Dodgers - Bill Beverly - E-Book

Dodgers E-Book

Bill Beverly

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Beschreibung

Nichts ist für die Figuren dieses Romans erstaunlicher als der Umstand, noch am Leben zu sein. ›Dodgers‹ beginnt in einem Drogenviertel von L.A. Die Helden: der sensible East, sein schießwütiger Bruder Ty, der Gamer Michael und der dicke, clevere Walter. Nach einer Razzia müssen sie fliehen, quer durch die USA, einen Mordauftrag im Gepäck. Doch die vier Möchtegern-Killer sind Teenager und noch nie aus L.A. rausgekommen.

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Seitenzahl: 429

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Bill Beverly

Dodgers

Roman

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog

Diogenes

Für Olive, die mir ein neues Leben geschenkt hat

Und mit einem letzten Blick auf das Haus und auf einige kleine Kinder, die vor der Türe spielten, brach ich auf … Meine Route führte durch dichte und unwegsame Wälder in die Stadt, wo mein Bruder wohnte.

James W.C. Pennington,

›The Fugitive Blacksmith‹ (1849)

Every cheap hood strikes a bargain with the world.

The Clash, ›Death or Glory‹

IThe Boxes

1

Die Jungs kannten nur The Boxes; für sie gab es nichts anderes.

Auf der Straße rollte zwischen den intakten Fahrzeugen und den Wracks ein Auto durch, kroch über Papier und Glasscherben.

Die Jungs standen Wache. Sie beobachteten, wie das Morgenlicht in die schmalen Zwischenräume zwischen den schwarzen Häusern sickerte, die dicht an dicht standen, wie eine Reihe lockerer Zähne. Sie waren die halbe Nacht da gewesen: Laut Fin ließ man einen Jungen nicht die ganze Nacht Wache schieben. Die halbe war okay. Sie mitten in der Nacht auszuwechseln, hielt sie auf Zack, sagte Fin. Es hielt sie wach. Es machte sie zu Männern.

 

Die Haustür ging auf, und zwei User stolperten heraus, geschockt von der Sonne, die sie beäugten wie eine alte Bekannte, hallo, länger nicht gesehen. Manche Männer verließen das Haus so, denen ging’s besser, nachdem sie drin gewesen waren. Andere waren gut drauf, wenn sie reingingen, konnten sich aber kaum auf den Beinen halten, wenn sie rauskamen. Die beiden User beachteten die wachestehenden Jungs nicht. Sie nahmen die fünf Stufen zum Gehsteig hinunter und stützten sich dabei am Steinmäuerchen ab. Unten klatschte ein Mann den anderen laut ab, auf die Handfläche, ganz old school.

Wieder ging die Tür auf. Kopf wie ein Totenschädel, dreckiges Grinsen, stechender Blick, Haare aus der Stirn gestrichen. Sidney. Er und Johnny regelten den Betrieb und hielten den Laden am Laufen, ließen im Halbstundentakt junge Laufburschen den Stoff holen und das Geld wegbringen. Sidney sah nach rechts und links und witterte wie eine Ratte, schob dann etwas auf die Treppe. Dosen mit Cola und Energydrinks, gekühlt, in einem Karton. Einer der Jungs kam und reichte den Karton herum; jeder nahm sich eine oder zwei Dosen. Sie rissen die Laschen auf, standen im Schatten und tranken.

Der Morgen war noch kühl und ein wenig klamm. Das Licht kroch immer weiter zwischen die Häuser, tauchte die Straße in Rosa. Schritte näherten sich von rechts, ein Angestellter auf dem Weg zur Arbeit, Sakko und gelber Schlips, goldene Ohrstecker. Die Jungs musterten ihn von oben; er sah nicht hoch. Diese Männer, die schwarzen Männer, die Schlipse mit Krawattennadeln trugen, die zwar Gehälter bezogen, aber es irgendwie nie aus The Boxes hinausgeschafft hatten: Mit denen redete man nicht. Die ließ man nicht ins Haus. Denn wenn man sie reinließ und sie aus irgendeinem Grund nicht wieder rausfanden, dann wurden sie garantiert vermisst, und jemand kam sie suchen. Also ließ man sie am besten gar nicht erst rein. Auch das hatte Fin ihnen beigebracht.

 

Fernseher gingen an, und am Himmel funkelten Flugzeuge wie Klingen. Irgendwo hinter ihnen zischte ein Rasensprenger – Fisch, Fisch, Fisch –, nicht laut, aber unüberhörbar. Um sieben kamen mehrere User gleichzeitig und gegen acht noch einer, ein Bild des Jammers; er wirkte bedrückt wie jemand, der sich seinen ganzen Wochenvorrat in einer einzigen Nacht reingezogen hatte. Um zehn gingen die Jungs, die nachts um zwei gekommen waren. Ein Junge, East, der draußen das Sagen hatte, verteilte etwas Geld an die, die weggingen. Es war Montag, Zahltag vor dem Haus.

Die neuen Jungs um zehn waren Dap, Antonio, Marsonius oder Sony und Needle. Needle übernahm den nördlichen Bereich und behielt die Straße im Auge, Dap kümmerte sich um den Süden. Antonio und Sony blieben beim Haus mit East, dessen Zwölfstundenschicht am Mittag endete. Antonio und Sony waren tagsüber gut zu gebrauchen. Nachts brauchte man Jungs, die wussten, wie man leise war und wach blieb. Die Tagesjungs mussten nur leise aussehen.

East wirkte ruhig und war es auch. Er sah nicht taff aus. Er blieb unauf‌fällig, war schweigsam, der Dünnste von allen. Er machte nicht viel her. Doch er hielt die Augen offen und hörte zu. Und was er hörte, merkte er sich.

Die Jungs hatten ihren eigenen Slang – sie gaben einander Spitznamen, putschten sich gegenseitig auf. East hielt sich da raus. Sie hielten East für steif und griesgrämig. Anders als die Jungs, die bei ihren Müttern oder mit anderen Jungs zusammenwohnten, schlief East allein, an einem den anderen unbekannten Ort. Er war vor ihnen im alten Haus gewesen und hatte Dinge gesehen, die sie nie gesehen hatten. Er hatte gesehen, wie ein Reverend auf offener Straße erschossen wurde, wie eine Frau vom Dach sprang. Er hatte gesehen, wie ein Hubschrauber in einen Baum krachte und wie ein durchgeknallter Mann ein gekapptes Starkstromkabel aufhob und erstrahlte wie ein menschlicher Weihnachtsbaum. Er hatte gesehen, wie die Polizei eine Razzia durchführte und das Haus trotzdem weitermachte.

Mit ihm war nicht zu spaßen, und die anderen respektierten ihn, denn obwohl er jung war, hatte er nichts von dem an sich, was sie am meisten an sich hassten: ihre Kindlichkeit. Er war nie Kind gewesen. Nicht dass sie wüssten.

 

Irgendwann nach zehn brauste ein Feuerwehrauto vorbei: Sirenen, Motorenlärm und quietschende Reifen auf dem Asphalt. Die Feuerwehrleute musterten die Jungs.

Sie hatten sich verfahren. Die Straßen im Viertel waren ein Labyrinth, lauter Winkel und Ecken. Man suchte vielleicht nach einem Haus im nächsten Block, doch der schloss nicht direkt an diesen Block hier an. Die Straßenschilder waren in alle möglichen Richtungen verbogen oder fehlten ganz.

Das Löschfahrzeug kam nach einer Minute wieder, fuhr in die Gegenrichtung. Die Jungs winkten. Sie waren zwar alle keine Kinder mehr, sondern Heranwachsende, aber Feuerwehrautos mochte doch jeder.

»Da drüben«, sagte Sony.

»Hä?«, machte Antonio.

»Brennt irgendwem sein Haus«, sagte Sony.

Der zarte, graue Rauch hob sich von dem strahlenden Himmel ab. »Bestimmt ein Küchenbrand«, sagte East. Nichts Schlimmes, niemand verbrannte. Wenn jemand verbrannte, hörte man das Sirenengeheul noch in fast zwei Kilometern Entfernung, sogar hier im Viertel. Doch immer mehr Löschwagen brausten herbei. Die Jungs hörten sie auf den anderen Straßen.

Oben wedelte ein Hubschrauber mit dem Schwanz.

