Döner mit Braunkohl und Bier - Axel Klingenberg - E-Book

Döner mit Braunkohl und Bier E-Book

Axel Klingenberg

4,5

Beschreibung

»Braunschweig hat zwei Dinge in Übermaß: Friedhöfe und Parkanlagen. Oft sind sie nicht einmal voneinander zu unterscheiden. Die Friedhöfe sind so schön wie Parks, die Parks so tot wie Friedhöfe. Der Hauptfriedhof an der Helmstedter Straße ist sogar ein Rekordhalter. Es handelt sich dabei um den größten kirchlichen Friedhof Deutschlands. Für eine an Superlativen und Rekorden eher arme Stadt ist das doch schon eine beachtliche Leistung!« Wilhelm Raabe machte sich über Braunschweig lustig, indem er die Stadt als »Bumsdorf« bezeichnete. Axel Klingenberg greift diesen Spott auf und lässt Urmenschen im Zeitraffer zu echten Braunschweigern heranreifen. Am Ende haben sie alles, was sie brauchen: die Eintracht, den Karneval und ein Schloss zum Shoppen. »Eine unterhaltsame, gegen den Strich gebürstete Geschichtsschreibung - ein originelles Portrait von Braunschweig und seinen Bewohnern.« Nordstadt-Nachrichten »Klingenberg und sein neues Buch - er schrieb es aus Liebe.« Braunschweiger Zeitung

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Inhaltsverzeichnis
Döner mit Braunkohl und Bier
Hallo, lieber Naturfreund,
Genöle über Bumsdorf
Endhaltestelle Krematorium
Neues aus der Gerüchteküche
Onkel Heinis Miezekatze
Schönheit liegt im Auge des Betrachters
Friedhof und Lustschloss
Im Wein liegt Wahrheit, im Bier der Glauben
Ein Zug durch die Gemeinde
Erst die Wurst, dann der Durst
’N Döneken
Seit 48 Jahren Deutscher Meister
Die zehn schönsten Eintracht-Niederlagen
Die verbotene Stadt
Die Welfen als Hochleistungsherrscher
Von Feen, Köchen und Terroristen
Jaulende Hunde, singende Herzöge
Blaues Blut mit hohem Alkoholwert
Begraben, vergessen, vertrieben
Eulenspiegelfechtereien
Ungewöhnlicher Übersetzer
Mit ihnen kann man rechnen
Ein Prominenter, den niemand kennt
Kein schöner Land
Würgen in Wolfenbüttel und anderswo
Freundschaft!
Trinkfest und schief gewachsen
Länderspiele
Von Lagerfeuern und Minenfeldern
Wie ich mal ein Hausbesetzer war
Tierisch viel los im Prinzenpark
Vorsicht ist besser als Nachsicht
Es gibt tausend gute Gründe, auf diese Stadt stolz zu sein
Ein anderes Braunschweig ist unwahrscheinlich
Quellen

Döner mit Braunkohl und Bier

Das Braunschweig-Buch

Erweiterte Neuausgabe

von Axel Klingenberg

Verlag Andreas Reiffer

Edition The Punchliner

Umschlaggestaltung: Karsten Weyershausen

Fotos: Andreas Reiffer

Lektorat: Antje Kämpfe, Max Lüthke und Manja Oelze

1. Auflage 2015

© Verlag Andreas Reiffer

ISBN 978-3-945715-32-1 (Ebook), identisch mit der Printversion

Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine

www.verlag-reiffer.de

www.facebook.com/verlagreiffer

Was geht mich Braunschweig noch an? Null.

Aber ich bin da geboren, das werde ich nicht mehr los, ich schlafe ein, wenn ich das Wort nur höre.

Braunschweichrchrchrrr... Axel Hacke

Als Zeichen von Einsicht und Guthmütigkeit müsste es aufzufassen sein, daß in Braunschweig verhältnismäßig früh der letzte Hexenprozeß stattfand, nämlich im Jahre 1663.

