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Wenn Jade und Asche sich vereinen, wird das Tor sich öffnen. Eine uralte Drachen-Dynastie, verborgen in Londons Schatten . Eine Jäger-Gesellschaft, die alles daransetzt, sie auszulöschen. Und mittendrin: Ashley Evans, deren Leben an ihrem Geburtstag für immer aus den Fugen gerät. Ein mysteriöses Kästchen enthüllt Ashleys wahre Natur – sie ist ein Drache. Gejagt von finsteren Mächten trifft sie auf Caleb Lancaster, einen Mann voller Geheimnisse. Gemeinsam suchen sie Antworten: Warum erwacht Ashleys Drachenblut erst jetzt? Gibt es eine verborgene siebte Dynastie in London? Und welches düstere Ziel verfolgen die Jäger wirklich? Für Fans von »Das Erbe der Macht« und »Die 12 Häuser der Magie« – ein mitreißender Urban-Fantasy-Roman voller Rätsel, Magie und atemloser Spannung im London der Gegenwart.
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Seitenzahl: 482
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DRAGONS IN SECRET
BUCH 1
1. Auflage Mai 2025
© 2025 by Andreas Suchanek
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
E-Mail: [email protected]
E-Book: 978-3-95834-517-1
Hardcover erscheint im Drachenmond Verlag
Hardcover: 978-3-95991-729-2
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Kontakt über Literaturagentur Anna Mechler, Manfred-von-Richthofen-Straße 156, 12101 Berlin
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Epilog
Aus dem Drachenhort
Glossar
Dramatis Personae
Orte
Über den Autor
Bücher von Andreas Suchanek
Ashley
»Ist das Blut?! Was ist passiert?«, fragte Zac mit vor Schreck geweiteten Augen.
Ashley versuchte gar nicht erst, ihre Frustration zu verbergen. »Ein wild gewordenes Kind.«
»Das dich blutig geschlagen hat?!« Seine Stimme sprang ein paar Oktaven in die Höhe, während er beiseitetrat und sie eintreten ließ.
Der vertraute Geruch des Buchladens war gleichbedeutend mit Heimat. Unweigerlich entkrampften ihre Muskeln, der Sturm der Wut ebbte ab und der ganze verdammte Tag blieb hinter ihr zurück. »Das ist Ketchup.«
»Oh.« Das Glöckchen bimmelte, als Zac die Tür wieder zustieß und abschloss.
Ashley atmete tief ein und aus, ließ den vertrauten Anblick auf sich wirken. Der Tresen mit der alten Registrierkasse war mit Kerben und Kratzern übersät. Neben einem Ständer mit Postkarten im Retro-Chic wartete ein Depotglas voller Gummibärchen darauf, dass Kinder hineingriffen. Selbstverständlich sah Ashley sich in diesem Augenblick als Kind und griff zu.
Der Laden verbreiterte sich in den rückwärtigen Teil mit deckenhohen Regalen voller Bücher und mittigen Tischen, auf denen die Neuerscheinungen lagen. Zahlreiche Fenster boten einen Blick auf die Straße.
Längst war die Dunkelheit über London hereingebrochen, kam Hand in Hand mit einem eisigen Wind. Typisch für einen Januar in dieser Stadt. Immerhin hatte der Regen Ashley verschont, nass zu werden wäre der letzte Funke an ihrer Zündschnur gewesen.
Zac tippte ihr auf die Schulter.
»Was?« Sie wandte sich um.
»Herzlichen Glückwunsch und alles Liebe zum Geburtstag.« Er strahlte über das ganze Gesicht, die vertraute Wärme in den braunen Augen. Seine Locken bildeten jene lustigen Kringel, die sie als Kind immer zu kleinen Schleifen verknotet hatte.
»Danke.« Sie ließ sich in einen seiner Arme fallen.
Mochten sie auch keine leiblichen Geschwister sein, so doch in jeder anderen Form.
»Also, was hat das besagte Monsterkind getan, und wie lautet der Name der Eltern?« Zac gab seiner Stimme einen gespielt bedrohlichen Unterton.
Sie stupste ihn mit ihrem Zeigefinger gegen den Arm. »Ein normaler Wutanfall im Fast-Food-Laden. Die Ketchup-Packung, die ich freundlich gereicht habe, hat eben zum drauf Herumdrücken eingeladen. Das nächste Mal mache ich sie nicht mehr auf und überlasse das den Eltern.«
Langsam erreichte die Wärme des Ladens ihre Gelenke und sie schälte sich aus Jacke und Schal. Im Vorbeigehen strich Ashley mit der Hand über die historische Registrierkasse, die Zac nicht aufgeben wollte. Da sein Vater meist den Papierkram bearbeitete und Zac hier unten Kunden beriet und abkassierte, hatten seine Eltern nachgegeben. Ein Kartenlesegerät gab es trotzdem. Irgendwie hatte dieses kleine Technikgenie da etwas ausgetüftelt.
Der Laden war ein einziger großer Raum, der anhand einzelner Genres unterteilt war. Inklusive einer gemütlichen Leseecke im hinteren Bereich mit Couch und Sesseln, eine Bar direkt daneben. In der Auslage stand ein Glas mit Keksen und es wurde bei Interesse von Besuchern Tee an diese ausgeschenkt.
Auf genau diesem Lesetisch wartete eine Etagere auf Ashley, die mit diversen Sorten von Pistazienköstlichkeiten befüllt war.
»Zac«, hauchte sie.
»Ich hätte niemals gedacht, dass es so viele verschiedene Arten von Pistazienzeug gibt.« Er hustete. »Ich meine: von diesem total leckeren Kuchen.«
Sie schmunzelte. Die Liebe zu Pistazien hatte Zac nie nachempfinden können. Ihm lag da eher Bitterschokolade, die leicht zu bekommen war.
»Das ist so lieb von dir.« Ashley sank in den Sessel und barg ihr Gesicht in den Händen. »Dieser Tag hat mich wirklich ausgebrannt.«
Er nahm den Kuchenheber und schob ihr ein Stück auf den Teller. »Du solltest diesen Job kündigen.« Irgendwie zauberte er eine Kanne hervor und füllte ihr ein Glas mit Earl Grey, dazu einen Schuss Milch. »Hier ist immer ein Platz für dich.«
Sie schenkte ihm ein bitteres Lächeln. »Das hier ist dein Traum. Meinen muss ich erst noch finden.« Sie betrachtete die aus Pistazien-Jelly-Beans geformte Zahl zwischen den Kuchenstücken: 21. Andere wussten in diesem Alter längst, was sie wollten. Ashley fühlte sich wie ein Blatt im Wind, das von den Strömungen hin und her geworfen wurde.
»Aber ist es nicht besser, hier zu arbeiten und Freiraum zu haben, als jeden billigen Job anzunehmen, der dir angeboten wird?«, fragte Zac sanft.
Das erste Stück des Kuchens vor ihr fand seinen Weg in ihren Mund. Der Geschmack explodierte auf Ashleys Zunge, der Zucker entfaltete seine Wirkung und sofort produzierte ihr verräterisches Gehirn das zugehörige Glücksgefühl. »Man sollte Zucker verbieten.« Sie schob ein weiteres Stück zwischen ihre Lippen. »Das ist so gut.« Sie atmete tief ein und wieder aus. »Wenn ich hier anfange, habe ich ein Gefühl der bequemen Sicherheit. Um mich zu verändern, muss ich aus der Komfortzone ausbrechen, die Mauern des Alltags niederreißen.«
Zack starrte sie lange mit diesem wissenden Blick an, bis er etwas erwiderte: »Dieser Podcast war ein ganz schrecklicher Fehler.«
Sie kicherte. »Es war der beste Hinweis, den du mir je gegeben hast.«
Persönlichkeitsentwicklung für Menschen, die ihren Weg suchten und das Gefühl hatten, festzustecken. Nachdem Ashley ihr Studium des internationalen Tourismusmanagements abgebrochen hatte, war ihr genau das passiert.
»Ich glaube zwar nicht, dass dich ein Halbtagsjob in einem Fast-Food-Laden weiterbringt, so wenig wie das abendliche Putzen, aber hey, wenn du es willst.«
Sie wusste, dass Zac sich sorgte. Er hatte den Weg eingeschlagen, den seine Eltern für ihn vorgesehen hatten. Dieser Laden war sein Leben, und er liebte es. Es gab moderne Bücher, ein altes Antiquariat in einem angeschlossenen hinteren Bereich, und jeder Monat stand unter einem anderen Buchmotto. Zac ging in der Arbeit auf.
Schritte erklangen auf der Treppe, die nach oben zu den Wohnungen führte. Kurz darauf erschien die vertraute Gestalt ihres Ziehvaters. Er kam mit einem Lächeln auf sie zugeeilt und ihr blieb gerade noch ausreichend Zeit, aus dem Sessel aufzuspringen, bevor sie in seinen kräftigen Armen versank.
»Herzlichen Glückwunsch, Ashley.« Er schob sie eine Armeslänge von sich, einen Hauch von Beunruhigung im Gesicht. »Ist das Blut?«
Sie stöhnte auf. »Ketchup.«
Zac erhob sich. »Ich hole dir mal einen Lappen.« Schon verschwand er hinter der Theke und kramte in den Eingeweiden des eingebauten Schranks herum.
»Du weißt, hier im Laden ist immer ein Platz für dich«, sagte ihr Ziehvater prompt.
