Dreamwalker: Die Wanderin - Eileen Boogen - E-Book

Dreamwalker: Die Wanderin E-Book

Eileen Boogen

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Beschreibung

Alva Williams wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich den Schritt in eine erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin wagen zu können. Doch ihr Leben nimmt eine rasante Wendung, als sie eines Nachmittags müde auf ihrem Sofa einschläft und ihr Verstand sie in eine atemberaubende Traumwelt entführt. Schon als kleines Mädchen hat sie sich oft dorthin geflüchtet, um ihrem von Streitigkeiten geplagten Elternhaus zu entkommen und auf den Wiesen Lai'Harans ihren inneren Frieden zu finden. Zwanzig Jahre später erwacht ihre ungeahnte Fähigkeit erneut in ihr zum Leben und stellt die angehende Schriftstellerin vor große Herausforderungen. Als sie eines Nachts erneut in ihrer faszinierenden Traumwelt die Augen öffnet und auf zwei schwer verletzte Kinder stößt, ahnt sie jedoch noch nicht, dass die Rettung der beiden ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen wird und sie sich unbewusst in große Gefahr begibt…

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Dreamwalker

Die Wanderin

Band 1

Eileen Boogen

© 2022 Eileen Boogen

ISBN Softcover: 978-3-347-78465-9

ISBN Hardcover: 978-3-347-78466-6

ISBN E-Book: 978-3-347-78467-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Epilog

Folgebände

Dreamwalker: Die Wanderin

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Prolog

Epilog

Dreamwalker: Die Wanderin

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Prolog

Ein sanfter Duft von frischem Gras. Warme Sonnenstrahlen auf der noch so jungen Haut. Sie blinzelt dem hellen Ball am Himmel entgegen und hebt die Hand über die Augen. Sie weiß genau, dass sie nicht in Richtung der Sonne schauen soll. Ständig hat ihre Mutter ihr das gesagt. Sie tut es trotzdem. Ihre nackten Zehen bohren sich in die vom Tau noch nasse Wiese. Immer wieder kommt sie hier her. Genießt den Frieden und die Glückseligkeit, die dieser Ort ausstrahlt - ganz anders als ihr Zuhause. Immer wieder muss sie sich in ihrem Zimmer die Ohren zuhalten, wenn Papa Mama schon wieder ausschimpft. Unerträglich. Verstehen kann sie es nicht. Eltern müssen sich doch liebhaben, oder? Aber manchmal hat sie das Gefühl, Papa hat Mama überhaupt nicht mehr lieb. Noch gut kann sie sich daran erinnern, als sie einmal von einem Besuch bei Oma nach Hause kam, ihren kleinen roten Rucksack schwer gefüllt mit ihren liebsten Spielsachen, und schon an der Ecke der Elmstreet Mamas Schluchzen und Papas lautes Schreien wahrnahm. Am liebsten wäre sie direkt wieder umgedreht. Zurück in ihr kleines Spielzimmer bei ihrer Oma, wo sie den ganzen Tag vor dem Kamin sitzen konnte, mit der kleinen rosa Haarbürste ihre Püppchen hübsch machen, oder Omas so schönen Geschichten lauschen. Aber es wurde nun Zeit wieder nach Hause zu gehen, hatte Oma gesagt. Ihre kleinen Hände versteiften sich um die Gurte des Rucksacks und langsam aber entschlossen ging sie auf das kleine Haus in der Mitte der Straße zu. Ihr Atem ging schwer, denn sie kannte die Geschehnisse mittlerweile zu gut. Ein lautes Klirren erschallte aus dem Küchenfenster, dann schrie Mama auch. Zu gern würde sie einmal nach Hause kommen, und Mama und Papa glücklich und lachend am Küchentisch auffinden. Ihnen aufgeregt von ihren Erlebnissen in der Schule erzählen, oder von den neuen Geschichten, die sie sich ausgedacht hatte. Ein dumpfer Knall. Sie zuckte zusammen und kniff instinktiv die Augen zu. Sie wollte nicht nach Hause, aber sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Auch wenn sie bereits ahnte, was sie in ihrem Zuhause erwartete. Und sie lag mit ihrer Vorahnung richtig.

Sie atmet tief die frische Frühlingsluft ein und verdrängt den Gedanken an den schlimmen Tag aus ihrem Gedächtnis. Sie ist nun hier, an ihrem Lieblingsort, den sie ganz für sich allein hat. Das Zwitschern eines Vögelchens reißt sie von dem Gedanken los und holt sie endgültig ins Hier und Jetzt zurück.

Ihr erdbeerblondes Haar wird von einer sanften Windböe aufgewühlt und weht ihr ins Gesicht. Ein Kichern dringt aus ihrer kleinen Kehle und sie setzt nun spielend leicht einen Fuß vor den anderen, um über das feuchte Gras zu wandern. Wie eine Seiltänzerin streckt sie die Arme von sich und wandert über den unebenen Boden, der von knöchelhoch gewachsenem Gras bewuchert wird. Seit sie vier Jahre alt ist kommt sie hier her. Beinahe jede Nacht und manchmal sogar am Tage. Aber nur wenn sie versehentlich in der Schule einschläft. Das gibt dann immer bösen Ärger zuhause, aber manchmal ist sie einfach so müde. Müde, weil sie zuhause nicht schlafen konnte. Immer wenn Mama und Papa… Nein. Nicht wenn sie hier ist. Hier ist ein Ort des Friedens und kein Platz für böse Gedanken. Ihr ganz eigener Lieblingsort den nur sie besuchen kann. Immer wenn sie die Augen schließt und endlich einschläft, kommt sie hier her. Bald wird sie schon ganze sieben Jahre alt.

