Dreamwalker: Äthermacht - Eileen Boogen - E-Book

Dreamwalker: Äthermacht E-Book

Eileen Boogen

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Beschreibung

Alvas Abenteuer in Lai'Haran geht weiter. Seit der Konfrontation mit den Lycanern, von der sie schwere Verletzungen davon getragen hat, ist erst eine Woche vergangen und wegen ihrer angeschlagenen Verfassung kann sie vorerst nicht in ihre Realität zurück kehren. Von nun an muss die junge Frau sich mit dem neuen Leben in der ihr unbekannten Welt zurecht kommen und ihre neu entdeckten Fähigkeiten, sowie ihre ungewöhnlich schnelle Selbstheilungskraft werfen immer mehr Fragen auf. Warum heilt sie schneller, als die meisten Einwohner Lai'Harans? Warum besitzt sie diese mysteriösen neuen ätherischen Kräfte? Und wie konnte sie überhaupt den eigentlich tödlichen Angriff des Lycaners überleben? Während Alva zusammen mit Arun versucht, all diesen neuen Umständen auf den Grund zu gehen, kristallisiert sich ein weiteres Problem heraus: Die Lycaner sind auf Alva und ihre besonderen Fähigkeiten aufmerksam geworden. Und sie haben ihre ganz eigenen Pläne mit ihr… Ein nervenaufreibendes Abenteuer beginnt und sie wird in einen Strudel aus Gefahr, Geheimnissen und Leidenschaft verwickelt.

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Dreamwalker

Äthermacht

Band 2

Eileen Boogen

© 2023 Eileen Boogen

2. Auflage, Vorgängerausgabe 2023

ISBN Softcover: 978-3-347-99013-5

ISBN E-Book: 978-3-347-99014-2

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Weil er die Welt für sie auüs den Angeln heben würde.

 

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Epilog

Dreamwalker: Äthermacht

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Epilog

Dreamwalker: Äthermacht

Cover

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   Prolog   

Arun betritt den Raum. Seine Hände kribbeln und er kann schwer einschätzen, was ihn nun erwarten wird. Ein ungutes Gefühl macht sich in seiner Magengrube breit, denn es ist schon eine ganze Weile her, seit der gesamte Rat zusammengekommen ist.

Bereits einen Tag nach dem Vorfall auf den Grumm-Höfen hat Wolthan die geballte Kraft der Führungsebenen in Lai‘Haran zusammengerufen - er scheint wohl keine Zeit verlieren zu wollen. Noch ist unklar, ob der Angriff der Lycaner etwas mit dem Auftauchen der Kinder zutun hat, die gemeinsam mit Alva vor knapp zwei Wochen in sein Leben getreten sind, doch er ist sich beinahe sicher, dass dies der Grund für den überraschenden Angriff war.

Fünfzehn Männer der Wolfsmenschen sind aus dem Nichts hinter der Grenze von Pas‘Heyran aufgetaucht und fielen mit zerstörerischer Gewalt über das Dorf her, das außerhalb ihrer Befugnis liegt. Wären die Späher der laianischen Einheit nicht so aufmerksam, wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen, bis Aruns Verteidigungseinheit die Höfe erreicht hätte, doch trotz allem, konnten etwa die Hälfte der Bewohner gerettet werden. Nicht zuletzt durch Alvas Hilfe. Alva hatte ihm das Leben gerettet. Hatte in ihrer Dickköpfigkeit die Tatsache nicht akzeptieren können, dass Arun im Kampf fällt und ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um dies zu verhindern. Beinahe wäre sie dabei selbst gestorben, doch der jungen Frau ist nicht bewusst, wie ausschlaggebend ihr Handeln für den Ausgang des Kampfes gewesen ist. Keiner vermag zu sagen, wie die Männer und Frauen der Verteidigungseinheit auf den Fall des Generals reagiert hätten und es ist gut möglich, dass der Kampf dann zugunsten der Lycaner entschieden worden wäre. So gesehen, hat sie nicht nur ihn gerettet, den Mann, der ihr Interesse mit einer überrollenden Leidenschaft geweckt hat, sondern auch die Kinder, Frauen und Männer des laianischen Dorfes.

Ein Schmunzeln huscht über Aruns Gesicht. Ob ihr das eigentlich bewusst ist?

Er schüttelt leicht den Kopf, um die Gedanken an die junge Frau für den Moment aus seinem Verstand zu vertreiben, denn er muss jetzt fokussiert bleiben.

Dann atmet er tief ein und schreitet zu seinem Platz an dem riesigen, rechteckigen Tisch, der Platz für sechszehn Personen bietet. Am Kopf des Tisches steht Wolthans Stuhl, der eher einer abgespeckten Version eines stählernen Throns gleicht. Der Raum ist gute zehn Meter lang und mit dunklen Vollholz Möbeln eingerichtet. Die Wände stehen hoch und bieten den Wappenbannern an der Decke die Möglichkeit, ihre volle Länge zu entfalten, ohne dass sie jemanden stören würden. Der polierte, dunkle Marmorboden bildet eine optische Einheit mit den dunklen Steinwänden, in denen lange Fenster eingelassen sind. Die Wände werden zu großen Teilen von riesigen, schweren Regalen bedeckt, in denen wichtige Dokumente und Überlieferungen, sowie Protokolle gelagert werden. Säuberlich chronologisch sortiert. Wolthan legt großen Wert auf Ordnung und Transparenz während seiner Herrschaftszeit, denn auch wenn er mit eiserner Faust regiert, tut er dies stets gewissenhaft und mit Hilfe seines Rates. Nie würde er leichtfertig eine Entscheidung allein treffen, die so viele Leben beeinflussen würde.

Der Tisch in der Mitte des Raumes ist aus massivem, geschliffenem Vollholz gefertigt und sein hohes Alter lässt er sich dank intensiver Pflege nicht anmerken. Arun mag diesen Raum nicht. Der Hauch alter Zeiten liegt in der Luft und die dunkle Atmosphäre wirkt bedrückend und altertümlich. Doch im Gegensatz zu ihm, hält sein Vater stets an Traditionen fest, auch in seinem Geschmack. Der Schwarzhaarige setzt sich links von Wolthan auf einen der Stühle, die mit einer hohen Lehne und Samtbezügen ausgestattet sind. Auch die anderen Mitglieder dieses Rates tun es ihm gleich und er lässt seinen Blick über die Menge schweifen. Insgesamt dreizehn weitere Mitglieder des Rates haben sich heute hier versammelt, Wolthan und er selbst ausgenommen.

»Fünfzehn…«, murmelt Arun nachdenklich zu sich selbst und wendet dann verstohlen das Wort an seinen Vater. »Wo ist…«

Wolthan winkt ab. »Lothran ist momentan verhindert. Er wird unserer Versammlung heute nicht beiwohnen.« Er spricht diese Worte teilnahmslos aus, doch Arun sieht ihm an, dass ihn diese Tatsache außerordentlich frustriert.

Lothran ist Sylas‘ Vater und Wolthans treuester Anhänger. Wie die Väter, so die Söhne, denkt Arun sich kurz und wendet dann den Blick wieder an die Mitglieder des Rates, die sich langsam sammeln.

Neben Wolthan und Arun befinden sich noch zwei weitere Laianer, drei Tekhaten, vier groß gewachsene Ehleseen und vier Silutaner am Tisch.

Als der Rat gegründet wurde, hat man beschlossen eine gerechte Volksvertretung für jede Rasse zu bestimmen. Naja, gerecht ist in dem Fall Auslegungssache, denkt Arun sich. Ob die Reichen und Unantastbaren das normale Volk wirklich gerecht vertreten können, darüber kann man wohl ewig diskutieren. Aber es ist nun einmal so, wie es ist.

Aruns linkes Ohr zuckt alarmiert in die Richtung der blutjungen Ehleseen Dame, die in der Ecke des Raumes an einem kleinen quadratischen Tisch sitzt. Unbeholfen schiebt sie ihre Unterlagen zusammen und ihre Augen zucken nervös durch den Raum. Wohl ihr erstes Mal? Jede Ratssitzung wird säuberlich protokolliert und meist übernehmen diese Arbeiten junge Ehleseen, die in den Diensten der Themaan Akademie stehen.

»Nun, Wolthan«, beginnt einer der Tekhaten. Ein hochgewachsener Mann mittleren Alters, mit dunkelgrauen Haaren und gräulich schimmernder Haut. Seine weißen Augen blitzen bedächtig auf. »Warum hast du uns heute hier zusammenkommen lassen?«

»Das liegt ja wohl auf der Hand!«, krächzt eine weibliche Stimme ihm gegenüber. Sie gehört einer drahtigen älteren Silutanerin. Ihre spitzen Ohren legen sich an ihren Kopf und sie funkelt den Tekhaten, schnippisch an.

