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Jeder Mensch hat das Potenzial zu gestalten. Doch in einer Welt schnellen Wandels und globaler Krisen fallen viele in stressbedingte Überlebensmechanismen und finden sich in der Rolle des passiven Opfers wieder. Im Arbeitsalltag zeigt sich dies in Verhaltensweisen wie Konfliktvermeidung, Dienst nach Vorschrift, Egoismus und mangelnder Innovationsfähigkeit. Holger Heinze beleuchtet die Hintergründe dieses Dramas und erklärt, warum wir in solche Muster verfallen. Durch eine Sammlung typischer Dramen, geordnet nach Unternehmensschwerpunkten, zeigt er, wie wir unsere Fluchtmechanismen erkennen und die Freiheit zurückgewinnen können, um in kritischen Situationen reflektiert zu reagieren und zu entscheiden. Mit praxisnahen Beispielen und Alltagsgeschichten illustriert er, wie Menschen und Organisationen erfolgreich aus dem Drama aussteigen konnten. Sein Buch bietet anwendbare und alltagstaugliche Werkzeuge, um langfristig gesund und erfolgreich zu sein. Inhalte: - Wissenschaftliche Grundlagen zum Verständnis des Dramas - Vom Drama zum Empowerment mit den drei vitalen Fragen: Wo liegt mein Fokus, wie trete ich in Beziehung, welche Maßnahmen ergreifen ich? - Die besten sechzehn Werkzeuge und drei Schlüsselfragen zum Drama-Ausstieg - Warum der Ausstieg aus dem Drama oft nicht gelingt: die neun typischen Gegenspieler - Die 22 häufigsten Dramen erkennen und auflösen - Best Practices für Dramafreiheit in Unternehmen und für FührungskräfteDie digitale und kostenfreie Ergänzung zu Ihrem Buch auf myBook+: - Zugriff auf ergänzende Materialien und Inhalte - E-Book direkt online lesen im BrowserJetzt nutzen auf mybookplus.de.
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2024
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ISBN 978-3-648-18154-6
Bestell-Nr. 12111-0150
Holger Heinze
Dramafreie Arbeitswelt
1. Auflage, November 2024
© 2024 Haufe-Lexware GmbH & Co. KG
Munzinger Str. 9, 79111 Freiburg
www.haufe.de | [email protected]
Bildnachweis (Cover): © Catherina Müller-Scheessel
Produktmanagement: Kerstin Erlich
Bildnachweis (Grafiken): © Catherina Müller-Scheessel
Lektorat: Ulrich Leinz
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Der Raum füllt sich allmählich. Die Kollegen und Kolleginnen nehmen intuitiv ihre präferierten und vertrauten Plätze ein. Die Abteilungsleitung betritt als letzte den Konferenzraum. Fast. Zwei, drei Mitarbeitende fädeln sich mit Verspätung unter gemurmelten Entschuldigungen in das bereits laufende Meeting ein. Es sind die üblichen Verdächtigen. Die kleinen Neckereien zu Beginn, das Status-Update im Format »Wir gehen mal die Reihe rundum«, die Blicke, die Gesten, die Wortmeldungen, die Zurückhaltungen – alles scheint einem unsichtbaren Regieplan zu folgen.
Einige Open-Office-Flächen weiter läuft die »Silent-Disco«: Ein Großteil der Anwesenden sitzt – mit Kopfhörern auf den Ohren, den Blick auf den Bildschirm gerichtet – in ihrem jeweils ganz eigenen Videokonferenztunnel gefangen. Auch hier: Erwartbares Einstiegsgeplänkel, Dialoge, die geskriptet wirken, synchrones Winken in die Kamera zum Abschied. So machen wir das hier. Kultur ist die Musik, nach der alle tanzen, die aber niemand hört.
In den Werkshallen, Klinikeinrichtungen, im Transportwesen – auch hier vollziehen sich überall eigene Rituale. Uniformen, Jargon, Taktung und Timing, klare Rollenzuweisungen und Einsätze auf den Punkt kennzeichnen das individuelle Arbeitsumfeld und verströmen ihren unverwechselbaren Stallgeruch.
Frage: Was an diesen Schilderungen erinnert an eine Theateraufführung? Die schlichte Antwort: Alles
Vor lauter Ernsthaftigkeit, mit der wir unsere Arbeitsrealitäten gestalten und zu bewältigen suchen, verlieren wie das Offensichtliche aus dem Blick.
Die ganze Welt ist eine Bühne
Und alle Frauen und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen …
William Shakespeare: Wie es Euch gefällt. Zweiter Aufzug, siebte Szene
Wir glauben, unsere Probleme, Konflikte und Herausforderungen seien zu real, um als konstruiert betrachtet zu werden. Salopp formuliert: »Kannste Dir nicht ausdenken.«
Doch drehen wir das Bild um: Was gewinnen wir, wenn wir die Arbeitswelt für einen Moment als gigantische Inszenierung begreifen? Wie ändert sich unser Blick, wenn wir auf all die kleinen und großen Widrigkeiten und Zumutungen, auf die Herausforderungen, Abenteuer und Siege als von uns inszenierte Szenen schauen?
Die systemische Organisationsentwicklung bedient sich besonders gerne der Theatermetapher bei der Betrachtung und Analyse sozialer Systeme. Es war Erving Goffmann, der sie in den 1950er-Jahren in diesen Kontext einbrachte. Bernd Schmid vom Institut für systemische Beratung Wiesloch adaptierte sie als Intervention (Schmid/Wengel, 2001).
Die unterschiedlichen Perspektiven eines Schauspiels – das Thema, die Geschichte, die Bühne (Vorder- oder Hinterbühne), die Rollen, die Inszenierung – sind augenfällig übertragbar auf das, was wir als real in unserer Arbeitswelt erleben. Und das gilt auch hinsichtlich der Störungen und Konflikte.
Wenn wir unsere Arbeitswelt als Inszenierung begreifen, eröffnet das einen Denkraum. Den Denkraum der Wahlfreiheit, Freiheit in der Wahl der Mittel, der Erzählform, der Rollen, des Ausgangs. Wir können beeinflussen, ob das Stück als leichtfüßige Komödie angelegt ist oder als Tragödie endet. Wir können aktiv bestimmen, ob wir die Hauptrolle spielen oder ob wir andere dazu einladen, bestimmte Rollen zu übernehmen. Das versetzt uns in die Lage, unsere eigenen typischen Handlungsmuster zu erkennen und gegebenenfalls umzuschreiben.
Wir landen schließlich dort, wo die nötige Distanz uns Möglichkeiten gewährt: auf der Metaebene.
Dramafrei bedeutet nicht, diese Zusammenhänge zu negieren. Dramafreiheit bedeutet die Freiheit davon, sich unversehens und unbewusst in jede Dynamik verwickeln zu lassen. Statt Spielball der Geschicke um uns herum zu werden, begeben wir uns in die Position der bewussten Entscheidung. Dieser Stellungswechsel ist mit einem simplen Schalterumlegen nicht herbeizuführen. Es bedarf eines Instrumentariums, das uns in der Reflexion leitet und anleitet. Nicht weniger als das ist das Buch »Dramafreie Arbeitswelt«: Ein Navigationssystem, das uns die tägliche Reise durch das Organisationsdickicht eigenbestimmt und so störungsfrei wie möglich gestalten lässt.
Jeder Mensch kann Gestalter oder Gestalterin sein. Dennoch finden wir uns oft in der Rolle des passiven Opfers, sehen uns als Spielball unserer Umwelt, fühlen uns abhängig von der Rettung anderer und meinen unfähig zu sein, die Verstrickungen der (Arbeits-)Welt zu unseren Gunsten zu lösen. In dieser Situation konzentrieren wir uns auf uns, unsere Sicherheit, unser Überleben. Wir reagieren im Jetzt. Das ist menschlich und natürlich.
Aber wir brauchen Resilienz, um in dieser wilden Welt auf Dauer gesund erfolgreich zu sein.