Ricarda Huch

Braunschweiger: »Braunschweig, du Kleinod an der Oker!‹

Auswärtiger: »Ach, wo?«

Braunschweiger: »Braunschweig, du Kleinstadt bei Hannover!«

Auswärtiger: »Ach so!«

Frank Niemann

Hallo, lieber Naturfreund,

unauslöschlich in unser aller Hirnwindungen eingespeichert sind die Namen jener großen Helden, die unter Einsatz ihres Lebens (lieber aber dem von anderen) der Natur einige ihrer Geheimnisse entrissen haben: Alexander von Humboldt, Bernhard Grzimek und Gerolf Steiner. In diese Liste muss nunmehr auch Axel Klingenberg aufgenommen werden.

Mit dem hier vorliegenden Buch nimmt er uns mit auf eine Reise in ein mythisches und unerforschtes Gebiet und tilgt einen weiteren weißen Fleck auf der Landkarte. Das Land mit den fruchtbaren Böden, welches im Süden durch Asse, Elm und Harz und im Norden durch die Lüneburger Heide und den Mittellandkanal von der Zivilisation abgeschnitten ist, beheimatet eine bemerkenswerte und in der Fauna Niedersachsens einzigartige Spezies: den Ostfalen.

Axel Klingenberg lebte mehrere Jahre mit den Eingeborenen in ihrer größten Kolonie zusammen, dem sogenannten »Braunschweig«, studierte deren Riten und Gebräuche und schuf so ein faszinierendes Portrait dieser zu Recht vergessenen Kultur.

Eindringlich schildert der Autor seine Erlebnisse und lässt uns durch seine aufdringliche Bildersprache teilhaben an der gesamten Bandbreite seiner Sinneseindrücke, zum Beispiel an seinem körperlichen Unbehagen, wenn er die einheimische Küche untersucht. Sie besteht im Wesentlichen aus einem Tierprodukt namens Brägenwurst, die im eigenen Darm in einer grünen Substanz unbekannter Zusammensetzung gegart wird. Der Wahrheitsfindung zuliebe hat er kein Risiko gescheut und sogar den Balzplatz aufgesucht, die dem gemeinen Ostfalen zur Reproduktion und Arterhaltung dient: das Magnifest. Nicht minder gefährlich war die »teilnehmende Beobachtung« (wie wir Sozialwissenschaftler scherzhaft sagen) an einer eigentümlichen Zeremonie, die »Baaa Aaaaantracht« genannt wird. Der Wert seiner Aufzeichnungen ist kaum zu überschätzen!

Der Semi-Ornithologe Klingenberg musste sich dabei allerlei Tricks einfallen lassen, um von den ostfälischen Untersuchungsobjekten in ihrer Nähe geduldet zu werden. Bei einem Ritus zur Besänftigung der Geisterwelt schreckte er selbst vor dem Tragen einer künstlichen roten Nase nicht zurück und versetzte sich durch das Chanten der Mantras »Brunswiek Helau« und »Ich hab `ne Zwiebel auf dem Kopf, ich bin ein Döner« in einen tranceähnlichen Zustand.

Auch die Begutachtung des archaischen Sklavenmarktes namens »Schlossarkaden«, der dem Braunschweiger die karge Lebensgrundlage sichert, dürfte in ihrer Tollkühnheit einzigartig sein. Und was wäre die Kulturwissenschaft ohne die Beschreibung der Höhle, die dem Ostfalen als Lagerhalle für seine gealterten Verwandten dient, die zum Ertrag des Clans nichts mehr beitragen können: das »Wolters Bierstübchen«?

Schon jetzt darf man gespannt sein auf Klingenbergs neue Forschungsarbeit. Für diese hat er eine künstliche Siedlung errichten lassen, um zu beobachten, ob sich der Ostfale unter Laborbedingungen genauso verhält wie in freier Wildbahn. Der Name des Projektes: »Wolfsburg«.

Zum Schluss noch eine Warnung: Wenn Sie unter einem schwachen Herzen oder unter schönen Fingernägeln leiden, konsultieren Sie vor der Lektüre auf jeden Fall einen Arzt oder Apotheker. Es könnte ihr Leben retten.

Den Wagemutigen aber wünsche ich ein unterhaltsames Abenteuer.

Daniel Terek

Genöle über Bumsdorf

Sie langweilte sich ein klein wenig bei ihrer Milch- und Molkenkur zu Bumsdorf und hatte jetzt zum erstenmal daselbst etwas erlebt, was des Berichtens wert war.

