Dragon Age Band 2: Ruf der Grauen Wächter - David Gaider - E-Book

Dragon Age Band 2: Ruf der Grauen Wächter E-Book

David Gaider

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Beschreibung

Zweihundert Jahre lang waren die Grauen Wächter dazu verdammt, im Exil zu leben. Jetzt hat König Maric den legendären Kriegern die Rückkehr nach Ferelden gestattet. Doch sie bringen eine besorgniserregende Botschaft mit: Einer der ihren ist in die Tiefen Wege entkommen und hat sich mit der Dunklen Brut verbündet. Die Grauen Wächter brauchen nun die Hilfe des Königs, um ein düsteres Geheimnis zu jagen, das nicht nur die Bruderschaft vernichten, sondern das gesamte Königreich Ferelden mit in den Abgrund reißen könnte.

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Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press, L. L. C, durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt. Amerikanische Originalausgabe: "DRAGON AGE: The Calling" by David Gaider published by Tom Doherty Associates, LLC, New York, November 2009. © 2010 by Electronic Arts Inc. EA is a trademark or registered trademark of Electronic Arts Inc. in the United States and/or other countries. All Rights Reserved. Dragon Age, the Dragon Age logo, BioWare, and the BioWare logo are trade- marks or registered trademarks of EA International (Studio and Publishing) Ltd. in the United States, Canada, and other countries. EA is a trademark or registered trademark of Electronic Arts Inc. in the United States and/or other countries. All other trademarks are the property of their respective owners. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publica- tion may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s). Übersetzung: Claudia Kern, Helga Parmiter Lektorat: Andreas Kasprzak Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Cover Art: Ramil Sunga Cover Design: Dean Andersen Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln ISBN 978-3-8332-2094-4www.paninicomics.de/videogame

Danksagungen

Anerkennung gebührt meinen guten Freunden, die mich mit dringend benötigtem Feedback versorgen, mich davon abzuhalten, meine Arbeit zu zerreißen, wenn ich von idiotischer Selbstverachtung überwältigt werde. Ihre Geduld und Nachsicht sind eine Quelle der Stärke, die ich immer zu schätzen weiß. Insbesondere gilt mein Dank meiner Mitverschwörerin Jordan, die in jeder Hinsicht aus mir einen besseren Schriftsteller macht. Ich hoffe, dass ich eines Tages dasselbe für sie tun kann.

Großer Dank geht auch an Danielle und Jay, die mir erlaubt haben, ihre Persönlichkeiten für meine Zwecke gnadenlos zu plündern. Der Schmerz ist gekommen, und er ist unglaublich. Ihr habt es mir wie immer einfacher gemacht.

Zum Schluss noch ein lautes Danke! an BioWare und die Online-Community für ihre beständige Unterstützung. An den Tagen, an denen ich mir nicht frustriert die Haare raufe, bin ich dankbar dafür, den gefühlt besten Job der Welt zu haben.

1

Wenn das Licht fehlt, gedeihen die Schatten

– Lobgesang des Threnodies 8:21

Noch vor weniger als einem Jahr hätte Duncan höchstens mit der Schwertspitze einer Gefängniswache an der Kehle einen Palast von innen gesehen. In Orlais wurde einfachen Straßendieben nicht die Ehre zuteil, direkt vom ortsansässigen Lord verurteilt zu werden. Dort konnte man bestenfalls auf einen gelangweilten Magistrat in einem schäbigen Gerichtssaal hoffen, der sich so weit wie möglich von den glitzernden Wohnsitzen der Aristokraten entfernt befand.

Aber dies war nicht Orlais, und er war nicht länger nur ein Straßendieb. Er befand sich im Königspalast von Denerim, der Hauptstadt Fereldens … und er war nicht sonderlich beeindruckt.

Winterwinde aus dem Süden wehten durch die Stadt. Duncan hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so gefroren. Jeder, der durch die verschneiten Straßen Fereldens stapfte, hüllte sich in dickes Leder und schwere Felle. Doch egal, wie viel Kleidung er trug, er spürte immer noch, wie ihm die Kälte bis in die Knochen drang.

Im Palast war es auch nicht besser. Er hatte wenigstens dort auf etwas Wärme gehofft – auf ein paar mächtige Feuerstellen, in denen Flammen loderten und angenehme Wärme verbreiteten. Aber nein, stattdessen ließ man ihn allein auf einer Bank in einer Halle mit kalten, hohen Steinwänden sitzen. Nach dem schmutzigen Boden zu urteilen, hatten wahrscheinlich Tauben ihre Nester in den Dachsparren gebaut. Dekorationen gab es kaum. Die Fereldaner liebten große, schwere Eichentüren. Außerdem liebten sie Hunde darstellende Holzskulpturen, stinkendes Bier, und sie schienen sogar ihren Schnee zu lieben. Wenigstens hatte er diesen Eindruck gewonnen, seit er einige Tage zuvor angekommen war.

Was sie nicht mochten, waren Orlesianer. Während seiner langen Wartezeit waren eine Handvoll Palastbediensteter und Funktionäre durch die Halle gegangen, und alle hatten ihm Blicke zugeworfen, die von Misstrauen bis hin zu offener Feindseligkeit reichten. Sogar zwei nervös plappernde Elfenmädchen mit schüchternen Augen hatten ihn im Vorbeigehen angestarrt, als mache er sich gerade mit dem Silberbesteck davon.

Sicher, all diese Blicke mussten nichts damit zu tun haben, dass er aus Orlais stammte. Schließlich sah er nicht danach aus. Zum einen wiesen ihn seine dunkle Haut und seine noch dunkleren Haare als Rivaini aus. Die schwarze Lederrüstung, die er trug, war voller Riemen und Schnallen, die sich über seine Arme und Beine erstreckten und nicht zu dem ortsüblichen praktischen Stil passten. Ganz zu schweigen von den beiden Dolchen, die er offen an seinem Gürtel trug. Nichts davon wies ihn als anständigen Menschen aus, jedenfalls nicht nach fereldanischen Maßstäben.

Normalerweise starrte man ihn wegen seiner grauen Tunika an, die mit dem Symbol eines sich aufbäumenden Greifen verziert war. In jedem anderen Land in Thedas hätte dieser Greif für hochgezogene Augenbrauen und nervöse Blicke gesorgt – nur nicht in Ferelden. An diesem Ort war er so gut wie unbekannt.

Duncan seufzte resigniert. Wie lange musste er wohl noch warten?

Schließlich öffnete sich die große Holztür am anderen Ende der Halle, und eine Elfe trat ein. Selbst unter ihresgleichen hätte sie zierlich, sogar beinahe spindeldürr gewirkt. Sie hatte kurze graubraune Haare, große, ausdrucksvolle Augen und sah verärgert aus. Das wunderte Duncan nicht. Sie war Magierin und hatte bestimmt noch mehr Blicke angezogen als er. Nicht, dass sie wie eine Magierin gekleidet gewesen wäre. Sie mied die traditionellen Roben und hatte sie gegen ein fein gewobenes Kettenhemd und einen langen blauen Leinenrock eingetauscht – aber ihren Stab trug sie bei sich. Er war weiß poliert. Am oberen Ende befand sich eine Klaue, die eine silberne Kugel umklammerte. Die Kugel verströmte eine magische Aura. Diesen Stab nahm sie überallhin mit.

Die Elfe durchquerte die Halle und kam auf ihn zu. Das Klappern ihrer Stiefel auf dem Steinboden erzeugte ein leises Echo. Ihre Verärgerung wurde zu Erheiterung, als sie Duncan erreichte.

„Wie ich sehe, bist du ja immer noch hier“, lachte sie.

„Genevieve würde mir die Füße abhacken, wenn ich irgendwo anders hinginge.“

„Ah, armer Duncan.“

„Sei still, Fiona“, schnaubte er. Allerdings war seine Erwiderung alles andere als hitzig. Er war sich ziemlich sicher, dass die Elfe ihm wohlgesonnen war. Nun, zumindest ein wenig. Vielleicht eine Winzigkeit. Sie konnte ihm nur nicht helfen. Er seufzte und sah zu ihr hoch. „Hast du die Kommandantin gesehen?“

Fiona nickte ernst in Richtung der Tür. „Sie verhandelt immer noch mit dem Hauptmann der Stadtwache, und daran bist du schuld.“

„Verhandeln? Das tut sie?“

„Na ja, er verhandelt. Sie starrt ihn an und gibt natürlich keinen Zentimeter nach.“ Fiona betrachtete ihn und zog eine Augenbraue hoch. „Du hast im Grunde noch ziemliches Glück gehabt, weißt du das?“

„Ja, Glück“, seufzte er und ließ sich entmutigt zurück auf die Bank fallen.

Sie warteten einige Minuten. Die Magierin lehnte sich neben ihm auf ihren weißen Stab. Schließlich näherten sich Stimmen hinter der Tür. Sie flog auf, und zwei Menschen kamen heraus. Zuerst eine weißhaarige Frau, eine Kriegerin. Sie trug einen hellen Umhang und eine beeindruckend aussehende Plattenrüstung, die ihren ganzen Körper bedeckte. Ihre Gesichtszüge waren scharf geschnitten und von den vielen Jahren als Befehlshaberin gezeichnet. Ihr Gang zeugte von Selbstbewusstsein und Macht. Er verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete und ihm auch üblicherweise nicht begegnete. Ihr folgte ein dunkelhaariger Mann, dessen prächtige gelbe Robe ihn als den Ersten Verzauberer des Zirkels der Magier auswies, also als höchstrangigen Magier Fereldens. Sein spitzer Kinnbart und der gewachste, aufgedrehte Schnurrbart wiesen ihn als Orlesianer aus. Ungewöhnlich. Duncan nahm an, dass dieser Mann geglaubt hatte, es würde ihm weit vom Imperium entfernt besser ergehen. Dafür hatte er sogar einen hohen Posten in einer Provinz angenommen, die sich erst elf Jahre zuvor von der orlesianischen Herrschaft befreit hatte. Das hatte sich anscheinend gelohnt.