In diesem Buch untersuchen wir die Gründe für unsere Opfer-Rollen und die Dynamik unseres Dramas – und suchen nach Antworten auf folgende Fragen:
Woher kommt das Drama, und warum ist es ein natürlicher, menschlicher, sogar gesunder Reflex, in Bedrohungssituationen in die Opfer-Rolle zu flüchten?
Wie können wir uns diese Flucht bewusst machen, und wie können wir uns die Freiheit zur bewussten Auswahl unserer Reaktion wieder zurückholen?
Welche Werkzeuge können wir erlernen und anwenden, um langfristig zu gestalten und zu wirken, statt kurzfristig zu reagieren?
Was müssen wir können, damit wir radikal gelassen in einer wilden Welt gesund und erfolgreich sein können?
Wir sind Menschen. Wir haben Gehirne. Viele von uns nutzen ihr Gehirn regelmäßig bewusst. Alle nutzen es ständig unbewusst.
Unsere Gehirne reagieren auf Bedrohung und Stress mit Verhaltensmustern, die unser Überleben sichern sollen: Kämpfen, Flüchten, Totstellen.
Diese Reflexe führen zu einem Mindset, einer Ausrichtung, einer Haltung, die wir »problemorientiert« nennen: Wir beschäftigen uns nur damit, die Bedrohung loszuwerden ‒ und verlieren dabei das Ergebnis aus den Augen, um das es wirklich geht.
Wenn wir problemorientiert reagieren, dann lässt sich das resultierende Verhalten mit Rollen und Dynamiken beschreiben. Der Psychologe Stephen Karpman hat in den 1960er-Jahren das Modell des Drama-Dreiecks veröffentlicht, in dem sich 3 immer wiederkehrende Rollen mit typischen Verhaltensmustern treffen:
Die Opfer-Rolle stellt das eigene Überleben sicher, indem die eigene Ohnmacht betont wird. (»Ich kann nichts dafür, dass das Projekt in Verzug ist – ich habe ein Ticket bei der IT aufgemacht und jetzt muss ich warten.«)
Die Schurken-Rolle stellt das eigene Überleben sicher, indem Schuld und Schande verteilt werden. (»Meine Abteilung trifft gar keine Schuld, wenn die IT nicht die einfachsten Anfragen beantworten kann.«)
Die Retter-Rolle stellt das eigene Überleben sicher, indem Harmonie wieder hergestellt wird und man übergriffig rettet. (»So schwer kann das nicht sein, ich kann gut mit Computern, lass mich mal schauen. Nicht schlimm, wenn ich ein bisschen länger bleiben muss.«)
Wir nehmen uns ganz flexibel die Rolle, die in der Situation gerade am ehesten unsere Sicherheit erhöht und auf unser Überleben einzahlt. Den Drama-Rollen ist gemein, dass sie stabil sind, jeden Tag von uns gespielt werden und immer das gleiche Skript verwenden: Wer mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, der produziert selten nachhaltigen Fortschritt.
Doch es gibt einen Ausweg: Wenn ich bemerke, dass eine bedrohliche Situation mich in die Problemorientierung schickt, kann ich gegensteuern. Ich kann alternative Rollen zum Drama-Dreieck einnehmen, die ein Wachstums-Mindset ermöglichen ‒ in denen ich Herausforderungen mutig annehmen kann, in denen ich lerne und in denen Selbstvertrauen, Resilienz und Wirksamkeit wächst.
Das Aussteigen aus dem Drama ist keine Glückssache, keine esoterische Übung und kein Placebo. Es ist ein erlernbares Handwerk.
Um dieses Handwerk der Dramafreiheit dreht sich dieses Buch.
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.
Søren Kierkegaard
In diesem Kapitel möchte ich kurz erläutern, wie in meinem ganz und gar nicht stringenten Lebenslauf rückwirkend ganz deutlich der rote Faden »Drama« sichtbar wurde.
Start als 17-jähriger Hochstapler
Alle sagten: »Das geht nicht!« Dann kam einer, der wusste das nicht und hat es einfach gemacht.
Schon mal dieses Zitat gehört? Ist doch ziemlich lustig, oder? Außer man ist der, der es einfach macht.
1999 war ich bei einer mittlerweile nicht mehr existierenden großen Bank in Frankfurt. Es war einer meiner ersten Aufträge. Es war damals so, dass ich einer der Ersten war, der fließend HTML schreiben konnte, was mir mit meinen 17 Jahren einen beträchtlichen Stundensatz von immerhin 90 DM einbrachte.
Ich hielt mich nicht lange in dem Projekt in der internen Kommunikation. Mithilfe fingierter Vorwürfe, ich hätte versucht, den Vermittler zwischen mir und der Bank zu umgehen, wurde ich vor die Tür befördert. Ich habe mich jahrelang gefragt, was ich getan hatte, um diese Reaktion des Projektteams zu provozieren.
Jahre später traf ich auf einer Party jemanden, der damals in dem Projektteam war. Nach einigen die Zunge lockernden Getränken eröffnete mir diese Person dann, warum ich aus dem Projekt geflogen war: Alle Anwesenden waren sich einig gewesen, dass gewisse Dinge nicht möglich waren. Das war angenehm, abgesprochen und sicher. Alle Vorgesetzten und internen Kunden hatten das akzeptiert. Und dann kam dieser junge Naseweis und hat sie einfach gemacht, diese unmöglichen Dinge.
Ich möchte damit nicht angeben oder behaupten, ich hätte Außergewöhnliches getan. Es ging um Kleinigkeiten wie eine Änderung an einer Webseite oder die Anpassung einer Überschrift, die schon lange hätte angepasst werden müssen. Banalitäten. Mir waren nur einfach die ungeschriebenen Gesetze der Organisation nicht bekannt.
Ich verstand den Rauswurf nicht und zog weiter, nun allerdings mit einer ausgemachten Panik- und Angststörung im Gepäck, die für die nächsten acht Jahre meines Lebens mit meinem Hochstaplersyndrom Karussell fuhr – jederzeit könnte etwas Schreckliches passieren, das Team könnte mich rauswerfen und ich würde es nicht kommen sehen.
In stressigen Situationen war mir schlecht und schwindelig, in (für andere) unstressigen Situationen allerdings auch. Ich studierte die Werkzeuge der Psychoanalyse von einem gemütlichen Sitzplatz (Couch) aus einige Jahre ohne sichtbare Veränderung meiner Panikattacken und akzeptierte/resignierte irgendwann einfach, dass ich in meinem Beruf einen Puls von über 160 hatte. Mit Anfang 20 ist man noch nicht so vorsichtig, was solche Dinge angeht.
Im Alltag einer internationalen Unternehmensberatung wurde ich mal auf diese, mal auf jene Organisation abgeworfen, um dort schlaue Lösungen zu verkaufen und für Veränderung zu sorgen. Es ging um technische Lösungen, mathematische Modelle, Risikomanagement oder ganze Geschäftsmodelle. Gemein war den Projekten jeweils der Widerstand der Menschen, denen wir eigentlich helfen sollten.
Mach mit oder mach dich ab.
Im Jahr 2004 war ich Teil der Ausgründung eines großen PC-Herstellers. Ich arbeitete direkt mit dem CFO der Organisation und seinem Stab. Es war ein fantastisches Projekt für einen mittlerweile 22-jährigen Unternehmensberater. Das Projekt hatte Budget und Aufmerksamkeit, alle wollten sich bewegen. Es war stressig und es ging um viel, aber ich hatte einen Heidenspaß ‒ also, zwischen den Panikattacken. Eines Tages bat mich der CFO zu einem Einzelgespräch. Man habe sich über mich beschwert. Meine Einstellung sei nicht professionell. Ich war getroffen und fühlte mich ertappt und stammelte irgendwas von »Danke für das Feedback«. Im Gehen drehte ich mich um und fragte wie Columbo: »Eine Frage noch. Woran macht man meine unprofessionelle Einstellung denn fest?« – »Sie lachen zu viel. Sie lassen es raushängen, dass Sie Spaß an der Arbeit haben, während alle anderen ihren Job hier ernst nehmen. Da muss man auch mal empathischer sein.«
Zum Abschluss des Projektes führte ich einzelne Feedbackgespräche mit einem Dutzend Menschen durch. Es zog sich durch die Rückmeldungen: Wer nicht sichtbar leidet, der gibt nicht alles. Ich würde mehr sichtbar leiden müssen, um dazuzugehören.