Wilhelm Raabe

Na, da habe ich mich ja auf etwas eingelassen! Es gilt ein Buch zu schreiben über meine Heimatstadt – dabei kann ich doch nur verlieren. Spreche ich zu viel Lob aus, wird man mich des Anbiederns bezichtigen. Bringe ich zu viel Kritik an, so werde ich künftig als Nestbeschmutzer verschrien sein. Die Folge in beiden Fällen: Man wird die Straßenseite wechseln, wenn ich den Bürgersteig entlang schlendere, man wird mir »Hier ist besetzt!« entgegenrufen, gedenke ich, mich im Café Riptide an meinen üblichen Platz zu hocken, und eines Tages wird man mich finden, mit einem Stein am Bein am Grund des Westlichen Okerumflutgrabens.

Doch, so sage ich unumwunden und unerschütterlich, lasse ich mir das wahrhaftige Schreiben nicht verbieten. Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Eine Zensur findet in diesem Buch nicht statt.

Und befinde ich mich damit nicht in bester Tradition und Gesellschaft? Haben nicht schon immer die hier hausenden Autoren ihre Meinung kundgetan über unsere Perle an der Oker, über unseren Staubfänger zwischen Harz und Heide? Ehrlich gesagt weiß ich es nicht, habe keine Ahnung, ob hier überhaupt jemals berühmte Schriftsteller gewohnt und geschrieben haben. Schnell mal recherchiert und tatsächlich ist hier mal der Dichter und Abdecker Gottfried Benn zu Besuch gewesen: »Nette alte Stadt«, schreibt er und das sind auch schon die einzigen freundlichen Worte über Braunschweig, die von ihm überliefert sind, denn dann fährt er folgendermaßen fort in seinem Bericht:

»Wilhelm Raabe (mir äußerst unsympathisch), Wilhelm Busch (auch nicht mein Schwarm), Ina Seidel sind die 3 literarischen Größen Braunschweigs. Ferner hat Eulenspiegel hier gelebt u. war Bäckergeselle. Er hat einen Brunnen da, ein Clown und Eulen u. Affen hören ihm zu. Sonst habe ich nichts gesehen. Alle diese in Norddeutschland gelegenen mittleren Städte sind mir widerlich, unangenehm. Mittelalterlicher Dreck überfallen von modernen ›Anlagen‹, krankhaft, unanständig, zwitterig.«

Nun, das wird ja wohl eine Einzelmeinung sein, die ich da lesen muss, denn auch andere bedeutende Persönlichkeiten haben Braunschweig besucht und sich sicherlich nicht nur ein paar Gebäude und einen Wasserspeicher angeguckt, sondern sich stattdessen den hier lebenden Menschen genähert, denn diese sind es doch, die eine Stadt liebenswert machen:

»So gut die Frauen aussehen, so unrettbar hässlich sind die Männer. Barbarisch verzogene und meist gemeine Gesichtszüge.«

Klingt nicht viel besser, ist aber doch schon etwas ausgewogener, denn immerhin beleidigt der Französling und Erbfeind Stendhal nur ungefähr die Hälfte unserer Bevölkerung.

Trotzdem bleibt ein schaler Beigeschmack, so richtig positiv ist das ja alles noch nicht. Aber das liegt wohl daran, dass diese beiden Eckensteher hier nur durchgereist, wenn nicht sogar durchgerast sind, andere Schriftsteller haben hier länger gelebt und wissen Braunschweig deswegen sicher auch zu schätzen. Der schon erwähnte Wilhelm Raabe (der mit dem Haus und dem Literaturpreis) äußerte sich zum Beispiel dahingehend, dass er »in Stuttgart in wenigen Wochen mehr Schriftsteller kennengelernt« habe »als in Braunschweig in der ganzen Zeit (s)eines Aufenthalts«. Und das waren immerhin ein paar Jahrzehntchen.

Okay, okay, das war ja auch noch nicht so toll, aber jetzt kommt’s: »Ist recht schön,« – na bitte, geht doch, Herr Raabe – »aber nur für jemand, dem es nicht darauf ankommt, so mal für eine unbestimmte Zeit von Jahren vollständig aus der Welt herauszufallen.«

Stopp, stopp, stopp!

Ist denn dieses Genöle wirklich nötig? Hat denn »unser lieber Wilhelm Raabe« Braunschweig nicht 80 Prozent seines Ruhmes zu verdanken? Und wie hat er dies goutiert? Indem er seine Heimatstadt in seinem Roman »Abu Telfan« als »Bumsdorf« diffamiert! Wilhelm Raabe ist ein schlechter Mensch gewesen, lest nicht seine Bücher!