Der Magier setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. Die Kriegerin versuchte, ihn nicht zu beachten.

„Lady Genevieve.“ Er rang nervös die Hände. „Seid Ihr sicher …“

Sie hielt inne und drehte sich um. „Ihr könnt mich Genevieve nennen“, fuhr sie ihn an, „oder Kommandantin. Aber sonst nichts.“

„Verzeiht, Kommandantin“, stellte er richtig. „Seid Ihr sicher, dass das nötig war? Euer Orden sollte König Maric nicht verärgern, schließlich …“

„Wir haben König Maric bereits verärgert.“ Genevieve warf einen vernichtenden Blick in Duncans Richtung, und dieser versuchte, sich hinter Fiona in Deckung zu bringen. „Und unser Orden wird sich vor niemandem verneigen, schon gar nicht vor einem närrischen Hauptmann, der seine Macht völlig überschätzt.“

Sie schnitt weitere Proteste ab, indem sie dorthin marschierte, wo Duncan saß.

Er wich ihrem finsteren Blick aus. „Ich gehe davon aus, dass du zufrieden bist?“, fragte sie herrisch.

„Wenn ich davongekommen wäre, vielleicht.“

„Sei nicht kindisch.“ Genevieve bedeutete ihm aufzustehen, und er leistete zögernd Folge. „Wir sind nicht nach Ferelden gekommen, um uns irgendwelchem Unsinn zu widmen, wie du sehr wohl weißt. Du bist nicht länger der Junge, den ich in Val Royeaux aufgelesen habe. Denk daran.“ Sie nahm sein Kinn trotz ihrer Plattenhandschuhe in die Hand und hob seinen Kopf an, bis er ihr in die Augen sehen musste. In ihrem Blick fand er mühsam gezügelte Wut, die mit Enttäuschung gepaart war. Sein Gesicht brannte vor Scham.

„Ich habe verstanden“, sagte er düster.

„Gut.“ Sie ließ ihn los und wandte sich wieder dem Ersten Verzauberer zu. „Ich gehe davon aus, dass der König bereit ist, uns zu empfangen? Wir müssen nicht noch einmal herkommen?“

„Nein, er wird Euch jetzt empfangen. Kommt.“

Der Magier führte sie hinaus in einen langen, dunklen Flur. Dort war es noch kälter. Der Wind pfiff durch Risse in den Wänden. Duncan war sich sicher, dass er Raureif sah. Sein Atem bildete kleine weiße Wolken. Na großartig, murrte er innerlich. Offensichtlich sind wir hergekommen, um zu erfrieren.

Sie erreichten ein großes Vorzimmer, in dem staubige Stühle standen. Er stellte sich vor, dass zu anderen Zeiten Adlige dort saßen, die auf ihre Audienzen warteten. Als sie eintraten, standen drei Männer und eine Zwergenfrau auf und salutierten. Alle trugen schwarze Umhänge und die gleichen grauen Tuniken wie Duncan. Zwei der Männer waren hochgewachsene Krieger, die genau wie Genevieve eine sperrige Plattenrüstung trugen. Der dritte, ein Bogenschütze, war in Leder gehüllt und hatte eine Kapuze übergezogen. Die Zwergin trug eine einfache Robe unter ihrer Tunika, obwohl sie natürlich keine Magierin war.

Der Erste Verzauberer verlangsamte seine Schritte nur unwesentlich, rauschte an ihnen vorbei und stieß die riesige Flügeltür auf, die in den Thronsaal führte. Genevieve ging hinter ihm her und bedeutete den anderen ungeduldig, ihnen zu folgen.

Der Thronsaal war beeindruckender als der Rest des Palastes. Duncan bemühte sich, nicht mit offenem Mund umherzustarren. Die Kassettendecke des Raums war mindestens dreißig oder vierzig Fuß hoch. Mehrere Hundert Männer konnten sich problemlos gleichzeitig im Saal aufhalten. Auf beiden Seiten befanden sich Emporen. Duncan konnte sich förmlich vorstellen, wie die Würdenträger sich wütend anschrien, während die Menge unten johlte und spottete. Oder war das in Ferelden anders? Waren die Zusammenkünfte dort würdevoll und ruhig? Vielleicht tanzte man aber auch oft bei Hofe, und dies war der Ort, an dem man so fantastische Bälle wie in Orlais gab.

Wohl eher nicht. Der Thronsaal wirkte düster und fühlte sich leer an. Duncan bezweifelte, dass dort viele Versammlungen stattfanden, geschweige denn Bälle. Bildteppiche hingen an den Wänden – die meisten zeigten in düsteren Farben bestickte Kampfszenen aus den Tagen eines längst vergessenen Barbarenkönigs. Eine Wand war fast vollständig von einer riesigen Holzschnitzerei bedeckt. Das Flachrelief darauf zeigte eine Szene, in der ein kaum bekleideter Krieger Kreaturen tötete, die wie Werwölfe aussahen. Duncan fand die Zusammenstellung seltsam.

Der „Thron“ am äußersten Ende des Raumes war ein schwerer Stuhl mit einer hohen, durch eine Hundekopfschnitzerei verzierten Lehne. Auf dem großen Podest, zu dem einige Stufen führten und das von Fackeln umrandet war, wirkte er beinahe klein. Aber man konnte ihn trotzdem nicht verfehlen, denn darauf saß ein Mann. Duncan fragte sich flüchtig, ob das der König sein sollte. Wenn ja, sah er aus wie ein Mann, der schon lange nicht mehr geschlafen hatte. Sein blondes Haar war ungekämmt und seine Kleidung in Duncans Augen wenig königlich – sie bestand aus einem zerknitterten weißen Hemd und schmutzigen Reitstiefeln.

Der dunkelhaarige Mann, der in grauer Rüstung neben ihm stand, sah viel eher wie ein König aus. Er hatte Augen wie ein Falke, wirkte verärgert und beobachtete sie eindringlich.

„Eure Majestät, es ist schön, Euch bei bester Gesundheit vorzufinden“, sagte der Erste Verzauberer Remille, als er endlich das Podest erreichte. Dabei machte er eine übertriebene Verbeugung. Hinter ihm ließ sich Genevieve auf ein Knie fallen, und die anderen taten es ihr nach. Auch Duncan folgte zögernd ihrem Beispiel. Man hatte ihm gesagt, dass sein Orden keiner Nation und keinem König Lehnstreue schuldete, aber scheinbar beugten sie immer noch die Knie, wenn sie Eindruck schinden wollten.

„Ich danke Euch, Erster Verzauberer“, antwortete der blonde Mann auf dem Thron. Dann musste das wohl doch der König sein, nahm Duncan an.

„Also das sind die Grauen Wächter, die ich unbedingt kennenlernen sollte“, sagte er und betrachtete die Anwesenden höchst interessiert.

„Sie sind es, Eure Majestät. Wenn Ihr erlaubt?“

Der König gestikulierte zustimmend. Zufrieden wandte der Magier sich ab und vollführte mit seinen Armen einen weiten Halbkreis, als wollte er etwas Großartiges präsentieren. „Darf ich Euch Genevieve, Kommandantin der Grauen in Orlais vorstellen? Sie war es, die mir von der Notlage des Ordens berichtete. Und so habe ich sie zu Euch gebracht.“

Der Mann verbeugte sich erneut und zog sich bis dahin zurück, wo Genevieve stand. Ihr weißes Haar glänzte im Fackellicht. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Brustpanzer zu richten, und trat dann mit verbissenem Gesichtsausdruck vor. „Bitte entschuldigt die Verspätung, König Maric. Es lag nicht in unserer Absicht, Euch zu erzürnen.“

Der Mann in der grauen Rüstung schnaubte verächtlich. „Ihr Grauen Wächter scheint euch in Ferelden trotz bester Absichten immer wieder Ärger einzuhandeln.“

Genevieves Ausdruck veränderte sich nicht im Geringsten, aber Duncan bemerkte, wie sich ihr Rücken versteifte. Sie war sehr stolz auf die Ehre des Ordens und konnte unter normalen Umständen schon sehr kratzbürstig sein. Der Freund des Königs wäre gut beraten, seine Worte etwas vorsichtiger zu wählen, dachte Duncan.

Der König wirkte leicht verlegen. Er wedelte mit einer Hand in Richtung des Mannes an seiner Seite und lachte leise. „Das ist Teyrn Loghain von Gwaren, obwohl ich nicht weiß, ob Ihr von ihm in Orlais bereits gehört habt.“

Sie nickte höflich. „Der Held des Dane-Flusses. Ja, wir haben es alle vernommen.“

„Hast du das gehört?“ zog König Maric seinen Freund auf. „Wie es scheint, hast du im Imperium einen Ruf erlangt. Das sollte dich glücklich stimmen.“

„Ich bin hingerissen“, erwiderte Loghain trocken.