Veränderungen mögen wir hier nicht.
Dann sollten wir im Jahr 2008 für einen Finanzkonzern ein weltweites Data Warehouse aufbauen, in dem alle finanziellen Daten des Konzerns, insbesondere seine Risikopositionen zusammenlaufen sollten. Es war ein tolles, großes und dringend nötiges Projekt. Ich hatte großen Spaß, achtete aber darauf, sichtbar zu leiden, damit man mir abnahm, dass ich wirklich bei der Sache war. Als das Data Warehouse in einer ersten Version fertig war, informierten wir alle Konzerntöchter weltweit, dass sie es nun nutzen könnten. Aber niemand wollte es nutzen. Wir erhielten das Feedback, dass unsere Konzepte, unsere Lösungen wohl nicht gut genug seien. Wir verbesserten die Konzepte und Schnittstellen und probierten es nochmals. Nein, keiner wollte mitmachen. Dann verbesserten wir unsere Kommunikationsstrategie. Fehlanzeige. Dann versuchten wir, mithilfe des Vorstandes Druck auszuüben. Ich weiß nicht, ob die Lösung jemals angenommen wurde oder ob man heute noch probiert, sie den Akteuren zu verkaufen, denn ich kündigte irgendwann desillusioniert, frustriert und generell deprimiert ob des Veränderungswiderstandes von Menschen.
Für mich war klar: Menschen mögen einfach keine Veränderung ‒ was blöd war, denn ich hatte einen Job gewählt, in dem man Dinge verändert. Den konnte ich auch ganz gut und er brachte ganz gutes Geld. Blöd nur, wenn man ständig gegen Menschen arbeitet, statt mit ihnen und für sie.
Also schmiss ich hin. Nicht sofort, ich brauchte noch ein paar Monate, unternahm eine Weltreise, heiratete und begleitete meine Großeltern auf dem letzten Weg.
Wir machen uns die Welt, wie wir sie brauchen.
Danach schlug ich mich ein paar Monate als freier Berater und Trainer durch. Meine letzte Station war in der öffentlichen Verwaltung. Arbeitszeiten und Belastungssituationen dort waren so, dass sie im Vergleich zu dem, was ich bisher in der Wirtschaft kennengelernt hatte, als Urlaub gewertet würden. Dennoch: Die Menschen litten. Einer fragte mich einmal zwischen dem täglichen gemeinsamen ca. einstündigen 10-Uhr-Frühstück (bei dem aber nicht über Arbeit geredet werden durfte) und der um 11:45 Uhr beginnenden Mittagspause: »Herr Heinze, Sie waren doch auch schon mal dort draußen als Berater. Ist es da noch schlimmer, was Belastung und Stress angeht, als hier?« Der Mann hatte in dem Jahr, seitdem ich ihn kennengelernt hatte, kaum messbare Ergebnisse produziert – allerdings mehrere Langzeitausfälle, zwei Hörstürze und ein Magengeschwür. Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte. Sein Leid war real – wenn auch für mich nicht nachvollziehbar. In derselben Verwaltung wurden regelmäßig Projektpläne aufgelegt, die mit den Werkzeugen einfacher Logik und der uns bekannten Mathematik nicht erklärbar waren. Arbeitspakete, die nacheinander passieren mussten und vier, fünf und sechs Monate dauern sollten, würden in 12 Monaten fertig sein. Ich rechnete den Fehler vor. »Wir glauben aber daran, dass es klappt.« Ich erklärte, schimpfte, hüpfte und malte an Wände. »Das Projekt wird keinen Erfolg haben, wenn Sie die Realität nicht akzeptieren, dass 4 plus 5 plus 6 mehr als 12 ist!« rief ich. Der mächtigste Mann im Raum lachte überlegen. »Herr Heinze. Außer Ihnen hat jeder Anwesende in seiner Bonusvereinbarung stehen, dass das Projekt erfolgreich sein muss. Das Projekt ist jetzt schon erfolgreich. Da sind sich alle einig.« – »Aber die Software wird unmöglich rechtzeitig fertig und einsetzbar«, rief ich frustriert. »Dann werden wir Erfolg wohl einfach anders definieren. Was regen Sie sich so auf?«
Das war im Jahr 2011. Meine letzte Information ist, dass die Covid-Pandemie die Einführung der Software entscheidend verlangsamt hat.
Ich nahm aus dem Projekt mit, dass Menschen ihren Einsatz irgendwie spüren und bewerten müssen. Wenn Ergebnisse ausgeschlossen sind (wegen Struktur, Rahmenbedingungen, Kultur), dann bleibt nur, über das eigene Leid etwas zu spüren. Wie der Läufer, der keine Chance hat, jemals die Ziellinie zu erreichen, sich aber komplett kaputt macht auf dem Weg, um sich und anderen sagen zu können: Ich habe alles gegeben. Auch wenn das Ziel nicht erreicht wurde.
Unternehmensberater als Entwicklungshelfer
Mitte 2011 schlugen wir in Belize auf. Desillusioniert von einem Job, der Menschen gegen ihren Willen Veränderung aufzwingt, hatten wir alles verkauft und verschenkt und uns statt Flitterwochen für mindestens sechs Monate als Entwicklungshelfer verpflichtet ‒ im Sinne unserer jungen Ehe in unterschiedlichen Projekten.
Ich durfte in einem Bereich beraten, von dem ich so gut wie keine Ahnung hatte: nachhaltiger Tourismus. Ich rechnete fest damit, dass mein innerer Hochstapler ein Fest feiern würde. Als Berater in einem Bereich zu arbeiten, von dem ich nachweislich keine Ahnung hatte, würde sicherlich bemerkenswerte Panikattacken produzieren.
Das Gegenteil war der Fall. Ich kam an und wurde von Anfang an mit einer Wertschätzung aufgenommen, die ich als ehemalige Man-in-Black-Consulting-Drohne nicht kannte: »Herzlich willkommen, wir sind froh, dass du da bist. Hier sind die brennendsten Fragestellungen. Arbeite dich ein, wir freuen uns sehr auf die Veränderungen, die wir zusammen umsetzen werden.«
Ich hatte nicht eine Panikattacke.
Gewalt braucht Energie.
Jahre später fiel mir eine Erkenntnis aus meiner Psychoanalyse ein: »Der Schlüssel zum Verstehen der Panikattacken ist es, zu verstehen, wofür Sie die Energie brauchen. Eine Angststörung versorgt uns mit überdurchschnittlicher Energie. Wofür brauchen Sie die Energie?«
Mir wurde klar, dass ich sie für zwei Dinge brauchte:
Die Hochstaplerneurose war nur mit Höchstleistungen in Schach zu halten.
Wenn du ständig Menschen in Veränderungen zwingst, gegen die sie sich wehren, dann entsteht Gewalt. Auch diese Gewalt braucht Energie.
Was braucht der Mensch für die Digitalisierung?
Nach zwei Jahren Weltreise kehrten wir nach Deutschland zurück und ich arbeitete als Trainer, Coach, Unternehmer und Gründer. Dann hatte ich ab dem Jahr 2016 die Gelegenheit, in einem Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Bereich der Erwachsenenbildung und der beruflichen Bildung zu forschen. Das Verbundprojekt aus Industrieunternehmen, Universitäten und Gewerkschaften sollte vor allem eine Frage klären:
Welche Kompetenzen benötigen Menschen, um im Zeitalter der Digitalisierung im Beruf erfolgreich zu sein?