Unter seinem Pullover traten die Armmuskeln dick hervor. Er war einst Sportler gewesen, bevor eine Knieverletzung ihn in den sehr frühen Ruhestand gezwungen hatte. Für seine Mitte fünfzig hatte er sich hervorragend gehalten. Die Evans’ waren die besten Menschen, die sich ein Kind aus dem Waisenhaus je wünschen konnte.
»Danke, aber mir reicht schon die kleine Wohnung«, gab sie zurück. »Den Rest möchte ich selbst schaffen.«
Er nickte verstehend.
Während für Zac stets klar gewesen war, dass dieser Laden das Zentrum seines Lebens darstellte, spürte Ashley mit jedem Jahr stärker den Drang, sich etwas Eigenes aufzubauen. Sie liebte ihre Ziehfamilie, aber das Bedürfnis nach Unabhängigkeit wuchs.
»Hier.« Zac kehrte zurück und hielt ihr einen feuchten Lappen entgegen.
Ashley nahm ihn und fuhr damit über ihre Wangen und die Stirn. Die Rückstände des Ketchups blieben daran haften. »Kein Blut mehr auf meiner Haut?«
Zac grinste spitzbübisch. »Auf magische Weise verschwunden.«
»Ich lasse euch mal wieder allein. Feiert noch schön.« Mister Evans drückte sie zum Abschied.
»Sie machen sich Sorgen um dich«, sagte Zac. »Genau wie ich.«
Ein wenig sorgte Ashley sich ebenfalls, aber das mussten die anderen ja nicht wissen. Was, wenn sie gar nichts fand, das ihr Spaß machte? Musste ein Job überhaupt … Spaß machen? Der Gedanke, tagein und tagaus in Vollzeit zu putzen oder hinter einer Theke im Fast-Food-Imbiss zu stehen, ließ sie das deutlich bejahen.
»Hey.« Zacs Gesicht schob sich in ihr Gesichtsfeld, als er sich zu ihr beugte. »Was sagt dieser Podcast zu Herausforderungen?«
»Dass sie dazugehören.« Ashley warf sich wieder in den Sessel. »Sie stärken unsere Resilienz, wenn wir sie überwinden.«
Zac sah aus, als würde er auf eine Zitrone beißen. »Klingt doch total toll.«
Sie nahm einen Krümel und warf ihn auf Zac, der ihn jedoch einfach aus der Luft mit seinem Mund auffing. »Lecker.«
»Du bist unmöglich.«
»Danke. Aber bevor das Ganze hier eskaliert und ich unter Krümeleinschlägen zu Boden gehe, wird es Zeit für deine Geschenke.« Wieder verschwand er hinter der Theke, was Bände über den dortigen Stauraum sprach. »Tada!« Zwei Päckchen wurden vor ihr abgestellt.
Ashley schob den Teller mit den Resten ihres Kuchenstücks beiseite und griff nach dem ersten.
»Das ist von meinen Eltern.«
Sie zupfte die Klebestreifen langsam ab und entfaltete das Papier. Zac war eher der Geschenkpapierzerfetzer, während sie sich Zeit nahm. Das lag weniger an der Wiederverwendbarkeit der Verpackung als daran, dass sie das Kribbeln der Vorfreude genoss. Was würde sie erwarten?
Eine Kerze. Sie besaß einen Grünstich und war eingeschweißt. »Eine Pistazien-Duftkerze.«
Ihre Zieheltern machten sich Gedanken um derlei Dinge, ein Geschenk war nie nur irgendetwas. Es musste zum Charakter passen, ein wenig Freude ins Leben bringen.
Zac zappelte in seinem Sessel aufgeregt hin und her. »Jetzt meins.«
Sie nahm das längliche Päckchen entgegen und öffnete es – ihm zuliebe mit einem schnellen Riss. Darin befand sich ein Bilderrahmen, im Inneren eine Aufnahme. Zac, sie und ihre Zieheltern vor der Waldhütte am See. Es war ein wunderschöner Sommer gewesen, bei dem jeder Abend nach verbranntem Holz roch, die Tage viel zu kurz waren und die Geschichten am Lagerfeuer mystische Bilder entstehen ließen.
»Danke.« Ashley fuhr mit den Fingern über den Rahmen.
Zac zog ein Kuvert aus der Gesäßtasche seiner Jeans. »Und Musicalkarten.«
»Das ist zu viel, du …«
»Keine Diskussion.« Er wedelte mit dem Kuvert vor ihrer Nase herum. »Beste Plätze für ›Wicked‹.«
Sie wollte danach greifen, doch ein lautes Klopfen ließ sie beide innehalten. Es kam aus dem vorderen Bereich des Ladens, aus Richtung der Tür. Da die Straßenlaternen ihren Schein gerade so bis dorthin warfen, konnte Ashley lediglich eine dunkle Silhouette mit Mantel und Hut erkennen.
»Mist«, sagte Zac. »Ich hätte das Licht wenigstens im vorderen Teil ausmachen sollen.«
Es geschah durchaus, dass Kunden auch nach Ladenschluss noch vorbeischauen wollten, um ein Buch umzutauschen oder ein Geschenk in letzter Minute zu kaufen. Zac ließ den Buchladen manchmal sogar absichtlich länger offen. Da die Öffnungszeiten aber bereits zwei Stunden zurücklagen, war das doch sehr dreist.
»Wir bleiben sitzen.« Er winkte ab. »Das Schild zeigt ja eindeutig an, dass wir geschlossen haben.«
Das Klopfen wiederholte sich, dieses Mal mit mehr Nachdruck.
Mit einem Seufzen erhob sich Zac. »Ich mache das.«
Ashley rang kurz mit sich, folgte ihm dann aber. Ihre Zündschnur war aktuell nur millimeterkurz gehalten, doch vielleicht erleichterte es Zac das Abweisen des Kunden, wenn sie neben ihm stand. Einen grimmigen Blick konnte sie heute mit Leichtigkeit hervorzaubern.
Sie erreichten die Tür und Zac kramte in der Tasche herum. Der Schlüssel wanderte ins Schloss, das typische Klacken hallte im Raum, gefolgt vom Bimmeln der Glocke über der Tür. Ein Windhauch wehte in den Geschäftsraum und ließ Ashley frösteln.
»Tut mir leid«, sagte Zac, »wir haben geschlossen.«
Der Mann vor der Tür trat in den Lichtschein. »Ms Ashley Evans.« Er blickte in ihre Richtung, suchte ihren Blick.
»Was?« Verdutzt erwiderte sie diesen. »Schon, äh … ja. Die bin ich.«
»Mein Name ist Simeon Black, ich bin Solicitor der Firma Inkwood & Sons.«
Sie hatte noch nie zuvor mit einem Rechtsanwalt zu tun gehabt, wofür sie nach dem Konsum zahlreicher TV-Serien überaus dankbar war. Zacs Augen weiteten sich in Erwartung einer schlechten Nachricht. Sie schauten besagte Serien meist gemeinsam.
»Wie kann ich Ihnen helfen?« Ashley wappnete sich innerlich. Wurde sie etwa verklagt?
Sie baten Mister Black nicht herein, doch der schien derlei Verhalten gewohnt zu sein. Er hob eine altmodische Aktentasche an, die er bisher in der behandschuhten rechten Hand getragen hatte.
Ein wenig erinnerte er Ashley tatsächlich an Anwälte aus Filmen, doch eher aus den klassischen. Er trug einen breitkrempigen Hut, der sich auch vom Wind keinen Zentimeter bewegen ließ. Ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen schulterlangen Haar, das durcheinandergewirbelt wurde. Dazu war Simeon Black in einen braunen Mantel gekleidet und trug ebensolche Lederhandschuhe. Die Aktentasche besaß einen Klickverschluss, den er jetzt öffnete. Während er die Tasche nun mit einer Hand hielt, zog er mit der anderen ein dickes Päckchen hervor.
»Unsere Anwaltskanzlei wurde damit beauftragt, Ihnen dies an Ihrem einundzwanzigsten Geburtstag um neun Uhr abends zu überreichen. Uns wurde mitgeteilt, dass sie sich im Buchladen aufhalten würden, deshalb auch mein konsequentes Vorgehen in Form des Klopfens.«
In exakt diesem Augenblick sprang der Zeiger der Uhr über dem Eingang auf die nächste volle Stunde – neun Uhr am Abend.
»Sie nehmen die Vorgaben aber sehr ernst«, merkte Zac an.
»In der Tat«, bestätigte Mister Black. »Da werden wir einem viele Jahre erarbeiteten Ruf stets gerecht.« Er hielt das Päckchen noch immer.
»Von wem ist es?«, fragte Ashley.
»Weitere Informationen wurden dem Auftrag nicht hinzugefügt«, erklärte er, der Blick eine einzige Aufforderung.
Für einen Augenblick herrschte absolute Stille. Eine Strähne von Ashleys Haar wirbelte ihr in die Augen, Zacs Blick richtete sich auf das Päckchen. Die Mundwinkel von Mister Black blieben unbeweglich, doch in seine Augen trat eine seltsame Art von Funkeln. Als erwartete er, dass im nächsten Augenblick etwas geschehen würde, was große Bedeutung besaß.
Ashley streckte die Hand aus und schloss die Finger um das Päckchen.
Er ließ es los. »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, Ms Evans.« Ein kurzes Nicken in Richtung von Zac, dann schloss der Anwalt seine Aktentasche und ging davon.
Sie sahen ihm noch nach, bis er endgültig in der Ferne verschwunden war, verschluckt vom Zwielicht der Schatten.