„Falls der Teyrn auf das Exil unseres Ordens vor zwei Jahrhunderten anspielt“, begann Genevieve, „so kann ich eine Erklärung anbieten.“

Loghain sah sie an. „Natürlich könnt Ihr das.“

Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass Duncan sah, wie sich die Sehnen in ihrem Hals spannten. Es folgte eine lange, ungemütliche Stille. Nur das Knistern der Fackeln hinter dem Thron war zu hören.

Der Erste Verzauberer stellte sich vor sie und gab beschwichtigende Geräusche von sich. „Es gibt doch sicherlich keinen Grund, über etwas zu diskutieren, das so lange zurückliegt, nicht wahr? Was der Anführer der Grauen Wächter damals getan hat, muss keine Auswirkungen auf heute haben!“

Er sah flehentlich zu König Maric.

Der König nickte, obwohl er nicht sehr zufrieden wirkte. Duncan konnte nicht beurteilen, ob das mit der Verärgerung des Teyrn über Genevieves Antwort zusammenhing.

„Das ist richtig“, murmelte er.

„Ich würde gern über etwas sprechen, das viel näher liegt“, brummte Loghain. „Warum habt Ihr uns warten lassen? Wenn ich mir so viel Mühe gegeben hätte, um eine Privataudienz bei König Maric gewährt zu bekommen, dann würde ich mich nach Kräften bemühen, ihn nicht zu verärgern. Insbesondere, wenn ich ihn um einen Gefallen bitten möchte.“

Der König zuckte mit den Schultern. „Sie haben noch nicht um etwas gebeten, Loghain.“

„Das werden sie aber. Warum gab es sonst diese förmliche Einführung? Warum sonst diese Vorstellung?“

„Da ist was dran.“

Genevieve wirkte gequält, während sie nach einer geeigneten Antwort suchte. „Einer meiner Leute hat ein Verbrechen in Eurer Stadt verübt, König Maric“, stellte sie schließlich fest. „Ich musste mich dieser Angelegenheit widmen, bevor sie außer Kontrolle geraten konnte.“

Duncan gefror vor Angst das Blut in den Adern. Jetzt kommt’s, dachte er.

Loghain setzte zu einer ärgerlichen Antwort an, aber der König schnitt ihm das Wort ab: „Ein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?“

Genevieve seufzte tief. Sie drehte sich um und bedeutete Duncan vorzutreten. Ihre Blicke durchbohrten ihn. Wage es nicht, jetzt aus der Reihe zu tanzen, sagten ihre Augen, sonst werde ich den Rest deines Lebens in einen einzigen Albtraum verwandeln. Er schluckte und eilte rasch an ihre Seite.

„Dieser junge Mann ist Duncan“, erklärte sie. „Er wurde vor einigen Monaten direkt von den Straßen Val Royeauxs in unseren Orden rekrutiert. Ich fürchte, er hat versucht, auf Eurem Marktplatz seinem früheren Gewerbe nachzugehen, und als Eure Wachen ihn fortjagten, hat er sich auf einen Kampf mit einem der Männer eingelassen. Der Soldat wurde verletzt, lebt aber.“

„Ich hätte ihn töten können“, warf Duncan zu seiner Verteidigung ein. Als er Genevieves Empörung bemerkte, verbeugte er sich schnell und nervös vor dem König. „Aber das habe ich nicht! Ich hätte es tun können, aber ich tat es nicht! Das meinte ich, ähm … Eure Hoheit. Mylord.“

„Eure Majestät“, korrigierte Loghain ihn.

„Meine Wachen sind manchmal etwas übereifrig“, erklärte der König liebenswürdig. Es dauerte einen Moment, bis Duncan klar wurde, dass er mit ihm sprach und nicht mit Genevieve. „Loghain ist wild entschlossen, Denerim zur ordentlichsten Stadt im Süden zu machen. In Wahrheit denke ich, dass er die Kriminellen nur in den Untergrund treibt.“

„Ich würde auch in Versuchung geraten, dorthin zu gehen“, witzelte Duncan und verstummte schnell, als Genevieve die Hände in den Plattenhandschuhen zu Fäusten ballte und er das leise Knirschen von Metall hörte. Er versuchte demütig auszusehen.

„Er hat viele Fähigkeiten, König Maric“, warf Genevieve ein. „Ich bin aber davon überzeugt, dass der junge Mann denkt, wir entbinden ihn von seinen Pflichten, wenn er sich schlecht benimmt. Er irrt sich.“

Der König schien von dem Gedanken fasziniert. „Bist du nicht gern ein Grauer Wächter?“, fragte er.

Duncan war nicht sicher, was er antworten sollte. Er war überrascht, dass der König ihn wieder direkt ansprach. Selbst der niederste Baron in Orlais hätte sich eher mit Öl übergossen und angezündet, als sich dabei erwischen zu lassen, einen Bauern auch nur wahrzunehmen. Vielleicht konnte dieser König nicht erkennen, dass er zu den Gewöhnlichen gehörte, weil sie alle Graue Wächter waren. Er nahm an, dass er sich geschmeichelt fühlen sollte. Allerdings war er sich nicht sicher, ob diese Aufmerksamkeit unbedingt etwas Gutes darstellte.

Genevieve hielt ihren Blick auf den König gerichtet und wahrte einen betont neutralen Gesichtsausdruck. Also verlagerte Duncan sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und sagte nichts, obwohl der König ihn neugierig anstarrte und auf eine Antwort wartete. Konnte er nicht jemand anders befragen? Irgendwen? Schließlich räusperte sich Teyrn Loghain.

„Vielleicht sollten wir uns der Frage widmen, warum sie hier sind, Maric.“

„Es sei denn, der König wünscht, dass der Junge verhaftet wird“, sagte Genevieve in vollem Ernst. „Wir sind in Eurem Land, und wir müssen uns den Gesetzen unterwerfen. Die Grauen Wächter werden sich Euren Wünschen beugen.“

Duncan schlug das Herz bis zum Hals, aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. „Nein, ich glaube, das ist nicht nötig. Die Zellen in Fort Drakon sind ohnehin schon überfüllt.“

Loghain biss sich auf die Zunge, sagte aber nichts. Duncan verbeugte sich einige Male und wich zurück, bis er wieder neben den anderen Grauen Wächtern stand. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.

Genevieve nickte würdevoll. „Ich danke Euch, König Maric.“

„Mich interessiert viel mehr, warum Ihr hier seid.“

Sie machte eine Pause und presste ihre Hände nachdenklich zusammen. Diese Geste kannte Duncan. Sie versucht zu entscheiden, wie viel sie ihm erzählen soll. Er wusste auch, wie ihre Antwort aussehen würde. Die Grauen Wächter hatten viele Geheimnisse und sagten nie mehr, als absolut notwendig war. Das hatte er sehr schnell herausgefunden.

„Einer der Unsrigen wurde von den Darkspawn, die wir auch die Dunkle Brut nennen, gefangen genommen“, sagte Genevieve langsam. „Hier in Ferelden. Innerhalb der Tiefen Straßen.“

„Und?“ Loghain runzelte die Stirn. „Was haben wir damit zu tun?“

Sie schien nur widerwillig fortzufahren. „Dieser Graue Wächter … kennt den Aufenthaltsort der Alten Götter.“

Der König und Teyrn Loghain starrten sie fassungslos an. Die Luft in dem Raum war plötzlich von Spannung erfüllt und zum Schneiden dick. Niemand sagte etwas. Der Erste Verzauberer trat vor und zupfte ängstlich an seinem aufgedrehten Schnurrbart. „Nun wisst Ihr, Mylords, warum ich diese Angelegenheit als äußerst heikel erachte. Wenn die Dunkle Brut wirklich den Aufenthaltsort eines Alten Gottes in Erfahrung bringen könnte …“

„… würde eine Verderbnis ihren Lauf nehmen“, beendete Genevieve den Satz.

König Maric nickte ernst, aber Loghain schüttelte ärgerlich den Kopf. „Glaub das doch nicht.“ Er wirkte finster. „Es hat seit Jahrhunderten keine Verderbnis mehr gegeben. Wir sehen kaum noch Dunkle Brut an der Oberfläche und schon gar keine Invasion in großem Stil. Sie versuchen nur, uns Angst zu machen – nichts weiter. Dieser Orden hat seit der letzten Verderbnis immer mehr an Bedeutung verloren und würde alles tun, um die Welt von seiner Daseinsberechtigung zu überzeugen.“

„Ich versichere Euch, dass es wahr ist!“, rief Genevieve. Sie ging zum Thron und fiel vor dem König auf ein Knie. „Nur wenige Graue Wächter wissen davon, Eure Majestät. Wenn die Dunkle Brut irgendwie davon Kenntnis erlangt hat, dass er einer dieser Wächter ist und ihm die Information entreißt, wird es zu einer neuen Verderbnis an die Oberfläche kommen. Und zwar hier in Ferelden.“

„Seid Ihr sicher?“, hauchte der König.

Sie sah ihn eindringlich an. „Ihr habt doch die Dunkle Brut mit eigenen Augen gesehen, Mylord, oder nicht? Ihr wisst, dass sie keine reine Legende ist. Wir sind es auch nicht.“

Ihre Worte hingen in der Luft. König Maric wurde sichtlich blass. Duncan konnte an dem entsetzten Ausdruck des Mannes ablesen, dass Genevieve recht hatte. Er hatte die Dunkle Brut selbst gesehen. Nur jemand, dem das widerfahren war, würde so reagieren. Der König rieb gedankenverloren sein Kinn. „Ich soll Euch also erlauben, in Ferelden nach dem vermissten Grauen Wächter zu suchen?“

„Nein.“

Der König und Loghain schauten sich verblüfft an.