 

Gegen elf wurde es heiß, und zwei Männer stürzten aus dem Haus. Einem ging es gut, und er zog ab, doch der andere legte sich ins Gras.

»Aufstehen«, verlangte Sony. »Hauen Sie ab hier.«

»Halt bloß die Fresse, Kleiner«, sagte der Mann, er war vielleicht um die vierzig. Er hatte eine geschwollene Nase, und unter dem halboffenen Hemd fiel East ein Verband auf, wo der Mann sich verletzt hatte.

»Gehen Sie weiter«, sagte East. »Wenn Sie sich hinlegen müssen, gehen Sie in den Garten hinterm Haus. Oder Sie gehen nach Hause. Hier legen Sie sich jedenfalls nicht hin.«

»Das ist mein Haus, Junge«, sagte der Mann, der sich unbedingt hinlegen wollte.

East nickte, grimmig und geduldig. »Das ist mein Rasen«, sagte er. »Regeln sind Regeln. Gehen Sie wieder rein, wenn Sie nicht laufen können. Hier bleiben Sie nicht.«

Der Mann steckte eine Hand in die Hosentasche, doch East sah, dass er nichts drin hatte, nicht einmal Schlüssel.

»Mann, alles in Ordnung«, sagte East. »Keiner will Ihnen was. Wir können nur die Leute nicht im Vorgarten rumliegen lassen.« Er stieß den Mann leicht gegen ein Bein. »Verstanden?«

»Mir gehört dieses Haus«, sagte der Mann.

East wusste nicht, ob das stimmte. »Gehen Sie weiter«, sagte er. »Schlafen Sie hinten, wenn Sie wollen.«

Der Mann stand auf und ging in den Garten hinters Haus. Als Sony nach ein paar Minuten nachsehen ging, schlief er, am ganzen Körper zitternd, kämpf‌te gegen irgendwas in seinem Inneren.

 

Der Qualm des Feuers schien sich zu lichten, ehe er wieder dichter wurde. Löschwagenmotoren und Pumpen dröhnten, und die Straße runter ließen ein paar Nachbarskinder einen Ball von der Hauswand abprallen. East kannte zwei von ihnen – aus einem gepflegten Haus mit grünen Markisen, vor dem manchmal ein weißer Ford stand. Diese Kids wahrten Distanz. Jemand hatte es ihnen gesagt, vielleicht wussten sie auch einfach Bescheid. Seit zwei Tagen spielte noch ein drittes Kind, noch ein Mädchen mit, ein größeres. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich jeden Abpraller schnappen können, doch sie spielte fair.

East gab sich einen Ruck, wandte den Blick von den Kids ab und betrachtete stattdessen den Heli, der oben baumelte und den Himmel durchpflügte.

Als er wieder hinsah, war das Spiel beendet, und das Mädchen schaute rüber. Sah ihm in die Augen, und dann hielt sie direkt auf ihn zu. Er warf ihr einen bösen Blick zu, doch sie kam immer näher, langsam, die beiden Nachbarskinder im Schlepptau.

Sie war vielleicht zehn.

East stieß sich ab. Schlenderte lässig den Vorgarten runter. Sony machte schon Stress: »Geh wieder zurück, Mädchen.« East hielt die flache Hand waagerecht vor die unterste Rippe: Bleib cool.

Das Mädchen war rundlich, mondgesichtig, dunkelhäutig, trug ein sauberes weißes Hemd. »Das ist ein Crackhaus, stimmt’s?«, fragte sie ihn vergnügt.

Genau wie Fin sagte: Alle glaubten immer noch, es ginge nur um Crack. »Nee.« East warf Sony einen Blick zu. »Wo kommste her?«

»Ich bin aus Jackson, Mississippi. Ich geh auf die New Hope Christian School in Jackson.« Sie wies mit dem Kopf nach hinten auf die Nachbarskinder. »Das da sind meine Cousinen. Meine Tante heiratet morgen in Santa Monica.«

»Kleine, ist uns doch scheißegal«, sagte Antonio oben im Vorgarten.

»Hört euch diese kleinen Gangstas an«, tönte das Mädchen. »Geht ihr überhaupt zur Schule?«

Bestimmt kam die Kleine aus einer guten Wohngegend. Hatte bestimmt eine Mutter, die ihr eingeschärft hatte: Halt dich in L.A. von diesen Ghettojungs fern, und logo, was tat sie als Erstes?

East sprach kurz und bestimmt. »Du hast hier nichts zu suchen. Du gehst besser wieder drüben spielen.«

»Du hast mir überhaupt nichts zu sagen«, trumpf‌te das Mädchen auf. Sie wedelte mit dem Arm Richtung Antonio. »Und der Zwerg da sieht aus wie ’n Viertklässler. Wie alt biste? Neun?«

»Scheiße, ja«, feuerte Sony sie kichernd an.

Irgendwo dröhnten Motoren von Feuerwehrwagen, die sich wieder in Bewegung setzten. East trat ein paar Schritte zurück und horchte. Eine Frau ging mit ihrer Tochter vorbei; sie stritten sich wegen Süßigkeiten. Und oben schrappte immer noch der Helikopter. Das machte East nervös. Zu viele Teile in Bewegung.

»Zisch ab, Kleine«, sagte er. »Du störst hier nur.«

»Du störst hier«, gab das Mädchen zurück. Mit einer Hand an die Mauer gestützt, nicht wegzukriegen, wie kleine schwarze Mädchen halt sind. Eine Kämpferin.

»Dieses Kid«, schnaubte East. Kids waren das Letzte, was man am Haus haben wollte. Frauen waren vernünftig, Männer konnte man warnen. Aber Kids, die wollten nachsehen.

 

Über den flachen Straßenbelag näherte sich ein Quietschen, schwer zu sagen, woher. Reifen. Easts Walkie-Talkie knackte an seiner Hüfte. Er nahm es hoch. Es war Needle, der im Norden Schmiere stand. Doch East hörte nur ein Keuchen, als laufe jemand oder würde zu Boden gedrückt. »Was ist los?«, fragte East. »Was ist?« Nichts.

Er sah sich um, rannte den Rasen wieder hoch.

Da kam etwas. Aus beiden Richtungen, donnernd, wie ein Zug. Er funkte ins Haus. »Sidney. Da kommt irgendwas.« Der Hubschrauber hing jetzt direkt über ihnen.

Sidney, unwirsch: »Alter, was denn?«

»Sofort hinten raus«, sagte East. »Los.«

»Sofort?«, wiederholte Sidney ungläubig.

»Sofort!« East drehte sich um. »Jungs, weg hier«, befahl er Antonio und Sony. Er wusste, dass sie wussten, wie und wohin sie verschwinden sollten. Das hatte er ihnen eingeschärft. Jeder in Easts Crew kannte die umliegenden Gärten, die Fluchtwege; dafür hatte er gesorgt.

Das Dröhnen raste die Straße rauf – fünf Autos von jedem Ende, große weiße Polizeiwagen. Sie wirbelten den Staub auf, stoppten mit quietschenden Reifen schräg vor dem Haus. East sprach wieder in sein Funkgerät.

»Raus! Raus!« Dabei schob er sich schon von dem Haus weg. Von seinem Haus. Eine Dose Classic Coke lag auf der Seite im Gras und schäumte vor sich hin. Keine Zeit, sie aufzuheben.

Sidney funkte nicht zurück.

Wie waren sie bloß an Dap und Needle vorbeigekommen? Die ihn nicht gewarnt hatten? Unfassbar. Wütend drückte er sich an der Mauer entlang zum Gehweg. Es roch intensiv nach heißen Motoren und Reifenabrieb. Die anderen Jungs waren weg. Jetzt waren nur noch er und das Mädchen da.

»Ich hab’s dir gesagt«, zischte er. »Hau ab!«

Stures Ding. Sie beachtete ihn nicht. Sah sich um, auf das Rudel weißer Wagen, die polierten Helme und tiefschwarzen gerippten Schutzwesten: Also, wenn das kein Anblick war.

Vier der Cops duckten sich, teilten sich auf und stürmten gleichzeitig die Veranda. Oben wurde ein Fenster aufgerissen, und darin tauchte, wie ein Fisch in rostigem Wasser, ein altes, zerfurchtes Gesicht auf. Es musterte kurz das Geschehen, hielt dann einen Gewehrlauf nach draußen. East fuhr herum. Das Mädchen.