Erst als Zac die Tür vor ihnen wieder schloss, das vertraute Bimmeln erklang und der Wind ausgesperrt wurde, schien die Realität zurückzukehren.
»Was war das denn?« Ashley starrte gebannt auf das Päckchen, als könnte dieses sich bei zu großer Erschütterung in eine Bombe verwandeln und detonieren.
»Tisch«, sagte Zac.
Sie eilten durch den Laden. Mit ein paar schnellen Griffen beförderte Zac die Etagere mit dem Kuchen und die Teller auf die Theke hinauf. Ashley schob die Duftkerze nebst Musicalkarten und Bild beiseite.
Das Päckchen fühlte sich schwer an, unter dem braunen Packpapier, das mit einer Schnur zusammengebunden war. Sie legte es ab.
»Was, denkst du, ist da drin?«, fragte Zac.
»Keine Ahnung.« Sie verschränkte die Arme. »Wir wissen ja nicht einmal, wer es geschickt hat.«
»Klingt für mich nach etwas, das mit genauen Anweisungen hinterlegt wurde.« Seine Stimme bekam einen schweren Unterton. »Vor langer Zeit.«
Ashley schluckte. Ein ähnlicher Gedanke war auch ihr gekommen. Aufgewachsen in einem Waisenhaus bis zum Alter von sechs Jahren hatte sie ihre leiblichen Eltern nie kennengelernt. Dann waren die Evans’ auf der Bildfläche erschienen. Nach der Geburt von Zac hatte Ms Evans keine Kinder mehr bekommen können, doch beide wünschten sich ein Geschwisterchen für Zac. Dass Ashley damals mit verschränkten Armen erklärt hatte, dass sie einmal Kriegerin werden würde, um alle Kinder aus dem Waisenhaus zu befreien, hatte wohl imponiert. Damals war es ihr dort mit all den Regeln vollkommen unfair erschienen, da die Kinder in Familien zweifellos alles durften. Ein Trugschluss, wie sich herausgestellt hatte.
Sie schmunzelte bei der Erinnerung.
»Willst du es nicht … na ja«, Zac deutete auf das Päckchen, »auffetzen?«
Natürlich wollte sie das! Gleichzeitig hatte sie aber Angst davor. Konnte dies ihr Leben erneut verändern, das Chaos noch chaotischer machen?
Zac holte eine Schere, legte diese auf den Tisch und schob sie zögerlich in ihre Richtung. »Für die Schnur.«
»Du bist eine neugierige Nervensäge«, sagte sie.
»Ich weiß, machst du es jetzt auf?« Er deutete nachdrücklich auf das Päckchen.
Ashley seufzte schwer. »Muss ich wohl.«
»Willst du denn gar nicht wissen, was sich darin befindet?«, fragte Zac mit gerunzelter Stirn.
»Schon. Und irgendwie nicht.« Wie sollte man jemandem, der von klein auf in einer glücklichen Familie aufgewachsen war, den Sturm der Gefühle erklären, in dem sie sich bei dem Gedanken an ein Lebenszeichen von ihren Eltern wiederfand? Würde sie glücklich sein, traurig, wütend? Oder gleich alles zusammen? Gab es eine vernünftige Erklärung, warum sie viele Jahre im Waisenhaus verbracht hatte?
Ashley nahm die Schere, setzte an und trennte die Schnur mit einem schnellen Schnitt. Sie drehte das Päckchen um, friemelte an den Klebestreifen, gab dann aber dem Gefühl nach und zerriss das Papier.
»Okay, in dir geht gerade eindeutig viel vor.« Zac nickte gewichtig. »Vielleicht nehme ich die Schere wieder weg.«
Die Reste des Packpapiers knisterten, als sie es entfernte und beiseiteschob. Darunter kam eine schmale Holzschatulle zum Vorschein.
Ashley atmete scharf ein.
Auf der Oberseite war ein Symbol eingebrannt. Eines, das ihr nur allzu vertraut war. Oben in ihrem Zimmer lag ein Armband aus Leder, in das eine metallische Platte eingeflochten war. Sie besaß die gleiche äußere Form. Ihre Ziehmutter hatte es ihr überreicht, als sie volljährig geworden war. Falls es irgendwo einen Hinweis auf ihre Eltern gab, konnte dies der Schlüssel sein. Es hatte bei ihr im Bettchen gelegen, als man sie vor dem Waisenhaus abgestellt hatte. Eine anschließende akribische Suche im Internet hatte leider nichts ergeben.
»Damit dürfte wohl klar sein, dass die Schatulle tatsächlich etwas mit deiner Herkunft zu tun hat.« Zac nahm ihre Hände in seine. »Was auch passiert, ich bin bei dir, ja?«
Sie nickte, zog ihre Hände dann aber ruckartig zurück. »Es ist eine verdammte Schatulle. Sie wird kaum explodieren.«
Ohne länger zu zögern, betätigte Ashley den Schiebeverschluss aus Messing. Das Schloss schnappte auf. Das Innere war mit grünem Samt ausgekleidet.
»Definitiv keine Bombe«, kommentierte Zac. »Aber ein Schlüssel ist doch ein netter Anfang.«
Er war so lang wie ihr Zeigefinger, so dick wie Ashleys Daumen und bestand aus dunklem Metall. Das Blatt war mit allerlei Schnörkeln verziert. Darunter war eine Visitenkarte geklemmt.
Ashley zog sie hervor. In geraden Lettern, völlig ohne jede Art von Verzierung, stand dort: Privatbank Bardsley. In kleineren Buchstaben die zugehörige Adresse.
Das war so gar nicht das, was Ashley erwartet hatte. Gleichzeitig war die Bedeutung eindeutig. Der Schlüssel würde wohl ein Schließfach bei besagter Bank öffnen. Während sie noch darauf starrte und die Hand ausstreckte, hatte Zac sein Smartphone hervorgezogen. Eifrig tippt er auf dem Display herum.
Das Metall fühlte sich unter Ashleys Fingern kalt an. Sie strich darüber und fragte sich, was, verborgen hinter dem Eisen des Schließfachs, auf sie wartete. Es hatte eindeutig etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun, doch der Rest blieb ein Rätsel.
»Ich habe sie!«, rief Zac. »Die Bardsley Privatbank liegt in Kensington. Auf der Website finden sich ein paar hübsche Bilder, aber alles nichtssagend.«
Was Ashley nicht verwunderte. Gerade Privatbanken legten großen Wert auf Diskretion. Schließlich wollte niemand zum Ziel eines Überfalls werden oder aufgrund reicher Kunden für einen Diebstahl erwählt werden. »Sieht so aus, als werde ich der Bank morgen einen Besuch abstatten müssen.«
Da heute Freitag war und sie samstags ausnahmsweise keine Schicht im Fast-Food-Laden hatte, konnte sie das einrichten. Am liebsten hätte Ashley sich sofort auf das Rad geschwungen, um durch die Nacht zu brausen. So etwas klärte die Gedanken. Zudem hätte ihr das die Unruhe erspart.
»Vielleicht wirst du jetzt reich.« Zac schob das Smartphone zurück in seine Tasche. »Wenn deine Eltern dir ein Vermögen vermacht haben, ändert sich alles für dich.«
Der Gedanke an irgendwelche Vermögenswerte erzeugte nur eine dumpfe Leere in ihrem Inneren. Das Letzte, woran sie interessiert war, war Geld. Im Hause der Evans’ hatte es ihr nie an etwas gefehlt. Es gab eine warme Mahlzeit am Tag, liebe Worte bei einem aufgeschürften Knie und pep talks, die nach jedem Rückschlag wieder aufrichteten. Nein, sie war an Antworten interessiert. Wieso hatten ihre Eltern sie weggegeben? Wieso hinterließen sie ihr überhaupt etwas, wenn sie ebenso gut mit ihr Kontakt hätten aufnehmen können?
»Du siehst so aus, als würdest du gleich eines der Bücher gegen die Wand werfen wollen«, sagte Zac vorsichtig.
Ashley atmete bewusst und langsam wieder aus. »Sorry. Wieso hat der Typ das Kästchen nicht einfach heute Morgen gebracht? Dann hätte ich schon alle Antworten.«
Sie sank auf den Stuhl und versuchte, ihre aufgewühlten Gedanken zu beruhigen. Zac war bereits am Aufräumen. Schließlich würde für ihn morgen um acht Uhr ein ganz normaler Arbeitstag beginnen.
»Ich mache das Licht vorne aus.« Ashley begab sich in den vorderen Bereich.
Unweigerlich blickte sie zur Tür. Was das Auftauchen eines Menschen doch auslösen konnte. Sie trat an die Glasscheibe und fuhr mit den Fingern darüber, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Die Straßenlaternen flackerten. Ashleys überkam das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme. Hatte einer der Schatten sich gerade bewegt?
»Hey«, sagte Zac.
Ashley fuhr zusammen. »Woah.«
»Sorry. Aber ich bin so weit.«
Er löschte das Licht. Sie nahm ihre Geschenke und folgte ihm zur Treppe. Mit einem letzten Blick in Richtung Tür verließ sie den Laden.
Die Schatten blieben zurück.
Ashley
Vor Ashleys Mund kondensierte der Atem.
London war nicht nur von dichtem Nebel eingehüllt, die Kälte in diesem Januar übertraf die aller Jahre zuvor. Trotzdem hatte Ashley sich auf das Rad geschwungen – als würde sie sich vom Wetter aufhalten lassen! Zugegeben, der Weg an Autos vorbei und durch schmale Gassen war zu einem Hindernisparcours geworden.
