aus und hatte ein Anwesen von seiner Tante geerbt, welches für damalige Verhältnisse geradezu fürstlich zu nennen war. Sein Einkommen nebst Schwarzarbeit versprach ihr Sicherheit und so dauerte es gerade mal ein Jahr, bis Sven-Eric zur Welt kam. Krampfhaft versuchte sie die immer ausschweifenderen Eskapaden ihres Mannes zu verdrängen, bis zu dem Tag, als sie ihn mit Heidrun, der Tippse vom Abteilungsleiter in ihrem eigenen Wohnwagen erwischte. In einer Situation, die über beider Absichten keine Zweifel zuließ. Das Maß war voll, für Beide. Volker reichte die Scheidung ein, sie gab das Kind zu ihrer Mutter, die inzwischen auf zwei weitere gescheiterte Beziehungen und eine Entziehungskur zurückblicken konnte.

Die erste Gelegenheit ergreifend wechselte sie 1989 über Ungarn in den Westen. Nach Füssen ins Allgäu. Das einzige Mal in ihrem Leben, als sie sich als Heldin fühlen durfte, in der Euphorie der Wende. Sogar das Regionalfernsehen machte ein Interview mit ihr und der Bürgermeister gab Schnaps aus. Ein örtlicher Hotelier, braungebrannt, mit Schnurrbart und Designeranzug, spendierte zusätzlich noch Champagner mit dem Ziel, sie als eine Art Dauergeliebte in einem seiner Hotels zu parken. Nicht der unverständliche Dialekt war daran schuld, auch nicht die oft zotigen Witze der Hotelgäste, allzu bald spürte sie, dass sie einfach nicht hier her gehörte. Und schon gar nicht auf Abruf dieses Schönlings, der nach Bekunden ihrer Kolleginnen nicht nur ein Dutzend Hotels, sondern auch mindestens gleichviele Gespielinnen hatte. Eines Tages, die Sommersaison war fast zu Ende, packte sie ihre Sachen, kündigte ihre Stellung und ihr Fünfzig-Quadratmeter-Appartement, für dessen Miete sie nicht aufkommen musste, solange ihr Chef einen Schlüssel dafür besaß und machte sich auf in die Heimat.

Ihre Mutter hatte sich dank eines Rückenleidens und eines zuvorkommenden Arztes invalidisieren lassen. Sven-Eric, mittlerweile achtzehn Jahre alt, war in der Schule ein kompletter Versager gewesen, jedoch sportlich wie sein Vater. Leider umgab er sich mit den falschen Freunden. Seine erste Jugendstrafe hatte er bereits mit fünfzehn hinter sich. Der Rentner, den er gemeinsam mit zwei seiner Kumpels verprügelt und beraubt hatte, traute sich seit dem nicht mehr aus seiner Wohnung. Mittlerweile lebte Sven-Eric in Berlin. Was er dort so genau machte, wusste niemand. In den seltenen Telefonaten gab er sich zumeist einsilbig, wenn es um seine Arbeit ging.

Zurück in der Heimat umfing Tsuden sofort der Hauch des Wilden Ostens. In ihrer Heimatstadt war in Rekordzeit fast sämtliche Industrie von der Treuhand, die für Manche eine staatlich subventionierte Verbrecherorganisation darstellte, ausradiert worden. Dafür gab es an fast jeder Ecke einen Gebrauchtwagenhandel, einen Supermarkt oder ein als Nachtbar getarntes Bordell. Endlich Freiheit statt Sozialismus! Tsuden, gestählt durch ihre bisherigen Erfahrungen im "Westen", musste oft lächeln, wenn sie in die offenen Münder ihrer Mitbürger beim Betrachten der Auslagen der neu entstandenen Modegeschäfte sah. Und im Manchester-Kapitalismus des Ostens war es keine Seltenheit, einen vormaligen Lagerarbeiter, jetzt angetan mit einem schlechtsitzenden Anzug und geschult in "Trainingscamps", Versicherungen oder Staubsauger verkaufen zu sehen.