»Verflucht!«, schrie er. »Verschwinde!«

Natürlich rührte sich die Kleine nicht. Das Geballer begann.

 

East sprang auf den Gehweg, duckte sich hinter das Mäuerchen. Unter den Schießgeräuschen hörte man die Cops vergnügt blaffen, geduckt hinter ihren Wagen wie im Fernsehen. Alle suchten Deckung, außer dem Hubschrauber, den fröhlich kläffenden Straßenkötern und dem Mädchen aus Jackson.

East passte hinter einen geparkten Buick, rot vom Rost. Sein Atem ging stoßweise, schnell und leicht. East versuchte, den von der Hitze aufgeplatzten Wagenlack nicht zu berühren. Hinter ihm erfüllten Geschosse und Fragmente der Hausfassade die Luft. In den Einsatzwagen plärrten und tröteten Cop-Funkgeräte. Das Gewehr im ersten Stock ballerte an ihnen vorbei, um sie herum, von der Straße weg, in die Autos, durchlöcherte eine Windschutzscheibe, ließ einen Reifen seufzen.

Das Mädchen, im Niemandsland, schaute zum Haus. Dann sah sie in die Richtung, wohin East gelaufen war, und merkte, dass er recht gehabt hatte. Ihre Blicke trafen sich.

Er winkte ihr mit einer Hand zu: Komm mit mir. Komm her.

Dann traf sie die Kugel.

East wusste, wie sich angeschossene Menschen verhielten, wie sie stolperten oder krochen oder versuchten, der Kugel zu entkommen, dem, was sie in ihnen anrichtete. Das Mädchen war anders. Sie zuckte zusammen – East beobachtete sie. Dann streckte sie die Hände aus und legte sich behutsam hin. Zögernd schaute sie in den Himmel, und einen Moment lang zweifelte sie daran – die konnte sie doch nicht getroffen haben, diese Kugel. Dieses Mädchen war einfach irre. Genauso unwirklich wie das Feuer.

Dann wuchs der Blutfleck auf dem weißen Baumwollhemd. Ihr Blick wanderte und blieb an East hängen. Sie starb rasch und sacht.

Das Walkie-Talkie meldete sich wieder.

»Verdammt, Junge«, keuchte Sidney.

Die Polizisten im Hintergrund sahen ihre Chance, und drei von ihnen zielten. Klappernd fiel das Gewehr im Fenster das Dach hinunter. Im selben Moment traten die vier Cops auf der Veranda die Tür ein.

»Du solltest uns warnen«, krächzte Sidney. »Du solltest deinen Job machen.«

»Ich hab dir alles gesagt, was ich wusste«, sagte East.

Sidney antwortete nicht. East hörte ihn keuchen.

Er unterbrach die Verbindung. East kannte den Fluchtweg. Ein letzter Blick – zerstörte Fenster, Cops erklommen den Rasen, ein User schwankte ins Freie, als stünde er in Flammen. Vor seinem Haus. Und das Mädchen aus Jackson lag auf dem Gehsteig, ihr Blut rann, ein langer Finger wies Richtung Gosse, es fand den Weg. Ein Cop beugte sich über sie, doch sie starrte hinter East her. Sie sah ihm nach, die Straße hinunter, bis er um eine Ecke bog und verschwand.

2

Das Treffen fand anderthalb Kilometer entfernt in einer Tiefgarage unter einer namenlosen Autolackiererei statt. Die Garage war schon vor Jahren geschlossen worden – irgendwas mit Bauordnung, Erdbeben –, aber man kam immer noch mit einem Auto rein, durch einen Wanddurchbruch auf dem Nachbargrundstück unter einem Apartmentgebäude. Nichts hielt die Leute lange von einem Parkplatz fern.

Auf der Treppe hielt sich East sein Hemd vor die Nase. Es roch nach Pisse und Betonstaub. Drei Etagen tiefer stieß er die Tür auf und atmete erst wieder, als sie hinter ihm ins Schloss gefallen war. An einer vergessenen Stromleitung hingen immer noch ein paar intakte Glühbirnen und funktionierten. An der Decke, entlang eines Risses, bewegte sich etwas, überlebte irgendwie.

East fragte sich, wer da sein würde. Fin hatte in The Boxes und anderswo Hunderte von Leuten. Wenn etwas schiefgegangen war, könnte so ein Treffen nur die direkten Vorgesetzten betreffen. Oder es war jemand da, dem man lieber nicht begegnen wollte. So oder so, man musste aufkreuzen.

Am anderen Ende sah er Sidneys Wagen – einen Dodge Magnum Kombi, ganz in Mattschwarz. Johnny lehnte sich dagegen, machte seine Dehnübungen. Er straffte die Arme hinter seinem Kopf und drehte den Oberkörper hierhin und dorthin, dass sich die Muskeln an- und wieder entspannten. Dann beugte er sich vor und schwang die Ellbogen in Bodennähe.

Sidney stand ein Stück entfernt in der Dunkelheit, seinen kleinen kurzläufigen Revolver auf Easts Kopf gerichtet.

»Drittklassiger Versager, erbärmlicher Motherfucker.«

East rührte sich nicht. Es hieß, manchmal würden hier unten Leute umgebracht, die Leichen in den finsteren Luftschacht geworfen, wo niemand sie riechen konnte. Er sah ausdruckslos an der Waffe vorbei.

Sidney war außer sich. »Ich verlier nicht gern Häuser. Fin verliert nicht gern Häuser.«

»Ich habe noch nicht herausgefunden, was passiert ist«, sagte East schlicht.

»Deine Jungs sind scheiße. Wer war’s?«

»Dap. Needle.«

»Irgendwer ist dämlich. Irgendwem war’s scheißegal.«

East widersprach. »Sie wussten Bescheid. Das war zwei Jahre lang mein Haus.«

»Es war mein Haus, Junge«, blaffte Sidney. »Du warst für den Vorgarten zuständig.«

East nickte. »Ich war lange dabei.«

»Das beste Haus, das wir im Viertel hatten. Fin hat was für dich übrig – sag du ihm, dass es weg ist.«

Es war nicht die erste Knarre, die sich East vom Hals geredet hatte. Man zappelte nicht herum. Man zeigte ihnen, dass man keine Angst hatte. Man wartete.

In diesem Moment meldete sich Sidneys Handy. Er sicherte die Waffe und steckte sie weg. Hinter ihm wackelte Johnny mit dem Kopf und löste sich vom Auto. Johnny war ein seltsamer Begleiter, tiefschwarz und langsame Bewegungen, während Sidney halb Chinese und ständig aufgekratzt war. Johnny war witzig. Er konnte nett sein, kümmerte sich um Probleme im Haus, verhinderte, dass die User übereinander herfielen. Man trieb aber besser nicht seinen Blutdruck in die Höhe.

»Sidney rennt nicht gerne«, sagte Johnny lachend. »Falls dir das noch nicht klar war.«

East atmete wieder. »Sind alle rausgekommen?«

»Gerade mal so. Ein paar User haben sie erwischt. Weder Geld noch Ware.«

»Wer hat auf die Cops geschossen?«

»Keine Ahnung, Mann. Irgendein alter Trottel, hatte ’ne Flinte in seiner Hose. Wir haben zugegriffen und zugelangt. Was man von ihm irgendwie auch behaupten kann.«

Sidney steckte sein Handy weg. Er drehte sich um, wütend. »Jemand wurde erschossen.«

»Ich weiß«, sagte East. »Ein kleines Mädchen.« Er sah das Mädchen aus Jackson vor sich, ihr rundliches Gesicht, wie eine Pflaume, irgendein kleines quietschrosa Ding ins Haar gebunden.