Das Ergebnis war für mich überraschend: Wir fanden keine Liste von technischen Kompetenzen oder nötiger Programmiersprachen. Stattdessen fanden wir, was mittlerweile fast schon Allgemeinwissen ist.
In der Digitalisierung brauchen Menschen vor allen Dingen das, was wir früher Soft Skills genannt haben: Empathie, Vorstellungskraft, Reflexionsfähigkeit, Lernfähigkeit, Fehlerkultur, eine gesunde Distanz zum eigenen Erfahrungshorizont und meine Lieblingskompetenz: die Inkompetenzkompetenz, also die Fähigkeit in einer Situation keine Ahnung zu haben, ohne sich zum Affen zu machen.
Wie entwickeln Menschen Kompetenzen?
Die entscheidende Frage bei all diesen Kompetenzen ist allerdings: Woher kommen diese Kompetenzen? Kann ich die mit einem Poster in der Kaffeeküche des Büros verordnen? Reicht es, wenn ich dazu aufrufe, mutig und ehrlich am Arbeitsplatz zu sein? Per Schulung kann man sie auf alle Fälle nicht vermitteln.
In der Folge begann ich, mich mit Empowerment zu beschäftigen. Dabei schaute ich zunächst auf strukturelles Empowerment: die Verteilung von Entscheidungs- und Gestaltungsmacht innerhalb eines Teams und die Abkehr von offensichtlich überholten hierarchischen Organisationsformen. Ich ließ mich zum Holacracy-Coach ausbilden und begann, Teams in die Selbstorganisation zu begleiten.
Bei der Selbstorganisation fehlt doch irgendwas.
Das machte zuerst Spaß, war aufregend und neu. Und dann wurde es blutig und brutal. Nachdem die ersten Monate ins Land gegangen waren, zeigte sich nämlich jeweils, dass sich die Unternehmenskultur, die vor der Selbstorganisation da war, wieder durchsetzt. Organisationen, in denen vor der Holakratie Angst, Egoismus und Ausreden den Alltag dominiert hatten, fielen schnell wieder in alte Muster zurück. Und auch hier war mein Reflex wie beim Data Warehouse oben: Die Lösung war noch nicht intelligent und differenziert genug, und ich begann, das Konzept zu verfeinern und das Erklären zu vertiefen.
Nur ein Werkzeug
Dann, im Jahr 2018 fiel endlich der Groschen bei einem weltweiten Symposium von Holacracy-Anwendern. Brian Robertson, der Begründer von Holacracy selbst, eröffnete uns: Sein umfassendes Betriebssystem für hierarchiefreie, selbstgeführte Organisationen war unvollständig. Auch dieses Betriebssystem war nur ein Werkzeug, das so friedlich oder brutal, so teamorientiert oder egoistisch, so mutig oder reaktiv war, wie die Haltung derjenigen, die es nutzten.
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Holacracy, Scrum, OKR, und so weiter, alle diese Trends sind nur Werkzeuge. Sie führen nur das aus, was die Intention und die Haltung derjenigen möchte, die sie benutzen.
Wenn wir etwas nachhaltig ändern wollen, dann müssen wir einen Weg finden, an die Haltung heranzukommen. Ich hatte Karate und gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg studiert, ich hatte meditiert, ich hatte geschrien, ich hatte mir Kava aus Polynesien importiert, das dort angeblich Kriege verhindert, da die Häuptlinge im Konfliktfall vor einem Gespräch literweise Kava trinken müssen, um den Frieden zu finden.
Trotzdem hatte ich nach wie vor in Konflikt- und Stresssituationen einen Autopiloten, der mich in intellektuelle Übergriffe oder schlichtweg aggressives Dominanzverhalten zwang.
Ich stand vor der Bühne und realisierte zwei Dinge:
Erstens war ich nicht allein, im Gegenteil, der Raum war voller Menschen, die sich peinlich und hoffnungsvoll ertappt zeigten, als das Drama-Dreieck mit seinen Rollen, Opfer, Schurke, Retter an die Wand geworfen wurde.
Zweitens gab es einen Ausweg aus dem Drama. Und zwar ohne Voodoo und Selbstverhexung. Mit einer glaubwürdigen, neurologischen und psychologischen Basis. Mit einfachen Schlüsselfragen. Mit klaren Abläufen, die man testen, kritisch hinterfragen, beobachten und trainieren konnte.
Ab da war mir klar: Wir brauchen Handwerkszeug, um an unserem Mindset zu arbeiten.
Auf dieser Basis könnte man doch bestimmt ein Handwerk entwickeln, das mit einem alltagstauglichen Satz Werkzeuge ermöglicht, in stressigen Situationen souverän und bewusst zu entscheiden: Mit welcher Haltung und mit welchem Mindset will ich meine Ressourcen in dieser Situation nutzen?
Heute
Der hier beschriebene Weg ist nicht linear, aber er hat mich dahin geführt, von wo aus ich heute dieses Buch schreibe:
Ich darf Managerinnen und ihre Mitarbeitende, Handwerker, Industriearbeiter, Hochschulprofessorinnen und Sozialarbeiter, Programmierer und Systemadministratoren in Lern-Journeys Werkzeuge zeigen, mit denen sie ihre Stressreaktionen und ihre Haltung bewusst wählen können. Wir haben seit dem Jahr 2018 Hunderte Menschen und Trainer und zig Teams und Organisationen mit den im Folgenden beschriebenen Werkzeugen ausgestattet.
Ich darf über Stressreaktionen, Angst und Selbstregulation Vorträge halten, z. B. im Rahmen eines TedX-Talks darüber, wie ich als bekennender Angsthase in ein Kriegsgebiet gereist bin.
In meiner Freizeit studiere ich Angst und Stress, u. a. indem ich mit einem Team die Welt bereise auf der Suche nach extremen Escape Rooms, in denen die Spielerinnen über Stunden von Schauspielern und Special Effects erschreckt und gequält werden. Die Erkenntnis: Unsere Amygdala ist mächtig, aber wir können ihre Regulierung trainieren wie einen Muskel.
Und hier liegt der Schlüssel: Wenn wir den Raum zwischen Reiz und Reaktion aufmachen, um dort eine bewusste Entscheidung zu treffen, eine bewusste Haltung zu wählen, dann entsteht dort eine mächtige und komplett unabhängige persönliche Freiheit: die Dramafreiheit.
Mit diesem Buch möchte ich Euch, die Leserinnen und Leser, in die Lage versetzen, Euch ein Handwerk anzueignen, mit dem Ihr selbst in sehr stressigen Situationen souverän Eure eigene Haltung wählen könnt.
Dabei geht es um rationale, nachvollziehbare, trainierbare, beobachtbare Arbeit an und mit vermeintlich weichen Faktoren wie Empathie, Resilienz, Souveränität, Hoffnung, Angst, Selbstzweifel, Selbstwirksamkeit und erlernter Hilflosigkeit. Diese Themen bestimmen unseren Alltag – ob wir uns dessen bewusst sind, ob wir es wahr haben wollen, oder nicht. Und: Diese Themen sind zu wichtig, um sie solchen Lösungen und Methoden zu überlassen, die Suggestion, Esoterik oder generelle »Man muss dran glauben, damit sie funktionieren«-Krücken nutzen.
Dazu führt das Buch eine Handvoll Modelle und einige Schlüsselworte ein, die es ermöglichen, effizient im Alltag Stressreaktionen zu reflektieren und sich selbst in souveränere Haltungen zu coachen.
Das Ergebnis von wiederholten Drama-Ausstiegen bei Einzelpersonen ist regelmäßig erhöhte Resilienz, Souveränität, Gelassenheit und Ruhe. Es kommt aber auch dazu, dass diese Menschen nun öfter bereit sind, wichtige Konflikte anzusprechen und auszutragen, direkteres Feedback zu geben und negative Verhaltensmuster seltener akzeptieren und aussitzen.