Einer, den sie überwunden hatte.
Vor ihr ragten zwischen den Nebelschwaden die altehrwürdigen Mauern der Privatbank Bardsley auf. Im Gegensatz zu den bekannteren Adressen in Kensington verbarg diese sich in einer Seitenstraße. Die Fassade war aus dunkelgrauem Sandstein gefertigt, der über die Jahrzehnte von Wind und Wetter geglättet worden war. Zwischen den Pilastern, die das Hauptportal flankierten, spannten sich schmiedeeiserne Gitter, deren verschnörkelte Muster Ashley an jenes auf ihrem Armband erinnerte. Und auch wieder nicht. Vermutlich konnte man alles hineininterpretieren.
Sie schloss ihr Rad an den Laternenpfahl, öffnete das Tor und sah die Stufen hinauf zum Eingangsportal. Eine doppelflügelige Tür aus poliertem Mahagoniholz war mit Messinggriffen in Form von Klauen versehen.
»Echt jetzt?« Ashley schluckte, riss sich zusammen und setzte sich in Bewegung.
Direkt über dem Portal prangte ein steinernes Wappen. Irgendetwas mit Flügeln und anderem Zeug, das sie aus dieser Perspektive nicht richtig erkennen konnte.
Sie zog an dem Griff, worauf die Tür sich überraschend leicht öffnen ließ.
Die Zeit schien im Inneren stillzustehen, und als die Tür hinter Ashley wieder ins Schloss fiel, wurde der Trubel der Stadt, das ferne Hintergrundrauschen des stetigen Verkehrs, zusammen mit der Wirklichkeit ausgesperrt. Der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt, der jeden ihrer Schritte dämpfte und vermutlich flauschiger war als ihre Bettdecke.
Für gewöhnlich mangelte es Ashley nicht an Selbstbewusstsein, doch unweigerlich überkam sie das Gefühl, winzig klein und völlig underdressed zu sein.
Sie streckte ihre Schultern durch, riss sich zusammen und ging auf direktem Weg auf den Empfangsschalter zu. Dahinter thronte ein Mann, der gleichzeitig Wächter war. Sein Blick sagte: »Nein, du bist hier falsch, aber ich lächle trotzdem.«
Möglicherweise interpretierte sie auch einfach nur Dinge wild drauflos.
»Guten Morgen.« Seine Stimme war samtig und tief, das an den Schläfen grau melierte Haar perfekt frisiert. »Wie kann ich Ihnen helfen, Ms?«
Sie erwiderte den Gruß. »Mein Name ist Ashley Evans. Ich wurde gestern von einem Herrn der Kanzlei Inkwood & Sons aufgesucht.« Bei diesen Worten wanderte eine der Brauen in die Höhe. Erst jetzt realisierte sie, dass es kein Namensschild gab und sich der Vertreter der Bank nicht vorgestellt hatte. »Er übergab mir ein Kästchen.«
Stille senkte sich herab. Sie hatte gehofft, mit ihrer Erzählung irgendeine Reaktion hervorzurufen.
»Darin lag eine Visitenkarte Ihrer Bank.« Sie griff in ihre Hosentasche. »Und ein Schlüssel.«
Die Augen des Mannes fixierten selbigen, als Ashley ihn sichtbar auf die Theke legte.
»Wären Sie so freundlich, ihre Handschuhe auszuziehen?«, bat er.
Verwirrt betrachtete sie ihre vor der Kälte geschützten Hände. »Ist das so etwas wie eine Kleiderordnung?«
»Bitte.«
Sie zog nacheinander an dem Stoff, der ihre Finger bedeckte, und schließlich die Handschuhe aus. Diese wanderten in ihre Hosentasche.
Wortlos deutete der Mann auf den Schlüssel.
Stirnrunzelnd nahm Ashley ihn wieder an sich. »Okay.«
Sein Blick taxierte sie, als wartete er darauf, dass sie aufgrund der Berührung des Metalls in Feuer aufgehen oder sich in einen Dämon verwandeln würde. Als einige Sekunden lang nichts geschah, schlich sich ein überraschter Ausdruck auf seine Gesichtszüge. »Willkommen in der Privatbank Bardsley, Ms Evans. Mein Name ist Patrick Newton. Ich stehe Ihnen für alle Fragen zu Ihrem Schließfach zur Verfügung.«
»D-Danke.« Nun war es Ashley, die sich vollkommen verwirrt fühlte. Wo kam dieser plötzliche Wandel im Verhalten von Mister Newton her? »Dann würde ich wohl gerne mein Schließfach sehen.«
»Selbstverständlich.« Er griff unter das Pult und betätigte dort einen Schalter. »Bitte folgen Sie mir.«
Was sie auch tat. Zwischen den Marmorsäulen hindurch, vorbei an Gemälden und Tischen mit ausgefeilter Dekoration. Die Fenster hier drinnen waren hoch und schmal und mit buntem Glas verziert. Trotz des Nebels vor dem Gebäude erschuf das Tageslicht kaleidoskopartige Lichtspiele an Wand und auf Teppich. Alle paar Schritte sahen Ashley Frauen und Männer von den Gemälden entgegen, die eine Aura der Macht verströmten.
»Die Oberhäupter der Bank«, erklärte Newton. »Rotierend durch die Clans.«
»Welche Clans?« Das klang so gar nicht nach gehobener Schicht. Eher kriminell.
Mister Newtons Mundwinkel kräuselten sich. »Das würde wohl zu viel Zeit in Anspruch nehmen.«
Eine breite Treppe führte in die Tiefe. Am unteren Ende erwartete sie ein Gittertor, das Mister Newton mit einer Drehung des Knaufs öffnete. Ashley hatte eher einen Schlüsselbund mit Dutzenden Eisenschlüsseln vermutet.
Hier unten schien die Zeit noch einmal einen Sprung rückwärts gemacht zu haben. Von einer modernen Halle ging es in einen stollenartigen Gang, der vor einem hölzernen, sechseckigen Podest endete. In der Mitte ragte eine Säule empor, ringsum waren Schlüssellöcher im Holz zu erkennen. Neben jedem davon war ein Symbol eingebrannt.
»Ihr Ernst?«, fragte Ashley. »Krass. Das wirkt so … alt.«
»Weil es das ist.« Mister Newton verschränkte die Hände hinter dem Rücken und betrachtete stolz das Konstrukt. »Wir verwahren die Geheimnisse und Schätze unserer … Kunden seit vielen Generationen.« Er bedeutete ihr, den Schlüssel einzuführen.
Ashley trat nach vorn und überflog die verschiedenen Symbole. Bei gewöhnlichen Banken hatten die Schließfächer einfach Nummern. Gehörte etwa jedes dieser Fächer einer besonders reichen Familie? Womöglich hatte Zac mit seiner Vermutung gar nicht so falschgelegen. Da, sie fand das Symbol, das auf dem Holzkästchen eingebrannt war, und schob den Schlüssel in das zugehörige Schloss.
Ein Keuchen ließ sie aufsehen. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Sind Sie sicher, dass das Ihr Schließfach ist?«
Richtig, er hatte lediglich den Schlüssel gesehen, doch das Symbol befand sich auf dem Kästchen. »Schon.« Oder? Ashley drehte den Schlüssel und ein Klacken erklang, etwas rastete ein.
Jetzt wirkte Mister Newton, als benötigte er seine Kraft, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Er schluckte und kramte die letzten Reste seiner Contenance zusammen. »Sie müssen drücken. Den Knauf in der Mitte der Säule.«
Ashleys Verwirrung wuchs, doch sie kam der Aufforderung nach. Der Knauf sank in eine Vertiefung. Überall in den Wänden ratterte es, der Eingang verschwand, fuhr in die Höhe davon. Was bedeutete … »Das ist ein Fahrstuhl. Wir fahren nach unten.«
»In der Tat.« Mister Newton musterte sie von den Haaren bis zu den Spitzen ihrer Sneaker. »Faszinierend.«
»Haben Sie noch nie eine Frau gesehen?«, konnte Ashley sich nicht verkneifen.
Er deutete sogar ein Lächeln an, schwieg darüber hinaus jedoch. Die Kammer fuhr immer weiter nach unten, vorbei an Metalltüren, auf denen Symbole prangten. Die ›Schließfächer‹ waren in Wahrheit also Räume.
»Gehört jeder davon einer reichen Familie?«, fragte Ashley.
»In der Tat.«
Sie hatte nicht damit gerechnet, so einfach Antworten zu erhalten. »Und das Schließfach, zu dem wir unterwegs sind … Wem gehört es?«
»Lagen dem Schlüssel keine weiteren Informationen bei?«, stellte er die Gegenfrage.
Ashley schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, mehr über meine leibliche Familie zu erfahren.«
»Verstehe. Nun, dann ist es wohl das Klügste, den Inhalt des Schließfachs für sich sprechen zu lassen.«
Sie fuhren noch eine Weile schweigend in die Tiefe. Der ›Aufzug‹ hielt vor der Metalltür mit dem bekannten Symbol.
»Sie müssen die Tür an der Stelle des Symbols berühren«, erklärte Mister Newton.
»Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind entweder technisch total weit fortgeschritten – Biometrie, DNA und so Zeug – oder Sie müssen dringend nachrüsten.« War es tatsächlich möglich, dass über ihre Haut oder den Handabdruck erkannt wurde, dass sie zu dieser ominösen Familie gehörte? Oder konnte nach dem Einführen des Schlüssels jeder die Tür öffnen?