»In den Nachrichten wird’s kein kleines Mädchen sein«, sagte Johnny, »sondern ein sehr großes Mädchen. Wirst du erschossen, ist es bloß ein kleines Mädchen.«

Es war eine schlimme Zeit gewesen. Vor drei Monaten hatten sie Fins rechte Hand Marcus verhaftet. Marcus war für die Finanzen zuständig, hatte nie Stoff dabei, fuhr nie zu schnell, war nie bewaffnet, ein ruhiger Typ. Er hatte einen verkrüppelten Arm mit sieben Fingern an der Hand. Er wusste auswendig, woher alles kam und wohin es ging – keine Bücher, nichts zu verbergen. Zweiundzwanzig Jahre alt, kompetent, klug: Fin gefiel das. Doch jetzt hatten sie ihn, keine Kaution. Keine Kaution hieß, die Polizei konnte ihm einfach Fragen stellen, bis ihnen die Fragen ausgingen. Seitdem standen sie unter Dauerstress. Ein Posten wurde festgenommen, obwohl er nur herumlungerte – sie hielten ihn drei Tage fest. Drogenkuriere wurden auf der Straße eingesammelt, einfach nur Kids, die Polizei trieb sie mit Autos und Scheinwerfern zusammen, las sie dann einzeln auf.

Irgendein Richter wollte Krieg führen, deshalb war alles schwierig geworden.

 

Entnervt fuhren sie in dem schwarzen Kombi nach Süden. Sidney hustete feucht, als hätte ihn das Laufen lungenkrank gemacht. Er wischte sich über sein verzerrtes Gesicht. »Ihr seht euch die Straßenschilder nicht an«, blaffte er.

»Mann, wen juckt das? Ich kenn diese Straße«, sagte Johnny. Aus dem Lautsprecher dröhnte irgendein Pumma, Pumma, Pum, und die Klimaanlage blies East kalt ins Gesicht. Er schloss die Augen, wie Sidney verlangt hatte, und schaute nicht nach draußen.

Sein Haus zu verlieren – das würde man ihm anhängen. Tagsüber fielen die Jungs in seine Verantwortung; ihr Versagen fiel in seine Verantwortung. Zwei Jahre lang hatte er den Vorgarten geleitet, er hatte die Posten ausgebildet, und bis heute hatten alle gesagt, er habe seine Sache gut gemacht. Seine Jungs kannten ihre Aufgaben; sie kamen pünktlich, stritten sich nicht, machten keinen Krach. Er begriff nicht, was schiefgelaufen war. Dieses Mädchen – er hätte nicht so lange mit ihr reden dürfen. Dann wäre sie vielleicht weggegangen. Er hätte sie von Antonio ein bisschen herumschubsen lassen können. Sie war jetzt ohnehin tot.

Was hätte er tun sollen? Wenn so viele Cops auf‌tauchen, um ein Haus einzunehmen, dann nehmen sie es auch ein.

Als der Wagen langsamer wurde, flippten ein paar Hunde aus, aber East öffnete die Augen nicht. Einige der Nachbarshunde gehörten wahrscheinlich Fin. Die meisten Menschen hielten gerne Hunde, wenn man ihnen Futter für sie gab. Und die Cops sahen sich gerne da um, wo Hunde lebten. Daher hielt man keine Hunde, wo man wohnte.

»Schaut euch die Hausnummern nicht an.«

»Mann, wie soll ich dann sehen, welches Haus es ist?«, konterte Johnny.

Sie parkten weiter unten in der Straße und gingen zu Fuß. Ein kleines Mädchen auf einem Hohlnaben-Dreirad kratzte mit seinen Plastikrädern über den Gehweg. Es war ein heißer und windiger Tag geworden. Als Sidney »Jep« sagte, bogen sie alle ab und stiegen zwei Stufen hinauf zu einem niedrigen gelben Haus.

ZU VERKAUFEN stand auf einem Schild. Jemand hatte den Namen des Immobilienmaklers geschwärzt.

 

Es öffnete eine kleine Frau mit markanten Gesichtszügen, die East schon mal irgendwo gesehen hatte. Auf dem Kopf trug sie ein mit Schmucksteinen besetztes schwarzes Haarnetz. Ihr Mund war schmal und farblos, wie ein Schlitz. Sie ließ die drei ein und zog sich dann in eine Küche zurück, wo irgendwas blubberte, aber keinen Geruch abgab.

Das Zimmer war leer, schmucklos, brauner Holzboden. Die zugezogenen Jalousien dämpf‌ten das Tageslicht zu Violetttönen. Vereinzelte Nägel hier und da an den Wänden verrieten, dass hier einmal Menschen gewohnt hatten. Es waren auch zwei Bewaffnete da, Circo und Shawn. East kannte sie vom Sehen. Es war nie gut, sie zu sehen.

»Sind alle aus deinem Haus entkommen, als es passiert ist?«, fragte Shawn. Er war ein großer Kerl, wie Johnny.

»Der kleine Wichser hat uns nicht mal gewarnt.«

East ignorierte das. Er musste sich jetzt nicht mehr gegenüber Sidney verantworten. Er fragte sich, wie viel alle darüber wussten.

Shawn wischte sich mit einem Finger über die Wangeninnenseite, biss sich dann so fest auf die Lippen, dass sich sein Gesicht zu einer Fratze verzog.

»Brauchst du mich morgen in Westwood?«

»Kommt drauf an. Mal sehn, was der Tag so bringt«, sagte Sidney. »Manchmal geschehen auch Wunder.«

Shawn lachte kurz, es war mehr ein Husten. Dabei tätschelte er zufrieden die Wölbung in der Hosentasche seiner Jeans.

Ein Sicherheitssystem piepte, und weiter hinten im Flur öffnete sich eine Tür – nur ein Klicken und ein frischer Luftzug. Die Frau verließ leise die Küche, auf bloßen Füßen, und ging in den Flur. Sie huschte durch die einen Spaltbreit offene Tür und schloss sie hinter sich. Einen Moment später öffnete sie sich mit einem Piepton wieder. East behielt die Frau im Auge. Es umgab sie eine Aura, als verbringe sie ihre Zeit in dieser Welt damit, Dinge in einer anderen Welt zu ordnen.

Sie zeigte auf East, Sidney und Johnny. »Ihr könnt kommen«, sagte sie ruhig.

East war schon in Zimmern wie diesem gewesen, wo nur die Waffen sprachen. Bis heute, dem Tag, an dem er das Haus verlor, hatte er das aufregend gefunden. Heute war er froh, dass er weggerufen wurde. Als er der Frau folgte, fing er einen von ihrem Körper ausgehenden Duft auf und atmete ihn ein. Wenn er einer Frau so nahe kam, war das gewöhnlich eine Userin, die gerade kam oder ging. Oder die am Bordstein arbeitete oder sich beim Grillen mit Flecken bespritzt hatte. Diese Frau roch nach einem seltsamen Parfüm, das nicht aus einer Flasche kam. East hielt den Atem an.

Ihr Haarnetz glitzerte: winzige schwarze Perlen.

Als sie die Tür öffnete, piepte das System wieder.

 

Fins Zimmer: von zwei Kerzen abgesehen, unbeleuchtet. Er saß in einer Ecke, barfuß und die Beine überkreuz auf einem Polsterhocker, den Kopf gebeugt, als bete er, eine Kopfhälfte war im Dunkeln. Er war stämmig bis fett, und unter seinem Hemd zeichneten sich die Schultern ab.

In diesem Zimmer lag ein großer, weicher Teppich. Mitten im Raum stand ein zweiter Polsterhocker, leer.

Fin hob den Kopf. »Zieht die Schuhe aus.«

East bückte sich und nestelte an seinen Schnürsenkeln herum. In der Tür hinter ihnen tauchte Circo auf, neunzehn, mit einem Polizistengürtel, Pistole auf einer Seite und Schlagstock auf der anderen. Er streckte die Nase ins Zimmer, sah sich um und ging. Gut. Die Tür piepte, als die Frau sie hinter sich ins Schloss zog.

Johnny nahm eine Zigarette heraus.

»Hier drin wird nicht geraucht, Mann«, sagte Fin.

Johnny friemelte sie wieder in die Schachtel zurück. »Tut mir leid.«

»Das Haus steht zum Verkauf.« Fin wischte sich über den Hinterkopf. »Kauf’s dir doch. Dann kannst du hier tun und lassen, was du willst.«

Die drei Jungs stellten ihre Schuhe neben die Tür.

Staub kringelte und schwebte über den Kerzen. Fin saß da und wartete, wie ein Lehrer. Als er sprach, klang das bedrohlich sanft.

»Was ist passiert?«

Sidney antwortete, bedrückt, keuchend. »Keine Vorwarnung, Mann. Wir bezahlen eine ganze Crew Jungs da draußen. Als es soweit war, hat keiner angerufen. Sie haben nicht geschrien, gar nichts gemacht.«

»Ich hab dich angerufen«, widersprach East.