»Der Angriff hat sich trotz unserer Bemühungen sehr schnell herumgesprochen«, seufzt Wolthan laut auf und bedeutet mit der Anhebung seiner Stimme, den anderen Teilnehmern zu schweigen. »Unser Ziel war es, die Sache so klein wie möglich zu halten… bedauerlicherweise–«

Ein weiterer Tekhat, ein älterer Mann mit eingefallenem Gesicht und dunklen Augenrändern, schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Das nennst du klein halten, Wolthan? Dein Sohn ist mit einer blutüberströmten Fremden in die Stadt zurückgekehrt und hat den halben Marktplatz vollgeblutet, bevor die Wachen sie fortgeführt haben«, schimpft er mit krächzender, vorwurfsvoller Stimme.

Aruns Braue hebt sich warnend und er sieht den alten Mann eindringlich an. Die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt, sitzt der Schwarzhaarige nach hinten gelehnt auf seinem Platz und beobachtet das sich ihm darbietende Schauspiel.

Er hasst diese Art von Zusammenkünften, in denen sich die alten Familienoberhäupter, Politiker und Edelleute, die sich im Rat befinden, die Zeit damit totschlagen sich gegenseitig zu beschimpfen und beschuldigen.

Der Tekhat registriert Aruns Blick und ein Teil der Wut in seinen Augen weicht der Ehrfurcht, die der Lafur Familie ge- bührt.

»Nun, wie gesagt. Bedauerlicherweise haben die Geschehnisse größere Ausmaße erreicht, als wir gehofft hatten. Das ändert dennoch nichts an der Tatsache, dass wir nun gut überdenken müssen, ob wir unseren Waffenstillstand gegen Pas‘Heyran aufheben wollen oder nicht«, legt Wolthan faktisch vor.

»Es versteht sich doch wohl von allein, dass wir so ein grauenvolles Verhalten keineswegs dulden können, Wolthan.« Eine entsetzte Frauenstimme von den hinteren Plätzen des Tisches. Die junge Silutanerin erhebt sich und legt die Handflächen auf den Tisch. »Die Lycaner sind grundlos in unsere Ländereien geschlichen, haben Frauen und Kinder geschlachtet wie Vieh. Auch nur ein Fortwähren des Waffenstillstandes zu erwägen, beschmutzt die Andenken derer, die dort draußen auf den Grumm-Höfen ihr Leben gelassen haben. Dorfbewohner, wie auch Soldaten gleichermaßen.«

Ein bestätigendes Gemurmel schleicht durch die Reihen des Rates.

»Nun, Satani«, beginnt Wolthan mit warnendem Unterton und bedeutet ihr, sich wieder zu setzen, »sind alle hier Anwesenden der gleichen Meinung?« Wolthans Augen wandern bedächtig über die versammelten Gesichter, die Ratsmitglieder sehen sich fragend im Raum um, werfen sich warnende Blicke zu. »Also. Wer stimmt für eine Aufhebung des Waffenstillstands mit Pas’Heyran?«

Langsam erheben sich nacheinander die Hände der Teilnehmer. Nur eine zierlich wirkende Tekhatin mit schwarzem, langem Haar lehnt sich langsam in ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihre fliederfarbenen Augen blitzen kurz auf, als das Sonnenlicht ihre Iriden streift und ihre schlitzartigen Pupillen ziehen sich für einen Moment kurz zusammen, bevor sie vielsagend zu Arun herübersieht.

»Nun gut, dann wäre das geklärt, fürs Protokoll«, Wolthan hebt die rechte Hand und bedeutet der jungen Ehleseen Dame in der Ecke des Raumes, dies niederzuschreiben.

Diese nickt enthusiastisch und tippt sogleich geräuschvoll mit ihrer Schreibmaschine los.

»Allerdings sollte es jedem der hier Anwesenden klar sein, dass die Tage des Friedens damit gezählt sind.« Der grauhaarige Mann stützt die Ellenbogen auf den Tisch und tippt bedächtig mit den Fingerspitzen beider Hände aneinander. Seine langen, narbigen Ohren schütteln sich kurz, bevor er fortfährt.

»Wenn wir einen Gegenschlag veranlassen, hat Kardoc was er will. Einen Grund, das Kriegsbeil erneut zu schwingen. Blut wird das Land tränken. Wir wissen, wie es ausgeht, wenn die Lycaner Krieg wollen.«

Bedächtiges Schweigen legt sich über den Raum.

Dann wendet Wolthan das Wort an Arun. »Wie steht es um die Reihen der Soldaten? Sind wir im Falle eines Falles für einen Krieg gewappnet?«

Arun hält kurz inne, und beginnt dann mit eiserner, fester Stimme. »Die Vorhut und die Verteidigungsarmeen sind dünn besäht, aber wir haben einige Infanteristen und die Ausbildung der neuen Rekruten unter Hauptmann Tanaan schreitet ziemlich schnell voran.« Er nickt seinem Vater bestätigend zu, bevor er fortfährt. »Allerdings hat sich auch bei den Lycanern etwas verändert. Es ist mir auf dem Schlachtfeld der Grumm- Höfe aufgefallen. Die Lycaner scheinen weit stärker geworden zu sein. Diese Gruppe, die uns dort begegnet ist, waren keine Rebellen der Selbstjustiz. Das waren ausgebildete Krieger und ich bin mir sicher, dass hartes Training nicht das Einzige ist, was sie so stark gemacht hat.«

Nervöses Gemurmel und Getuschel wandert über den Tisch.

»Was willst du damit sagen, Arun?« Sein Vater runzelt besorgt die Stirn.

Dann steht Arun auf, legt die Hände auf den kalten Tisch. »Wie es bereits den meisten von euch zu Ohren gekommen ist, sind vor einigen Monden zwei Lycaner-Welpen in Lafaria angekommen. Ihr gesundheitlicher Zustand war kritisch. Der Junge wurde von mir verhört und wenn seine Worte wahr sind, steht uns ein Krieg von so großen Ausmaßen bevor, dass ich nicht sagen kann, ob unsere Armee dem standhalten kann.« Arun schiebt seinen Stuhl zurück und beginnt hinter der Lehne auf und abzulaufen.

Das Gemurmel wird lauter, aufgeregt beginnen die Mitglieder miteinander zu flüstern.

»Was meinst du damit?« Die Stimme eines Tekhaten.

»Der Junge hat von Experimenten an Welpen der Lycaner gesprochen. Es sind die Worte eines Kindes, geflutet mit Angst und Panik. Dennoch habe ich Faina damit beauftragt, den Äther der beiden ausgiebig zu untersuchen.« Arun erhebt die Hand in Richtung der Ehleseen Dame, die bedächtig zwischen ihres Gleichen sitzt.

Diese nickt knapp. »Es ist wahr. Die Lycaner haben in die Ätherstruktur der Kinder eingegriffen. Noch kann ich nicht sagen, welche Veränderungen genau herbeigeführt wurden. Da wir diese Art der Äthermanipulation in Lai‘Haran strengstens untersagen, habe ich selbstverständlich keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet. Aber der junge Lycan sagt die Wahrheit.«

Erschrockene Seufzer ziehen durch den Raum.

»Unvorstellbar« –

»Wie grauenvoll, an Kindern?« –

»Wie die Barbaren« –

»RUHE!«, ergreift Wolthan das Wort und hüllt den Raum damit in Schweigen. »Arun, was denkst du, wie wir verfahren sollten? Teile mit uns deine Meinung. Als General«, spielt er Arun den Ball zurück.

»Ich denke, mit einem direkten Angriff haben wir in der aktuellen Lage keine Chance. Wir sollten, auch wenn es uns schwerfällt, die Füße stillhalten.« Wieder dröhnt empörtes Gemurmel durch den Raum und Arun schlägt die Hand auf den Tisch. »Wenn wir jetzt mit einem frontalen Schlag angreifen, stehen die Chancen gut, dass wir viele Männer verlieren. Wir sind uns nicht im Klaren, wie genau die Lycaner sich verändert haben und müssen vorerst alles daran setzen, dieses Geheimnis zu lüften. Wenn wir unsere Männer blind in Horden von äthermanipulierten Bestien schicken, können wir sie auch gleich alle vor die Stadt in einer Reihe aufstellen und erschießen. Dann würden sie zumindest schnell sterben.« Die Worte sind hart gewählt, aber Treffen genau ins Schwarze.

»Das ist alles die Schuld, dieser dreckigen Welpen«, speit der eingefallene Tekhat plötzlich hervor, »wenn sie keine Zuflucht in unserer Stadt gesucht hätten, würden wir jetzt nicht vor solch einer inakzeptablen Situation stehen!«

»Was redest du denn da?«, meckert die alte Silutanerin empört, »hilflosen Kindern die Schuld an solchen Vorfällen zu geben…«, wütend lässt sie ihren Rücken gegen die Stuhllehne fallen und wendet schnaubend den Blick ab.