Über Braunschweig hatte er nur dann Gutes zu sagen, wenn er Auswärtige (vor allem Damen!) hierher locken wollte:

»Es ist sehr unrecht von Ihnen, daß Sie nicht zu uns gekommen sind. Wie schön Braunschweig ist, hoffe ich Ihnen demnächst zu beweisen, wenn ich Ihnen den Frühling und den Dräumling schicke. Wie liebenswürdig seine Bewohner sind, kann ich Ihnen leider nicht durch den Inhalt eines Postpaketes beweisen.«

Oder auch:

»Komm Du nach Braunschweig. Da ist und bleibt es schön! Einem Gerücht zufolge wächst eben dem alten Löwen im Stadtwappen zu seinen zwei heraldischen Zageln der dritte, weil zwei ihm zum Wedeln nicht ausreichen.«

Ansonsten schreckte er auch vor scharfen Worten nicht zurück. Unsere Region bezeichnete er zum Beispiel als »der deutschen Barbaren barbarischsten Landstrich«. Auch der Stadtarchivar Ludwig Hänselmann, ein Bekannter Raabes, wusste nicht viel Gutes über Braunschweig kundzutun, auch wenn er sich dabei hinter dem Schriftsteller, Juristen und Politiker Johann Anton Leisewitz zu verschanzen suchte:

»Seine vollbürtigen Kinder, sagte Leisewitz wohl, speisten viel Wurst, tranken viel Mumme, trieben Handel und Wandel, und wegen alles übrigen machten sie sich wenig Gedanken.«

Immerhin ging – wie Hänselmann recht blumig formulierte – über »Braunschweig die Morgenröthe der klassischen Dichtung auf« als »Lessing hier ein häufiger Gast war; als die Jerusalem, Gärtner, Zachariä, die Ebert und Eschenburg das junge Collegium Carolinum zur vollen Höhe seiner ersten Bestimmung erhoben und weiter dann, weit über den Bereich ihres amtlichen Wirkens hinaus, eine Fülle von Anregungen ausstreuten.« Doch, ach, all das nützte ja nichts, denn irgendwann »war der Spiritus« doch wieder »verflogen, das Phlegma geblieben und Braunschweig wieder ungefähr das, was es von Haus aus gewesen – eine Phäakenstadt, sagten die Zierlichen und Milden, ein banausisches Nest die Unumwundenen ...«

Kein Wunder also, dass sich Widerstand regte gegen diese triste Eintönigkeit, und so suchten die braven Braunschweiger nach der Wurzel allen Übels und jagten ihren Herzog im Jahre 1830 wieder einmal zum Teufel. Der Schriftsteller Heinrich Laube weiß davon zu berichten:

»Für die Unterhaltung in Braunschweig war jene Revolution ein eminentes Ereigniß. Denn Braunschweig ist sonst eminent langweilig, die Langeweile geht Arm in Arm mit Regen und Sonnenschein in den uninteressanten Gassen spazieren, die Stadt gefiel mir immer des Abends am besten, wenn ich nicht viel von ihr sah.«

Aber ich greife vor. Bevor man in einer Stadt die herrschenden Verhältnisse umstürzt, sollte man erst einmal klären, wo sie eigentlich liegt. Fragen wir doch einfach August Klingemann:

»Im südlichen Deutschland betrachtet man auch Braunschweig, eben weil es wenig erwähnt wird, gleichsam als einen in Cimmerische Nebel gehüllten Ort, und ich wurde in der Kaiserstadt verschiedendlich ... auf eine naive Weise befragt, ob es nicht in Preußen gelegen sei?«

So ist das eben: Südlich des Mains wird ganz Norddeutschland für Preußen gehalten.

Aber nun ja, wir sind da vielleicht auch nicht besser. Alles hinter Göttingen liegt von hier aus gesehen in Bayern. Und alles östlich von hier gehört zu Sibirien. Außer Blankenburg, das war schließlich mal Teil des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel.

Auch mir selbst gegenüber wurde schon von Auswärtigen vermutet, dass Braunschweig in Hessen liege oder gar – Gott bewahre! – in Ostdeutschland. Ich musste dies empört zurückweisen: Braunschweig läge nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Namensähnlichkeiten seien rein zufällig!