Das Metall fühlte sich unter ihrer Handfläche kalt an, das Symbol allerdings schien sich zu erwärmen. Sekunden verstrichen. Ein weiteres Klacken, und die Tür fuhr zur Seite.
»Unglaublich«, hauchte Mister Newton.
»Sie werden mir nicht sagen, warum Sie ständig kurz vor dem Herzinfarkt stehen, oder?«, fragte Ashley.
Wortlos bedeutete er ihr, den Gang zu betreten. Sie kam der Aufforderung nach. An der Wand flammten Lampen mit großkolbigen Glühbirnen auf.
Erst nach einigen Schritten bemerkte sie, dass Mister Newton ihr nicht folgte. »Kommen Sie nicht mit?«
»Das ist Ihr Schließfach«, erklärte er geradezu entsetzt. »Ich kann … werde es nicht betreten.«
Sie runzelte die Stirn. »Sie nehmen Ihre Gesetze schon sehr ernst, was?«
Wieder das ominöse Schmunzeln. »Lassen Sie sich Zeit, ich werde hier warten.«
Ashley nickte zögerlich, bevor sie weiterging. Eine Kurve folgte, der Gang endete abrupt.
Der Raum war sechseckig angeordnet, mit Wänden, die aus glattem, dunklem Obsidian bestanden und gelegentlich von in den Stein eingravierten Symbolen durchbrochen wurden. Diese glommen in einem sanften silbrigen Licht, das die Dunkelheit auf seltsame Weise durchdrang, ohne jedoch Schatten zu werfen. Die Decke des Raums war mit einem schimmernden Mosaik aus winzigen Steinen besetzt, was wie ein Sternenhimmel wirkte, in dem die Konstellationen sich langsam bewegten.
Etwas Derartiges hatte Ashley nie zuvor gesehen. Der Gedanke, es unter einer Bank zu finden, war zudem vollkommen abstrus. Was war das hier?!
In der Mitte des Raums stand ein massiver Schließfachblock, der aus silbrig glänzendem Metall gefertigt war, das wie Quecksilber in ständiger Bewegung schien, obwohl es seine Form nie veränderte.
Zumindest ging Ashley davon aus, dass dies das Schließfach war. Andere Gegenstände gab es hier drinnen nicht. Es blieb zu hoffen, dass es sich, wie die Türen hier, mit einer bloßen Berührung öffnen lassen würde.
Am Rand des Raums, verborgen in den Schatten, stand eine Statue aus tiefgrünem Malachit, geformt wie ein schlafender Drache.
Ein Drache!
Manche Dinge waren einfach zu viel des Guten. Hatte sich hier irgendein Filmmensch ausgetobt, der für Kulissen zuständig war? Aus welcher Familie stammte sie, verdammt noch mal?
Dieser Raum enthielt hoffentlich nicht nur fantastische Staffage und mögliche Reichtümer, sondern auch Antworten. In diesem Augenblick sehnte Ashley diese mehr herbei als alles andere.
Mit vorsichtigen Schritten ging sie auf den Schließfachblock zu. Der Anblick erzeugte Schwindel und sie musste kurz die Augen schließen. Das Metall schien tatsächlich flüssig und fest zugleich zu sein. Langsam streckte sie den Finger aus. Die Kuppe ihres Zeigefingers berührte die Oberfläche des Blocks, traf auf hartes Metall.
»Das ist irgendein visueller Effekt«, flüsterte Ashley.
So musste es sein. Was auch sonst?
Auf der Oberseite des Blocks schimmerten die vertrauten schwarzen Linien des Familiensymbols. Sie legte ihre rechte Handfläche darauf.
Ein kurzer Schmerz durchzuckte sie, wie der Biss einer Schlange, die sich sofort wieder entfernte. Ashley riss die Hand zurück. Es gab keine Wunde, doch sie sah zwei rote Tropfen, die sich in das Silber mischten. War das ihr Blut?
»Was geht hier ab?«, hauchte sie.
Es vermischte sich immer stärker mit dem seltsamen Metall, das sich verfestigte und auseinanderklappte. Wie Blütenblätter, die ihr kostbares Innerstes enthüllten, sanken die Teile herab.
Das Zentrum war mit grünem Samt ausgekleidet, in der Luft lag mit einem Mal der Geruch von Alter, Staub und etwas Metallischem. Zitternd ging sie näher.
Bei dem Blick auf das, was inmitten der Samtauskleidung lag, musste Ashley unweigerlich an Zac denken. Er wäre enttäuscht. Keine Smaragde, die ihr Reichtum gewährten. Auch kein Brief mit Antworten.
Auf dem Samt lag eine Schuppe.
»Das ist jetzt ein Witz.« Ashley starrte auf das verdammte Ding und jeder Hauch von Erwartung, Euphorie und Hoffnung verging schlagartig.
Das vertraute Gefühl dumpfer Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Sie hatte einmal mehr gehofft, was in der typischen Enttäuschung gemündet hatte. Wer auch immer ihre Eltern gewesen waren, ihr Interesse an Ashley konnte nicht sonderlich groß gewesen sein.
»Eine verdammte Schuppe.« Ashleys Blick wanderte zu der Statue in der Ecke. »Ja, genau. Ihr habt das Ding in einem alten Tempel gefunden, hierhergebracht und es hat magische Kräfte. Deshalb wolltet ihr es eurer dämlichen Tochter hinterlassen, die ihr irgendwann weggegeben habt.«
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und konnte nicht anders, als frustriert zu brüllen. Das kam hoffentlich nicht bei Mister Newton an, sonst würde der noch jede Regel in den Wind schlagen und doch den Gang entlangeilen. Wenn er das hier sah, würde er vermutlich in Gelächter ausbrechen. Oder eine weitere Braue in die Höhe ziehen, was so ziemlich dasselbe war.
Wenn ihre Eltern genug Geld hatten, um so einen Raum auszustaffieren und über Jahre hinweg zu mieten, mussten sie vermögend sein. Vielleicht war sie eine Royal? Sie lachte auf. Der Gedanke, dass der King hier unten eine Drachenschuppe versteckte, war lächerlich. Kein vernünftiger Mensch würde Geld aus dem Fenster werfen, um so etwas zu tun.
Ashley betastete das Metall. Das musste irgendeine neue Nanotechnologie sein. Anders konnte sie die Veränderung der Form nicht erklären. Oder es handelte sich, wie zuvor vermutet, um einen visuellen Effekt, der die Rillen verbarg. Ihre Eltern waren also eindeutig reich, vermutlich im Tech-Sektor.
Mit einem Seufzen rieb sich Ashley die Augen. Was sollte das alles? Wieso stand sie hier? Ein Armband, ein Schlüssel und jetzt eine Schuppe. Falls das hier eine Schnitzeljagd war, würde sie deren Ende wohl mit achtzig erreichen. Kein schöner Gedanke.
Sie ging zu der Statue, die vermutlich seit Jahrzehnten hier unten wachte. Der Drache war so groß wie vier ausgewachsene Menschen, was für eine Stilisierung schon recht ordentlich war. Die Schuppen waren filigran herausgearbeitet. Weshalb aber feine Linien darauf prangten, konnte sie nicht sagen. Das passte doch gar nicht zu Drachen. Die Linien bildeten verschnörkelte Symbole, für die Ashley keine Entsprechung fand. Eine Art von Ornamenten, abgewandelt von Tribals.
»Hier hat sich echt jemand ausgetobt«, murmelte sie.
Gleiches galt für den Sternenhimmel an der Decke. Sie war keine Astronomin, aber ein paar der bekannteren Sternenbilder konnte sie zuordnen. Keines davon war dort oben zu finden. Es war ein komplett der Fantasie entsprungenes Abbild eines Nachthimmels.
»Perfekte Impressionen für einen Fantasy-Liebhaber«, sagte sie. »Und dafür fahre ich stundenlang durch London.«
Falls es hier irgendwo einen Hinweis auf ihre Abstammung gab, den sie hatte finden sollen, fand sie ihn nicht. Eine kolossale Zeitverschwendung. Nun ja, nicht ganz. Womöglich konnte Mister Newton ihr helfen.
Und dann war da noch die Schuppe.
Natürlich eine Replik. Bei dieser Größe sollte es wohl eine Drachenschuppe darstellen. Ashley kehrte zu ihr zurück. Oder gab es etwas daran, was ihr weiterhelfen konnte? Vielleicht eine Nachricht auf der Unterseite?
Sie streckte ihre Hand aus.
Mit einem Mal kribbelte es in ihrem Magen. Die Luft schien statisch aufgeladen zu sein, und war da nicht ein Summen? Der Geruch nach Alter und Staub nahm zu, aber da schwang etwas mit.
Ihre Finger näherten sich der Schuppe.
Und berührten diese.
Schreie hallten laut vom Boden herauf. Das Brüllen wurde erwidert. Da war Schmerz, Blut und Verlust. Weite Schwingen trugen sie durch die Luft. Die Freiheit der vertrauten Berge tauchte unter ihr auf. Etwas blitzte auf. Jade und Malachit zersprangen.
Ströme aus Blut quollen zwischen dem Gestein hervor. Sie konnte die Magie spüren, Freund und Feind zugleich. Ein wirbelnder Nebel.
Triumph.
Flucht.
Gestein und winzige Menschen.
Das hallende Lachen eines Sieges, das zu einem Wutschrei wurde. Die Beute war entkommen.