Organisationen und Teams kippen meiner Erfahrung nach kulturell regelmäßig dann, wenn eine kritische Masse ihrer Menschen damit beginnt, bewusst das Handwerk der Dramafreiheit anzuwenden. Hier werden dann Jour fixe abgeschafft oder verkürzt, Agendavorlagen für Meetings ergebnisorientiert überarbeitet, strukturelles Drama abgeschafft und tote Pferde begraben. Vor allem werden wieder Ergebnisse produziert und Innovation ermöglicht – und so geschieht die Veränderung. Es wird oft interveniert: »Stopp. Wir schieben uns nur problemorientiert die Schuld zu. Lasst uns auf das Ergebnis schauen, das wir eigentlich wollen und dann ins Gestalten kommen.« Einige dieser Beispiele werden im Folgenden beschrieben.
Es dreht sich bei den Konzepten in diesem Buch alles um eine flexible, bewusst gewählte Haltung im Moment. (Es geht nicht um Persönlichkeitstypisierung oder starre Modelle, die Menschen in Schubladen stecken.)
Es ist mir auch sehr wichtig, zu sagen: Das Buch will an keiner Stelle gute von schlechten Mindsets, gute von schlechten Reaktionen unterscheiden und dogmatisch vorgeben, was gut ist. Das Drama ist menschlich und die Empowerment-Dynamik ist geeignet, dort Ergebnisse zu produzieren, wo das Drama uns auf der Stelle treten lässt. Ob in einer spezifischen Lebens- oder Arbeitsplatzsituation allerdings Drama oder Empowerment, Gestalten oder Überleben angebracht ist, das ist die Entscheidung des betroffenen Menschen. Ich stelle Methoden dar, die eher geeignet sind, Ziele zu erreichen. Ob und welche Ziele das sind – das liegt in der individuellen Freiheit des Menschen.
Nach dem Lesen dieses Buches ist es durchaus möglich und gewollt, dass man nicht mehr ganz so sicher durch das Leben geht, ständig und immer die absolute Kontrolle über seine Entscheidungen zu haben. Die Kontrollillusion fällt. An ihre Stelle tritt Neugierde, Lernen und eine gesunde Distanz zu den eigenen Reaktionen. Das ist gewollt.
Nachdem Ihr das Buch gelesen habt, hoffe ich, dass die Erkenntnis steht:
dass Stress Menschen in den Autopiloten führt,
dass diese reaktiven Muster selten nachhaltige Ergebnisse produzieren und
dass wir uns darauf trainieren können, souverän die Freiheit zu finden, zwischen Reiz und Reaktion im Sinne unserer Ziele und Wünsche zu entscheiden: Welche Haltung nehme ich in dieser Situation ein?
Dieses Buch möchte den Schwerpunkt auf anwendbare, alltagstaugliche, nützliche Werkzeuge legen. D. h., der größte Teil des Buches besteht aus Anwendungsbeispielen und Geschichten aus dem Alltag, in denen Menschen und Organisationen es geschafft haben, aus dem Drama auszusteigen.
Teil 1: Schnellkurs zur Dramafreiheit
In Kapitel2, 3 und 4 wird dafür im Schnellkurs die Basis gelegt, um die Anwendungsbeispiele nachvollziehen zu können: Was ist das Drama, wie kann ich es diagnostizieren, wie sehen die Werkzeuge aus, mit denen ich aus dem Drama aussteigen kann?
Teil 2 bietet dann 20 Anwendungsfälle aus der Praxis
In den Kapiteln 5 bis 11 stelle ich 20 typische Dramen vor, gegliedert nach Schwerpunkten in Unternehmen. An diesen konkreten Dramen zeige ich:
an welchen Symptomen das Drama am Arbeitsplatz erkannt werden kann,
welche Mechanismen zum Drama führen und
wie wir es schaffen, das Drama hinter uns zu lassen und stattdessen unser Leben und Arbeiten dramafrei zu gestalten.
In Teil 3 werden die wissenschaftlichen Grundlagen des Dramas und der Dramafreiheit ausführlich dargestellt
In Kapitel 13 zeige ich die 5 Phasen des Dramas und der Drama-Rollen und in Kapitel 14 werden ihre Empowerment-Gegenrollen grundsätzlich und ausführlich erklärt.
Teil 4 und 5: die besten Werkzeuge zum Drama-Ausstieg
Die Kapitel 15 bis 18 geben schließlich ein ausführlicheres Bild der angewendeten Methoden und Werkzeuge zum Drama-Ausstieg.
Meine Lektüreempfehlung
Ich empfehle zunächst, Kapitel 2, 3 und 4 zu lesen, um die grundlegenden Konzepte, Bezeichnungen und Werkzeuge kennenzulernen. Anschließend kannst Du in den Kapiteln 5 bis 10 die typischen Dramen nachlesen, die für den eigenen Alltag relevant und resonanzfähig sind. Bei Fragen zur Herleitung der angewendeten Methoden kann Kapitel 13 und 14 konsultiert werden. Die Kapitel 15 bis 19 sollen dir als Nachschlagewerk und zur Ausbildung dienen, wenn du mithilfe des Buchs in der Praxis aus dem Drama aussteigen willst.
Zusatzmaterialien zum Buch findest du unter www.dramafreiearbeitswelt.de:
Bonuskapitel »Die üblichen Gegenspieler«
Bonuskapitel »Das Drama der Doppelarbeit und der Redundanzreflux bei Dezentralisierung«
Bonuskapitel »Das Fake Work Drama«
Vorlagen und Templates für den Dramaausstieg im Alltag zum Download
Bonuskapitel »Dramafreie Habits im Alltag etablieren«
Und mehr.
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Ich habe bis vor fünf Jahren an das generische Maskulinum geglaubt und es mit Freude und Disclaimern verwendet. Dann hat mich meine kleine Tochter beim Duschen gefragt, wann sie frühestens ein Mann werden kann, denn das wäre ja offenbar nötig. Ich reagierte aus einem Reflex mit einer im Nachhinein sehr dummen Gegenfrage: »Warum willst du ein Mann werden?«
Ihre Antwort war sehr lehrreich, ich fasse unsere längere Unterhaltung hier zusammen: »Ich möchte nicht Mama oder Erzieherin oder Hebamme werden, wenn ich groß bin. Ich will Unternehmer oder Feuerwehrmann oder Fußballer oder so werden. Aber dafür muss ich ja ein Mann sein.« Als ich Ihr erklärte, dass sie falsch liegt und dass Frauen all diese Berufe ergreifen können, antwortete sie mit einem einfachen: »Glaub ich nicht. Du redest selbst immer nur von Männern. Außer bei Mamas, Erzieherinnen oder Hebammen.«
Da mir das kleine, schlaue Mädchen auf diese Art deutlich gezeigt hat, wie meine beschränkte Sprache ihre Perspektive aufs Leben und das, was für sie denkbar ist, einschränkt, ist geschlechtergerechte Sprache, in der sie sich wiederfindet, für mich seit diesem Gespräch alternativlos. Da ich den Text aber auch lesbar halten möchte, habe ich im Buch bewusst chaotisch zwischen weiblichen und männlichen Formen abgewechselt. Ihr schafft das – es sind im Zweifel immer alle Menschen gemeint.
Um die folgenden Arbeitsplatzdramen und ihre Auflösung zu analysieren, verwende ich Sprache und Konzepte, die auf den folgenden Seiten kurz eingeführt werden. Ausführliche Herleitungen sowie Werkzeuge für den Drama-Ausstieg werden in den späteren Kapiteln besprochen.
Als Basis für alles Kommende schauen wir uns nun die Entwicklung der psychologischen Erkenntnisse zu Stressreaktionen, Abwehrhaltung und Überlebenstaktiken der letzten ca. 100 Jahre im Schnelldurchlauf an.