„Was wollt Ihr dann?“, fragte Loghain.

Genevieve erhob sich und trat einen Schritt vom Thron zurück. „Wenn wir nur suchen müssten, hätten wir die Tiefen Straßen von Orzammar her betreten, und Ihr hättet nichts davon bemerkt. Euer Reich, König Maric, umfasst nur die Oberfläche, wie Euch sicher bewusst ist.“

Loghain schien widersprechen zu wollen, aber Maric hob eine Hand. „Schon gut“, sagte er.

„Wir wissen recht genau, wo wir nach unserem vermissten Kameraden suchen müssen. Wir wissen nur nicht, wie wir dorthin gelangen. Wir glauben, dass Ihr die beiden einzigen lebenden Personen seid, die das wissen.“

„Deutet Ihr das an, was ich denke?“, fragte Loghain ungläubig.

„Vor vierzehn Jahren habt Ihr die Tiefen Straßen bereist“, erklärte Genevieve. „Ihr seid einer Einheit der Legion der Toten begegnet, die von Nalthur aus dem Haus Kanarek angeführt wurde und die Euch bei Eurem Aufstand gegen Orlais geholfen hat. Dies wissen wir, weil Ihr es König Endrin während Eures Besuchs in Orzammar vor drei Jahren erzählt habt und es in die Geschichtsschreibung der Zwerge aufgenommen wurde.“

Der König nickte. „Alles, was Ihr sagt, entspricht der Wahrheit.“

„Ihr habt die Tiefen Straßen unter Ost-Ferelden bereist, die seit über einem Jahrhundert nicht einmal die Zwerge betreten haben, und seid trotzdem noch gesund und munter.“ Genevieve seufzte. „Ihr seid die Einzigen, die in Ortan-Thaig waren und noch leben. Dorthin müssen wir.“

Für einige Minuten breitete sich Stille im Thronsaal aus. Duncan hörte das Scharren der Grauen Wächter hinter sich, die immer noch auf einem Knie verharrten. Er warf Fiona einen kurzen Blick zu, aber die Elfenmagierin weigerte sich, in seine Richtung zu sehen. Sie war zweifellos froh darüber, im Hintergrund zu bleiben. Er wünschte, er hätte dasselbe tun können.

Der Erste Verzauberer ballte und löste seine Fäuste im Wechsel. Trotz der kalten Luft bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Genevieve wartete geduldig, während die beiden Männer auf dem Podest das von ihr Gesagte verarbeiteten.

„Die Zwerge werden doch sicherlich Karten haben …“, setzte König Maric an.

„Unzureichende.“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Tiefen Straßen haben sich verändert, und möglicherweise müssen wir noch über Ortan-Thaig hinausreisen. Wir brauchen einen Führer, jemanden, der bereits dort gewesen ist.“ Sie wandte sich an Teyrn Loghain. „Wir hatten gehofft, um Eure Unterstützung bitten zu dürfen, Euer Gnaden. Ihr seid als hervorragender Krieger bekannt und nicht …“

„Kommt nicht infrage“, unterbrach sie Loghain.

„Versteht Ihr nicht, wie wichtig das ist?“

„Ich verstehe, wie wichtig Ihr das nehmt oder wenigstens, dass Ihr uns glauben machen wollt, es sei wichtig.“ Er wedelte abfällig mit der Hand. „Wer weiß, was Ihr wirklich im Schilde führt? Wäre es nicht großartig, wenn der Held des Dane-Flusses an einem Ort, an dem sein Tod vielfältige Ursachen haben könnte, plötzlich von Orlesianern umzingelt wäre?“

„Seid kein Narr!“ Genevieve stürmte ein paar Schritte auf ihn zu. Duncan wartete angespannt darauf, dass Wachen aus ihren Verstecken sprangen und angriffen, bevor sie den Teyrn erreichte, aber nichts geschah. Er fragte sich, wie viele Regenten auf der Welt so einfach einer Privataudienz mit einer Gruppe bewaffneter Grauer Wächter zugestimmt hätten. Nicht viele wahrscheinlich. Dennoch, die Männer auf dem Podest reagierten auf Genevieves plötzlichen Vorstoß eher erbost als alarmiert. „Wir bitten nicht leichtfertig um diese Dinge! Wisst Ihr denn nicht, was eine Verderbnis für dieses Land bedeuten würde?“

Loghain rührte sich nicht. Seine blassblauen Augen zwangen sie, ihren Blick zu senken. „Wir können Euch eine Wegbeschreibung anbieten, wenn Ihr das möchtet. Ihr werdet das Thaig auf die gleiche Weise finden wie wir damals, und es wird zweifellos immer noch von Unmengen riesiger Spinnen befallen sein. Ich schlage vor, dass Ihr Feuer mitnehmt.“

„Wir brauchen mehr als nur eine Wegbeschreibung! Es ist dringend!“

„Maric und ich waren vor vielen Jahren kurz dort.“ Die Verachtung in Loghains Stimme war nicht zu überhören. „An was sollen wir uns denn da noch erinnern, närrisches Weib?“

„An irgendetwas!“, sagte sie beharrlich. „Alles hilft!“

„Ich werde gehen“, verkündete der König mit leiser Stimme.

Es dauerte einen Moment, bis alle seine Worte vernommen hatten. Loghain hatte Genevieve scharf widersprechen wollen, stockte jedoch. Er drehte sich langsam um und starrte König Maric verwirrt an. „Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, dass ich gehen werde.“ Den König schien seine eigene Ankündigung zu verblüffen, als wären die Worte ungewollt über seine Lippen gekommen. „Ich werde es tun. Ich werde sie führen.“

Es wurde still im Thronsaal. Duncan hustete nervös und warf Fiona, die neben ihm kniete, einen Blick zu. Sie sah so fassungslos aus, wie er sich fühlte, und zuckte als Antwort auf seine unausgesprochene Frage mit den Schultern. Sie wusste auch nicht, warum der König plötzlich zustimmte. Die ganze Situation war grotesk. Der Erste Verzauberer stand wie angewurzelt da. Sein Gesicht war vor Unbehagen verzerrt.

„Das wirst du nicht tun!“ Loghain verlor die Fassung. Duncan glaubte, er würde sein Schwert ziehen. Gegen seinen König? In Ferelden war scheinbar vieles anders.

Genevieve trat entsetzt einen Schritt vor. „Wir können Euch nicht einem solchen Risiko aussetzen! Ihr seid der König Fereldens, und das, worum wir bitten, ist gefährlich.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Loghain zu. „Niemand sollte sein Leben für einen so törichten Plan riskieren. Nein, es ist nicht mal ein ‚Plan‘! Es ist eine schwache Hoffnung, die sich auf … was genau gründet? Wie könnt Ihr überhaupt sicher sein, dass dieser Graue Wächter noch lebt?“

Sie knirschte mit den Zähnen und richtete ihren Blick geflissentlich auf den König. „Wir sind sicher.“

„Warum? Was verschweigt ihr uns?“

König Maric erhob sich von seinem Thron und schnitt beiden das Wort ab. „Ich werde gehen“, stellte er nachdrücklich fest. „Ich werde sie hinunter nach Ortan Thaig bringen. Ich glaube, ich weiß den Weg noch.“

Teyrn Loghain starrte den König vorwurfsvoll an. Es war offensichtlich, dass er noch reichlich hitzige Einwände hatte, aber er wollte sie nicht länger vor Publikum anbringen. So wie Maric Loghains Blick erwiderte, würde es wohl noch Streit geben, dachte Duncan. Er erkannte, dass Loghain mehr als nur ein Berater war. Er wirkte fast wie ein Bruder des Königs. Oder sein Aufpasser.

Genevieve wusste scheinbar nicht mehr, was sie tun sollte, und zog sich mit einer tiefen Verbeugung zurück. Duncan konnte ihre Verwirrung nachvollziehen. Er war der Ansicht gewesen, es sei schon verwegen genug, den Helden des Dane-Flusses um Begleitung zu bitten, aber diese Wendung war haarsträubend.

Der König würde seine Meinung sicherlich bald ändern, und man würde den Grauen Wächtern sagen, dass sie allein zurechtkommen mussten. Vielleicht würde man sie sogar wieder aus Ferelden hinauswerfen, wer wusste das schon. Duncan war sich nicht einmal sicher, ob das so schlecht wäre. Der Gedanke, nicht in die Tiefen Straßen zu reisen und sich dort mit grässlichen Wesen wie der Dunklen Brut herumschlagen zu müssen, hatte durchaus seinen Reiz.

Der Erste Verzauberer schlich zum Thron und streckte flehentlich die Hände aus. „Sind Seine Majestät sicher, dass dies weise ist? Wäre nicht der Teyrn eine bessere Wahl für …“

„Nein“, schnitt der König ihm das Wort ab. „Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

Er setzte sich wieder auf den Thron Seinen Blick richtete er auf Genevieve. Loghain sah er nicht an. „Ich werde mich in Kürze mit Euch in Verbindung setzen, Kommandantin, um die Vorbereitungen zu treffen. Bis dahin würde ich gerne mit dem Teyrn allein sein.“

Der Erste Verzauberer sah aus, als wollte er etwas sagen, aber Genevieve schüttelte den Kopf. Sie verbeugte sich würdevoll vor dem Thron, drehte sich um und ging. Duncan und die anderen folgten ihr. Die beiden Männer auf dem Podest bemerkten es kaum.