Überhaupt Niedersachsen – das hört sich nicht schön an, ich gebe es zu. Es klingt so peppig wie Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz. Kein Wunder, dass niemand nach Niedersachsen, in das »Land der Ideen« (Eigenwerbung) ziehen will. Diese Abgeschiedenheit hat – dem schon erwähnten Heinrich Laube zufolge – Folgen:

»Man sollte es nicht glauben, daß sich die Provinzen so streng absondern könnten, aber der Braunschweiger scheidet sich wirklich, ein abgeschlossenes Individuum. Der Harz ist die letzte Anstrengung, Deutschland vor dem Meere zu retten; um ihn herum als seine nähern oder fernern Vorposten sind die Braunschweiger gelagert, Hüter der Erde, Vertheidiger des reellen Bodens, Leute, welche fest auf ihren Füßen stehen. Der Braunschweigische Stamm gehört zu den ehernsten in Deutschland: starke Muskel, solider Knochenbau, kalter, zweifelloser Muth, rücksichtslose Grobheit, sie sind das unveräußerliche Eigenthum dieser Guelfen ...«

Ehern, kalt, rücksichtslos grob – sind das eigentlich positive Attribute? Und wenn ja, welche sind dann die negativen? Fragen wir das »Neue Konversationslexikon« von 1867:

»Der Braunschweiger gehört zu einem kräftigen Menschenschlag mit ›ächtdeutschem‹ Gepräge. Volkssprache ist ein breites Plattdeutsch; unter den gebildeten Ständen wird das reinste Hochdeutsch gesprochen. Das Landvolk ist arbeitssam, ›muthig‹, robust, hält auf Treue und Glauben, ist in seinem Ehrgefühl leicht gekränkt, und oft artet diese ehrenhafte Reizung in Prozeßsucht aus. Seine Beharrlichkeit geht bis zum Starrsinn. Des Bauern Gradsinnigkeit erscheint häufig als Grobheit, und der Bauernstolz ist hier noch recht zu Hause. Dabei herrscht aber Gastfreundlichkeit und Gutherzigkeit.«

Starrsinnig, prozesssüchtig und – wieder einmal, dann wird es wohl stimmen – grob. Auffällig ist auch, dass das Wörtchen mutig durch Anführungszeichen gleich wieder eingeschränkt wurde. Der Braunschweiger Schriftsteller und Brunnenvergifter Frank Schäfer unterstellte seinen Mitbürgern ebenfalls niedere Gefühle:

»Wie in anderen vornehmlich agrikulturell strukturierten Regionen, deren Bewohner durch widerborstiges Haar, prognathen Kiefer und fliehende Stirne gezeichnet sind, haben die Menschen einen Hass auf alle, die anders, ja sagen wir ruhig: schöner sind als sie selbst.«

Damit sind wir bei den unwichtigen Äußerlichkeiten angekommen. Der Braunschweiger als solcher soll kein angenehmer Anblick sein, heißt es allerorten (zumindest außerhalb dieser Stadt). Auch Stendhal wusste – wie schon oben angemerkt – nur die hiesigen Frauen zu schätzen: »Sie gehören sogar zu den schönsten, die ich kenne, besonders die Dienstmädchen.«

Das kann ich nur bestätigen (wobei ich nur sehr wenige Dienstmädchen kenne, Frauen im Allgemeinen aber schon). Da ich mit einer in Wolfenbüttel geborenen Dame verheiratet bin, die immerhin seit gut zwanzig Jahren in dieser Stadt lebt, billige ich mir sogar einige Sachkompetenz zu!

Ja, und wenn es so ist, dass die Frauen so schön sind, warum sollten die Männer dann besonders hässlich sein? Und liegt die Schönheit nicht im Auge des Betrachters? Wollte Stendhal, der im Auftrage Napoleons zwecks erbarmungsloser Unterjochung Deutschlands (andere behaupten, um dieses Land gut 1.800 Jahre nach der Varus-Schlacht doch noch zu zivilisieren) einige Jahre an der Oker verbrachte, die Braunschweiger als hässlich ansehen, um sich selbst umso schöner zu fühlen?