Wir beginnen bei Sigmund Freud (1856–1939). Freud war Mediziner und gilt als Begründer der Psychoanalyse. In seiner bahnbrechenden Veröffentlichung »Das Ich und das Es« von 1923 beleuchtet er als einer der Ersten die inneren Kämpfe zwischen unseren unbewussten Wünschen und den von der Gesellschaft auferlegten Normen. Freud lenkte den Fokus auf das Unbewusste. Außerdem war er der Pionier für das Verständnis des Verhaltens von Menschen auf der Basis verdrängter Konflikte und erlernter Muster aus der Kindheit. Daraus ergab sich eines der ersten und heute weitverbreiteten Modelle innerer psychologischer Rollen: das Es, das Ich und das Über-Ich.
Alfred Adler (1870–1937) war ein Zeitgenosse Sigmund Freuds und ebenfalls ein Pionier der Psychologie und der Tiefenpsychologie. Bereits 1912 veröffentlichte er in »Über den nervösen Charakter« Erkenntnisse über Minderwertigkeitskomplexe und die Verhaltensweisen, die wir Menschen entwickeln, um sie zu kompensieren. Für Adler waren Gefühle der Minderwertigkeit die Haupttriebfeder der Menschen: Wer sich minderwertig fühlt, ist bedroht und muss diese Minderwertigkeit (in den eigenen Augen aber vor allem im Ansehen der Gruppe) lösen. So entwickelte er grundlegende Reaktionsweisen auf Minderwertigkeit, die Verhaltensmuster zusammenfassen – mit denen schon Kleinkinder ihr Überleben und ihre Akzeptanz innerhalb von Gruppen und Familien sicherstellen – u. a. den Herrschsüchtigen, den Vermeidenden, den Nehmenden, den sozial Nützlichen.
Sigmunds Tochter Anna Freud (1895–1982) führte seine Arbeit mit neuen Fragen fort. In ihrem Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen« aus dem Jahr 1936 erklärte sie, wie unsere unbewussten Ängste und Wünsche unser Verhalten kontrollieren. Sie gab uns damit ein Modell, um kindliche Entwicklung aus der menschlichen Psyche beschreibbar zu machen. Im Kern von Anna Freuds Lehre stand die Erkenntnis, dass Abwehr- und Überlebensmechanismen entscheidend sind für die Entwicklung und die Ausprägung von Verhaltensmustern.
Der in Frankfurt geborene Psychologe und Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994) war Schüler von Sigmund Freund und von Anna Freud. Er nahm den Stab auf und entwickelte die nächste Iteration: Den Kern seiner psychosozialen Theorie bildet die Erkenntnis, dass sich Menschen ihr Leben lang entwickeln. Dabei bringen verschiedene Lebensphasen verschiedene Herausforderungen mit sich. Alle erlebten Krisen sind dabei nicht negativ oder zu vermeiden, sondern wesentlich notwendig für die Entwicklung des Menschen und seiner Resilienz.
Eric Berne (1910–1970) war zwar nur acht Jahre jünger als Erikson und sollte mehr als 20 Jahre früher sterben, er war jedoch einer der einflussreichsten Schüler Eriksons. 1961 veröffentlichte Berne seine Theorie der Transaktionsanalyse. Darin erklärte er, dass jede soziale Interaktion zwischen Menschen ein Austausch von Transaktionen ist. Das soziale Leben ist eine Aneinanderreihung von Spielen, die aus Rollen und Skripten bestehen, und die im Rahmen bestimmter Regeln durchgespielt werden. Berne erweiterte die inneren Rollen von Freud und postulierte, dass jeder Mensch einen Erwachsenen, ein Kind und ein Elternteil in sich trägt – und diese sogar in bestimmten Varianten. Im Kern der Transaktionsanalyse kartografierte er dann komplexe Wechselspiele beispielsweise zwischen einem rebellischen Kind und einer protektiven Mutter oder zwischen einem angepassten Erwachsenen und einem herrschsüchtigen Vater. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, dass man mit gewissen Ansprachen in anderen Menschen gewisse Archetypen aktivieren kann. Beispielsweise wird ein autoritäres Auftreten bei einem Menschen das angepasste Kind aktivieren, das gelernt hat, sich unterzuordnen, während es bei einem anderen Menschen das unangepasste Kind zur Rebellion anstiftet. Die Transaktionsanalyse wurde eine häufig verwendete Methode, um Konflikte und toxische Interaktionen darzustellen und zu analysieren. Leider bot sie sehr wenig Antworten und Lösungen.
Stephen Karpman (geboren 1934) ist Psychiater und Trainer und studierte bei Berne. Auf der Suche nach einem alltagstauglichen Modell, das er in seiner psychologischen Praxis und für Trainings nutzen konnte, verdichtete er die Mechanismen der Transaktionsanalyse auf ein einfaches, deskriptives Modell. Mithilfe des Drama-Dreiecks kann man Konfliktsituation und die darunter liegenden Regeln, Skripte, Verhaltensmuster, Archetypen, Rollen und Intentionen klar aufzeigen. Die generische Transaktion, die im Drama-Dreieck abgebildet ist, spielt sich ab zwischen den Rollen des Opfers, des Schurken und des Retters. Kommt es zu einer bedrohlichen oder stressigen Situation, nehmen sich die beteiligten Menschen aus dem Drama-Dreieck die Rolle, die ihnen am ehesten zum Überleben hilft:
Man flüchtet sich in die Opfer-Rolle, weist alle Verantwortung von sich, betont seine Ohnmacht und ruft um Hilfe.
Oder man flüchtet sich in die Schurken-Rolle, bei der gilt: Angriff ist die beste Verteidigung. Hier sichert man sein Überleben, indem man Schuld, Scham und Schande sichtbar an andere verteilt und seinen eigenen Status und seine eigene Unschuld publikumswirksam vertritt.
Die dritte Option ist es, das eigene Überleben zu sichern, indem man Harmonie herstellt und sich selbst nützlich macht. So sehen wir in der Retter-Rolle harmoniesüchtige Superhelden, die teilweise mit einem Fuß im Burnout ständig übergriffig, andere retten.
Allen drei Drama-Rollen ist gemein, dass sie nur mit ihrem eigenen kurzfristigen Überleben beschäftigt sind und deshalb kaum an langfristigen, nachhaltigen Lösungen oder Veränderungen arbeiten können. Wenn ich klarstellen muss, dass mich keine Schuld an der Kundeneskalation trifft und ich betont habe, dass ich in dieser Krise keine Rolle spiele, dann beschäftige ich mich selten mit der konstruktiven Aufarbeitung des zugrunde liegenden Problems.
David Womeldorff, bekannt unter seinem Pseudonym David Emerald (geboren 1954) ist ein Management Coach und Trainer. In den 2000er-Jahren stellte er dem Drama-Dreieck ein ebenso alltagstaugliches Gegenmodell entgegen mit dem Buch, »The Power of TED* – *The Empowerment Dynamic«. Mit der Empowerment-Dynamik kann man modellhaft aus den Drama-Rollen in entgegengesetzte Rollen wechseln. Mit dem Rollenwechsel geht ein Wechsel der Ausrichtung oder Haltung einher:
Die Gestalter-Rolle nimmt den Platz der Opfer-Rolle. An die Stelle einer selbstmitleidigen und ohnmächtigen Haltung tritt das Selbstverständnis, Dinge gestalten zu können und zu müssen. Die Gestalter-Rolle hat immer eine Wahl und trifft diese auch bewusst.
Die Schurken-Rolle wird ersetzt durch die Rolle des Herausforderers. Zwar transportiert diese Rolle in der Empowerment-Dynamik immer noch die kritischen und unangenehmen Neuigkeiten; allerdings mit einer ganz anderen Intention. Die Schurkenintention (»Hier ist etwas Schlechtes und wir müssen nun einen Schuldigen finden, der die Verantwortung trägt«) wird ersetzt durch die Lernintention der Herausforderer-Rolle (»Hier ist etwas Schlechtes und das bedeutet, dass jemand etwas lernen muss, damit es besser wird.«).