»Makhtan hat recht«, bekräftigt ein stämmiger alter Laianer mit hellbraunen Ohren und einem rundlichen Gesicht die Vorwürfe, »wie konnten die Welpen überhaupt in die Stadt vordringen?«

Plötzlich verstummen die wilden Diskussionen und die Blicke wenden sich auf Wolthan und Arun, die sich vielsagend ansehen.

»Sie wurden hergeleitet«, sagt Wolthan mit fester Stimme, »Von einer Wanderin.«

Stille legt sich wie ein eiskalter Mantel über den Raum, in dem man nun eine Stecknadel fallen hören könnte.

»Eine was?«, haucht eine zierliche Laianerin mit kurzen roten Haaren. Ihre Augen weiten sich ungläubig und sie sucht den Blick des Mannes neben ihr.

»Es ist wahr«, ergreift Arun das Wort, »Sie kamen mit einer Wanderin her. Sie hat die Kinder auf dem Weg gefunden und war sich ihrer Taten nicht bewusst.«

Der Raum wird mit ansteigendem Geflüster gefüllt und Arun seufzt schwer. Er hatte nicht vor gehabt, Alvas Präsenz auf diese Weise vor dem Rat zu veröffentlichen, doch es führt jetzt kein Weg mehr daran vorbei.

»Eine Wanderin in unseren Reihen, die den Feind in unsere Mitte geführt und damit einen Krieg entfacht hat!«, knurrt Makhtan, der alte Tekhat mit dem gräulichen Hautton. »Was ist nur aus diesem Land geworden. Es steht ja wohl außer Frage, dass sie umgehend exekutiert werden muss.«

Bestätigendes Gemurmel.

»Ja, fragwürdig, warum es nicht unverzüglich geschehen ist. Dann würden wir jetzt nicht in dieser Lage stecken«, keift der männliche Laianer und ballt die Fäuste. Arun wirft Wolthan einen wütenden Blick zu, der sich angestrengt auf die Lippe beißt.

Sein Blick verfinstert sich und er sieht sich im Raum um. »So löst der berühmte Rat Lafarias also seine Probleme? Ihr wollt einer Frau den Kopf abschlagen und zwei hilflose Kinder vor die Mauern auf die Straße werfen und hoffen, dass die Sache damit erledigt ist?«, knurrt er, die Stimme in Wut getränkt.

»Verblendet seid ihr. Jeder Einzelne von euch.«

Wolthan sieht mahnend zu seinem Sohn herüber, während die Stimmen im Raum wild durcheinander peitschen.

»Die Wanderin wird weiterleben«, erhebt sich plötzlich eine monoton hallende Stimme über das Gefluche und Gemurmel der anderen.

Die Blicke der Ratsmitglieder wandern zu Faina, die sich erhoben hat und sich nun in voller Größe am Tisch behauptet. Die langen sorgfältig geflochtenen Zöpfe hängen ihr gerade den Rücken herab und bedecken ihre weiß schimmernden Gewänder. »Sie«, fährt sie fort, ihre Stimme so eiskalt und unwirklich, wie die einer Göttin, die einem ihrer Anhänger im Traum erscheint, »ist der Wendepunkt.«

   Eins   

»Muss das wirklich sein, heute?«, seufze ich und kratze mir gedankenverloren am Kopf.

»Du wirst wohl nicht drum herum kommen, wenn du dich weiter in dieser Welt integrieren willst, Sonnenschein«, säuselt Sylas mir provozierend zu.

Er stand vor einer guten halben Stunde vor meinem neuen Apartment und hat etwas von Unterricht gefaselt.

Noch keine Woche ist es her, dass ich aus dem kurzzeitigen Koma erwacht bin und schon werde ich mit Unterricht, Training und anderen anstrengenden Aufgaben bombardiert.

»Aber wir waren gestern bereits bei Raveena«, beschwere ich mich, wie ein Kind, dass seine Mutter überreden will, den heutigen Schultag ausfallen zu lassen.

»Nun, das Wissen schläft nie, du hast viel nachzuholen.« Raveena, die Ehleseen Gelehrte, die mit meiner theoretischen Ausbildung betraut wurde, gibt sich alle Mühe, die Informationen so anfängerfreundlich wie möglich zu verpacken, allerdings brummt mir schon jetzt der Schädel von all diesen neuen Fakten über Äther, Traumwanderungen und die Geschichte dieser Welt.

»Man braucht auch mal eine Pause verdammt, mir platzt der Schädel bald von den ganzen neuen Infos, die ich mir merken soll. Noch immer habe ich nicht wirklich verstanden, wie das nun genau mit dem Wandern funktioniert«, sage ich und lasse mich schwer aufs Bett zurückfallen.

Ich habe Arun noch nicht verziehen, dass er Sylas Zugang zu meinem Apartment gewährt hat, nachdem ich sein beharrliches Türklopfen beim ersten Mal versucht habe, zu ignorieren und weiterzuschlafen.

Sylas wandert in meinem Schlafzimmer auf und ab, sieht sich mäßig interessiert um.

»Ein Grund mehr, keine einzige Stunde mit Raveena ausfallen zu lassen«, säuselt er melodisch und grinst frech.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und richte mich dann wieder auf. »Okay, okay, ich verstehe schon. Ich werde dich sonst nicht los. Warte im Wohnzimmer, ich ziehe mir schnell was an.«

Er streckt mir mit einer übertriebenen Geste den Daumen entgegen und macht sich dann auf, um sich auf die Ledergarnitur im Wohnzimmer zu setzen. Er ist heute ungewöhnlich gut drauf, wenn man bedenkt, wie angespannt die letzten Tage in Lafaria abgelaufen sind.

Grübelnd schiebe ich mich mit meiner unversehrten Hand aus dem Bett und gehe auf den langen, schwarzen Kleiderschrank zu. Die Dinge, die ich noch vor einiger Zeit mit Arun in der Stadt besorgt hatte, wurden direkt hierher geliefert und da ich mit meinem gebrochenen Arm nicht sonderlich nützlich bin, wurde mir eine Aushilfe des Ministeriums zur Verfügung gestellt, die mir in nächster Zeit ein wenig unter die Arme greifen und mir helfen soll, mich hier zurechtzufinden. Sie war auch so zuvorkommend und hat den neuen Inhalt meines Kleiderschrankes für mich einsortiert. Sie wurde mir einige Tage nach meinem Erwachen aus dem Koma, als Niu – Han’s Schwester – vorgestellt.

Als ich sie das erste Mal begutachtete, war ich mir zuerst unsicher, ob mein Selbstwertgefühl damit zurecht kommt, mich von einer Siebzehnjährigen pflegen zu lassen, jedoch verstehen wir uns eigentlich sehr gut und sie hilft mir, die alltäglichen Aufgaben hier zu bewältigen.

Han durfte ich bisher noch nicht kennenlernen, ich weiß nur, dass er als Aruns Meisterspäher fungiert und sich aktuell in meiner Realität befindet, um den Trubel um meinen dort zurück gebliebenen Körper zu regeln.

Während ich nach einem weiten schwarzen Shirt wühle, schweifen meine Gedanken ab.

Ich habe Arun nicht gesehen, seit er in meinem Apartment übernachtet hat. Als ich morgens aufgewacht bin, war er bereits verschwunden. Nur dieser eigenartige Traum ist geblieben. Sylas hatte mir einige Stunden später erklärt, dass Arun zu einer wichtigen Sitzung des Rates aufgebrochen ist. Wie erwartet, denn genau das kam auch in meinem Traum vor.

Ich weiß nicht so wirklich, wie ich diese neue Situation deuten soll, doch seit ich aus dem Koma erwacht bin, habe ich das Gefühl, ab und an Aruns Erlebnisse in meinen Träumen miterleben zu können. Doch seit dieser Nacht ist es eigenartigerweise nicht mehr vorgekommen.

Frustriert seufze ich. Wieso lässt er sich nicht bei mir blicken? Bereut er etwa das, was an dem Abend zwischen uns vorgefallen ist? Zugegeben, es lag wohl an der Hitze des Augenblicks und die ganze Sache war auch nicht sonderlich gut durchdacht, aber immerhin ist eigentlich nichts Ernstes zwischen uns gelaufen. Zu meinem Bedauern, hat die Sache geendet, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte.

Meine Hände ziehen ein weites schwarzes Shirt und eine dunkelgraue, eng anliegende Hose mit großen Taschen an den Seiten, aus dem Schrank.

Wieso ist er seitdem nicht mehr aufgetaucht? Erneut steigt Frustration in mir auf und ich beiße mir auf die Unterlippe. Vielleicht war es doch ein Fehler, mich wieder einem Mann hinzugeben.