Als die Tür geschlossen wurde, lehnte Maric sich auf seinem Thron zurück und wartete auf die unvermeidlichen Anschuldigungen Loghains. Jedes Mal, wenn Maric ihn sah, trug er diese schwere graue Rüstung. Er hatte sie dem Kommandanten der Ritter in der Schlacht am Dane-Fluss abgenommen. Sie war eine Kriegstrophäe, die er Jahre später in Denerim bei der Siegesparade getragen hatte. Die Menschen hatten ihn dafür bewundert, während sich Maric eher heimlich darüber amüsiert hatte.

Das Amüsement hatte sich im Laufe der Jahre gelegt. Zunächst hatten Loghain, Maric und Rowan unermüdlich daran gearbeitet, Ferelden nach dem Krieg wiederaufzubauen. Es gab so viel zu tun – nach dem Rückzug der Orlesianer mussten viele Probleme bewältigt werden. Manchmal schienen sie nicht genug Zeit für alle Aufgaben zu haben.

Es war eine atemberaubende Zeit, auf vielfältige Weise aufregend. Harte Entscheidungen mussten getroffen werden, und Maric traf sie. Jede hatte ihm ein Stück seiner Seele geraubt, aber er traf sie. Ferelden wurde wieder stark, genau, wie sie es immer gewollt hatten. Loghain war ein Held; Rowan und Maric waren Legenden. Als Rowan ihm einen Sohn schenkte, hatte Maric sogar auf ein wenig Familienglück gehofft.

Doch dann starb sie, und alles hatte sich verändert.

Loghain starrte Maric an, als ob er nicht wüsste, wen er vor sich hatte. Plötzlich zog er sein Schwert und zeigte damit auf dessen Brust.

„Hier, bitte“, bot er höflich an.

„Ich habe mein eigenes Schwert, danke.“

„Du sollst es nicht nehmen. Du sollst dich hineinwerfen, darauf scheinst du ja geradezu erpicht zu sein.“

Maric zwickte sich in den Nasenrücken und seufzte. Früher hatte Loghain keine dramatische Ader gehabt. Scheinbar hatte er sie im Laufe der Jahre entwickelt. „Vielleicht möchtest du dich selber stattdessen hineinwerfen?“

„Ich versuche nicht, mich umzubringen, du schon.“ Loghain wirkte düster, beinahe verletzt. „So würde es schneller und einfacher gehen. Wenigstens hätten wir auf die Art eine Leiche, die wir verbrennen könnten. Und ich müsste deinem Sohn nicht erklären, warum sein Vater sich auf eine irrsinnige Mission ohne Wiederkehr begeben hat.“

„Die Dunkle Brut ist Wirklichkeit, Loghain. Was, wenn die Grauen Wächter die Wahrheit sagen?“

„Und was, wenn nicht?“ Loghain ging zum Thron, legte seine Hände auf die Armlehnen und beugte sich hinunter, bis er Maric direkt ins Gesicht sah. „Selbst wenn du die Tatsache, dass sie aus Orlais stammen, als bedeutungslos ansiehst“, sagte er flehentlich, „so muss dir doch bewusst sein, dass die Grauen Wächter immer ihre eigenen Pläne verfolgen. Sie dienen keiner Nation und keinem König. Sie werden sich dieser Bedrohung so entgegenstellen, wie sie es für richtig halten und dabei keine Rücksicht auf dich, Ferelden oder irgendetwas anderes nehmen!“

Das war nicht von der Hand zu weisen. Vor zwei Jahrhunderten hatten die Grauen Wächter sich an einer Verschwörung beteiligt, deren Ziel es war, den fereldanischen König zu stürzen. Der Putsch scheiterte, und der Orden wurde des Landes verwiesen, aber nur wenige wussten, dass es der gesamten fereldanischen Armee bedurft hatte, um ihn hinauszudrängen. Tausende Männer standen gegen weniger als einhundert; trotzdem hätten die Wächter fast gewonnen. Man durfte sie nicht unterschätzen, egal, wie viele – oder wenige – es waren.

„Darum geht es nicht“, murmelte Maric.

„Worum denn dann? Um Rowans Tod?“ Loghain stand auf, ging ein paar Schritte und schüttelte den Kopf. „Seit ich zurückgekehrt bin, bist du so. Du siehst deinen Sohn nur selten, du rührst kaum einen Finger, um das Land, das du aus Ruinen wieder aufgebaut hast, zu regieren. Zunächst habe ich das deiner Trauer zugeschrieben, aber inzwischen sind zwei Jahre vergangen. Es scheint, als ob du am liebsten verschwinden würdest.“ Er drehte sich um. In seinen Augen stand so tiefe Besorgnis, dass Maric den Blick nicht erwidern konnte. „Willst du das wirklich? Ist dir der Wahnsinn dieses Plans egal?“

Maric legte die Fingerspitzen aneinander und dachte nach. Er hatte es Loghain nicht sagen wollen, aber scheinbar hatte er keine andere Wahl. „Erinnerst du dich noch an die Hexe, die wir in der Korcari-Wildnis getroffen haben?“, begann er. „Während des Aufstands, als wir vor den Orlesianern flohen?“

Loghain wirkte verdutzt, als ob er keine vernünftige Erklärung erwartet hätte. Er zögerte kurz. „Ja. Die Verrückte, die uns beide fast getötet hätte. Was ist mit ihr?“

„Sie hat mir etwas verraten.“

Loghain sah ihn erwartungsvoll an. „Und? Sie hat viel erzählt, Maric.“

„Sie sagte mir, dass eine Verderbnis nach Ferelden kommen würde.“

Er nickte langsam. „Aha. Sagte sie auch, wann?“

„Nur, dass ich sie nicht mehr erleben würde.“

Loghain verdrehte die Augen, ging einen Schritt weiter und strich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar. Es war eine Geste der Erschöpfung, die Maric sehr gut kannte. „Das ist eine Vorhersage, die beinahe jeder machen könnte, ohne widerlegt werden zu können. Sie hat zweifellos nur versucht, dir Angst zu machen.“

„Das ist ihr gelungen.“

Loghain drehte sich um und sah Maric verächtlich an. „Hat sie dir nicht auch gesagt, dass man mir nicht trauen könne? Glaubst du das jetzt etwa auch?“

Er wirkte angespannt. Maric wusste, warum. Die Hexe hatte über Loghain gesagt: „Behalte ihn bei dir, und er wird dich verraten, immer wieder. Und jedes Mal wird es ein größerer Verrat als der vorherige sein.“ Das war die einzige ihrer Behauptungen, die Loghain kannte, und offensichtlich erinnerte er sich gut daran. Vielleicht dachte er, dass Maric nicht nur an die eine, sondern auch an die andere glaubte. Doch Loghain hatte ihn, soweit er wusste, nie verraten. Das musste er bedenken.

„Glaubst du, dass es ein Zufall ist?“, fragte Maric plötzlich verunsichert.

„Ich glaube, dass diese Hexe ihre eigenen Ziele verfolgte und gelogen hätte, um sie zu erreichen. Man kann Magie nicht über den Weg trauen, Maric.“ Loghain schloss die Augen und seufzte, so als wisse er, wie verrückt seine nächsten Worte klingen würden. Doch als er sie wieder öffnete, sprach er sie voller Überzeugung aus. „Aber wenn du wirklich glaubst, dass die Warnung der Hexe begründet ist, dann lass mich an deiner Stelle in die Tiefen Straßen reisen. Cailan braucht seinen Vater.“

„Cailan braucht seine Mutter.“ Marics Stimme klang sogar in seinen Ohren hohl. „Und er braucht einen Vater, der nicht … Ich habe keinen Nutzen für ihn, Loghain. Ich habe für niemanden hier noch einen Nutzen. Es wäre besser, wenn ich da draußen wäre, um meinem Königreich zu helfen.“

„Du bist ein Idiot.“

Maric beachtete ihn nicht. „Du allerdings musst bleiben. Pass auf Cailan auf. Sollte mir etwas zustoßen, musst du als sein Reichsverweser das Königreich zusammenhalten.“

Loghain schüttelte frustriert den Kopf. „Das kann ich nicht. Selbst wenn ich an diese mysteriöse Warnung glaubte, könnte ich dich nicht den Orlesianern überlassen. Nicht ohne eine Armee.“

Maric seufzte und lehnte sich auf seinem Thron zurück. Er kannte diesen Tonfall. Wenn Loghain glaubte, recht zu haben, konnte man ihn nicht davon abbringen. Er würde eher die Wachen herbeirufen und versuchen, Maric in den Kerker sperren zu lassen, als zuzusehen, wie er sein Vorhaben durchführte.

Für Loghain waren die Grauen Wächter Orlesianer. Der Erste Verzauberer war Orlesianer. Da musste doch eine Verschwörung dahinterstecken – nicht, dass es die erste gewesen wäre. Es hatte im Laufe der Jahre diverse Mordkomplotte gegeben und obendrein einige Putschversuche unzufriedener Banns. Obwohl Loghain nie beweisen konnte, dass das Imperium dahintersteckte, schenkte Maric seinen Theorien durchaus Glauben. Vielleicht hatte er auch diesmal recht.

Aber was, wenn es nicht so war? Die Hexe war verrückt, das war so gut wie sicher, aber Maric dachte trotzdem immer noch an ihre Worte. Sie hatte ihnen das Leben gerettet und sie zu dem Pfad gebracht, der aus der Korcari-Wildnis herausführte. Sonst wären sie gestorben. Beinahe hätte er die Warnung vor der Verderbnis vergessen, aber als der Erste Verzauberer Remille ihm die Bitte der Wächter um eine Audienz antrug, war sie ihm wieder eingefallen.