»Als die Polizei schon an die Tür hämmerte.«

Sidney wollte ihn also absägen.

»Warum haben sie nicht angerufen?«, sagte Fin leise, amüsiert, fast als stelle er sich die Frage selbst.

Sidney schubste East unnötigerweise nach vorn. Dieses Warum galt also ihm.

»Es war eine Menge los«, begann East.

Fin, fragend: »Eine Menge?«

»Löschfahrzeuge. Wohnhausbrand«, sagte East. »Jede Menge Lärm. Da haben die Außenposten – Needle, Dap – vielleicht gedacht: Die Polizei fährt zu dem Feuer. Vielleicht. Das heißt, ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen, weiß es also nicht.«

»Ich denke, deine Jungs wissen, dass sie anrufen sollen, wenn sie einen Polizisten sehen.«

»Na klar, das wissen sie«, sagte East. »Na klar.«

»Und warum hast du nicht mit ihnen gesprochen?«

»Geht etwas schief, lass die Finger vom Telefon«, antwortete East, »das waren deine Anweisungen.«

Fins Blick wanderte von East zu Sidney und wieder zurück. »Gab es wirklich einen Brand?«

»Ich sah Rauch. Ich sah Feuerwehrautos. Ich bin nicht hingegangen, um nachzusehen.«

»Womöglich ist es auch egal«, sagte Fin leise, »aber vielleicht interessiert es mich.« Er warf East einen finsteren Blick zu, dann senkte er den Kopf. East hatte ein Gefühl, als flattere ein Vogel in seinem Brustkorb.

Eine Minute verging, ehe Fin wieder sprach. »Macht jedes Haus dicht«, sagte er. »Sagt allen Bescheid. Tauchstation. Ich will überhaupt nichts hören. Ich sage das nur ungern, aber die Leute müssen sich ein paar Tage lang woanders nach Stoff umsehen.«

»Verstanden«, sagte Sidney. »Aber was werden wir tun?«

»Nichts«, antwortete Fin. »Wir schließen meine Häuser.«

»Schon klar«, sagte Sidney. »Aber wieso baut dieser kleine Nigger Scheiße, und ich kriege kein Geld mehr? Und Johnny auch nicht?«

»Ich habe euch gelehrt, für schlechte Zeiten etwas auf die hohe Kante zu legen«, sagte Fin. »Und, Sidney, ich habe dich gelehrt, mir gegenüber dieses Wort nicht zu verwenden. Du weißt es besser, warum gehst du also nicht raus. Hast du mich verstanden?«

Sidney wich zurück und verzog das Gesicht. »Dafür entschuldige ich mich«, sagte er und machte kehrt, um seine Schuhe aufzuheben.

»Du auch, Johnny. Du kannst gehen.« Fin seufzte. »East, du bleibst.«

»Sollen wir auf ihn warten?«

»Nein«, sagte Fin. »Geht nur.«

East rührte sich nicht, sah den beiden Jungs nicht nach, die sich hinter ihm bewegten. Als die Tür mit einem Piepen aufging und die zwei gingen, stand die Frau barfuß draußen und wartete. Sie trug ein Tablett mit zwei dampfenden Tontassen herein. Dann stand sie einfach nur stumm da, und etwas wurde zwischen ihr und Fin ausgetauscht, keine Worte, wie eine Art elektrischer Ladung. Dann setzte sie das Tablett mit den zwei Tassen auf dem leeren Polsterhocker ab.

Stumm musterte sie East, machte dann kehrt und ging durch die Tür wieder hinaus. Piep.

 

»Wie geht’s dir?«, fragte Fin. »Erledigt?«

East gab es zu. Ihm tat alles weh. Er war so verspannt wie noch nie. Seine Knie schlotterten fast. »Ja.«

»Setz dich.«

East ließ sich steif auf den zweiten Hocker sinken und saß in dem halbdunklen Raum neben dem dampfenden Tablett. Fin breitete wie ein großer Vogel die Schultern aus. Er bewegte sich langsam, kopf‌lastig, als wäre sein Schädel mit etwas Schwererem als Hirn und Knochen gefüllt.

Fin war der Bruder von Easts Vater – nicht dass irgendwer East jemals mit seinem Vater bekannt gemacht hätte. Andere wussten das; manchmal nahmen sie es East übel, dass er sich unter diesem fürsorglichen Schutzschirm befand. Doch es beeinflusste auch sie, diese besondere Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, seinem Haus, seiner Crew. Als East noch klein war, hatte sich Fin gelegentlich gezeigt – nicht bei familiären Anlässen wie die Großmutter, bei der zu Hause es ein paar Weihnachtsfeiern gegeben hatte, oder wie die Tante, die manchmal sonntags nachmittags in ihren leuchtenden schlabbrigen Kirchenklamotten mit Sandwiches und Obst in lädierten Plastikbehältern vorbeigekommen war. Fin kam vorbei, wenn Easts Mutter Probleme hatte: um einen Geschirrspüler anzuschließen, um East zum Arzt zu bringen, wenn er eine Ohrenentzündung hatte oder eines der schlimmern Fieber, an die er sich jetzt nur noch dunkel erinnerte. Einmal nahm Fin East mit zu einem Spiel der Lakers, gute Sitze in Spielfeldnähe. Doch East verstand Basketball nicht, die lauten Summer und die Stuhlreihen aggressiver Weißer, und sie gingen, lange bevor das Spiel entschieden war.

Doch seit East größer war, gab Fin die stille Präsenz im Hintergrund. East war nie Kurier gewesen, ein kleiner Junge, der sich mit einer Brotdose voller Stoff oder Geldscheine in Häuser schlich und sie wieder verließ. Mit zehn hatte er am Ende eines Wohnblocks Schmiere gestanden, mit zwölf war er Helfer in einer Haus-Crew. Zwei Jahre lang hatte er sein eigenes Haus geleitet, Jungen befehligt und bezahlt, manche davon älter und stärker als er. In dieser Zeit hatte er Fin nicht oft zu Gesicht bekommen, doch häufig hatte er gespürt, dass der Sog des Blutes seines Onkels ihn tiefer in die Wellen trug.

Wollte er das machen? Es spielte keine Rolle: Er hatte sein Auskommen. Respektierten die Jungs ihn, weil er besser als jeder andere eine Straße kontrollieren und eine Crew leiten konnte oder weil er einer von Fins Lieblingsschützlingen war? Es spielte keine Rolle: Er hatte so oder so das Sagen, und das wussten die Jungs. Würde er dieses Leben meistern können, oder würde er in ihm ertrinken wie andere Jungs, die er aus seiner Gang geworfen oder blutig oder tot auf der Straße gesehen hatte?

Es spielte keine Rolle.

 

»Probier es«, sagte Fin.

East berührte eine Tasse, und seine Hand zuckte zurück. Heiße Getränke war er nicht gewohnt.

»Noch nicht bereit?« Fin griff nach seiner Tasse und trank geräuschlos. Der dichte Dampf stieg empor. »Jetzt erzähl mir noch mal, warum dieses Mädchen erschossen wurde.«

East sah sie wieder vor sich, ihr Gesicht mit der Seite auf der Straße. Diese trotzigen Augen. Er sah sie immer noch. »Ich hab versucht«, sagte er, doch dann entglitt ihm seine Stimme, und er musste fest schlucken, um sie wiederzubekommen. Er betrachtete den Tee, der Dampf wallte auf.

»Ich hab versucht, sie zu überreden, dass sie geht«, sagte East. »Sie hatte das ganze Wochenende auf der Straße Ball gespielt und war gerade erst zum Haus hochgekommen. Dann die Polizei. Sie ließ sich nichts sagen.«

»Verstehe. Sie hatte also einfach nur Pech. Schlechtes Timing.«

»Sie war aus Mississippi.«

Fin saß da und sah East lange an.

»Weißt du, dieses Mädchen schadet mir mehr als das Haus«, sagte er dann. »Wir haben etliche Häuser. Wir können umziehen. Jedes Mal, wenn wir mit einem Haus umziehen, nehmen wir die alten Kunden mit und gewinnen neue dazu. Dieses Mädchen wird uns teuer zu stehen kommen. Für dieses Mädchen werde ich die Rechnung zahlen müssen.«

»Ich weiß.«

»Sie ist gestorben.«

East schluckte. »Ich weiß«, sagte er.