Die Vorstellung, dass Arun ernste Gefühle für mich entwickeln würde, ist sowieso absurd.

Dieser Gedanke, der aus den tiefen meines Unterbewusstseins an die Oberfläche schleicht, versetzt meinem Herzen einen eiskalten Stich und ich muss unweigerlich schwer schlucken. Kopfschüttelnd zerre ich mein Nachthemd über den Kopf und den gebrochenen Arm und breite das Shirt vor mir aus. Es kostet viel Mühe mich mit diesem Handicap selbst anzukleiden, jedoch habe ich keine große Lust mir jedes Mal Hilfe suchen zu müssen und Niu wird heute nicht hier auftauchen, da ich den Vormittag mit Sylas verbringen muss. Ich bin es gewohnt, auf mich selbst angewiesen zu sein und deshalb werde ich die Stunden ohne meine neue Assistentin wohl irgendwie überstehen.

»Stur wie eh und je«, murmle ich und mache mich an dem Shirt zugange.

Nach einigen schwerfälligen Minuten – und vielen zappeligen Bewegungen auf dem Bett, um die Hose anzuziehen – stehe ich angezogen vor dem großen Spiegel neben dem Kleiderschrank. Angestrengt puste ich mir eine Strähne aus dem Gesicht und lächle triumphierend, als ich mein Outfit begutachte. Neben dem Schrank hängt eine weite schwarze Jacke, mit einigen Taschen und Riemen daran. Schnell greife ich danach und schlüpfe hinein, bevor ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe. Funktionskleidung mit Stil, genau mein Ding, denke ich für mich und gehe ins Wohnzimmer.

Sylas runzelt die Stirn und begutachtet mich kurz, bevor er einen Pfiff ausstößt.

»Ich glaube ich muss mich erst noch an eine normal bekleidete Alva gewöhnen. Kein Vorhanghalter um die Hüfte gebunden. Keine gestohlene Soldatenkleidung… irgendwie vermisse ich deine alten Outfits«, grinst er.

Ich ziehe eine Fratze in seine Richtung und gehe dann zur Tür, um mir die Lederhalbstiefel zu greifen, die neben ihr platziert sind. Unsanft lasse ich mich auf den Hintern fallen und mache mich daran, die Schuhe mit einer Hand anzuziehen.

Sylas hebt die Braue an und schmunzelt. »Brauchst du Hilfe?«

»Nein«, schnaube ich angestrengt und fummle den ersten Schuh über meinen Fuß. »Du kannst mir gleich helfen meine Haare irgendwie zusammen zu knoten«, keuche ich, als der Schuh mit einem Ruck über die Hacke gleitet und ich vom Schwung beinahe nach hinten falle.

Er sieht mich spöttisch an. »Wie sehe ich aus, wie dein Dienstmädchen, oder was? Soll ich ihrer Hoheit vor dem Schlafengehen noch das Haar bürsten?«, gekünstelt säuselt er die Worte, lächelt dann aber schelmisch.

»Du hast gefragt, ob du helfen kannst, ich habe dir eine Antwort gegeben. Niu kommt heute nicht, also musst du wohl einspringen«, japse ich erschöpft.

Als ich endlich auch den zweiten Stiefel am Fuß trage, hieve ich mich schwerfällig vom Boden und verschnaufe kurz. »Geschafft«, schnaube ich stolz und blicke in Sylas höhnischen Gesichtsausdruck.

»Hättest du mich helfen lassen, wäre das schon längst alles erledigt und wir wären bereits auf dem Weg«, seufzt er und erhebt sich von dem Sofa. »So, was genau willst du jetzt von mir?«

Ich grinse breit und gehe zu der kleinen Kommode neben der Tür, auf dem eine kleine Schüssel mit Haarbändern steht. Spielerisch zupfe ich eins aus dem krausigen Haufen heraus und halte es vor Sylas‘ Nase.

»Hast du einer Frau schon mal die Haare zusammen gebunden?«, sage ich frech und beobachte sein wenig amüsiertes Gesicht durch den kleinen Wandspiegel über dem Schränkchen.

»Klar, ich mach das quasi täglich. Aus aller Lande kommen die Frauen zu mir, um sich vom großen Sylas Tanaan die Haare frisieren zu lassen«, brummt er ironisch und nimmt mir das Band ab. »Dreh dich um.«

Ich folge seinen Anweisungen. Doch schon als ich spüre, wie schwer es ihm fällt meine samtig weichen, glatten Haare in einen Griff zu bekommen, muss ich kichern.

»Was gibt es da zu lachen?«, knurrt er, sichtlich genervt von der Tatsache, dass er es sich wohl einfacher vorgestellt hat. Ich beiße mir fest auf die Lippe, um mein Lachen zu unterdrücken. »Halt doch still jetzt« –

»Ich halte doch still, Sylas. Ich bewege mich nicht.«

»Willst du mich verarschen… wie soll das denn halten? … Also… Okay warte, ich habs gleich, ich muss nur noch…« –

»AUA!«

»Sei nicht so zimperlich, du wolltest es so.«

Geschlagene fünf Minuten später, stößt er triumphierend einen Luftschwall aus und tritt einen Schritt zurück.

»Fertig?« Ich drehe mich mit dem Gesicht über die Schulter zu ihm um und seine Miene sieht weit genervter aus, als sonst. Bereits an der Kopfhaut kann ich spüren, dass da irgendwas nicht so sitzt, wie es sollte und langsam tapse ich ins Bad, um mich im Spiegel zu begutachten. Als mein Kopf und Oberkörper in dem Spiegel sichtbar werden, bin ich mir unsicher, ob ich lachen oder weinen soll.

»Sylas!«, schreie ich halb lachend, halb seufzend aus dem Bad und lege die Handflächen aufs Gesicht.

»Das ist nicht meine Schuld, deine Haare sind einfach unmöglich. Wie glitschiger Fisch«, beschwert er sich laut.

»Würdest du das bitte noch mal neu–«

»Vergiss es!«, unterbricht er mich sofort, »Das muss ausreichen, ansonsten lass sie halt offen…sehe ich aus wie ein Stylist, oder was?«

Ich seufze schwer und überlege angestrengt, ob mir eine Möglichkeit einfällt, mir die Haare selbst und mit nur einer Hand zu binden. Doch das Klicken der Apartmenttür holt mich aus meinen Gedanken und lässt mich angespannt aufhorchen. Sylas‘ Stimme in leiserem Ton als zuvor.

»…Ach du bist wieder zurück. Wie schön, ich wette du wurdest schon sehnsüchtig vermisst.«

Mein Herz beginnt unweigerlich zu rasen, wie das eines kleinen Mädchens. Angespannt verharre ich im Bad und warte ab, welche Stimme antwortet.

»Würdest du…?

»Schon klar. Soll ich sie hier später abholen? Wir haben einen Termin bei Raveena«, erklärt Sylas.

»Ich übernehme das, danke.« Arun. Es ist eindeutig Aruns Stimme.

Mein Herz krampft sich sehnsüchtig zusammen und in meinem Verstand bricht eine wilde Diskussion aus, wie ich mich nun verhalten soll. Er war nur ein paar Tage weg, er ist dir keine Rechenschaft schuldig, Alva.

Tu einfach so, als wäre nichts gewesen – Nein, auf keinen Fall. Wir sollten ihm klar machen, dass sein unangekündigtes Verschwinden uns verletzt hat. Zeigen wir ihm die kalte Schulter – Wir sollten ihm einfach um den Hals fallen –

Ich schüttle mit verkniffenen Augen den Kopf, um die Gefühle abzustellen, die in mir hochkochen. Erneut höre ich, wie die Wohnungstür sich öffnet und schließt, dieses Mal, als Sylas das Apartment verlässt.

Okay, Alva. Einfach ganz cool bleiben.

Kurz schnaube ich auf und drehe mich dann zur Tür, um das Wohnzimmer zu betreten. Arun steht vor dem Sofa, die Arme vor der Brust gekreuzt und sein Blick schweift über den Boden. Ein paar Strähnen seines schwarzen Haars hängen ihm in die Stirn. Als er zu mir aufsieht, macht mein Herz einen heftigen Satz.

»Arun.« Meine Kehle ist staubtrocken, als ich seinen Namen hauche.

Er kommt mit langsamen Schritten auf mich zu und bleibt nur wenige Zentimeter vor mir stehen. »Geht’s dir gut?«, fragt er sanft und mustert mich aufmerksam.

Wut steigt in mir auf. »Wo warst du zum Teufel? Hättest du nicht sagen können, wenn du verschwindest?« Hitze macht sich in meinen Wangen breit und als ich realisiere, dass ich mich gewaltig im Ton vergriffen habe, stutze ich überrascht.

So viel zum Thema cool bleiben, Alva. Ging ja kräftig in die Hose.