Und aus einem Funke erwuchs etwas Neues.
Die Clans.
Ashley fuhr in die Höhe. Verwirrt sah sie sich um, das Gesicht schweißnass. Ihr Kopf pochte, wie bei der schlimmsten Migräne. Sie schrie vor Schmerz.
Ein Kontaktgift, das musste es sein. Sie hatte dieses Ding berührt, die Schuppe. Ihr Blick glitt fahrig umher. Wo war das Teil? Sie musste es einem Labor übergeben, vielleicht konnten die sie noch retten.
Doch die Schuppe war fort.
»Nein.« Ashley wimmerte.
Der Schmerz in ihrem Kopf wurde erneut übermächtig. Etwas stimmte ganz und gar nicht.
Ihr Bewusstsein verging in Pein und Dunkelheit.
Ashley
Ein Schwappen erklang.
Ashley blinzelte und für einen Augenblick kam ihr die Umgebung so völlig fremd vor, dass sie panisch in die Höhe schoss. Die Erinnerung kehrte zurück. Sie atmete ein und wieder aus, versuchte, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen.
Der Schließfachblock hatte erneut feste Form angenommen. Darüber hinaus hatte der Raum sich aber nicht verändert. Nachdem ihr Herz endlich wieder auf seinen gemächlichen Gang zurückgeschaltet hatte, erhob sie sich –wenn auch auf zittrigen Beinen.
»Was für ein beschissener Tag.« Ashley rieb sich die Augen und versuchte, Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken zu bringen.
Der Schließfachblock hatte sich geöffnet, da war sie sicher. Womöglich gab es eine Sicherung mit Zeitschaltuhr, die verhinderte, dass er zu lange offenblieb? Und diese seltsame Schuppe? Vermutlich ein Kontaktgift. Sie suchte den Boden mit zusammengekniffenen Augen ab, doch das Ding lag nirgends. Sie benötigte mehr Licht. Ashley zog ihr Smartphone aus der Tasche, stellte jedoch verärgert fest, dass es sich ausgeschaltet hatte.
»Willkommen zurück«, ahmte sie die nasale Stimme von Mister Newton nach. »Sie haben dreißig Jahre verschlafen, deshalb auch die Spinnweben auf meiner Wange.« Sie kicherte, erschrak aber über den dezent hysterischen Klang.
In ihrer rechten Schulter machte sich ein ziehender Schmerz breit. An dieser Stelle musste sie aufgeprallt sein. Zeit für eine Massage. Wenn sie schon an ihrem Geburtstag gearbeitet hatte, konnte sie sich wenigstens heute etwas gönnen.
Ein letzter vorwurfsvoller Blick in Richtung des Schließfachblocks, dann verließ Ashley den Raum. Der Rückweg verlief schleppend, sie fühlte sich seltsam ausgelaugt. Dabei hatte diese Bewusstlosigkeit ihr Schlafpensum für das gesamte Jahr nach oben getrieben. Normalerweise bekam sie nie mehr als sechs Stunden.
Hinter der Kurve wartete der vertraute Anblick der geöffneten Tür, dahinter die Kabine und der wartende Mister Newton. Sie betrachtete ihn beim Näherkommen eingehend. »Keine Spinnweben.«
»Wie bitte?«
Ashley betrat die Kabine. »Man verliert so schnell das Gefühl für die Zeit da drin. Wie lange war ich denn dort?«
Mister Newton bedeutete ihr, den Schlüssel im Familiensymbolschloss zu drehen, was Ashley umgehend tat. Die Tür schloss sich, die Kabine fuhr in die Höhe.
»Fünf Stunden«, erwiderte Mister Newton, wobei er sie eingehend musterte.
Seine Nasenflügel bebten, ein Kräuseln erfasste seine Lippen. Er wirkte zufrieden.
»Fünf Stunden«, echote Ashley und realisierte dann die Bedeutung des Gesagten. »Fünf Stunden!«
»In der Tat.«
»Ist Ihnen nicht der Sinn gekommen, ich weiß nicht, Hilfe zu holen?« Sie starrte in entgeistert an.
»Hilfe?«
»Einen Krankenwagen?«
Er hustete, doch Ashley ging jede Wette ein, dass er damit lediglich ein Lachen maskierte. »Wenn es in einem der Schließfächer zum Ableben des Besuchers kommt, schließt sich die Tür.«
Sie starrte ihn einfach nur an.
»Mir war also zu jeder Zeit bewusst, dass es Ihnen gut geht«, erklärte er.
»Wollen Sie mir damit sagen, dass es Schließfächer gibt, in denen tote Menschen liegen?«
»Menschen …« Mister Newton zögerte. »… sterben. Das ist der Lauf der Dinge.«
»Aber doch nicht in einem Bankschließfach«, hauchte Ashley. »Das ist ja schrecklich. Wie bekommen Sie denn dann die Tür wieder auf, um den Toten herauszuholen?«
»Der letzte Vorfall dieser Art liegt viele Jahre zurück«, erklärte er. »In einem solchen Fall werden Clanangehörige informiert, die dann in das Schließfach vordringen.«
Glücklicherweise kam in diesem Augenblick die Kabine zum Stehen. Was hätte sie auch sagen sollen? Sorry, aber ich habe keine Angehörigen, mich hätten Sie nicht herausbekommen?
Ashley kehrte mit Mister Newton zurück in den Eingangsbereich der Bank, und erst jetzt atmete sie wirklich auf.
Er deutete auf den Schlüssel, den sie nach wie vor trug. »Verwahren Sie ihn gut. Dieses Bankschließfach ist eines der sichersten auf dieser Welt. Es wird Ihnen noch große Dienste erweisen.«
Ashley verstaute den Schlüssel. »Ich glaube nicht, dass ich ein weiteres Mal dort reingehe.«
»Selbstverständlich. Nun, trotzdem möchte ich ein weiteres Mal in aller Form sagen: Herzlich willkommen in der Bardsley Bank. Wir freuen uns, Sie zu unserem Kundenstamm zählen zu dürfen.« In seine Augen trat ein warmes Funkeln.
Ashley hatte das Gefühl, dass ihr hier ein Subtext entging. »Und Sie wollen mir nicht sagen, wem das Schließfach vor mir gehörte? Wer meine Eltern sind?«
Mister Newton atmete schwer aus. »Es tut mir leid, aber wir mischen uns grundsätzlich nicht in … Familienangelegenheiten ein. Das betrifft auch Schlüsselweitergaben.«
»Was ist, wenn mir jemand den Schlüssel stiehlt?«
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte er. »Die Person gehört nicht der gleichen Familie an und kann das Schließfach nicht betreten.«
»Ha!«, rief Ashley. »Ich wusste es. DNA-Scanner.«
»Ja«, sagte Mister Newton trocken mit dezentem Unglauben in der Stimme. »Genau die. Falls Ihnen der Schlüssel gestohlen wird, können jedoch auch Sie das Bankschließfach nicht mehr betreten. Der Schlüssel ist immer vonnöten.«
Ashley betastete ihre rechte Hosentasche, was einmal mehr eine hochgezogene Braue zur Folge hatte. »Ist ja gut, ich werde ihn gut verstecken, sobald ich zu Hause bin.«
»Verstecken«, echote Mister Newton. »Ms Evans, die Gepflogenheiten der Familien sind Ihnen zweifellos noch fremd.«
»Die Royals?«, warf Ashley ein.
»Nein«, erwiderte Mister Newton mit einem Hauch von Entsetzen in der Stimme. »Das wird weitaus komplizierter, als ich dachte, und es wird ab jetzt schnell gehen. Hören Sie, Ms Evans, Sie sollten nach Hause eilen und die Ereignisse auf sich wirken lassen.« Er warf einen Blick zu den Buntglasfenstern, durch die kein Sonnenlicht mehr hereinfiel. »Es ist bereits dunkel, seien Sie bitte vorsichtig.«
Der Umschwung zwischen absoluter Distanziertheit und einem derartigen Rat brachte Ashley kurz aus der Fassung. »Keine Sorge. Ich habe mehrere Jahre Krav Maga betrieben.«
Wieder erschien dieser Zug der Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht.
»Ich war wirklich gut.« Ashley winkte ihm zu. »Machen Sie’s gut.«
Damit verließ sie die Bank.
Ihr Fahrrad wartete noch immer an der Stelle, an der sie es an den Laternenpfahl gekettet hatte. Die Laterne war jetzt allerdings erleuchtet. Dichter Nebel lag auf den Straßen und begrenzte den Blick in alle Richtungen. In der Ferne erklangen Hupgeräusche von Autos, doch dazwischen lag eine beängstigende Stille. Dieser Bereich von Kensington war eine Insel, die außerhalb der Realität zu liegen schien.
Ashley zog ihre Fahrradhandschuhe über und stieg auf den Sattel. Jetzt bereute sie es, den Helm heute nicht mitgenommen zu haben. Sie würde vorsichtig fahren müssen. Und dabei war Kensington kein ihr vertrautes Gebiet, wann kam sie schon mal hierher?
Letztlich konnte sie nicht sagen, was es war, das sie zurückblicken ließ, doch sie tat es. Im Nebel verborgen, gerade noch sichtbar, ragten drei schwarze Silhouetten auf. Ashley spürte ihre Blicke. Taxierend, abwartend, lauernd.
»Reiß dich zusammen, Evans«, verlangte sie. »Dieses Schließfach ist einfach nur eine fancy Art von Nerdtum.« Ihre Schulter kribbelte und sandte leichte Schmerzwellen durch ihren Körper.