Fin rührte seinen Tee um und sah in die Tasse. »Steh auf, und verschließ die Tür«, sagte er. »Bei dem, was jetzt passiert, soll hier keiner hereinplatzen.«

East stand auf. Er stolperte über den Teppichflor. Das Schloss war nur eine Drucktaste. East drückte sie sanft.

Fins dunkle Augen folgten ihm bis zu seinem Sitzpolster.

»Jetzt bist du also frei. Hattest ein Haus. Hattest einen Job. Hast das Haus verloren. Hast den Job verloren.«

East ließ den Kopf hängen, doch Fin wartete, dass er etwas sagte. »Ja, Sir.«

»Du fragst dich, was als Nächstes kommt?« Fin machte mit den Lippen ein Schmatzgeräusch. »Denn vielleicht kommt als Nächstes gar nichts. Vielleicht solltest du dir eine Auszeit nehmen.«

Eine Auszeit nehmen, dachte East. Das sagten sie, wenn sie einen nicht mehr wollten.

»Du könntest aber etwas für mich tun«, sagte Fin. »Du kannst ja oder nein sagen. Aber sonst keinen Ton. Wir werden nicht darüber reden. Nicht jetzt, nicht nächstes Jahr, niemals. Du behältst es für dich, bis du stirbst.«

East nickte. »Ich kann schweigen.«

»Ich weiß. Ich weiß, dass du das kannst«, sagte Fin. »Also: Ich will, dass du eine Autofahrt unternimmst. Ich will, dass du am Ende dieser Fahrt etwas machst.« Er drehte einen Fuß nach oben und zog daran. Biegsame Gelenke, eine langsame Bewegung. »Einen Mann ermordest.«

East zog eine Schulter nach vorn und trocknete sich daran sorgfältig den Mund ab. Ein Funke entzündete sich in seinem Magen; eine Schlange rollte sich zusammen.

»Du kannst ja oder nein sagen. Aber sobald du ja sagst, machst du mit. Oder nicht. Also überleg’s dir.«

»Ich mach’s«, sagte East automatisch.

»Das weiß ich«, sagte Fin. Er trank seinen restlichen Tee aus, dann schüttelte er zweimal den Kopf, ein langes Zittern, das ein Lachen oder auch etwas völlig anderes hätte sein können. Dann spürte East Fins Blick und schluckte das heftige Pochen in sich hinunter.

»Sei morgen früh fertig, neun Uhr. Du brichst umgehend auf. Bring also Kleidung mit, Schuhe. Mehr nicht. Keine Brief‌tasche. Keine Waffe. Wir werden dir alles abnehmen. Bring dein Handy mit, aber du darfst es nicht behalten. Keine Telefone auf dieser Reise. Und keine Kreditkarten – wir geben dir Geld. Verstanden?«

»In Ordnung.«

»Lass dein Handy an, Sidney wird sich melden.«

»Sidney ist gerade nicht sehr zufrieden mit mir.«

»Sidney bleibt nichts anderes übrig«, sagte Fin. »Klar? Ein paar andere Jungs kommen auch mit. Sie sind ein wenig älter, erfahrener. Du fühlst dich vielleicht fehl am Platz. Sie haben vielleicht auch so ihre Zweifel. Besonders nach dem heutigen Tag.« Mit den Fingern streif‌te er die restliche Feuchtigkeit von der Innenseite der Tasse. »Aber ich glaube, du hast etwas, das sie brauchen.«

Von diesem Lob aus Fins Mund wurde ihm warm.

»Ihr werdet fünf, sechs Tage weg sein. Wenn du einen Hund, ’ne Schlange oder ein anderes Tier hast, finde jemand, der es füttert.«

East schüttelte den Kopf.

»Gut«, sagte Fin. »Dann haben wir hier über gar nichts gesprochen. Uns nur auf den letzten Stand gebracht. Bleib noch kurz, und trink deinen Tee.«

East hob die schwere Tasse hoch. Er benetzte seine Zunge. Zuerst schmeckte der Tee alt, wie Staub. Als hätte man ihn vom Boden aufgefegt.

»Magst du das?«

East mochte ihn nicht, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. »Was ist es?«

»Hat keinen Namen. Tut dir aber gut«, sagte Fin. »Die Frau hatte früher einen Teeladen. Dann bekam sie Probleme. Ich habe ihr geholfen. Sie kennt sich im Geschäft aus. Sie weiß, wie man Sachen aus dem Hafen holt. Und sie kann Tee aufgießen.«

East nickte. »Ist sie aus China?«

»Halb Thai. Die andere Hälfte alles andere«, sagte Fin träge. »Wie geht’s deiner Mutter?«

East hustete kurz. »Ganz gut. Sie war ein bisschen krank, aber jetzt geht’s ihr besser.«

»Wie steht’s ums Haus?«

»Es steht noch«, sagte East. »Es stünde besser ums Haus, wenn sie ein wenig saubermachen würde.«

»Du bist der Mann der Familie«, sagte Fin. »Du könntest dich aufraffen und putzen. Besuch sie, ehe du aufbrichst.«

»Ja, Sir. In Ordnung.«

»In Ordnung«, sagte Fin. »Du tust mir einen großen Gefallen, Mann. Was du machen wirst, ist nicht einfach. Du sollst wissen, dass es mir wichtig ist.« Fins Hände umfassten seine Füße und streckten sie, verdrehten sie. Als spielten Knochen keine Rolle und könnten nach Belieben verformt werden. »Ich werde nicht vergessen, dass du das für mich getan hast«, wiederholte Fin. Er stellte seine neben Easts Tasse. Als sich die beiden Tassen berührten, gab es einen tiefen Ton, wie das Läuten einer Standuhr.

»Geh, Junge«, sagte Fin. »Kein Wort. Neun Uhr. Sidney wird nach deiner Crew sehen, sich um sie kümmern. Keine Sorge. Fall nicht auf.«

East erhob sich. In seinen weißen Socken kam er sich kindisch vor.

Fin holte ein dickes Bündel Scheine heraus. Er zählte Zwanziger ab – fünfhundert Dollar. Die reichte er East, ohne hinzusehen.

»Etwas davon ist auch für deine Mutter.«

»In Ordnung.«

»Eins solltest du noch wissen. Dein Bruder ist mit dabei. Er nimmt an der Fahrt teil.«

East nickte. Doch in seinem Brustkorb zerplatzte eine kleine Wutperle: sein Bruder. Babysitting. Nicht dass sein Bruder ein Baby wäre.

»Es wird dir vielleicht nicht gefallen. Ich dachte, ich gebe dir eine Nacht, dich mit der Vorstellung anzufreunden.« Fin rieb sich die Füße, zog an einem Zeh, bis er knackte. »Du weißt, warum er mitkommt.«

East steckte das Geld weg und legte die Hand über seine Hosentasche. »Ja, ich weiß.«

 

Eine üble Straße. Hunde schmissen sich gegen die Zäune. Fernseher nuschelten Haus für Haus durch vergitterte Türen und Fenster. East war der einzige Mensch, der sich im Freien aufhielt. Er betrat eine Veranda und schloss die Tür auf.

Im Wohnzimmer, in einem Nest aus schaler Luft, lag seine Mutter und sah sich eine Gameshow an. Sie sah älter aus als ihre einunddreißig: triefnasig, gleichzeitig fett und blutarm. Sie trank aus einem Plastikbecher, zwischen den Knien eine Flasche mit billigem Wein.

East näherte sich von hinten. Sie bemerkte ihn, aber erst spät.

»Easton? Was machst du denn hier?«

Wie immer kam ihre Heftigkeit halb überraschend. Sie setzte sich auf.

»Hallo Mama«, sagte East. Er schaute zur Seite auf die Gameshow.

»Komm und setz dich.«

Er setzte sich neben sie, und sie nahm ihn fest in die Arme, was er geduldig über sich ergehen ließ, wobei er ihren Arm tätschelte. Sie stellte den Fernseher nicht leiser; der Ton ließ die Fenster erzittern. Als sie ihn freigab, war ihre Nase wieder feucht geworden, und sie suchte nach etwas zum Abwischen.