Die übergriffige und mit sich selbst beschäftigte Rolle des Retters wird ersetzt durch die distanzierte Rolle eines Coaches. Im Gegensatz zum Retter, der in seinem eigenen Interesse Heldentaten vollbringt, dient der Coach der Gestalter-Rolle als Sparringspartner – wenn diese das wünscht.
In der folgenden Abbildung sehen wir die drei Modelle mit ihren Rollen gegenübergestellt:
Abbildung 1:
Überlebensarchetypen und Rollen
Im Jahr 2019 veröffentlichte Emerald dann mit »3 Vital Questions« ein Handbuch für den Arbeitsplatz. Darin teilt er 3 Fragen und Werkzeuge, um aus dem Drama-Dreieck mit seiner statischen Verteidigungshaltung in die Empowerment-Dynamik zu wechseln.
Die Psychologieprofessorin Carol Dweck (geboren 1946) forschte ebenfalls in dieser Richtung und veröffentliche im Jahr 2006 das Buch »Mindset: The New Psychology of Success«. Darin beschrieb sie zwei innere Haltungen, die Menschen zum Lernen und zu Herausforderungen und Kritik einnehmen: das feste Mindset (Fixed Mindset) auf der einen und das auf Wachstum ausgerichtete Mindset (Growth Mindset) auf der anderen Seite.
Beim Fixed Mindset geht sie (vergleichbar der Drama-Dynamik) davon aus, dass wir sind, wie wir sind, und dass wir können, was wir können. Entsprechend werden Herausforderungen gemieden und Anstrengungen als nutzlos angesehen. Kritik und das Aufzeigen von Lücken zwischen dem, was man kann und dem, was man können sollte, wird persönlich genommen und löst eine Verteidigungshaltung aus. Fehler werden versteckt und Bewertungen können schnell existenziell bedrohlich werden.
Beim Growth Mindset geht sie davon aus (analog zur Empowerment-Dynamik), dass jeder Mensch lernen kann und muss und dass Herausforderungen und Krisen Lehrer sein können. Das Selbstbild ist flexibel – nobody is perfect – und Anstrengung führt zu Verbesserungen und zu Wachstum.
Ein Growth Mindset wäre hilfreich, um mit der wilden Welt umzugehen, in der wir uns befinden. Da man ein positives Mindset allerdings nicht per Poster in der Kaffeeküche verordnen kann, müssen wir uns anschauen, was ein solches Mindset ermöglicht und was es verhindert.
Die Psychologen Susan Folkman (geboren 1938) und Richard S. Lazarus (1922–2002) veröffentlichten im Jahr 1984 das transaktionale Stressmodell. Revolutionär war, dass sie davon ausgingen, dass eine Stressreaktion etwas sehr Persönliches und Situatives ist. Während man vorher davon ausging, dass sich verschiedene Menschen in vergleichbaren Situationen vergleichbar gestresst fühlten, beschrieben Folkman und Lazarus ein zweistufiges Modell: Zunächst wird eine Bedrohung wahrgenommen. Dann werden die eigenen Ressourcen bewertet, die der Mensch für den Umgang mit der Bedrohung zur Verfügung hat. Ist die Bedrohung klein und sind die verfügbaren Ressourcen ausreichend, dann entsteht kein Stress und der Mensch bleibt entspannt. Fällt die Bewertung anders aus, dann entsteht Stress und der Mensch ist nun mit der Bedrohung und ihrer Bewältigung beschäftigt.
Ende der 1950er-Jahre saß ein junger Psychologiestudent in Lazarus’ Vorlesung mit dem Titel »Unbewusste Wahrnehmung«. Der Student war Daniel Kahneman (1934–2024), der im Jahr 2002 für seine Arbeit im Bereich der menschlichen Entscheidungsfindung den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften erhielt. Im Jahr 2011 hatte er mit »Thinking, Fast and Slow« sein Modell der menschlichen Wahrnehmung und Entscheidungsfindung veröffentlicht. Auch dieses Modell erklärt die menschliche Natur mit zwei konkurrierenden Systemen:
Das »System-1-Denken« – wie Kahneman es nennt – ist schnell, effizient, unbewusst und fehleranfällig. Es kann eine Vielzahl von Vorurteilen und kognitiven Verzerrungen produzieren, ist reaktiv und vornehmlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt.
Das »System-2-Denken« wiederum ist differenziert, langsam, nur bewusst aktivierbar, kreativ und flexibel. Hier passieren Lernen und Wachstum.
Wir sehen eine Parallelität, mehrere Modelle zeigen eine Dualität oder Polarität auf:
Auf der einen Seite ist ein Mindset, eine Haltung, die ist starr, effizient, schnell und aufs Überleben ausgerichtet. Aktivitäten passieren hier eher in den älteren Teilen des Gehirns (Basalganglien, limbisches System).
Auf der anderen Seite ist eine Haltung, die eher flexibel, aufwändig, langsam und aufs Lernen und Wachsen ausgerichtet ist.
Diese Modelle werden erst durch Aktivierung des evolutionsgeschichtlich jüngeren Teils des Gehirns, des präfrontalen Cortex, möglich. Einen Überblick zu den drei Modellen von Dweck, Kahneman und Karpman/Emerald bietet die folgende Abbildung.
Abbildung 2:
Reaktive Überlebensmodelle und gestaltende Entwicklungsmodelle
Schauen wir uns unseren Arbeitsalltag an, dann wird klar, dass er sich aus einer Abfolge von Transaktionen und Entscheidungen zusammensetzt. Die Transaktionen sind nicht bloß ein Austausch von Worten oder Handlungen. Sie sind vielmehr die Manifestation unserer inneren Haltung in der spezifischen Situation. Das bedeutet, dass die Kommunikation, die wir mit anderen Menschen haben, und die Entscheidungen, die wir treffen, Abbildungen der inneren Haltung sind, die wir in der Situation haben.
Niklas Luhmann (1927-1998), ein prominenter Vertreter der Systemtheorie, betrachtet Organisationen als Systeme, die sich durch Kommunikation konstituieren und erhalten. Jede Entscheidung in einer Organisation ist eine Kommunikation, und jede Kommunikation kann eine Entscheidung nach sich ziehen. Gleichzeitig ist jede Kommunikation eine Transaktion und jede Entscheidung baut auf einer Haltung auf.
Die Menschen in der Organisation sind die Träger der Kommunikation und die Entscheider. In jeder Situation entscheiden sie, wie sie die Organisation erhalten. Sie bringen verschiedene Dinge mit in die jeweiligen konkreten Situationen:
vorgegebene Eigenschaften (Intelligenz und Talente),
beobachtbare Persönlichkeitsfaktoren wie z. B. durch die Big Five empirisch belegbar (Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus),
die Haltung in der Situation (Fixed Mindset oder Growth Mindset),
Handwerkszeug zur bewussten Wahl einer Reaktion (z. B. die Inhalte dieses Buchs),
psychologisches Kapital (Selbstvertrauen, Ergebnisorientierung, Resilienz, positive Erwartungshaltung),
der aktuelle Stresslevel,
die Tagesform, Gefühle und Emotionen des Moments.
Dabei beeinflussen die stabileren Faktoren die flüchtigeren: Der Stresslevel beeinflusst die aktuellen Gefühle, die Persönlichkeitsfaktoren beeinflussen die Haltung.
Abbildung 3:
Einflussfaktoren auf unsere Reaktionen
Auf Basis dieser Einflussfaktoren wählt Ihr, wie Ihr auf die Situationen und besonders auf die Bedrohungen in den Situationen reagiert.
Wollen wir die Atmosphäre und die Situationen am Arbeitsplatz verändern, dann müssen wir eine Veränderung der Entscheidungen und der Kommunikation herbeiführen. Entscheidungen und Kommunikation sind die Reaktionen auf Reize: Neuigkeiten, Bedrohungen, Chancen, Wünsche. Andersartige Entscheidungen und Kommunikationen bekommen wir also, indem wir 1) die Reize verändern oder 2) die Fähigkeit der Menschen, auf die Reize zu reagieren, verändern. Da wir die Reize, die externen Trigger, nicht kontrollieren können, ist nur die zweite Strategie nachhaltig.