Tipp: Vielleicht sollte man sich erst einmal einen Überblick über Braunschweig verschaffen. Und wie macht man das? Genau: Man steigt auf den Turm der St. Andreaskirche. Der misst beinahe stolze 95 Meter, was zugegebenermaßen nicht allzu hoch ist. Für jemanden wie mich, der in keinster Weise schwindelfrei ist, sind dies jedoch gefühlte 9.500 Meter. Höher als der Mount Everest also. Doch es lohnt sich, das Dach der Welt zu besteigen beziehungsweise die Wendeltreppe hinaufzustiefeln, denn der Blick über Braunschweig und die nähere und (bei guter Sicht) weitere Umgebung ist fast so aufregend wie der Aufstieg selbst. Viel Vergnügen und Hals- und Beinbruch!

Endhaltestelle Krematorium

Ich war’s, der zuerst die hochragenden Türme von Braunschweig sah, und ich meine, daß der Matrose da oben auf Christopheri Columbi Schiff nicht so stark geschrien habe: ›Land, Herr Kapitän‹, wie ich schrie: ›Braunschweig, Braunschweig, Vater!‹

Fritz Reuter

Die Braunschweiger als solche sind bescheidene Menschen. Sie haben damit aus der Not eine Tugend gemacht, denn worauf sollten sie auch stolz sein?

Ihre Geschichte gleicht einem Trauerspiel mit Überlänge, war doch das Herzogtum Jahrhunderte lang auf keiner Landkarte zu finden, weshalb es auch nicht erobert werden konnte, bis es die moderne Kartographie endlich zustande brachte, auch derartig winzige Details zu erfassen. Und als inoffizieller Höhepunkt der Geschichte gilt die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Adolf Hitler.

Viele Braunschweiger verlassen deshalb die Stadt, am liebsten in Richtung richtiger Städte (also Berlin oder Hamburg), um dann zumeist nach wenigen Jahren reumütig nach Niedersachsen zurückzukehren – und sich in Hannover anzusiedeln. Dabei ist es auch dort nicht besonders schön, das Elend ist nur größer.

Also noch einmal: Worauf sollten wir Braunschweiger denn nun eigentlich stolz sein?

»Eintracht Braunschweig!«, höre ich da jemanden rufen, und seine zehn Freunde skandieren sogleich »Eintraacht, Eintraacht, Eintraahacht! Eintraacht!«

»Zweite Liga«, antworte ich lakonisch. Der Sprechchor bricht ab.

»Braunschweig Lions«, schlägt ein anderer vor.

Die Fußballfans lachen höhnisch: »Scheiß Ami-Sport.«

»Basketball Löwen?«, meint ein anderer.

»Basketball ist doof«, widerspricht ihm jemand aus den hinteren Reihen und fügt hinzu: »Und du auch!«

»Wie wär’s mit den 89ers?« Ein mutiger Vorstoß einer verschwindend kleinen Minderheit.

»Wir verstehen die Baseball-Regeln nicht!« Das unschlagbare Argument der überwältigenden Mehrheit.

Die Fußballer fühlen sich bestätigt. »Eintraacht, Eintraacht, Eintraahacht! Eintraacht!«, »singen« sie wieder.

»Wolters«, höre ich da jemanden rufen (na ja: lallen).

Dieser Vorschlag wird von der sportiven Liedertafel sogleich begeistert aufgegriffen: »Woolters, Woolters, Wooholters! Woolters!«

»Jägermeister!«, brüllt nun jemand dazwischen.

»Jägermeister«, wiegele ich ab, »kommt aus Wolfenbüttel!«

»Wolfenbüttel ist doch auch Braunschweig«, meint der meisterJäger.

»Ja, aber ...«, versuche ich einen kleinen historischen Exkurs zu beginnen, werde aber unterbrochen.

»Feldschlößchen!«, schlägt ein ganz Mutiger vor.

»Gibt’s nicht mehr, gibt’s nicht mehr!«, triumphiert jemand dazwischen.

Ich versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Gibt’s hier noch was anderes als Sport und Alkohol?«

Schweigen ist die beredte Antwort.

Aber mal im Ernst: Ist das wirklich alles, was Braunschweig auszeichnet? Ein paar Sportvereine und Alkohol-Marken?

Was unterscheidet diese Stadt von anderen Städten?