Der Gedanke an eine Verderbnis in Ferelden war beinahe unerträglich. Die alten Geschichten erzählten von riesigen Schwärmen der Dunklen Brut, die an die Oberfläche drängten, den Himmel verdunkelten und die Erde um sie herum vergifteten. Durch ihre Anwesenheit verbreiteten sie eine Seuche, und die, die nicht an ihr starben, wurden von den Armeen der Brut vernichtet. Bei jeder Verderbnis war Thedas fast zerstört worden. Das wussten die Grauen Wächter besser als alle anderen.

Um eine solche Katastrophe abzuwenden, musste man alles riskieren. Loghain sah das anders, aber Maric war davon überzeugt. Was, wenn die Hexe recht hatte? Was, wenn ihre Prophezeiung die Möglichkeit eröffnete, die Verderbnis zu verhindern?

„Du hast recht“, gab er mit einem tiefen Seufzer zu. „Natürlich hast du recht.“

Loghain trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und sah Maric skeptisch an. „Das ist ja mal was ganz Neues.“

Maric zuckte mit den Schultern. „Sie sind verzweifelt und wollen zu viel. Wir können ihnen Ratschläge geben, vielleicht sogar eine Karte zeichnen, mit allen Details, die uns einfallen. Aber noch einmal in die Tiefen Straßen gehen? Nein, du hast recht.“

„Du kannst ihnen Ratschläge erteilen.“ Loghain runzelte die Stirn. „Ich habe genug von Orlesianern für einen Abend. Besonders von dem Speichellecker Remille. Du weißt, dass man ihm nicht trauen kann, oder?“

„Er ist Orlesianer, oder?“

„Schön. Mach du nur deine Witze.“ Loghain drehte sich um und ging zu einer kleinen Tür an der Seite des Podests. „Ich lasse die Grauen Wächter zurückholen, aber vergeude nicht zu viel Zeit mit ihnen. Es gibt morgen früh viel zu tun, Maric. Der Botschafter von Kirkwall wünscht mit dir über die Überfälle vor der Küste zu sprechen. Da du in der Lage warst, dich für diese Audienz aufzuraffen, kannst du sicher auch das Tagesgeschäft bewältigen.“

„Das werde ich“, antwortete Maric. Er sah seinem alten Freund nach, als der den Saal verließ. Auf einmal fühlte er sich erschöpft und ausgehöhlt. Vielleicht spürte er auch ein wenig Mitleid – und dann Schuld, weil er den Mann bemitleidete, der so viel für ihn getan hatte. Loghain beteuerte zwar, er sei nur in Denerim, um ihm zu helfen, doch Maric wusste genau, warum er nicht nach Gwaren zurückkehrte. Eine wunderhübsche junge Ehefrau wartete dort und zog eine wunderhübsche junge Tochter auf.

Sie alle liefen vor etwas davon.

Die Grauen Wächter und der Erste Verzauberer kehrten zögernd in den Saal zurück. Es erstaunte sie offensichtlich, dass Loghain nicht mehr auf dem Podest zu sehen war. Maric fühlte sich um zehn Jahre gealtert. Er hing auf seinem Thron und fragte sich, ob er überhaupt in der Lage sein würde, irgendwen irgendwohin zu führen.

Genevieve trat vor, das Sinnbild einer reifen, zuversichtlichen Kriegerin. Er fragte sich, wie Rowan wohl in dem Alter gewesen wäre. Er war sich allerdings sicher, dass sie nie so forsch und geschäftsmäßig aufgetreten wäre. Rowan hatte ein großes Herz gehabt, sich immer um ihr Königreich gesorgt und bei jeder Gelegenheit von ihrem gemeinsamen Sohn geschwärmt. Sie war ebenso gern Königin wie Mutter gewesen. Beides hatte ihr mehr Freude bereitet als das Leben als Kriegerin.

Tatsächlich erinnerte die weißhaarige Kommandantin ihn eher an Loghain.

„Habt Ihr Eure Meinung geändert, König Maric?“, fragte Genevieve. Ihr Ton ließ darauf schließen, dass sie dies für die einzige vernünftige Möglichkeit hielt.

„Nein“, antwortete Maric mit einem grimmigen Lächeln. Ihr angespanntes Stirnrunzeln ließ erkennen, dass diese Antwort sie keineswegs beruhigte. „Ich werde mit Euch kommen, vorausgesetzt, niemand erfährt, dass ich mit Euch reise. Loghain wird hierbleiben. Es sei denn, Ihr habt Eure Meinung geändert.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht im Geringsten. Wir müssen uns beeilen. Ihr seid Euch der Risiken bewusst?“

„Ja.“ Er stand auf, verließ das Podest und ging zu ihr. Es bereitete ihr offensichtlich Unbehagen seine Hand zu schütteln. „Dann lasst uns am besten dieses ganze König-Gehabe vergessen. Ich bin es genauso leid wie Ihr, glaubt mir.“

„Wie Ihr wollt … Maric.“ Ein Lächeln umspielte andeutungsweise ihre Lippen, als sie den Kopf neigte. Vielleicht war sie Loghain doch nicht so ähnlich, wie er gedacht hatte. „Aber wenn Ihr mir einen Gefallen erweisen wollt, darf ich Euch einen meiner Leute zuweisen? Jemand, der über Eure Sicherheit und Eure Bedürfnisse wacht?“

„Wenn Ihr das für richtig haltet, dann nur zu.“

Genevieve winkte den jungen Mann herbei, der das Verbrechen verübt hatte. Der Junge hatte eine dunklere Haut als die anderen: War er ein Rivaini? Er zog eine Grimasse und näherte sich nur widerwillig, aber ein warnender Blick beschleunigte seine Schritte. Als er neben der Kommandantin stand, seufzte er, als ob ihm eine Last ungeheuren Ausmaßes aufgebürdet worden sei.

Er hält nicht hinterm Berg, dachte Maric. Wo immer die Grauen Wächter ihn aufgelesen hatten, er war offenbar daran gewöhnt, seine Gedanken und Gefühle offen auszudrücken. Nach so vielen Jahren am Hof würde Maric derartige Gesellschaft vielleicht sogar erfrischend finden.

„Duncan, du wirst dich um die Bedürfnisse des Königs kümmern“, sagte Genevieve, und ihr Ton machte unmissverständlich klar, dass sie keinen Widerspruch dulden würde.

„Du meinst, so was wie seinen Nachttopf holen und sein Essen kochen?“

„Wenn er das wünscht, ja.“ Sie grinste, als sie den finsteren Blick des Jungen sah. „Betrachte es als deine Strafe. Wenn du deine Schuld nicht im Dienst des Königs abtragen kannst, hat er immer noch die Möglichkeit, dich nach unserer Rückkehr ins Gefängnis zu werfen.“

Duncan sah Maric hilflos an. Sein missmutiger Ausdruck schien zu sagen: Oh bitte, lasst mich nicht Euren Nachttopf holen. Maric hätte beinahe gelacht, beherrschte sich aber. Schließlich gab es in den Tiefen Straßen nicht allzu viele Nachttöpfe. Ihnen stand keine Vergnügungsreise bevor.

„Erlaubt mir, Euch die anderen vorzustellen“, fuhr Genevieve fort. „Das ist Kell, mein Hauptmann. Er hat ein besonderes Gespür für die elende Dunkle Brut und wird unser Spurensucher sein, sobald wir uns in den Tiefen Straßen befinden.“

Der Mann, der eine Kapuze übergezogen hatte, trat vor und Maric bemerkte, dass seine Augen auffallend blass waren. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Der Mann wirkte grimmig und bewegte sich bedächtig und umsichtig, wie jemand, der sich seiner Umwelt und seiner selbst jederzeit bewusst war. Er trug Kleidung aus dickem Leder und hatte einen Langbogen auf den Rücken geschnallt. Maric hielt ihn für eine Art Jäger. Kell neigte höflich den Kopf, sagte aber nichts.

„Und das ist Utha, die aus den Reihen der Schweigenden Schwestern rekrutiert wurde. Sie ist nicht in der Lage, mit Euch zu sprechen, aber die meisten von uns verstehen die Zeichensprache, die sie benutzt.“

Die Zwergenfrau, die vortrat, trug eine einfache braune Robe unter der Tunika der Grauen Wächter. Ihr kupferfarbenes Haar war zu einem langen Zopf geflochten, der über ihren Rücken hing. Maric suchte vergeblich nach einer Waffe. Anscheinend trug sie keine. Er hatte einmal gehört, dass die Schweigenden Schwestern mit bloßen Händen kämpften – ob das stimmte? Obwohl sie klein war, wirkte sie so kompakt und muskulös, dass er gern auf eine Auseinandersetzung verzichtete, egal, ob mit oder ohne Waffen.

„Diese beiden Herren sind Julien und Nicolas. Sie gehören dem Orden fast so lange an wie ich selbst.“

Zwei hochgewachsene Männer traten vor. Beide trugen die gleiche schwere Plattenrüstung wie Genevieve und die für Orlesianer typischen Schnurrbärte. Sonst hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Der erste, Julien, hatte dunkelbraunes, kurz geschorenes Haar, einen Bart und tiefliegende, ausdrucksvolle Augen. Er trat zurückhaltend auf und nickte Maric höflich zu. Der andere, Nicolas, hatte fast schulterlanges blondes Haar und keinen nennenswerten Bart. Er ergriff Marics Hand, schüttelte sie energisch und grinste dabei übermütig.