Als ich wieder zu seinem Gesicht hinauf sehe, fällt mir sein schmunzelnder Gesichtsausdruck auf. »Findest du das lustig?«, knurre ich und sehe ihn grimmig an.

Er legt Daumen und Zeigefinger um mein Kinn, um mein Gesicht ein Stück zu sich heranzuziehen. »Hast du dir etwa Sorgen gemacht?«, säuselt er an meine Lippen.

Ich stoße überrascht die Luft aus, wende mich dann aber aus seinem Griff. Er soll gar nicht erst denken, dass er einfach ein paar mal mit seinen hübschen Augen klimpern muss und schon ist alles vergeben und vergessen.

Als ich ihm den Rücken zudrehe, feixt er unterdrückt auf. »Was ist mit deinem Haar passiert?«,

»Sylas ist damit passiert«, sage ich knapp und verschränke meinen gesunden Arm mit dem Gips vor der Brust.

»Komm her.« Er zieht mich sanft an den Schultern an seine Brust. Bei der bloßen Berührung mit seinem Oberkörper durchzuckt mich ein Gefühl wohliger Freude und am liebsten würde ich mich jetzt umdrehen und ihm um den Hals fallen. Doch ich beiße mir angespannt auf die Unterlippe und verbiete mir diesen Gedanken.

Egal wie ich es drehe und wende. Ich habe ihn vermisst, diesen arroganten, selbstgefälligen Dreckskerl.

Ich spüre seine Finger in meinen Haaren, als er das verknotete Band aus dem Vogelnest von Zopf entfernt. Nach ein paar gekonnten Handgriffen hat er mein Haar in einen praktischen Pferdeschwanz gebunden.

Beeindruckt runzle ich die Stirn. »Nicht schlecht, Hasenjunge«, necke ich ihn bewusst.

»Alva…«, knurrt er mahnend und dreht mich zu sich herum. Erneut treffen sich unsere Blicke und eine energetische Spannung baut sich zwischen uns auf.

»Du kannst nicht einfach so morgens aus meinem Schlafzimmer schleichen und dann ein paar Tage kein Lebenszeichen von dir geben.« Ich tippe provokant mit dem Zeigefinger gegen seine Brust.

Er schmunzelt, wobei die Grübchen auf einer Seite seiner Wangen sichtbar werden. »Entschuldige. Man hat bei einer wichtigen Ratsversammlung nach mir verlangt und die Entscheidungen, die dort getroffen wurden, erforderten mein sofortiges Handeln«, erklärt er knapp. Dann hebt sich seine Braue und verleiht seinem Gesicht einen provokativen Ausdruck. »Ich wusste nicht, dass du mich so sehr vermissen würdest«, grinst er schelmisch und seine Ohren zucken aufmerksam zu mir herum. Die silbernen Ringe, die darin stecken, blitzen durch das Sonnenlicht kurz auf.

Meine Wangen werden heiß und ich wende den Blick ab.

»Darum geht es nicht. Ich will einfach nicht umsonst mein Leben riskiert haben, um deines zu retten«, knurre ich.

Schlechte Ausrede, ich weiß, aber auf die schnelle ist mir nichts Besseres eingefallen. Warum brauche ich überhaupt eine Ausrede? Wieso gebe ich nicht einfach zu, dass er mir gefehlt hat? Doch der sture Teil in mir, der niemanden an mich heranlassen will, verschränkt abweisend die Arme.

»Was erwartest du, Alva?« Eine direkte und klar formulierte Frage. Eine gute Frage. Wenn ich doch nur selbst wüsste, was ich erwarte.

Ich seufze. »Nichts, entschuldige. Ich habe mir einfach irgendwie Sorgen gemacht. Die ganzen Vorfälle waren einfach ein bisschen viel, okay? Ich bin momentan ein wenig angekratzt«, erkläre ich kleinlaut und schlinge unbehagt die Arme um den Oberkörper, wobei der Gips sich hart an meinen Verband drückt. Er erwidert nichts, doch ich spüre seinen Oberkörper erneut in meinem Rücken, als er mir näher kommt. Seine Hände umklammern meine Schultern, massieren diese leicht.

»Es ist schön, dich zu sehen, Alva.« Seine samtige Stimme hallt in meinem Kopf wider und sofort erhellt sich meine Miene. Gott, ich fühle mich wie ein verliebter Teenager, ist ja ekelhaft. Doch ich kann mir nicht helfen, drehe mich zu ihm um und schlinge meine Hand um seinen Nacken, um seinen Kopf zu mir herunterzuziehen.

Überrascht folgt er der Aufforderung und legt seine Lippen gierig fordernd auf meine.

»Verschwinde einfach nicht noch mal ohne Vorwarnung, okay?«, hauche ich ihm an die Lippen.

Er grinst breit. »Ich versuch’s.«

Erneut treffen sich unsere Münder und ich beiße ihm spielend auf die Unterlippe.

»Alva…«, raunt er warnend, ein unterdrücktes Verlangen liegt in der Art wie er meinen Namen ausspricht. Doch es bestätigt mich nur in meinem Vorhaben.

Ich lächle ihn herausfordernd an. Seine Hände umschlingen meine Taille und er zieht mich sanft an sich heran. In seinen Augen lodert eine quälend heiße Leidenschaft, von der ich in diesem Moment nur zu gern kosten würde. Als ich meine Fingerspitzen über seine Halsvene zu seinem Schlüsselbein gleiten lasse, hält er mein Handgelenk fest.

Überrascht sehe ich ihn an.

Er beugt sich zu meinem Ohr und sein warmer Atem jagt mir eine feine Gänsehaut über den Körper. »Wenn du so weiter machst«, er macht eine bedächtige Pause, in der er hörbar die Luft einzieht, »reiße ich dir jedes Kleidungsstück einzeln von deinem Körper.«

Als würde er diesen Worten noch mehr Ausdruck verleihen wollen, verfestigt sich sein Griff um meine Taille.

Vor meinen Augen explodiert das Verlangen nach ihm und erneut verfluche ich die so angeschlagene Verfassung meines Körpers. Meine Wunden sind schon in weit besserem Zustand, als das letzte Mal als ich in dieser Situation steckte, doch sicher sein kann ich mir nicht. In mir tobt ein unbändiger Konflikt zwischen Verlangen und Vernunft. Die Iriden in Aruns Augen lodern auf, lassen seinen exotischen Blick noch faszinierender wirken.

Mir stockt der Atem bei diesem Anblick und ich kann nicht anders, als mich auf Zehenspitzen zu stellen, um seine Lippen erneut auf meinen zu spüren. Er erwidert den Kuss sofort und ich kann förmlich spüren, wie die Mauer seiner Beherrschung zu bröckeln beginnt. Seine Hände fahren fordernd über meinen Rücken und meine Wirbelsäule zu meinem Hintern, dann löst er sich plötzlich aus meinem Griff und wendet sich von mir ab. Aufgewühlt läuft er im Wohnzimmer auf und ab, fährt sich mit den Händen durch Gesicht und Haar.

»Alles okay?«, frage ich nervös.

Flüchtig fällt sein Blick auf mich, bevor er sich wieder abwendet. »Ja. Es fällt mir in deiner Gegenwart nur schwer, mich zurückzuhalten«, knurrt er angestrengt.

Ich schmunzle, bewusst über dieses Kompliment.

»Ich will dir nicht weh tun«, gesteht er matt und sieht mit angespanntem Kiefer zu mir herüber.

Ich schlucke schwer, mir der Bedeutung dieser Worte wohl im Klaren. Der Heilungsprozess meiner Verletzungen ist in den letzten Tagen zwar rasant voran geschritten, dennoch ist das Gewebe wund und schmerzt bei abrupten oder unbedachten Bewegungen. Raveena hatte mir erklärt, dass es am Äther hier liegt, dass Wunden schneller heilen können als üblich. Wenn ich nun zusätzlich noch trainiert darin wäre, mit meinem eigenen Äther umzugehen, wären meine Verletzungen wohl schon längst vernarbt. Irgendwie eine gruselige Vorstellung, einen Bruch oder eine so tiefe Fleischwunde innerhalb weniger Tage auszukurieren, wie eine leichte Erkältung. Noch immer ist mir diese Welt so fremd, dass ich es kaum akzeptieren kann.

Immer wieder packt mich eine panische Angst, dass ich eines Tages einfach aus einem langen Koma aufwache und Becky mir erklärt, dass ich einen Unfall hatte. Dass ich monatelang weggetreten war und diese ganzen Erlebnisse bloß Einbildungen waren. Wirre Gebilde meines beschädigten Hirns.

Ich verdränge diesen Gedanken und seufze. »Gib mir noch ein paar Tage«, schmunzle ich ihm herausfordernd zu.