Sie suchte sich eine kleine Wohnung an einem sonnigen Südhang im besseren Viertel der Stadt. Dank ihrer Ersparnisse ging es ihr gut und sie blickte ihrer Zukunft optimistisch entgegen. Daran änderte sich auch nichts, als sie ehemalige Arbeitskollegen traf, die ihr Leid klagten, weil sie keine Anstellung mehr fanden. Sie hörte oftmals nur halb hin und dachte bei sich `Wer arbeiten will, bekommt auch Arbeit!'. Auf dem Arbeitsamt der Stadt, welches sich passenderweise nach der Wende zuerst in einer alten Stasi-Zentrale befand, saß sie einem etwa dreiundzwanzigjährigen Sachbearbeiter mit hessischem Dialekt gegenüber, der über seine runden Brillengläser hinwegblickend ihr unmissverständlich klar machte, dass hier in der Stadt für sie kein Job vorhanden war und sie doch eine Umschulung machen solle. Also setzte sie sich nochmal auf die Schulbank und büffelte Zahlenkolonnen, Statistik und Buchhaltung. Nach über einem Jahr lernte sie Gregor kennen, einen etwas behäbigen Schwaben mit monströsem Schnurrbart, der nachts unter einer altmodischen Bartbinde versteckt wurde. Gregor hatte eine Import-Export-Firma. Was er genau machte, wusste sie nicht. Sie zog zu ihm in sein Haus vor den Toren der Stadt. Er wollte, dass sie sich ausschließlich um den Haushalt und die beiden Kinder aus seiner ersten Ehe kümmerte. Anfangs gab es Blumen, teure Reisen und Schmuck, später dann Streit und auch Schläge. Zwei Jahre später standen Gregor vorm Konkurs und sie vor dem Nichts. Mit zwei Koffern und einer albernen pinkfarbenen Hutschachtel verließ sie an einem nasskalten Dezembermorgen das Haus, welches über fast fünf Jahre ihr Heim gewesen war. Sie war froh, dass ihre Mutter die Frage bejahte, ob sie denn mal zwei-drei Wochen bei ihr wohnen könne. Es wurden vierzehn Monate.

Das Arbeitsamt war inzwischen in einen modernen Zweckbau mit wenig einladender grauer Fassade umgezogen. Sie ging immer zu Fuß aufs Amt, wenn sie anfangs noch voller Hoffnungen im elektronischen Stellenangebotssystem nach Arbeit suchte. Sie ging vorbei an den Bänken des kleinen Parks in der Stadtmitte, auf denen sich eine zunehmende Anzahl von Erwachsenen beiderlei Geschlechts bei Büchsenbier und Zigaretten die Zeit vertrieben. Aus dem nahen Gebüsch wehte periodisch ein Hauch von Urinal herüber und der angrenzende Zaun war mit Resten von Erbrochenem verziert. Sie sah die starren Blicke der Männer auf ihre ansehnliche Oberweite gerichtet, hörte die Anspielungen und schämte sich für die Typen, deren Lebensinhalt im Zeittotschlagen bestand.

Angesichts der ständig wiederkehrenden Absagen auf ihre Bewerbungen und der Unfähigkeit des jetzt "Arbeitsagentur" genannten Amtes wich ihr anfänglicher Optimismus bald einer tiefen Depression, die sie mit Alkohol zu betäuben suchte. War es das Erbteil ihrer Mutter, die mittlerweile verstorben war oder das Bewusstsein der Nutzlosigkeit, das ihre Trinkmenge beachtliche Ausmaße angenommen hatte, wenngleich es ihr keiner ansah.

Zum Sozialfall geworden und um fünfzehn Kilogramm Kummerspeck schwerer, fand sie endlich eine Schwarzarbeit in einer Pommes- und Bierkneipe mit dem Namen "Hardys Ecke" in der großen Plattenbausiedlung Nicht gerade ein Traumberuf, aber immerhin konnte sie dadurch ihre Garderobe bei "Mode für Mollige" ihrem vergrößerten Leibesumfang anpassen und sogar noch etwas sparen. Außerdem hatte ihr Chef gesagt, dass er sie fest anstellen möchte.

Heute war sie gerade beim Friseur. Kerstin, ihre Freundin aus der Lehrzeit, hatte ihr zu einer neuen Frisur geraten. Ihre ewige Kaltwelle, ein Relikt aus alten Discozeiten, wollte nicht mehr so recht zu ihren Pausbacken und Gesichtsfalten passen. Der Friseurladen war der angesagteste der Stadt und dank eines fürstlichen Trinkgeldes, erhalten von einer ziemlich volltrunkenen Alte - Herren Fußballmannschaft, wollte sie sich jetzt aufhübschen lassen. Denn am Wochenende fuhr sie nach Damstadt zu ihrer Cousine. Wegen der Luftveränderung und vor allem der zu erwartenden Männerbekanntschaften. Sie sagte sich, dass es ja mit den Westkerlen gar nicht so übel sei. Die hatten meist etwas Geld und einen relativ sicheren Job. Die Männer im Osten dagegen jammerten nur rum und waren oft arm wie die Kirchenmäuse.