Genau: ihre Größe respektive ihre Nicht-Größe. »Braunschweig«, sagt der typische Braunschweiger, »ist genau richtig. Nicht zu groß und nicht zu klein.«

Mit anderen Worten: Sie ist groß genug, dass etwas los sein könnte, aber so klein, dass in Wirklichkeit nichts passiert.

Ein Beispiel: Mit meinen Schwestern treffe ich mich alle paar Monate zu einem gemeinsamen Wochenende, um zu schwatzen und zu tratschen und uns gemeinsam sub-, pop- und hochkulturellen Genüssen hinzugeben. Wir wohnen verstreut in verschiedenen Städten Deutschlands. Und der Austragungsort dieser Treffen rotiert regelmäßig.

Beim letzten Mal war Braunschweig dran, und wir sind ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass uns schon was einfallen wird, was man an einem Wochenende in der Oker-Metropole machen kann: Theater, Kabarett, Konzert oder Lesung – irgendwas gibt es ja immer.

Außer an diesem Wochenende:

Kabarett – erst Sonntagabend wieder.

Konzert – fällt leider aus.

Theater – nein, heute nur Ballett (Ballett!).

Lesung – was war das noch gleich?

Also gingen wir ins Kino, konnten uns jedoch nicht auf einen Film einigen, so dass wir uns schließlich entschlossen, einen Horrorschocker anzuschauen, den allerdings niemand wirklich gerne sehen wollte. Mal was ganz anderes eben. Der größte Horror für mich war jedoch, dass sich meine Blutsverwandten weigerten, nach dem Erwerb der Karten das Kinocenter zu verlassen, um im Bossanova noch ein Bier zu trinken. So warteten wir dann anderthalb Stunden im Foyer beziehungsweise im Saal 8 bis der Film endlich anfing. Nach einem halben Dutzend Toter war der Spaß dann auch schon wieder vorbei.

Immerhin gelang es mir an diesem Wochenende noch, sie ins Univiertel zu schleifen, um dort in einem Biergarten in der Nähe des Figurentheater Fadenscheins mehrere Gerstensäfte (Wolters glaube ich) zu verzehren. Immer in Halb-Liter-Gläsern, denn wir waren uns einig: Draußen gibt’s nur Kännchen.

Das Univiertel ist übrigens sehr hübsch. Auch der Botanische Garten hatte erst wenige Minuten vorher seine Pforten geschlossen, so dass wir ihn fast hätten besuchen können, um dort Pflanzen und flanierende Studenten in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Immerhin waren dann später noch einige freilebende Exemplare der angehenden Akademiker auf der Straße auf ihrem Weg zur Futterstelle zu sehen. An ihren kleinkarierten Hemden erkannten wir, dass es sich dabei um ein Rudel E-Techniker handelte. Sie trafen auf einige versprengte Exemplare Maschbauer (großkarierte Hemden), beschnüffelten sich aufgeregt und zogen gemeinsam weiter. Eine Herde Architekten (schwarze Rollkragenpullover) musste vor ihnen auf die andere Straßenseite ausweichen.

Es ist ja immer wieder faszinierend, das Sozialverhalten der Studenten zu beobachten. Sie verlassen das Univiertel nur sehr selten – meist nur zur Balz in den Clubs in der City und um bei Mutti in Peine die Wäsche abzugeben, zum Beispiel klein- oder großkarierte Hemden und Rollkragenpullover. In den gastronomischen Betrieben in der Innenstadt treffen sie dann ihre Kommilitoninnen, meist Pharmazeutinnen und Pädagoginnen, und laden sie zu einem Wolters ein.

Wir Geschwister folgten ihnen jedoch nicht, sondern wendeten unseren Blick gen Osten und wanderten zügig ins dortige Ringgebiet, um das Studio Ost heimzusuchen und danach unser Heim zu suchen.

Auch das ist eine Besonderheit in Braunschweig: Es lohnt sich kaum, Fahrkarten zu kaufen, da innerhalb des Ringes (und knapp darüber hinaus) eigentlich alles ganz gut auf Schusters abgelatschten Rappen zu erreichen ist. Warum es hier deshalb immer noch kein günstiges Kurzstreckenticket gibt, um vielleicht doch noch den einen oder anderen potentiellen Kunden zu überreden, ein realexistierender Kunde zu werden, wird wohl ewig das unergründliche Geheimnis der Verkehrsplanungsverschwörer bleiben.