Wie auf ein geheimes Kommando setzten die drei Silhouetten sich in Bewegung. Jetzt konnte sie sie genauer erkennen. Alle trugen identische Kleidung: dunkle Jeans, Sneaker und einen Hoodie. Die Kapuze war hochgeschlagen und darunter die Gesichter nicht erkennbar. Wabernde Schatten verbargen das Antlitz der Männer – zumindest ging sie anhand ihrer Statur davon aus, dass es sich um solche handelte.
Etwas in ihr schrie auf. Gefahr! Für eine Sekunde veränderte sich alles. Ashley roch Adrenalin und Hass. Sie spürte Wellen der gierigen Erwartung. Ein grüner Schimmer erfasste ihr Gesichtsfeld, schob Dunkelheit und Nebel beiseite.
Die drei erstarrten.
Sekundenlang fixierten sie Ashley.
Das Grün in ihrem Gesichtsfeld verschwand, ihre Sinne spielten nicht länger verrückt. Einzig der pochende Schmerz in ihrer Schulter hielt sich hartnäckig.
Die Silhouetten sprinteten los.
Ashley trat in die Pedale und schoss davon. Die Bardsley Privatbank blieb im Nebel zurück.
Bereits nach wenigen Minuten brannten ihre Lungen von Anstrengung und Kälte. Sie reagierte instinktiv, fuhr links, rechts, im Zickzack. Letzteres erwies sich als gute Idee, denn an Ashley schoss ein Pfeil vorbei, der mit einem Klong von der nächsten Straßenlaterne abprallte.
Was ging hier ab?
Vor ihr tauchten unzählige dunkle Silhouetten im Nebel auf, die ihre Finger gierig nach ihr ausstreckten – Bäume. Vor ihr lag Kensington Gardens. Innerlich brüllte Ashley sich selbst an, nicht wegen jedem Husten zu erschrecken. Hatte der Besuch bei der Bank sie in ein feiges Huhn verwandelt? Nein!
Sie warf einen Blick über die Schulter.
Alle drei waren noch da. Sie rannten und kamen dabei immer näher. Die Dunkelheit unter den Kapuzen waberte, schien sich nach ihr auszustrecken.
Ihre Beine traten schneller in die Pedale, das Fahrrad ratterte über Kopfsteinpflaster, Gehwege und Schotter. Sie spornte ihre Muskeln zur Höchstleistung an, fuhr gewundene Pfade entlang und … einen breiten Weg.
Sie hatte den Hyde Park erreicht, der direkt an die Kensington Gardens anschloss. Zu jedem anderen Zeitpunkt wären hier Dutzende Menschen unterwegs gewesen, wenigstens noch ein paar in der Nacht. Doch bei diesem Nebel verwandelten sich die weiten Wiesen zwischen den Bäumen der Allee in Seen aus waberndem Grau.
Hinter ihr erklangen die keuchenden Atemzüge der Verfolger. Sie waren ganz nah, Ashley konnte es spüren. Wieso waren die so schnell?
Durch den Nebel hindurch sah sie die Skyline Londons, die Verheißung von moderner Architektur, die die letzten Reste dieses Albtraums mit Helligkeit und Menschen vertreiben konnte. Kein Schatten hielt den Lichtern der Großstadt stand.
Ein Ruck erfasste das Fahrrad.
Ashley blickte erneut über die Schulter. Der mittlere der Verfolger hatte etwas ausgeworfen, das wie ein Lasso wirkte. Es hatte sich um die Sattelstütze geschlungen. Durch das zusätzliche Gewicht wurde sie langsamer. Immer langsamer.
Ein wütender Schrei entfuhr ihr.
Aber gut, wenn diese Mistkerle dachten, dass sie so leicht zu kriegen war … dann auf die harte Tour.
Ashley trat in die Bremse, die das Hinterrad blockierte. Wohlweislich nutzte sie nicht diese, die sich auch auf das Vorderrad auswirkte, sie wollte sich schließlich nicht überschlagen.
Das Fahrrad kam zum Halt, sie stieß sich ab, sprang zur Seite, und es fiel zu Boden. Das Lasso wurde bedauerlicherweise rechtzeitig eingeholt, der Verfolger stolperte nicht.
»Ihr habt euch die Falsche ausgesucht!«, rief Ashley.
Wollten die tatsächlich den Schlüssel? Mister Newton hatte sie gewarnt. Vermutlich gehörten diese drei zu irgendeiner Straßengang, die vor Privatbanken auf ahnungslose Kunden lauerte, die wie ein leichtes Opfer wirkten.
Während zwei der Schatten stoppten, sprang der dritte mit Anlauf auf Ashley. In diesem Fall war ein Sprung gleichzusetzen mit einem katapultartigen in die Luft schießen und herabgleiten. Sie warf sich zur Seite. Funken sprühten, als die Klinge eines gezackten Schwertes aus einem grünen Material auf den Beton des Bodens schlug.
Ashley keuchte entsetzt. »Echt jetzt? Ein Schwert? Was kommt als Nächstes?«
Der Unbekannte knurrte nur, holte aus und zog die Klinge durch die Luft. Einzig Ashleys durch Kampfsport trainierten Reflexe war es zu verdanken, dass sie nicht durchbohrt, aufgeschlitzt und geköpft wurde. Das hier war kein simpler Überfall – es war ein Mordversuch. Wer auch immer ihre Eltern waren, irgendwer wollte nicht, dass die verschollene Tochter zurückkehrte. Es musste um verdammt viel Geld gehen.
Bei all der eingesetzten Technik vermutete sie ein Hochtechnologie-Unternehmen. Die Klinge, mit der der Unbekannte auf sie einstach, bestand aus einem grünen Metall, das wie Malachit aussah. Einige Gegenstände aus dem Bankschließfach waren daraus gefertigt.
Der nächste Schlag hätte Ashley beinahe den Arm aufgeschlitzt. Sie musste sich konzentrieren. Und diese Sache beenden. Wäre ihr Smartphone seit dem Besuch des Schließfachs nicht aus, hätte sie längst die Metropolitan Police alarmiert.
Unter dem nächsten Hieb duckte sie sich weg, ging in die Hocke und vollführte einen sauberen Kick. Ein Windstoß ließ ihre Haare wirbeln, das Surren des Schwertes wurde von dem Schmerzensschrei ihres Angreifers übertönt. Er taumelte zurück. Adrenalin peitschte durch Ashleys Adern, schärfte ihre Sinne über jedes normale Maß hinaus.
Sie kam wieder in die Höhe, die Knie leicht gebeugt, die Hände in abwehrender Haltung locker vor der Brust erhoben. Ihr Angreifer war einen Schritt zurückgewichen, hielt das Schwert mit einer tödlichen Ruhe und taxierte sie aus dem Schatten heraus.
Warum griffen die anderen beiden nicht an?
Das Licht der Laternen ließ das Malachit schimmern. Ihr Angreifer machte einen Schritt nach vorne, schwang das Schwert in einer fließenden Bewegung in ihre Richtung. Er wollte sie an der Hüfte treffen, was eine Verletzung bedeutet und damit auch ihre weitere Flucht erschwert hätte. Ashley war schneller. Ein Sidestep und sie war außerhalb der Reichweite seiner Klinge. Sie griff mit einem tiefen Ausfallschritt an, kam unter seinem Arm hindurch und rammte ihm den Ellbogen gegen den Solarplexus. Obgleich sie gar nicht so viel Kraft in den Schlag gelegt hatte, erklang ein Knacken. Keuchend kippte der Mann hintenüber. Die Klinge fiel zu Boden. Ashley warf sich in einer Rolle vorwärts, griff in der Drehung nach dem Schwert und … schrie auf. Sie brach seitlich weg, die Waffe glitt ihr aus den Fingern.
Mühsam rappelte sie sich auf, taumelte zurück und betrachtete ihre Handfläche. Wo sie das Heft des Schwertes umklammert hatte, war die Haut verbrannt. Als hätte sie diese auf eine Herdplatte gedrückt und dort für eine Sekunde belassen.
Das Schwert war gesichert!
Vermutlich war es deshalb aus diesem malachitähnlichen Material. In Wahrheit versteckte sich hochmoderne Technik darin.
Immerhin, der Angreifer lag am Boden. Einer der anderen beugte sich über ihn. Der perfekte Augenblick für einen strategischen Rückzug. Ashley warf sich herum und sprintete davon. Der Nebel schien dichter geworden zu sein, wallte überall dort, wo sie entlangrannte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich im Hyde Park aktuell befand. Er war nun einmal riesig; irgendwo hatte sie mal gelesen, dass das gesamte Areal aus beiden Parks größer war als Monaco. Ganz wunderbar!
Sie sprang vom Pfad und rannte über das umgebende Grün. Hinter ihr wallte der Nebel, schweres Atmen erklang. Es kam näher.
Schneller!
Vor ihr teilte sich der Nebel vor dunklem Wasser. Es war ›The Serpentine‹, der lang gezogene See, der den Hyde Park in zweite Hälften spaltete. Und bedauerlicherweise war weder die Brücke noch das Ende des Wassers irgendwo zu sehen.
Ashley wandte sich ihrem Angreifer zu.
Selbstverständlich lag in seiner rechten Hand ebenfalls eines der gezackten Schwerter. Vermutlich musste sie sich darüber freuen, mit Schusswaffen hätte sie keine Chance gehabt. Kugeln auszuweichen, war nicht ganz so einfach.