Mit etwas flauem Gefühl sah sie ihre künstliche Lockenpracht auf den Boden fallen, begleitet vom Geschwätz dreier älterer, föhnhaubenbekränzter Damen, die sich im Aufzählen ihrer Krankheiten gegenseitig überboten. Zwei Stunden, in denen sie auch noch das Liebesleben der Friseuse aufgrund deren sprudelnder Gesprächslust detailliert kennenlernen durfte, und hundert Euro später war sie mit ihrem Äußeren einigermaßen zufrieden und checkte im Spiegel mögliche Paarungschancen am Wochenende. Und während sie sich bemühte, beim Verlassen des Ladens nicht die schmutzige Hauswand zu berühren, stieß sie sehr unsanft mit etwas zusammen, das nach Zigarette und Bier roch.

Horst war sechsundfünfzig. Stämmige Figur mit unübersehbarem Bauch. Das buschige Haar, welches er mittelgescheitelt trug und das den Kragen seiner Jeansjacke fast eine Handbreit überdeckte, war das Erbteil seines Vaters, eines strengen und zwanghaften Mannes, der als Steiger einen großen Teil seines Lebens in mehreren hundert Metern Tiefe zugebracht hatte. Seine Mutter, eine stille Frau mit blassblauen Augen, die meist traurig hinter einer horngerandeten Brille hervorschauten, verbrachte ihr Leben damit, im nahegelegenen Textilbetrieb die Stoffballen zu stapeln, drei Jungen groß zu ziehen und ihrem Mann die Schnitten zu schmieren. Horsts angenehmste Erinnerung an seine Kindheit waren die Betriebsferienlager von Vaters Bergbaubetrieb. Dort ging es laut und fröhlich zu - ganz im Gegensatz zu der meist bedrückenden Stille der Vierzimmerwohnung im Neubaugebiet. Er war der älteste der Brüder und es gehörte frühzeitig zu seinen Pflichten, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Wenn Vater und Mutter von der Schichtarbeit nach Hause kamen, häuften sich Vorwürfe auf sein Haupt, wenn einer der Jüngeren sein Zimmer nicht aufgeräumt hatte oder gar die Schule schwänzte.

Traditionsgemäß begann er mit sechzehn eine Lehre als Hauer. Auch bedenkend, dass die Bergleute, die das strahlende Metall förderten, in vielerlei Hinsicht privilegiert waren. Bevorzugt bei der Vergabe von Autos, Ferienreisen und Wohnungen. Zudem versprach die Unterbringung im Wohnheim nach den Jahren in der Neubauwohnung für Horst das erhoffte Maß an Freiheit.

Nach Abschluss der Lehre und nach achtzehn Monaten Nationale Volksarmee verdiente er viel Geld, leistete sich einen gebrauchten Lada und mehrere Freundinnen. In dieser Zeit lernte er auch Nicole kennen, ein etwas pummeliges Mädchen mit blonden Engelslocken und weißer Haut. Sie arbeitete beim Rat der Stadt und hatte eine Affäre mit einem Pateioberen. Aber davon erfuhr Host erst später. Sie heirateten und bekamen Mandy, eine süße Tochter mit dunklen Augen und zarten Gliedern. Dank Bergmannslohn und guter Beziehungen erwarben sie von einem Rentnerpaar ein Eigenheim, das sie akribisch ausbauten. Dennoch langweilte sich Nicole im Babyjahr derart, dass sie dem Elektriker, der zum Überprüfen der Sicherungen gekommen war, eindeutige Angebote machte, welche von ihm dankbar angenommen wurden. Etwa zur gleichen Zeit lernte Horst die dunkelhaarige Marlies kennen, die in der Betriebskantine an der Kasse saß. Und so bedurfte es nur noch eines handfesten Ehekrachs, um die Scheidung herbeizuführen. Nicole bekam Mandy, den Lada und die Küche; Horst den alten RFT-Fernseher und die neue gelbe Mixmaschine. Das Haus wurde verkauft. Der Ertrag, nach Abzug der Hypothek bescheiden genug, geteilt. Zu seiner Tochter hatte er seitdem keinen Kontakt mehr. Sie war mittlerweile Mitte zwanzig und lebte irgendwo in Baden. Seine Ex hatte inzwischen den Elektriker geheiratet.