Erst wenn die einzelnen Menschen am Arbeitsplatz in der Lage sind, zu bemerken, dass sie sich unbewusst für System-1-Denken oder das Fixed Mindset entschieden haben, können sie sich dafür entscheiden, auszusteigen und die andere, gegenüberliegende Haltung zu wählen. Die Ausprägung ist immer individuell und wird im Kontext der Situation und der Wünsche der einzelnen Person entwickelt.
Im systemtheoretischen Sinne verdichten sich die wiederkehrenden Entscheidungsmuster von Menschen einer Organisation zur beobachtbaren Kultur dieser Organisation. Diese Kultur entsteht durch die wechselseitige Vernetzung von Kommunikation und Entscheidung. Wenn bestimmte Werte, Normen und Praktiken immer wieder beobachtbar sind, reflektiert werden und sich gegenseitig bestätigen, dann ergibt dies ein gemeinsames, verlässliches Verhaltensmuster: die Organisationskultur.
Organisationskultur lässt sich sehr einfach zusammenfassen mit dem Ausspruch: »Herzlich Willkommen an diesem Ort, hier wird immer …«
Genauso wie es eine Polarität in den Haltungen von Menschen gibt, so ergibt sich eine Polarität in der Organisationskultur. Wenn ein Fixed Mindset oder kurzfristige Überlebensmuster bei den Menschen dominieren, dann wird sich dies in einer kurzfristigen, egoistischen, auf das Überleben der Einzelnen fokussierten Organisationskultur niederschlagen. Die Kultur wiederum wird die Menschen eher in kurzfristige, problemorientierte Verhaltensmuster drängen.
Solche Kulturen werden Innovation unterdrücken, Konflikte verschärfen und die organisationale Resilienz schwächen. Hier sehen wir rigide Hierarchien, mangelnde Kommunikation, eine Kultur der Schuldzuweisung, Silokämpfe, Klatsch und Tratsch und eine große Schwäche, was das Lernen angeht.
Robert A. Cooke und Janet L. Szumal führten im Jahr 1993 eine berühmte und umfassende Studie zur Unternehmenskultur durch, in der sie das Organizational Culture Inventory (OCI) entwickelten und anwandten. Das OCI ist ein Instrument zur Messung der Unternehmenskultur, das darauf abzielt, die Verhaltensmuster von Mitgliedern einer Organisation zu verstehen und zu kategorisieren. Es identifiziert die kulturellen Normen, die das Verhalten der Mitglieder beeinflussen, und stellt fest, inwieweit diese Normen zur Effektivität der Organisation beitragen oder diese behindern.
Cooke und Szumal identifizierten im Wesentlichen drei Haupttypen von Unternehmenskulturen, die in ihrer Studie häufig vorkamen:
Konstruktive Kulturen: In konstruktiven Kulturen werden Mitglieder dazu ermutigt, miteinander zu kooperieren und ihre Fähigkeiten zur Erreichung der Organisationsziele einzusetzen. Diese Kulturen fördern Kreativität, Wachstum und persönliche Entwicklung. Hier sehen wir individuelle und kollektive Ergebnisorientierung.
Passive/Defensive Kulturen: In diesen Kulturen neigen Mitglieder dazu, sich an Regeln zu halten und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Es herrscht oft eine Atmosphäre des Nicht-Anstoß-Erregens, wo die Mitglieder versuchen, Fehler zu vermeiden und sich anzupassen, um keine negative Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Kulturen haben eine konfliktscheue Problemorientierung manifestiert: Jeder sorgt sich um sein persönliches Überleben, allerdings ohne in offene Konflikte zu geraten.
Aggressive/Defensive Kulturen: Hier herrscht ein Klima des Wettbewerbs und derDominanz. Mitglieder streben danach, sich selbst und ihre Leistungen über die der anderen zu stellen. Diese Kultur fördert aggressives Verhalten und Konflikte innerhalb der Organisation. Auch hier wird problemorientiert agiert, allerdings mit einer hohen Kampf- und Konfliktneigung.
Ein grundlegender Konflikt in der Organisationsentwicklung besteht in der Frage, ob man Kulturen gezielt beeinflussen kann oder nicht. Systemtheoretiker argumentieren, dass Kultur nicht direkt beeinflusst werden kann, sondern nur die Strukturen, innerhalb derer die Kultur entsteht. Sie sehen Kultur als emergentes Phänomen, das aus den wiederkehrenden Kommunikations- und Entscheidungsmustern der Mitglieder einer Organisation entsteht.
Wenn man allerdings Kultur als die Gesamtheit der Entscheidungen der Menschen innerhalb einer Organisation betrachtet, könnte man argumentieren, dass ein Einflussfaktor die Kultur beeinflussen und damit das Entscheidungsverhalten der Menschen verändert bzw. ihre Entscheidungsfähigkeit in kritischen Situationen verbessern könnte. »Empowerment« gilt als so ein Einflussfaktor.
In der Organisationsentwicklung wird oft zwischen zwei Formen des Empowerments unterschieden: strukturellem und psychologischem Empowerment. Beide Ansätze zielen darauf ab, Menschen mehr Autonomie und Entscheidungsfreiheit zu geben, doch sie unterscheiden sich in ihrer Herangehensweise und ihren Voraussetzungen.
Strukturelles Empowerment
Strukturelles Empowerment bezieht sich auf die systematische Umgestaltung der Organisationsstrukturen. Es umfasst Maßnahmen wie die Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen, die Einführung flacherer Hierarchien und die Bereitstellung von Ressourcen und Informationen, die notwendig sind, um Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Diese Form des Empowerments wird von der Führungsebene initiiert und setzt voraus, dass die Organisation bereit ist, ihre Strukturen zu verändern und den Mitarbeitenden mehr Handlungsspielraum zu geben. Es ist ein Top-down-Ansatz, bei dem den Menschen von »oben« etwas gegeben wird, um ihre Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten zu verbessern. Das kann funktionieren, aber es ist keine Garantie für »Empowerment« und damit für eine bessere Unternehmenskultur. Selbstorganisationsprinzipien wie z. B. Holakratie sind hochgezüchtete Modelle strukturellen Empowerments und gehen reihenweise schief, weil strukturelles Empowerment allein nicht funktioniert – die Modelle aber mit der Hoffnung, Selbstläufer zu sein, implementiert werden.
Psychologisches Empowerment
Psychologisches Empowerment konzentriert sich auf die inneren Zustände und Einstellungen der Mitarbeitenden. Das beliebte Paradigma umfasst die Förderung von Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung, Bedeutung und des Kompetenzgefühls. Psychologisches Empowerment wird oft durch Schulungen, Coaching und Mentoring gefördert, die darauf abzielen, das Selbstbewusstsein und die Motivation der Mitarbeitenden zu stärken. Auch hier handelt es sich um etwas, das den Menschen gegeben wird – in diesem Fall durch psychologische und emotionale Unterstützung von außen. Kompetenz, Purpose, Autonomie sind Dinge, die von außen gegeben werden. Führungskräfte und Personalerinnen sollen psychologisches Empowerment verteilen. Auch das ist grundsätzlich eine gute Idee – allerdings wird es kritisch, wenn die Arbeit an der Kultur und das Empowerment der Menschen davon abhängen, dass die Chefin Zeit findet, die Ressourcen und die Kapazitäten hat, Purpose und Selbstwirksamkeit auszuschenken.
Empowerment-Dynamik: Selbstermächtigung durch Handwerk
Im Gegensatz zu den oben genannten Ansätzen, die beide darauf basieren, dass Empowerment von außen gegeben oder ermöglicht wird, steht die Empowerment-Dynamik. Diese Dynamik, die als Gegenstück zum Drama-Dreieck und der Problemorientierung betrachtet werden kann, ist ein Handwerk, das es den Menschen ermöglicht, sich selbst in verschiedenen Situationen zu empowern.