Julien hatte einen Zweihänder auf den Rücken geschnallt, der beinahe so groß war wie er selbst. Nicolas dagegen trug einen Morgenstern am Gürtel und einen riesigen, mit dem Greifensymbol verzierten Schild auf dem Rücken. Beide bewegten sich mit dem ruhigen Selbstbewusstsein von Kriegern, die ihre Waffen zu führen wussten.

„Und dies ist Fiona, die vor einem Jahr vom Zirkel der Magi in Montsimmard zu uns gestoßen ist.“

Eine mit Kettenhemd und blauem Rock bekleidete Elfenfrau trat vor. Sie hielt einen weißen Stab in der Hand. Maric hätte sie nicht für eine Magierin gehalten, wenn er ihr irgendwo ohne ihren Stab begegnet wäre, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie eine Elfe war. Die meisten Magier, mit denen er zu tun hatte, ähnelten dem Ersten Verzauberer Remille: Männer, die es gewohnt waren, ihren Willen zu bekommen. Obendrein war sie hübsch, obwohl sie ihn mit einem kalten Blick bedachte. Ihre Verbeugung war nur angedeutet und verdiente diese Bezeichnung eigentlich nicht.

Der Erste Verzauberer Remille sah ausgesprochen verwirrt aus. Er zupfte nervös an seiner gelben Robe herum, während er sich mehrmals vor Maric verbeugte. „Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät, aber die Zeit drängt. Wir sollten uns so bald wie möglich zur Feste Kinloch begeben.“

Genevieve nickte. „Der Zirkel hat uns magische Hilfe angeboten, bevor wir zu den Tiefen Straßen aufbrechen. Wir haben sehr wenig Zeit, aber ich denke, dass der Besuch sehr nützlich sein könnte.“

„Warum haben wir so wenig Zeit?“, fragte Maric.

„Normalerweise tötet die Dunkle Brut einen Grauen Wächter, sobald sie ihn sieht.“

Der Gedanke ließ Genevieve verstummen. Ihr Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne. Dann drehte sie sich abrupt um und ging zu der großen Tür am anderen Ende des Saales. Maric folgte ihr, und die anderen reihten sich hinter ihm ein. „Dass er noch lebt, ist bemerkenswert und weist auf etwas Ungewöhnliches hin. Wir müssen ihn finden, bevor sie ihn noch weiter in die Tiefen Straßen verschleppen und bevor die Informationen, die sie vielleicht von ihm erhalten, sich herumsprechen können.“

„Und wenn das passiert, was dann?“

„Dann bringen wir jeden von ihnen um, der davon weiß“, erklärte sie nüchtern. Maric war überzeugt, dass sie das ernst meinte. Die Vorstellung, dass diese kleine Gruppe eine Bedrohung für die Dunkle Brut darstellte und nicht andersherum, überraschte ihn, aber vielleicht war das unangebracht. Man sagte, dass die Grauen Wächter sich ihre Rekruten nur unter den Besten suchten. Obwohl es seit Jahrhunderten keine Verderbnis mehr gegeben hatte, lebte die Legende weiter. Sie waren bei den Menschen hoch angesehen und in jedem Land außer Ferelden vertreten.

In einigen Kreisen bröckelte dieses Ansehen allerdings. An manchen Orten wurden die Grauen Wächter wie ein Orden behandelt, dessen Daseinsberechtigung längst Vergangenheit war. Der traditionelle Zehnte wurde nur noch widerwillig abgegeben. Allerdings behandelte sie niemand offen respektlos. Trotz ihrer geringen Zahl standen ihre Fähigkeiten außer Zweifel.

„Ich habe eine Frage an Euch, wenn ich darf“, sagte Maric.

„Nur zu.“

„Nach wem genau suchen wir eigentlich?“

Genevieve blieb vor der Tür stehen, drehte sich um und sah ihn an. Sie zögerte, dachte wohl darüber nach, wie viel sie preisgeben sollte. Dabei reiste er mit ihnen in den gefährlichsten Teil von Thedas. Sollte man da nicht annehmen, dass die Grauen Wächter ihm genug Vertrauen entgegenbrachten, um ihn in ihre Geheimnisse einzuweihen? Loghain hatte recht. Der Orden verfolgte nur seine eigenen Pläne.

„Sein Name ist Bregan“, sagte Genevieve ruhig. „Er ist mein Bruder.“

2

Und so fällt Schwärze über die Goldene Stadt

Mit jedem Schritt, den du in meinen Gemächern tust.

Bewundere die Vollkommenheit, denn sie ist vergänglich.

Du hast Sünde in den Himmel getragen

Und Verderben in die Welt.

– Lobgesang des Threnodies 8:13

Der strenge Geruch in der Luft erinnerte Bregan an ranziges Fleisch. In der Ferne hörte er ein seltsames Summen. Das Geräusch war kaum wahrnehmbar und erfüllte ihn dennoch mit Schrecken. Blind tastete er umher und bemerkte, dass er auf Stein lag. Dieser fühlte sich allerdings seltsam schmierig an, als ob er mit Ruß und Fett überzogen wäre.

Er befand sich immer noch in den Tiefen Straßen. Das Gefühl, dass sich über ihm meilenweit harter Fels erstreckte, war überwältigend, so als drücke ein unsichtbares Gewicht seinen Körper nieder. Er atmete einmal tief ein und begann sofort zu würgen. Der Verwesungsgestank war übermächtig. Er rollte sich herum und würgte unkontrolliert. Sein leerer Magen schien sich umstülpen zu wollen, aber außer schrecklichen Geräuschen kam nichts dabei heraus. Scharfer Schmerz durchzuckte ihn und erinnerte an die Verletzungen, die er erlitten hatte.

Bregan versuchte, sein Würgen unter Kontrolle zu bringen, wobei er vor Anstrengung zitterte und schwitzte. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie ihm angetan hatten. Seine Rüstung war weg, genau wie Schwert und Schild. Robe und Tunika hatten sie ihm aber gelassen. Beides war mit Blut und Schmutz verkrustet. Seine Wunden hatte man verbunden. In der völligen Finsternis konnte er nicht erkennen, womit. Irgendeine Art Kompresse, wie es schien, die mit einem rauen Tuch fixiert worden war, das sich wie Sackleinen anfühlte.

Aber wer hatte ihn hierher gebracht? Wer hatte sich um seine Verletzungen gekümmert? Er wusste noch, dass er das in Ruinen liegende Thaig erreicht hatte. Er erinnerte sich an die Dunkle Brut, die ihn in den Tiefen Straßen umzingelt hatte. Von allen Seiten waren sie gekommen … aber dann? Nichts. Er erinnerte sich an schwarze Klingen, die in sein Fleisch schnitten, an spitze Klauen, die seine Rüstung durchdrangen und sich in seine Schultern und Beine bohrten. Eigentlich hätte er tot sein müssen. Die Dunkle Brut kannte keine Gnade und machte keine Gefangenen.

Bregan schloss die Augen und streckte vorsichtig seine mentalen Fühler aus. Er war von der Dunklen Brut umgeben. Sie waren nicht im gleichen Raum, aber in der Nähe. Er spürte, wie sie an der Grenze seines Bewusstseins kratzten. Wie immer war diese Empfindung begleitet von einem Gefühl des Dahinsiechens, als ob Gift unter seine Haut gesickert wäre.

Er schloss die Augen und versuchte die Gedanken an ihre Anwesenheit zu verdrängen. Wie sehr er das immer gehasst hatte! Jeder Graue Wächter hatte die Fähigkeit, die Dunkle Brut aus der Entfernung zu berühren. Die meisten sahen darin eine Gabe. Er hatte es schon immer als Fluch betrachtet.

Das Summen hielt an. Über das Geräusch hinweg konnte er andere Dinge hören. Bewegungen; etwas glitt über den Felsen. Das Geräusch von überschwappendem Wasser. Dies alles war gedämpft und weit entfernt, aber es war da. Hin und wieder veränderte sich auch der Geruch, Dann stank es nach etwas Verbranntem, Verkohltem. Seine geistigen Sinne nahmen einen merkwürdigen Druck wahr, als ob sich etwas … gegen seinen Geist stemmte. Dann war es vorbei.

Besorgnis zerrte an seinen Nerven, und sein Herz schlug auf einmal schneller. Bregan erhob sich mit unsicheren Bewegungen auf Hände und Knie. Er versuchte, die Grenzen seiner Umgebung auszuloten. Er ertastete ein Fell, das so schmutzig war, dass Bregan sich glücklich schätzte, von seinen Häschern nicht darauf, sondern auf den Steinboden geworfen worden zu sein. Er fühlte glatte Wände. Dieser Ort war auf jeden Fall gebaut worden und keine natürlich geformte Höhle.

Seine Hände fuhren über etwas, das sich warm und klebrig anfühlte, wie ein fauliges Gewächs. Es breitete sich spinnwebengleich über den Felsen aus. Er zwang seinen Ekel nieder. Am besten dachte er nicht weiter darüber nach.

Dann ertönte ein neues Geräusch. Schritte – Stiefel auf Stein und ganz in der Nähe. Bregan drehte sich in Richtung des Geräusches. Zum ersten Mal seit seinem Erwachen konnte er sich orientieren. Er spürte, dass sich einer der Dunklen Brut näherte und wich zurück. Seine Beunruhigung wich blankem Entsetzen. War dort eine Tür? Würde er das, was sich ihm da näherte, überhaupt zu sehen bekommen? Die völlige Schwärze, die ihn umgab, machte ihn wahnsinnig.