Die Wiedervereinigung führte zur Abwicklung des Bergbaus in der Region. Marlies ging auf der Suche nach Arbeit in den Westen und Horst war das erste Mal in seinem Leben ohne Job und Frau. Die recht großzügige Abfindung für die Bergleute, ausgezahlt in Westgeld, reichte für einen fast neuen Opel und mehrere Dutzend Partys in diversen Etablissements. Während einer von insgesamt fünf Umschulungsmaßnahmen lernte er Sven kennen, einen etwas runtergekommenen Mittvierziger, der sein Arbeitslosengeld mit kleinen Gaunereien, von Hehlerei bis Drogenhandel, aufbesserte. Horst wurde seine rechte Hand. Bei einer etwas amateurhaft geplanten Autoschieberei nach Polen flog die ganze Sache jedoch auf und da auch noch Rauschgift im Spiel war, folgten für Horst fast zwei Jahre Justizvollzug in einer idyllischen sächsischen Kleinstadt.

Wieder draußen führte Horsts erster Weg in seine Stammkneipe, wo er mit seinen alten Kumpels eine Festwoche anlässlich seiner Entlassung feierte. Auf dem Arbeitsamt beschied man ihm, dass für Vorbestrafte die Vermittlungschancen gen null tendierten und so folgte eine mehrjährige Arbeitslosigkeit, unterbrochen von Minijobs in der Brauerei oder etwas Schwarzarbeit bei einem Bauunternehmer. Frauen lernte er kaum kennen. Ging er einmal aus, so scheute er sich, sie anzusprechen und seine Kneipe wurde aus gutem Grund meist von der Weiblichkeit gemieden. So verbrachte er den Großteil seiner Zeit zwischen Fernseher, Tresen und sinnfreien Spaziergängen durch die Stadt.

Er hatte heute gerade seine Hausration an Bier und Jägermeister vertilgt und sich genauso früh wie angetrunken auf den Weg zum Stammtisch gemacht, als plötzlich etwas Dickes, Weiches, in Schweinchenrosa gewandetes auf ihm zu liegen kam. Dieses Etwas grunzte und quiekte kurz, um sich dann lauthals fluchend "Du dumme Sau!" zu erheben. Mit ungeschickten Bewegungen ordnete das Schweinchen seine Sachen und nahm Blickkontakt mit dem sichtlich verstörten Horst auf.

Eine Entschuldigung kam Horst nicht in den Sinn, musste er doch zutiefst betrübt registrieren, dass seine einzige vorzeigbare Hose neben großflächigen Dreckflecken einen Riss davongetragen hatte, welcher sein blasses, stoppeliges Knie unvorteilhaft zutage treten ließ. Seine schon etwas äthanolgetrübten Augen identifizierten das Wesen in Rosa als eine Frau mit beachtlicher Oberweite, die noch von einem ausladenden Hintern, gezwängt in eine Bluejeans, getoppt wurde.

Es war einer jener Augenblicke, wo sich zwei erwachsene Menschen spannungsgeladen gegenüberstehen und ihre erste Reaktion besteht im Austausch kuhäugiger Blicke. Die Hauswand in Horsts Rücken machte eine Flucht unmöglich und wollte er an dem rosa Schweinchen vorbei, so war ein Minimum an Konversation unabdingbar. "Tschuldigung, hab Sie nich gesehn.", worauf das rosa Schweinchen so was wie "Blöder Hund!" grunzte. Als es jedoch realisierte, dass der schönen rosa Jacke durch den Sturz zwei überaus unschöne Löcher eingestanzt wurden, verfinsterte sich das Antlitz noch mehr und die Gesichtsfarbe des Schweinchens deutete einen nahenden Blutsturz an. "Das bezahlste mir!" schrie die Frau, wobei etwas Speichel zwischen ihren Lippen hervorschoss, einer giftsprühenden Natter nicht unähnlich. Horst, des Umgangs mit Frauen fast vollständig entwöhnt, nahm die drohende Haltung