»Ich dachte, du kämst vielleicht vorbei. Ich hab Eier mit Schinken gemacht.«

East stand wieder auf. »Ich kann nichts essen. Ich will nur nach dir sehen.«

»Lass mich für dich sorgen«, tadelte sie ihn.

East zuckte die Achseln. Aus dem Fernseher dröhnte nun Werbung, sogar noch lauter. Er verzog das Gesicht. Er halbierte den Batzen Scheine, den Fin ihm gegeben hatte, und sie nahm ihn, ohne Widerstand oder Dank. Das Geld knitterte ungesehen in ihrer Hand.

East sagte: »Schöner Tag. Hast du was davon mitbekommen?«

»Hä?«, machte seine Mutter, wieder überrascht. »Ich bin heute nicht draußen gewesen, glaub ich. Wo ist Ty? Hast du ihn gesehen?«

»Hab ihn nicht gesehen. Ihm geht’s gut.« Er verschwand in der Küche, ein kleines Rückzugsgebiet hinter einer mit leeren Gläsern übersäten weißen Anrichte. Er sah, wie sie einen langen Hals machte, ihm nachsah.

»Er hat mich nicht besucht.«

»Er ist wohlauf. Er ist beschäftigt.«

»Er ist mein Baby.« Ihre Stimme wurde laut und hektisch.

»Tja, ihm geht’s gut. Er kommt schon noch vorbei. Ich sag ihm Bescheid.«

»East«, befahl sie, »du isst ein paar Eier. Sie sind noch in der Pfanne.«

Lass mich für dich sorgen.

Als er auf den Schalter drückte, wurde eine der beiden Neonröhren an der Decke lebendig. Die Küche war ein Notstandsgebiet. Was man leicht wegwerfen konnte, warf East in einen Müllsack. Mit einer Serviette aus einer Hamburgertüte zerquetschte er Ameisen. Die Eier auf dem Herd waren widerwärtig – kalt und nass, sichtbare Schalenreste. Er wandte sich ab.

Seine Mutter war aufgestanden. Sie stand in der Tür.

»Easton«, hauchte sie, »bleibst du hier?«

Peinlich berührt, sagte er: »Mama, nicht.«

Stolz sagte sie: »Dein Bett ist bezogen.«

»Heute Abend geht’s nicht.«

»Nie seh ich einen von euch«, schnief‌te sie.

Als wäre jede Minute eine Tonne schwer. »Mama, lass mich den Müll raustragen.«

»Warum isst du nicht ein paar Eier?«

»Mama«, sagte er flehend.

»Keiner meiner Jungs liebt mich«, erklärte sie irgendwas an der gegenüberliegenden Wand.

East ließ den Müllsack fallen. Er fand in den gestockten Eiern eine Gabel, packte eine Portion Eier darauf und schob sie sich in den Mund. Schwefel. Er versuchte mit geschlossenen Augen zu kauen und zu schlucken, drehte sich dann zu seiner Mutter um. Um seine Zahnhälse spülten immer noch Eierreste, grauenhaft.

»Siehst du.« Seine Mutter strahlte.

 

Easts Zimmer war klein, aber ordentlich: Doppelbett mit Kissen, zwei Fotos auf einem Regalbrett. Den Teppich hatte er aufgerollt, weil ihm das Muster nicht gefiel, und verkehrt herum wieder hingelegt. Ein wenig Staub, aber keine Unordnung. Er schloss die Tür, doch der Fernsehlärm schüttelte ihn immer noch durch. Er nahm Hemden, Strümpfe und Unterwäsche aus der Pressspankommode und stopf‌te sie in einen Kissenbezug. Er schaute sich einen Moment um, als die Tür aufging.

Seine Mutter stand in der Tür, sie war wacklig auf den Beinen, setzte ihm aber immer noch nach.

»Hat Ty noch Klamotten hier?«, fragte er.

Sie lachte gequält. »Tys Klamotten – die hat er mitgenommen – hab’s nicht gesehen – keine Ahnung, was Ty anhat.«

»Hemden? Irgendwas?«

Ty war zwei Jahre jünger, aber zuerst ausgezogen. In dem Zimmer, das sie sich zehn Jahre lang geteilt hatten, war nichts von ihm. Kein Spielzeug, keine Plüschtiere, keine Bilder an der Wand. Als wäre es nie auch Tys Zimmer gewesen.

Sie wollte es wissen. »Willst du irgendwohin? Du siehst aus wie ein Landstreicher.«

»Ty und ich brauchen für ein paar Tage Klamotten.«

Sie summte, beiläufig, aber wissend. »In Schwierigkeiten?«

»Nein.«

»Koffer im Schrank. Aber die sind alt.«

»Ich brauche keinen Koffer«, sagte East.

Er blieb stehen und wartete stocksteif, bis sie den Rückzug antrat. Nach einer Weile hörte er das Quietschen der Sofafederung: Sie hatte sich hingelegt. Er war allein. Er kontrollierte den Holzklotz, den er unter seinem Bettgestell befestigt hatte: stabil. Er löste ihn mit einer Flügelschraube. Er legte seine Bankomatkarten darunter, dann befestigte er den Klotz wieder mit der Schraube.

An der Haustür sagte er: »Ich bin in ein paar Tagen wieder da. Dann besuche ich dich. Ich komm vorbei und bleibe bei dir.«

»Das weiß ich doch. Ich weiß, dass du zurückkommst«, gurrte seine Mutter. Er nahm das übrige Geld heraus, nahm sich drei Scheine und gab ihr den Rest.

»Ich weiß, du steckst nicht in Schwierigkeiten«, sagte sie flehend. »Meine Jungs tun das nicht.« Er neigte sein Gesicht nach unten, und sie gab ihm einen Abschiedskuss.

 

Die Straße runter, dem Lärm ihres Fernsehers entronnen, hörte East die Stille rauschen wie Wellen. Er ging in nördlicher Richtung, bis er zu einem Bürokomplex mit achtstöckigen sandgrauen Gebäuden kam. Zwei von ihnen bildeten eine Art Ecke oder Winkel, und East ging darum herum. Von irgendwo im Dunkeln drang das leise Stimmengewirr lärmender trinkender Menschen.

Ein schmaler Gehweg führte hinter die Geräteinsel mit der Klimatechnik. Der Betonblock voller Klimageräte gab East Deckung, als der sich am Fuße des letzten Gebäudes bückte. Seine Finger fanden den zwischen den Scheiben eines Kellerfensters steckenden behelfsmäßigen Metallkeil. Das Fenster kippte nach innen weg, doch er hielt es fest, ehe es Krach machte. Leise, einen Körperteil nach dem anderen, zwängte er sich hindurch.

Der Kriechkeller, düster hinter staubigen Fenstern, war sauber, der aus verdichteter Erde bestehende Boden an den Seiten höher als in der Mitte. Er war leer, von Easts Sachen und dem Wasserhahn in einer Ecke abgesehen. Der ließ sich nicht aufdrehen, tropf‌te aber pausenlos, und East hatte eine breite Schüssel aus rostfreiem Edelstahl daruntergestellt; es gab immer Wasser, klares, kaltes Wasser. Er warf sein Bündel zu Boden, hielt das Gesicht über die Schüssel und sah zu, wie sich sein Spiegelbild verkehrt herum von der anderen Seite ins Wasser schob.

Er trank. Dann wusch er sich Gesicht, Hände, Achselhöhlen.

Seine Schlafstelle bestand aus zwei Decken und einem Kissen, die er in einem Matratzenladen gekauft hatte, und einem großen, schweren Pappkarton in Waschmaschinengröße. Die Klimaanlagen summten tagein, tagaus, übertönten Stimmen und Straßenlärm. Doch das reichte nicht. East hielt inne, streckte sich, kniete sich dann neben dem Karton auf den Boden. Sein Loch. Er kippte die Pappe an einer Seite hoch und rückte auf dem Boden darunter die Decken gerade. Er klopf‌te das Kissen aufrecht und legte sein Kleiderbündel an den Fuß der Bettdecke. Dann glitt er darunter und ließ den Karton über sich fallen. Wie ein Reptil, eine Schlange, fand er am meisten Ruhe im Dunkeln. Sogar der Lärm der Klimageräte verschwand. Nichts. Niemand.