Er lächelt ernüchtert, sagt dann aber: »Du bekommst so viele Tage, wie du brauchst, Alva.«

δ

Als wir gemeinsam mein Apartment verlassen, beschleicht mich plötzlich ein eigenartiges Gefühl.

»Sag mal«, frage ich vorsichtig, »was wird nun mit den Kindern passieren?«

Er scheint abzuwägen, doch dann antwortet er: »Sie werden vorerst in unserer Obhut bleiben. Wir können sie ja schlecht wieder vor der Stadt aussetzen.«

Diese Worte beruhigen mich, auch wenn er sie mit berechnender Kälte hervorgebracht hat. Während wir den Gang zum Aufzug hinab schreiten, frage ich mich, wie die beiden sich wohl fühlen müssen. Ganz allein in einer fremden Stadt, in der sie kaum einer verstehen kann. Ihr Verstand und Körper geschändet von unvorstellbaren Gräueltaten.

»Kann ich sie…kann ich sie sehen?«, frage ich zögernd und sehe zu Arun auf. Unsere Blicke treffen sich einen Moment, bevor er sein Armband auf die am Aufzug angebrachte Steuerkonsole legt. Diese leuchtet sofort grün auf und beginnt zu brummen.

Die in den Armbändern eingelassenen Äthersteine sind mir wirklich ein Rätsel. Für mich fremde Zeichen erscheinen auf der schwarz glänzenden Steinplatte und Arun tippt zwei mal kurz darauf, bevor die Plattform des Glasaufzuges sich in Bewegung setzt.

»Das sollte kein Problem darstellen. Zum jetzigen Zeitpunkt sind sie in einer Tagesstätte für Waisen untergebracht. Ich werde deinen Besuch dort ankündigen.«

Überrascht runzle ich die Stirn. »Du lässt mich allein dort hin?«

Die stählerne Platte hält vor unseren Füßen und die Glastüren des Aufzugs schieben sich auf, damit wir eintreten können.

»Nein«, antwortet er knapp.

Ich seufze genervt auf. »Du hast dich auch nicht darum geschert, als du abgehauen bist, ob ich im Alleingang irgendwas erkunde, oder nicht«, murmle ich schnippisch und puste mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Da irrst du dich«, sagt er und sieht zu mir herunter, »warum denkst du, habe ich wohl einen Hauptmann meiner Soldaten an deine Seite gestellt? Weil du ihn so gut leiden kannst?«

Ich schnaube. »Ich traue dem Kerl nicht über den Weg«, knurre ich, während wir nach unten fahren.

»Doch, tust du. Dir fällt es nur schwer, es dir einzugestehen. Abgesehen davon… Sylas mag dich. Und es ist mir lieber, wenn du jemanden an der Seite hast, der dich leiden kann.«

Überrascht sehe ich ihn an. Woher will er das wissen? Sylas ist für mich ein verbotenes Kapitel. Ein Mann, dem man besser nicht den Rücken zudreht. Dennoch muss ich mir eingestehen, dass wir uns zunehmend besser verstehen, auch wenn unser Kontakt mehr aus gegenseitigen Provokationen und Neckereien besteht. Aber woher will Arun das Wissen? Er muss das wohl einfach geschlussfolgert haben, was auch immer.

»Abgesehen davon«, fährt er fort, »weiß Sylas, dass ich ihm den Kiefer breche, wenn er dir auch nur ein Haar krümmt.«

Entrüstet schnaube ich auf. »Das scheint mir ein wenig übertrieben, findest du nicht?«, spotte ich mit hochgezogener Braue.

Ein berechnender Blick trifft mich. »Du kennst Sylas nicht…du kennst die Tekhaten nicht. Sie sind mit Vorsicht zu genießen.«

Kälte zieht im Aufzug auf.

»Diese Aussage bestärkt mein Vertrauen zu ihm nicht gerade.«

Er wendet den Blick ab.

Im Erdgeschoss angekommen treten wir in die Halle hinaus. In den letzten Tagen ist richtig Leben hier eingekehrt und ich bin überrascht von dem Getummel in diesem Gebäude. Haufenweise Laianer und Silutaner laufen in schnellen, strengen Schritten durch die Halle, einige von ihnen tragen Papierstapel oder große Aktentaschen mit sich.

»Warum ist hier eigentlich momentan so viel los?«, frage ich, während mein Blick durch die Personen um mich herum streift. Keiner von ihnen würdigt mich eines Blickes, denn sie alle scheinen absolut fokussiert auf ihre Aufgaben zu sein.

»Der Vorfall mit den Lycanern hat die ganze Stadt in Aufruhr versetzt, es muss vieles geklärt werden. Du bist während den Mondnächten hier angekommen, da ist es hier weitestgehend ruhig. Die meisten Mitarbeiter des Ministeriums, sowie die Ratsmitglieder und andere wichtigere Persönlichkeiten haben in diesen zwei Wochen frei, verbringen die Zeit mit ihren Familien oder was auch immer sie in ihrer Freizeit treiben. Der Angriff hat diese Urlaubszeit bedauerlicherweise verkürzt«, erklärt er sachlich.

»Das heißt, das hier ist der eigentliche Normalzustand?«

Das wilde Treiben in der Halle erinnert mich beinahe an einen Hauptbahnhof, an dem die Passanten hektisch zu ihren Gleisen eilen. Angespannte Mienen auf den Gesichtern deuten auf unangenehme Zeiten hin. Nichts mehr ist von der bedrückenden Halle übrig geblieben, die ich bei meinem Eintreffen hier so ehrfürchtig bestaunt habe.

»Kann man so sagen. Üblicherweise ist es nicht ganz so… angespannt. Aber ja, es arbeiten so einige Lai‘Haraner im Ministerium. In diesem Gebäude sind unzählige Abteilungen untergebracht, es ist nicht ohne Grund so weitläufig.«

Knapp deutet er mit den Händen an die Decke. Ich nicke verstehend. Also sowas wie ein Rathaus, ziehe ich für mich den Vergleich, ein ziemlich pompöses Rathaus.

»Sag mal…«, frage ich nachdenklich, »wo gehen wir nun eigentlich hin?«

»Zu deiner heutigen Ausbildungsstunde.«

   Zwei   

In der Akademie angekommen, scheint Raveena bereits auf uns zu warten. Wie immer steht sie an der Rezeption in der hell gehaltenen Eingangshalle und sieht emotionslos zu uns hinüber, als sie unsere Ankunft bemerkt.

»Alva… General Lafur. Schön euch zu sehen«, sagt sie monoton und schreitet sogleich in einen der Gänge hinein, ohne zu überprüfen, ob wir ihr folgen. Meine Lehrstunden finden seit meinem Unfall in regelmäßigen Abständen statt und so langsam gewöhnt mein Verstand sich an all die neuen Fakten aus dieser Welt. Nichtsdestotrotz waren wir seit dem Vorfall mit meinem kleinen Schwächeanfall nicht mehr in dem Glasgebäude auf dem Vorhof der Akademie. Aber eine eigenartige Vorahnung beschleicht mich, dass es nicht mehr allzu lange dauern kann. So oder so habe ich mir selbst schon einige Gedanken um diese Einrichtung gemacht. Eigentlich brauche ich nur noch eine offizielle Bestätigung zu meiner Theorie. Aufwachraum hatte Raveena es genannt. Das kann nur bedeuten, dass diese Glaskuppel für die Wanderer erbaut wurde.

Die Wanderer dieser Realität.

Kindliche Euphorie steigt bei diesem Gedanken in mir auf, denn zu gern würde ich einmal mit einem anderen Wanderer sprechen. Doch ich werde mich wohl gedulden müssen, der Zeitpunkt dafür wird schon noch früh genug kommen.

Arun hält Raveena und mir eine der großen Doppeltüren auf und wir schreiten zügig in die Halle der Traumtheorien hinein.

Die Unterrichtsstunden bestehen meistens simplerweise darin, dass wir uns ein gemütliches Plätzchen suchen und ich einen ganzen Haufen Fragen stelle, die mir dann nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet werden.

Der riesengroße Raum ist auf der unteren Ebene geradezu überfüllt mit Büchern und Nachbildungen aus der Nebenrealität, also meiner Welt. Raveena hatte mir in der letzten Sitzung erklärt, dass man zwar Gegenstände durch die Wanderungen mitnehmen kann, es aber den allerwenigsten in diesem Ausmaße gelingt. Dieses Gebiet ist weitestgehend unerforscht, genaue Voraussetzungen dafür sind also noch unklar. Daher haben es sich einige Wanderer Lafarias zur Aufgabe gemacht, die wichtigsten Informationen so originalgetreu wie möglich nachzubilden.

Ich will gar nicht wissen, wie genau sie das anstellen. In meinem Kopf bildet sich eine Vorstellung von jungen Silutanern, die in der Menschenwelt über Einsteins Relativitätstheorie hängen und verzweifelt versuchen, die Seiten auswendig zu lernen. Nur um sie dann in ihrer eigenen Welt niederzuschreiben.