Die Schritte wurden lauter. Ihr Echo hallte in seinem Kopf wider. Dann erklang das Knirschen einer Metalltür, die geöffnet wurde, und plötzlich gab es Licht. Es war so hell, dass es in seinen Augen brannte. Er schrie vor Schmerzen, krümmte sich zusammen und bedeckte sein Gesicht.

„Ich bitte um Verzeihung“, sagte eine männliche Stimme. Sie war sanft, seltsam volltönend und hatte eine fremde Klangfarbe, die nicht unangenehm war. Die Worte erschienen abgehackt, als wäre der Sprecher nicht an ihre Aussprache gewohnt.

Bregan setzte sich auf, blinzelte verzweifelt und hielt eine Hand hoch, um das Licht abzublocken. Er konnte kaum etwas erkennen, und seine Augen tränten von der schmerzhaften Anstrengung. Er sah vage einen Schatten innerhalb des Lichts, der so etwas wie einen glühenden Stein trug. Der Schatten betrat das Zimmer, hielt aber respektvollen Abstand.

„Das Licht ist notwendig“, fuhr die kultivierte Stimme fort. „Ich vermute, dass meine Ankunft im Dunkeln für dich unangenehmer gewesen wäre. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass du im Dunkeln nichts sehen kannst?“

War das einer der Dunklen Brut? Ihre Abgesandten waren des Sprechens mächtig, aber er hatte noch nie von einem Grauen Wächter gehört, der tatsächlich mit einem von ihnen gesprochen hatte. Sie waren die Zauberer der Dunklen Brut. Er hatte einmal gelesen, dass ein solcher während eines Kampfes die Frontlinien provoziert und vor Wut aufgeschrien hatte, als die Grauen Wächter ihren Angriff begannen. Er hatte sogar gelesen, dass sie quer über das Schlachtfeld Ultimaten stellten, aber von einer solchen Begegnung hatte er noch nie gehört. Er streckte seine mentalen Fühler aus, und, ja, vor ihm stand tatsächlich einer der Dunklen Brut. Das wohlbekannte Gefühl des Verderbens berührte seinen Geist.

„Ich werde warten“, sagte die Stimme. „Du wirst bald wieder sehen können.“

Bregan rieb sich die Augen. Es dauerte noch ein paar Momente, bis sich sein Blick klärte. Was er im Licht des glühenden Steins sah, verringerte seine Verwirrung nicht gerade. Es handelte sich tatsächlich um einen Abgesandten. Man hätte ihn vielleicht mit einem Menschen verwechseln können, wären da nicht das entstellte Fleisch und die weiten, fischartigen Augen gewesen. Er hatte keine Haare, und zwischen seinen Lippen bleckten scharfe Fänge heraus, die ihm ein dauerhaftes, scheußliches Grinsen verliehen. Anstelle der üblichen Sammlung aus vergammeltem Leder und Rüstungsteilen, in die sich die Dunkle Brut normalerweise hüllte, trug er eine rußbedeckte braune Robe. In einer Hand hielt er einen knorrigen schwarzen Stab und in der anderen den glühenden Stein.

Er wirkte gelassen und musterte Bregan aus unheimlichen Augen. Der schauderte und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Sein Instinkt befahl ihm auf den anderen loszugehen, ihm das Genick zu brechen und zu fliehen. Ein Abgesandter konnte mit Magie umgehen, aber wie jeder Magier brauchte er eine Weile, um sie herbeizurufen. Wenn er schnell genug reagierte, würde dem Magier selbst sein Stab nichts nützen.

„Sind deine Wunden verheilt?“, fragte dieser plötzlich. „Soweit ich weiß, können die Menschen mit magischen Kräften heilen, aber leider kann ich mit dieser Fähigkeit nicht dienen. Selbst unsere Kenntnis eurer Arzneien ist … begrenzt.“

„Ich verstehe nicht“, stammelte Bregan.

Die Kreatur nickte und schien sein Dilemma durchaus nachvollziehen zu können. Es überstieg Bregans Vorstellungsvermögen, dass so ein Ungeheuer in der Lage war, sich zivilisiert zu benehmen. Sämtliche Lehren der Grauen Wächter, das Wissen, das im Laufe der Verderbnisse über Jahrhunderte hinweg sorgfältig zusammengetragen worden war – nichts deutete darauf hin, dass die Dunkle Brut jemals etwas anderes getan hätte als blindwütig anzugreifen und jedes Lebewesen, dem sie begegnete, anzustecken.

„Was genau verstehst du nicht?“, fragte der Abgesandte geduldig.

„Bist du … von der Dunklen Brut?“

Das Wesen schien die Frage nicht zu überraschen. „Bist du ein Mensch?“ Die seltsame Klangfarbe seiner Stimme betonte das Wort Mensch wie ein Fremdwort. Bregan nahm an, dass es das für einen der Dunklen Brut auch war. „Ich glaube, das bist du nicht“, fuhr der andere fort. „Ich glaube, du bist ein Grauer Wächter.“

„Ich … ich bin beides.“

Der Abgesandte blinzelte, aber Bregan konnte nicht erkennen, ob das Überraschung, Unglauben oder etwas völlig anderes ausdrücken sollte. War die Dunkle Brut zu Gefühlen fähig? Sie war zu organisiertem Handeln fähig. Man wusste, dass sie ihre Rüstungen reparierten. Aus den Überresten der Vorräte, die die Zwerge in den Tiefen Straßen zurückgelassen hatten, stellten sie sogar einfache Waffen her und errichteten primitive Gebäude. Es hatte nur niemals Anzeichen dafür gegeben, dass ihre Taten einen wirklichen Grund hatten, außer der dunklen Macht, die sie antrieb. Vielleicht irrten die Grauen Wächter sich. Oder vielleicht hatten sie es die ganze Zeit gewusst, und es war nur ein weiteres Geheimnis, das sie hüteten und sogar vor jemand Hochrangigem wie ihm verbargen.

Es wäre nicht das erste Mal, dachte er verbittert. Langsam setzte Bregan sich hin, wobei er den Abgesandten die ganze Zeit im Blick behielt – wenn das Wesen wirklich einer war. Der hätte ihn längst töten können, wenn er das gewollt hätte. Bregan war sich nur nicht sicher, ob ihn nicht etwas Schlimmeres als der Tod erwartete.

Der Abgesandte in seiner schmutzigen Robe lehnte sich auf seinen Stab. Seine Haltung wirkte auf Bregan beunruhigend menschlich. „Wir sind in der Lage, einen Grauen Wächter auf dieselbe Weise wahrzunehmen wie er uns“

Er warf Bregan einen bezeichnenden Blick zu, aber der erwiderte nichts darauf.

„Die Dunkle Brut hat einen Makel“, fuhr er fort. „Eine Dunkelheit, die uns durchdringt, uns antreibt und uns dazu zwingt, auf das Licht zu fluchen. Sie liegt uns im Blut und verdirbt die Welt um uns herum.“ Die Kreatur zeigte mit einer welken, klauenartigen Hand auf Bregan. „Sie liegt auch euch im Blut. Sie macht euch zu dem, was ihr seid. Sie ist es, was ihr in uns erkennt und umgekehrt.“

Bregan wich dem Blick des Fremden aus.

„Ihr nehmt diese Dunkelheit in euch auf. Ihr benutzt sie, um uns zu bekämpfen. Aber auch ihr seid anfällig für ihre Auswirkungen. Wenn der verderbliche Einfluss seinen Tribut fordert, kommt ihr in die Tiefen Straßen. Allein. Um ein letztes Mal gegen uns zu kämpfen. Deshalb bist du doch gekommen, oder nicht?“

Die Frage hing in der Luft. Bregan sah immer noch nicht zu der Kreatur auf, denn eine böse Vorahnung mahnte ihn zur Vorsicht. Dass die Dunkle Brut auf diese Art kommunizieren konnte, war das eine. Dass sie sich dessen bewusst war … das war etwas ganz anderes.

Er wartete ab und überlegte, ob er versuchen sollte zu fliehen, solange er noch konnte. Machte es etwas aus, wenn sie ihn töteten? Schließlich war er zum Sterben in die Tiefen Straßen gekommen. Was konnten sie ihm schon Schlimmeres antun, als ihn erneut bewusstlos zu schlagen und wieder in seine Zelle zu werfen?

Die Vorstellung bedrückte ihn. Er ließ den Kopf hängen. Das seltsame Summen schien überall zu sein. Er spürte die schmierige Glätte der Plage in seinem Inneren; sie durchdrang jede Zelle und füllte alles aus. Er wollte sich das Gesicht zerkratzen und das Fleisch von den Knochen reißen. Er wollte, dass sie aus ihm verschwand.

„Ja“, gab er langsam zu. „Der Ruf. So nennen wir es, wenn es an der Zeit ist, hierherzukommen und dem ein Ende zu bereiten.“

„Der Ruf“, wiederholte der andere und nickte zustimmend. „Ihr wollt lieber ein ruhmreiches Ende, als euch dem Makel zu unterwerfen? Geht es darum?“

„Ich weiß es nicht!“, versetzte Bregan. Er sah zu der Kreatur hoch, die ihn mit einer seltsam sterilen Neugier musterte.

„Nicht? Bist du sicher?“