»Wisst ihr, wir müssen nicht kämpfen«, erklärte Ashley. »Hättet ihr doch gefragt. Wer braucht schon einen Schlüssel für ein ziemlich wertloses Schließfach?« Sie zog ihn aus der Tasche. »Willst du ihn haben?«
Wieder ein Knurren.
»Ernsthaft, ein wenig Konversation hat noch nie jemandem geschadet.« Ashley gab sich locker, doch ihre Nerven glichen zwei gespannten Stahlseilen. Es war völlig klar, dass diese Typen sie nicht am Leben lassen wollten. »Aber ihr wisst schon, dass ihr das Schließfach nicht betreten könnt, ohne …« Ihr wurde übel.
Ging es etwa darum? Griffen diese Typen sie mit Schwertern an, um den Schlüssel und ihre Hand zu erbeuten? Denn damit hätten sie ja die notwendige DNA. Falls dieses technische Sicherungssystem nicht auch die Durchblutung der Handfläche prüfte, kämen die Kerle auf diese Art tatsächlich ins Schließfach. »Aber da ist nichts Wichtiges drin.«
Die Klinge fuhr durch den Nebel.
Was folgte, war ein seltsamer Tanz, der jenem ähnelte, den sie bereits mit seinem Kumpel aufgeführt hatte. Dieser hier schien jedoch erpicht darauf zu sein, Fehler nicht zu wiederholen. Er parierte, führte Finten aus und ging immer wieder zügig auf Abstand.
Dass Ashley mit dem Schlüssel durch die Luft fuchtelte, schien ihn nicht so sehr zu beeindrucken. Ein Geräusch erklang in der Ferne.
»Hilfe!«, brüllte sie.
Der Blick in die Richtung war ein Fehler. Der Angreifer ließ die Klinge tanzen, und durch ihren linken Oberarm schoss ein scharfer Schmerz. Die Haut brannte, Blut lief heiß den Arm herab.
Der Schmerz ließ Wut in ihr aufsteigen wie ein Feuer. Bevor Ashley weiter darüber nachdenken konnte, holte sie aus und warf den Schlüssel mit aller Kraft in die Ferne. Stille senkte sich herab, kurz gefolgt von einem Platschen.
»Geh doch tauchen, du Arsch«, fauchte sie dem Angreifer entgegen.
Jetzt war er wohl sauer.
In einer schnellen Folge stieß er mit dem Schwert nach ihr, landete einen weiteren Treffer an ihrem Bein, gefolgt von der Schulter. Sie blutete aus drei Wunden, das Ausweichen wurde schwerer, vom Angriff ganz zu schweigen. Das hier würde böse ausgehen, wenn sie sich nicht etwas einfallen ließ. Ihr Trainer erschien vor Ashleys innerem Auge. Grundsätzlich legte dieser erheblichen Wert auf Taktik. Kämpfe mussten eingeschätzt werden. Handelte es sich um eine lange Form der gegenseitigen Attacke, wurde Ausdauer benötigt. War der Angreifer sehr stark, musste er flink ausgeschaltet werden. Im schlimmsten Fall, wenn man sich in der absoluten Defensive befand, ohne Aussicht darauf, das Blatt zu wenden, funktionierte nur noch eine ›Alles oder nichts‹-Taktik. Ashley schrie, sprang an ihrem Gegner vorbei und rollte sich auf dem Boden ab. In der Bewegung bohrte sie ihre Finger in die Erde, kam mit einem Klumpen Dreck in der Hand wieder in die Höhe. Ihr Gegner war ausgewichen und tänzelte jetzt auf sie zu. Sie warf den Klumpen, sprang ihn an und schmetterte drei Faustschläge gegen seinen Magen, rammte ihren Ellbogen gegen sein Kinn. Immerhin, er besaß eindeutig eines.
Das Schwert entglitt seinen Fingern. Ashley fing es auf. Der Schmerz war wie pures Feuer, doch sie ließ nicht los. Ihr Angreifer keuchte. Sie wandte ihm die Klinge zu und rammte sie in seine Schulter.
Aufschreiend brach er in die Knie.
»Wie schmeckt die eigene Medizin?« Ashleys Stimme klang außer Atem.
Sie blutete, ihre Hand brannte wie Feuer, Haut löste sich bereits davon ab. Außerdem hatte sie den dritten im Bunde keine Sekunde vergessen. Sie musste weg! Ohne sich länger aufzuhalten, rannte sie in den Nebel, direkt zur Serpentine Bridge. Mit ihrem Bike wäre diese Sache deutlich einfacher gewesen.
Ashley sprintete oder versuchte es zumindest. Es war dann doch irgendwie eher ein Taumeln. Aber immerhin hatten ihre Verfolger es wohl aufgegeben. Einer schlief den Schlaf der Ungerechten, ein anderer kniete in Demut mit einem Schwert in der Schulter. So hatten diese Mistkerle sich den Abend bestimmt nicht vorgestellt.
»Ha!«, rief sie zufrieden.
Zugegeben, sie hatte sich den Abend ebenfalls anders vorgestellt. Blut, Verletzungen und eine Flucht hatten da keine Rolle gespielt. Eher ein Schaumbad, mit Duftkerzen und einem Buch. Dazu Pistazien. Ja, das klang gut.
Vor ihr trat der dritte Angreifer aus dem Nebel.
»Echt jetzt?!«, brüllte sie ihm entgegen.
Sie hatte es bis in die Mitte der Brücke geschafft, er musste ihren Fluchtweg vorausgesehen haben und war von der anderen Seite losgerannt. Wie war ihm das in der Kürze der Zeit gelungen?
»Na schön, ich habe deine beiden Kumpane erledigt, dich schaffe ich auch noch!«, spie sie ihm entgegen.
Neben ihm wallte der Nebel und der nächste Kapuzentyp trat hervor. Vermutlich jener, den sie bewusstlos geschlagen hatte. Das war so unfair.
Ashley wollte zurücklaufen, doch hinter ihr war der letzte im Bunde aufgetaucht. Sie konnte sehen, dass seine Schulter stark blutete, aber er stand aufrecht und hielt das Schwert in der Hand.
Damit war klar, wie diese Sache ausgehen würde. Sie hatte keine Kraft mehr, sich einer Person mit Waffe entgegenzustellen, ganz zu schweigen von drei. Trotzdem hob sie die Arme. »Ich gebe nicht auf!«
Die beiden vor ihr wichen zurück.
»Ha, genau, überlegt es euch gut!«
Erst jetzt realisierte sie das Rauschen hoch über ihr. Ashley hob den Blick. Der Nebel teilte sich und darüber wurde ein Wesen sichtbar. Ein Drache. Beinahe wäre sie in hysterisches Kichern ausgebrochen. Das Tier besaß die Größe eines Londoner Doppeldeckerbusses, in dem Touristen gerne durch die Stadt fuhren. Die Schuppen waren von einem tiefen Grün, im Gegensatz zu den Malachit-Schwertern aber matt.
Der Drache stieß ein Brüllen aus, ging tiefer und … schrumpfte. Seine Klauen zogen sich zurück, die geschlitzten Pupillen bekamen vertraute Form und dann … wurde er zu einem Typen. Der letzte Rest der Wandlung geschah einen guten Meter über dem Boden; er fiel herab.
Stille breitete sich aus.
Vor ihr stand ein Mann, der etwa in ihrem Alter sein musste. Sein dunkles Haar war feucht und hing ihm in Strähnen über die Augen. Er trug eine verschlissene Jeans und Boots. Sein Oberkörper war nackt, ein sauberes Sixpack zog sich darüber. Der rechte Oberarm war von der Schulter bis zum Handgelenk von Tätowierungen bedeckt. Während der Transformation hatte es so gewirkt, als zögen sich Linien von den Schuppen zurück, um sich in Form des Tattoos zusammenzusetzen. Sein Blick erfasste sie mit einer Mischung aus Unglauben und Widerwillen.
Ashley verspürte den Impuls, ihn zu fragen, wieso er Hose und Schuhe besaß, aber kein Shirt. Stattdessen kicherte sie. Eindeutig ein Nervenzusammenbruch, denn egal wie viel Technologie jemand im Geheimen entwickelte, einen Drachen zu simulieren, der sich in einen Menschen verwandelte, das gab es einfach nicht.
Lag sie möglicherweise noch immer in dem Bankschließfach, vergiftet von der Schuppe? So musste es sein. Sie starb im Delirium und sah sexy Adonis-Drachen, die aus dem Himmel herabstiegen, um … ja, wofür eigentlich?
»Ich habe den Schlüssel weggeworfen«, sagte sie sicherheitshalber, falls der Typ das Gleiche wollte wie das Kapuzentrio.
»Aha«, kam es von ihm.
Als wäre dieses Wort der Startschuss, kam Bewegung in die Kapuzenträger. Sie rannten mit gezückten Schwertern auf den Drachen-Typ los.
Ashley war plötzlich unwichtig geworden.
Sie atmete auf. Das Adrenalin verschwand irgendwie ins Nirwana, die Umgebung drehte sich und sie fiel zum dritten Mal an diesem Tag bewusstlos zu Boden.
Caleb
Die Luft schmeckte feucht und doch von Ruß getränkt, so vertraut wie eh und je. Ein Cocktail, der von den Straßen dieser Stadt aufstieg, um den Himmel darüber zu dominieren. Jede Metropole besaß einen eigenen Geschmack, einen individuellen Geruch, beides ein unverwechselbarer Abdruck in der Wirklichkeit.