Er atmete und wartete.

3

Neben Easts umgedrehtem Karton lag seine Schlafstätte aus Decken und dem Kissen. Seine Schuhe warteten gemeinsam auf der flachen Erde, neben dem alten Kissenbezug voller Klamotten. Durch die Kellerfenster schlichen die ersten Lichtstrahlen, das blasseste Blau.

Er war es nicht gewohnt, die Nacht durchzuschlafen. Lange Zeit hatte er von Mitternacht bis Mittag vor dem Haus Aufsicht geführt. Er reinigte die Zähne mit dem kalten klaren Wasser, das in der Stahlschüssel stand. Er putzte sein Zahnfleisch, die Finger dehnten sein Gesicht zu seltsamen Fratzen. Wieder wusch er sich Arme, Hals und Gesicht. Er ließ die Hosen runter, wusch sich die Schenkel, alles um die Eier herum, und zitterte in der Morgenkälte.

Er überprüf‌te sein Handy – Antonio, Dap, Needle, Sony. Nichts. Das Haus. Er musste zurück und nachsehen. Von dem Bürokomplex waren es zehn Minuten zu Fuß. East überquerte die Hauptstraße, wo die Markisen runtergelassen wurden, Taquerias und Felgenshops, der Randbereich der Wohngegend. Dann hinein, vorbei an den Häusern, wo alles wach wurde, Männer mit Bechern, Taschen und Schlüsseln die Stufen hinunterhüpf‌ten, in Autos sprangen. Jogger und Hundeausführer, alte Frauen, die in ihren Haustüren standen und rauchten.

Ein paar Blocks tiefer im Viertel wurden die Autos älter und waren nicht mehr so dicht an dicht am Bordstein geparkt. Reihenhäuser standen blind da, Türen und Fenster waren mit Sperrholz verbarrikadiert. Zuerst nur ein paar, dann mehr. Dann zwei von dreien. Das waren The Boxes.

Er bog in seine Straße ein. Hier hatte Dap an einem Ende Schmiere gestanden. Doch er hatte nicht angerufen. Needle beobachtete das andere Ende, fünf Blocks weiter. Er hatte zu spät angerufen. Sidney sagte, früher, vor den Handys, sei es besser gewesen: Man wusste, mit wem man Verbindung aufnehmen konnte und mit wem nicht. Man saß nie herum und sorgte sich, warum jemand nicht an sein Handy ging.

Zwei alte grauhaarige Frauen standen tratschend auf dem Rasen vor ihren Häusern. Wenn sie brabbelten, um den Morgen zu bewerten, war East an den meisten Tagen schon seit Stunden da gewesen, und seine Augen und seine Haut hatten sich schon an die Bewegungen des Tages gewöhnt. Doch an diesem Morgen waren sie ihm gegenüber im Vorteil.

Als er sich dem Haus näherte, betrachtete er es von der Seite: die braune Fassade pockennarbig von Kugeln, die oberen Fenster offen wie Augen. Immer noch schien Rauch in der Luft zu hängen. Die Tür war jetzt nur noch eine angeschraubte Sperrholzplatte. Gelbes Polizeiabsperrband sperrte den Vorgarten von einer Seite zur anderen ab.

Er duckte sich darunter durch, um nachzusehen. Stromkabel, Ladekabel, alles von der Veranda verschwunden. Ihm blieb also noch etwa eine Stunde Akku übrig. Na ja, sein Handy würden sie ihm ohnehin wegnehmen. Er sah sich im Vorgarten um, doch der verriet nichts.

Auf einem Stück des Gehwegs waren noch deutlich Blutspuren zu sehen. Er versuchte, nicht hinzuschauen. Das Gesicht des Mädchens aus Jackson war immer noch ganz vorn in seinem Gedächtnis, und er wollte es nicht sehen, weder in seinem Kopf noch sonst irgendwo.

Ein Mann im Anzug ging vorbei. Jeden Tag ging er wortlos vorbei, doch heute nickte er East zu und polterte: »Guten Morgen.«

East nickte zurück.

»Sie haben euch erwischt, stimmt’s, Junge?« Der Mann war gut drauf. »Haben euren Laden dichtgemacht.«

East ignorierte ihn, doch der Mann ließ nicht locker, nach den Ereignissen gestern war er offenbar übermütig geworden. »Du hast einen Kissenbezug, wie ich sehe. Steckt dein ganzes Leben da drin?«

East zuckte die Achseln und ging schneller. Er hätte einen Ast abbrechen und den Mann grün und blau schlagen können, damit er schwieg und weglief. Aber wozu?

Er probierte es mit dem Handy an der frischen Luft, versuchte es bei Dap, bei Needle. Keiner von ihnen ging ran. Er hinterließ barsche Anweisungen: »Ruf mich an.« Doch er hatte seine Leute ausgebildet: Wenn wir abhauen müssen, Finger weg vom Telefon. Jetzt verstieß er selbst gegen diese Regel.

Er musste in neunzig Minuten beim Treffpunkt sein. Zeit für einen Spaziergang und ein Frühstück. Er wählte einen Weg durch den Süden von The Boxes. Vögel und kleine Insekten rührten sich zwischen den Bäumen, summten wie Handys. Drei kleine Mädchen waren früh draußen, malten auf dem Gehweg mit bunter Kreide, so breit wie ihre Handgelenke.

Ein Huster von einer Veranda galt ihm. »Ey, Mann. Ey«, sagte die Stimme.

East schaute auf, blieb dann stehen. Es war ein Mann von vielleicht fünfunddreißig oder vierzig, ein User, der manchmal Easts Haus aufgesucht hatte. Der Mann saß da und trank aus einem hohen Pappbecher.

»Was brauchst du?«, sagte East.

Es war seltsam, was er wusste und was nicht. Er kannte diesen Mann, seine geheimen Stunden. Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal in den Abendstunden aufgetaucht war, mit gutgepflegtem Gesicht, einem dicken goldenen Ring. Dann war er häufiger vorbeigekommen. East erinnerte sich, wie er seine Arbeit verloren hatte und wie sich die Zeit, in der er Drogen nahm, in seinen Gesichtszügen niedergeschlagen hatte, wie er immer dünner geworden war und dass in seinen Augen jetzt dieses Licht glänzte, dieses geniale, schwindende Licht.

Was er nicht wusste, war der Name des Mannes.

»Was machst du jetzt?«, sagte der Mann.

»Gar nichts.«

»Wo soll ich jetzt hin?«, fragte der Mann ungehalten.

East zuckte die Achseln. In seinem Kopf hörte er Fins Worte. Tauchstation. Die Leute müssen sich woanders nach Stoff umsehen. In anderthalb Kilometer Entfernung kannte er ein anderes Haus, das nicht Fin gehörte. Man sprach aber nicht über andere Häuser, die man kannte. Man stellte keine Zusammenhänge her.

Der Mann hustete dreimal und spuckte etwas Großes, Silbriges aus. »Du weißt es nicht? Inakzeptabel, Mann.«

East senkte den Blick und setzte sich wieder in Bewegung.

»Junge, lass mich nicht hängen«, rief die Stimme, folgte ihm.

 

Um acht rief Sidney ihn an und sagte ihm, wohin er gehen sollte. Keine zwei Kilometer entfernt – jenseits des südlichen Endes des Viertels. »Vergiss nicht, für ein paar Tage Klamotten mitzubringen.«

»Hat Fin mir gesagt«, sagte East.

»Na klar hat er das«, spottete Sidney. Dann gab Easts Telefon den Geist auf.

Er kauf‌te einen Donut mit Zuckerglasur, um ihn im Gehen zu essen, pflückte dann eine Orange von einem tiefhängenden Zweig. Er drehte sie beim Gehen in der Hand, eine kleine, schwere Welt. Sie war zwar reif, doch er wartete noch, bis er sie aß.

 

In der Gasse hinter einer Reihe Läden erzählte Michael Wilson East von seinem Wagen. Michael Wilson hatte eine Art aufgemotzten Polizeiwagen mit neuen Lampen unten vorne und hinten und Unterbodenbeleuchtung. Mit einer zweiten Batterie konnte Michael Wilson sein Soundsystem die ganze Nacht lang laufenlassen, so laut wie ein Club, und dennoch den Wagen anlassen und damit wegfahren.