Ein Seufzen entflieht mir bei dieser Vorstellung. Keine Ahnung, ob das wirklich die gängige Vorgehensweise ist, aber ich nehme mir vor, Raveena bei Gelegenheit danach zu fragen.

Wie immer stapfen wir die breite Holztreppe in der Mitte des Raumes hinauf, um uns in dem offenen zweiten Stockwerk der Bibliothek niederzulassen. Der kleine runde Kaffeetisch und die drei Samtsessel stehen noch genau so da, wie Sylas und ich sie das letzte Mal verlassen haben. Die Sitzecke ist umgeben von bis unter die Decke gezogenen Bücherregalen und an der hinteren Wand ist ein altmodischer Lichtprojektor aufgebaut, der mit Ätherkabeln durchzogen ist.

»Setzt euch«, beginnt die groß gewachsene Ehleseen Dame, »Wo waren wir das letzte Mal stehen geblieben?«, fragt sie beinahe gelangweilt.

Ich überlege kurz. »Ich glaube…ich sagte, ich wolle mehr über die Lycaner und die Entstehung der Spannungen zwischen Lai’Haran und…«, angestrengt versuche ich mich an den Namen des Landes zu erinnern, dem die Lycaner entstammen.

»Pas’Heyran«, hilft Arun mir auf die Sprünge.

»Genau, das sollten wir definitiv als nächstes durchgehen. Immerhin würde ich echt gern wissen, wieso ich aufgeschlitzt wurde«, säusle ich ironisch und lehne mich auf dem dunkelblauen Samtsessel zurück.

Raveena scheint kurz abzuwägen, dann nickt sie.

»Ein sinnvolles Thema, angesichts der neuesten Ereignisse«, entgegnet sie knapp und räuspert sich dann. »Also gut, beginnen wir.«

Mit diesen Worten erhebt sie sich und geht wortlos zu einem der großen Schränke herüber, die anscheinend nach einem speziellen System geordnet sind. Plötzlich ergreift mich eine ungewohnte Trägheit und ich muss unweigerlich gähnen.

Arun sieht mit gerunzelter Stirn zu mir herüber.

»Jetzt schon so gelangweilt?«, provoziert er spöttisch.

Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. »Ich schlafe in letzter Zeit einfach nicht besonders gut, ehrlich gesagt. Diese Albträume nehmen kein Ende.«

Besorgt sieht er mich an. »Es wird besser werden. Irgendwann.«

Gedankenverloren nicke ich.

Die Nächte seit dem Angriff habe ich kaum durchgeschlafen, immer wieder werde ich schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen, erwische mich schreiend im Bett mit Herzrasen und Panikattacken.

Diese Fratze des schwarzen Lycaners, direkt vor meinem Gesicht. Die glühenden von Hass verzerrten Augen, die geifernde blutverschmierte Schnauze. Immer wieder zwingt mir mein Unterbewusstsein diese Erinnerungen auf. Nur die Handlung des Traumes ändert sich stetig. Manchmal werde ich angegriffen, manchmal Arun. Ein oder zweimal waren es auch die beiden Kinder, die vor meinen Augen in Stücke gerissen wurden.

Niedergeschlagen schüttle ich den Kopf und reibe mir mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, als Raveena sich wieder zu uns gesellt.

»Nun gut, Wanderin«, beginnt sie und stellt eine kleine schwarze Kassette neben dem Lichtprojektor ab. »Wir werden uns heute eines Hilfsmittels bedienen müssen.« Dann öffnet sie die Schatulle an den Seiten und holt mit vorsichtigen Bewegungen eine metallisch glänzende Rolle daraus hervor.

Überrascht ziehe ich eine Braue hoch, gespannt darauf, wie dieser eigenartig aussehende Projektor wohl funktionieren wird.

Raveena scheint sich ganz auf die Rolle zu konzentrieren, die zwischen ihren Handflächen klemmt. Dann schließt die Frau die Augen und als sie diese wenige Sekunden später wieder öffnet, leuchten sie strahlend weiß auf.

Erschrocken halte ich inne. Ich habe dieses Phänomen bereits einmal gesehen. Ja, im Sanctus, als die Ehleseen Heilerin ihre Hand auf meinen Verband gelegt hat.

Ehrfürchtig beobachte ich ihre Bewegungen und neige mich langsam zu Aruns Sessel herüber, ohne den Blick von der leuchtenden Frau abzuwenden.

»Was zum Teufel macht sie da?«, flüstere ich, als ich mich beinahe bis auf seinen Schoß zu ihm herüber gelehnt habe. Er schmunzelt verstohlen. »Einfach ausgedrückt: Mithilfe ihrer Fähigkeiten kanalisiert sie einen Hauch Äther in die Rolle, um sie verwenden zu können. Der Äther aktiviert die in dem Material gespeicherten Aufzeichnungen.« Mit den Händen macht er kleine Gesten, um den Vorgang zu verdeutlichen.

Ich runzle ungläubig die Stirn. »Mit…Magie?«, frage ich leise.

Er grinst. »Nenn es wie du willst.«

Mit einem Zwinkern wendet er sich wieder zu Raveena, dessen weiß strahlende Augen nun allmählich wieder zum Normalzustand zurückkehren.

Das zylindrische Metallstück ruht noch immer zwischen ihren Handflächen, doch gerade noch schien sie gleichmäßig glatt, wie ein kleines Stück einfaches Stahlrohr. Jetzt wird sie rund herum von hauchdünnen Linien und Symbolen überzogen. Wie dünne, blau leuchtende Adern pulsieren diese nun gleichmäßig auf der Oberfläche. Raveena hebt ihre Arme und lässt die Rolle in ein kleines Einschubfach an der Seite des Projektors rutschen bevor sie es anschließend behutsam zuklappt.

Neugierig beobachte ich den Vorgang, setze meine Ellenbogen unbewusst auf die Sessellehne und stütze mein Kinn auf der Hand ab. Ich muss aussehen, wie ein Kind, welches zum ersten Mal einen Projektor zu Gesicht bekommt. Als mir dies bewusst wird, schnaube ich amüsiert auf und puste mir eine Strähne aus der Stirn.

Der Projektor beginnt die Veränderung zu registrieren und ein gleichmäßiges Rauschen geht plötzlich von ihm aus. Feiner, blauer Schimmer steigt um ihn herum in die Luft, wie glänzender Sandstaub. Oder…

»Qualm«, denke ich laut und setze mich plötzlich alarmiert gerade in den Sessel. »Brennt das Ding gerade ab?«, frage ich nervös und die Unsicherheit wird in meiner Stimme deutlich.

Raveena wirft einen genervten Blick zu Arun herüber, der amüsiert mit den Schultern zuckt.

Meine Güte, diese Ehleseen haben eine Miene aus Stein, aber wenn man die minimalen Veränderungen in ihrer Mimik zu deuten lernt, bemerkt man die natürliche Arroganz und Überheblichkeit dieses Volkes sofort.

»Die ganze Sache ist neu für sie. Hab Geduld«, säuselt Arun amüsiert und lehnt sich in seinem Sessel zurück, um die Arme zu kreuzen.

Die große Frau dreht sich wieder um und legt ihre Hand vorsichtig an ein großes Rad, wahrscheinlich um das Gerät richtig einzustellen? Was zum Teufel macht die da bloß? Es wäre wirklich hilfreich, wenn sie mir solche Dinge einfach erklären würde, aber anscheinend ist das ja schon zu viel verlangt.

Ich habe wirklich nicht das Gefühl, dass diese Frau ihre Aufgabe, mich zu lehren, genießt. Ganz im Gegenteil, sie vermittelt den selben Eindruck, den Arun damals vermittelt hat, als er erfuhr, dass er ab sofort meinen Babysitter spielen muss.

Wie ein trotziges Kind hatte er mit seinem Vater in einer fremden Sprache diskutiert.

Ein sanftes Lächeln breitet sich bei dem Gedanken in meinem Gesicht aus. Wer hätte gedacht, dass sich die Dinge so entwickeln würden?

Der Projektor knackt leise vor sich hin, wie das Knistern eines Lagerfeuers, während er plötzlich einen hellen Strahl an die Wand vor sich wirft. Erschrocken hebe ich den Kopf und sehe interessiert auf die vor mir liegende Wand.

»Also gut, beginnen wir mit unserer heutigen Geschichtsstunde«, lächelt Raveena matt.

Ich straffe die Schultern wie ein Schüler, der dem Lehrer seine Aufmerksamkeit suggerieren will und hole tief Luft. Ich war nie die aufmerksamste Person, wenn es um Theorieunterricht geht, deshalb fallen mir auch die Vorlesungen in der Uni so schwer, aber ich muss mich hier zusammen reißen.

»Nun gut. Ich werde versuchen nur die wichtigsten Informationen herauszufiltern, da unsere Zeit begrenzt ist. Wie du bereits erfahren hast, ist Lai‘Haran nur ein Bruchteil von dem, was diese Welt zu bieten hat. Allerdings ist unsere Realität weitaus weniger dicht besiedelt als die Deine. Um Lai’Haran erstrecken sich riesige Landschaften, Gebirge, Täler und Meere…«

Passend zu ihren Worten bilden sich blaue Schleier an der Wand, die grobe Umrisse verschiedener Darstellungen zeigen. Die Bilder sind nicht im Geringsten mit einer elektronischen Projektion zu vergleichen, eher wie lebende, leuchtend blaue Schatten bauen sie sich an der Wand auf und wandeln sich.

Wie zum Teufel macht sie das?

Schon jetzt schweifen meine Gedanken von ihren Erzählungen ab und beschäftigen sich lieber mit dem Zauber, der sich hinter diesem Gerät verbirgt. Unmerklich schüttele ich den Kopf, um meine Aufmerksamkeit zu Raveena zurückzuholen.

»Vor vielen Jahrhunderten gab es im direkten Umkreis zu unserem jetzigen Lai’Haran drei große Länder. Lai’Haran, Pas‘Heyran und Saltanan. Saltanan war das Land der Tekhaten, Pas’Heyran gehört bis zum heutigen Tage überwiegend den Lycanern und in Lai’Haran leben seither die Laianer Seite an Seite mit den Silutanern«, erklärt sie nüchtern und ich sehe dem ätherischen Schleier an der Wand fasziniert dabei zu, wie er immer wieder seine Formen zu passenden Darstellungen verändert. »Nun, es ist nicht so, dass diese drei Länder steht’s in Frieden koexistierten. Schon immer lagen Spannungen zwischen den Herrschern dieser Länder, doch die Situation geriet außer Kontrolle, als die Existenz des Äthers entdeckt wurde. Die damaligen Herrscher hatten allesamt vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von dem, was man aus der neu gewonnenen Erkenntnis schöpfen konnte. Während Lai’Haran sich auf einen Fortschritt konzentrierte, der sowohl aus sozialen- als auch ethischen und nachhaltigen Aspekten förderlich sein sollte, wollte der Herrscher Pas‘Heyrans die Chance auf Macht nutzen und den Armen und Schwachen die Kraft entziehen, um die Starken und Reichen zu stärken. Die Starken sollten die Schwachen regieren. Dabei nahm er keine Rücksicht auf Verluste.«

Raveena seufzt, als sich wabernde Bilder von Lycanern an der Wand abbilden. Eine Kreatur beugt sich über eine auf dem Boden kauernde Gestalt. Feiner Rauch steigt von dem, auf dem Boden sitzenden Wesen hinauf und scheint in die Pranke des sich darüber beugenden zu verschwinden. Die kauernde Gestalt windet sich unter Schmerzen, bis sie schließlich leblos zu Boden sinkt.

Besorgt runzle ich die Stirn. »Sie haben ihre eigenen Leute… ausgesaugt?«

Arun ergreift das Wort. »Nicht direkt, aber man könnte es so nennen, ja. Metaphorisch gesehen«, stumpf nickt er.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Den Erklärungen Raveenas zufolge ist der eigene Äther sowas wie die Seele eines jeden Lebewesens. Wenn diese einem gewaltsam entrissen wird… ich darf nicht darüber nachdenken, sofort krampft sich mein Herz bei dieser Vorstellung zusammen.

Raveena fährt fort. »Der Herrscher Pas’Heyrans gewann durch diese Vorgehensweise zunehmend an Stärke, seine Macht wuchs von Tag zu Tag. Doch schnell musste er sich eingestehen, dass er seine eigenen Reihen mit seinem Handeln zu sehr schwächen würde. Zusammen mit den weisesten Lycanern forschte er also an neuen Möglichkeiten, um auf andere Weise Äther zu gewinnen. Im Laufe der Jahre fanden sie heraus, dass es möglich ist, nicht nur seinen Kameraden, sondern auch seiner Umgebung den Äther zu entziehen.«

Schleierhafte Bilder von schlagartig verwelkenden Pflanzen, vom Himmel fallenden Vögeln und aufreißender Erde bilden sich an der Wand und mein Herz wird bei dem Anblick plötzlich schwer.

»Er hat sein ganzes Land dahin gerafft…«, flüstere ich entsetzt und schlinge unbehaglich meine Arme um meinen Körper.

Raveenas vielsagender Blick bestätigt meine Aussage.

»Es dauerte viele Jahre, bis sein Handeln sich herumgesprochen hat, nicht zuletzt der großen Landmasse verschuldet, die die Länder trennt. Doch als der einstige Herrscher Lai’Harans über die grauenvollen Zustände in Pas’Heyran unterrichtet wurde, musste er schließlich handeln. Also wandte er sich an Saltanan und bat um deren Unterstützung. Schnell sprach sich auch in diesem Land die Neuigkeit um die Machenschaften der Lycaner herum. Doch die Reaktion war nicht ganz so einstimmig wie erhofft. Große Streitigkeiten brachen in Saltanan aus. Einige Tekhaten waren der Meinung, man solle sich mit Pas’Heyran zusammenschließen, an deren Wissen teilhaben und so selbst zu mehr Macht gelangen.«

Empört schnaube ich auf. Die Chance auf ein wenig Macht holt in den meisten Menschen das Schlechteste hervor, wieso sollte es bei den Völkern hier anders sein.

»Die Uneinigkeit des Volkes und der Politik in Saltanan führten nach Jahren der Diskussion schließlich zum Bürgerkrieg. Viele Aufstände und Hinterhalte plagten dieses Land, bis es kurzerhand an seinen eigenen Problemen zerbrach. Die aufständischen Tekhaten, die sich nicht den dunklen Machenschaften der Lycaner anschließen wollten, wurden letztendlich nach und nach zum Tode verurteilt. Doch bevor diese Todesstrafe Überhand nehmen konnte, flüchteten die betroffenen Tekhaten und machten sich auf den Weg, um in Lai’Haran um Asyl zu bitten. Gut ein Drittel der Bevölkerung konnte im Laufe der Zeit aus den eigenen Reihen entkommen. Leider ereilte dennoch zu viele der Tod.«

Die Schleier an der Wand formen sich zu humanoiden Wesen, auf Speeren aufgespießt oder im Feuer verbrannt. Ich lege entsetzt die Hand vor den Mund und sehe zu Arun herüber, der meinen Blick betroffen erwidert.

»Wenn der Wahn einmal ins Rollen kommt, sind solche Ereignisse nicht selten. So ein Massaker findet man in der Historie unserer Realität immer wieder.«

Langsam nicke ich. Es ist nicht so, als wäre die menschliche Geschichte nicht ebenfalls voll von solchen Ereignissen. Kurz atme ich tief durch und wende meinen Blick wieder nach vorn.

Raveena hält kurz inne und sieht dann selbst wieder an die Wand. »Zerfressen von Paranoia und der Gier nach Macht, verfielen die großen Führer Saltanans in einen unaufhaltsamen Wahn. Getrieben von der Vorstellung, alle Verräter aus den eigenen Reihen zu filtern, richteten sie mehr als die Hälfte der verbliebenen Bevölkerung hin. Eine wahrlich dunkle Zeit für das Land brach an, die erst endete, als die regierenden Tekhaten von den eigenen Soldaten bei einem Attentat hingerichtet wurden. Doch das Land war bereits dem Untergang geweiht und die verbliebenen Bewohner teilten sich abermals. Einige von ihnen baten in Lai’Haran um Vergebung für ihre Taten. Andere wanderten in Pas’Heyran ein und stellten sich dem Herrscher des Landes zur Verfügung. Das war das Ende von Saltanan, wie es bis dahin existierte. Heute ist es nur noch Ödland, zerfallene und von der Natur zurückeroberte Gebäude und Ruinen.«

Der Drang diesen Ort eines Tages zu besuchen, keimt in mir auf. Ich war eigentlich nie ein großer Fan von Geschichte, doch aus irgendeinem Grund interessieren mich die Ruinen von Saltanan gerade besonders. Und die Vorstellung an eine verlassene Stadt, bis über die Dächer bewuchert von Moos und Pflanzen, Bäumen und Tieren, schenkt mir ein wenig Frieden.

»Also, gibt es heute sowohl gute als auch böse Tekhaten?«, frage ich interessiert in den Raum.

»Jeder hat eine andere Auffassung von Gut und Böse, Wanderin«, ermahnt mich Raveena mit monotoner Stimme. »Aber auf diese Geschichte bezogen, könnte man das wohl so ausdrücken«, gesteht sie.

Ich grüble kurz darüber nach, bevor sie fortfährt.