Kleine schäfchenförmige Wolken überziehen langsam den kobaltblauen Himmel. Jetzt muss sie die Augen auch nicht mehr so zusammenkneifen und ihr Gesicht entspannt sich, während sie ihren Blick über die Landschaft schweifen lässt. Als sie einen großen Baum mit herabhängenden Ästen entdeckt, quietscht sie fröhlich und ihre kleinen nackten Füße tapsen nun schneller auf das riesige, bestimmt schon eine Millionen Jahre alte Lebewesen zu. Eine Trauerweide, hatte ihr Oma mal erklärt, als sie nachfragte. Sie hatte den Baum in einem Buch entdeckt und Oma gefragt, wie der Baum heiße.

»Aber Alva, Trauerweiden haben keine rosafarbenen Blätter, Kind« - hatte sie erwidert als Alva ihr von ihren Nickerchen unter besagtem Baum erzählte. Aber Oma hat ja keine Ahnung. Genau da sieht sie ihn doch. Rosa Blätter. Man, wenn Oma den Riesen sehen könnte, würde sie Augen machen- denkt sie für sich und macht die letzten Schritte bis zum angenehmen Schatten des Baumes. Hier verbringt sie ihre Zeit am allerliebsten. Sie lehnt sich an die großen Wurzeln und schaut sich den wunderschönen Himmel an. Die Wolken haben hier immer ganz besondere Formen. Beinah zu jeder Wolke fällt ihr eine tolle Geschichte ein. Sie zupft ihr mintfarbenes Nachthemd zurecht und lässt sich rückwärts auf die Wiese fallen, lehnt sich seufzend zurück, bis ihr Rücken die robuste Wurzel des großen Stammes berührt. Heute ist sie zu erschöpft, um Geschichten über Wolkenkrieger auf Wolkenpferden zu erfinden.

Ihre Lider fühlen sich schwer an und nach zwei drei schnellen Wimpernschlägen schließt sie ihre Augen.

Endlich… Frieden. Ein eiskalter Windhauch, begleitet von einem noch eisigeren Singsang, lässt sie schlagartig die Augen aufreißen. Sofort zieht sie sich hoch und schaut sich schreckhaft um. Woher kam dieses Gefühl? War das real, oder nur ein Traum? Die idyllische weite Wiese liegt noch immer genau so friedlich vor ihr wie bisher.

Feine Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg durch die dicken weißen Himmelswolken. Alles ist… friedlich. Ist es das? Woher kam dann dieses eigenartige Gefühl? Wie eine Vorahnung hat es ihr Herz ergriffen und sie warnend hochschrecken lassen. Noch einmal, dieses Mal langsamer, lässt sie ihre wachsamen Augen über die Anhöhe gleiten. Nichts als feucht glitzerndes Gras. In der weiten Ferne vereinzelte Bäume.

Ein Rascheln. Panisch schwingt sie sich auf die Beine und lehnt sich mit dem Rücken an den Baum. Bisher war sie an ihrem Lieblingsort immer allein. Ein Knacken. Direkt auf der anderen Seite des Baumes. Ihr Herz klopft ihr jetzt bis zum Hals. Doch sie nimmt ihren Mut zusammen und dreht sich um, damit sie sich langsam, ganz langsam mit den kleinen Händen an dem großen sanften Riesen entlang tasten kann. Bedacht darauf, kein unnötiges Geräusch zu machen.

Was ist, wenn das hier gar nicht ihr Ort des Friedens ist? Vielleicht wartet auf der anderen Seite des riesigen Stammes ja ein Tiger auf sie, um sie mit Haut und Haar zu verspeisen? Oder noch schlimmer. Ein Drache. Ein Drache, der nur darauf wartet, sie für immer und ewig in einen großen, unerreichbaren Turm zu sperren. Nein, Sie, Alva Williams, wird sich definitiv nicht von einem blöden Drachen in einem Turm einsperren lassen! Der hat ja keine Ahnung mit wem er sich da anlegt.

Ein kriegerisches Schmunzeln umspielt ihre Lippen und schenkt ihr den restlichen Mut, um die letzten Schritte zu machen, und vorsichtig um den restlichen Teil des Stamms herumzuspähen. Fast schon in Zeitlupe schiebt sie ihr schmales hübsches Gesicht weiter herum, so leise sie nur kann.

Sie hat natürlich keine Angst, aber … vielleicht ist der Drache ja auch riesig, und man muss ja kein unnötiges Risiko eingehen. Sie hat schon das Gefühl, sie könne ihren Herzschlag auf der Zunge spüren, als sich endlich die andere Seite des Baumes in ihr Sichtfeld schiebt.

Zu ihrer unendlich großen Erleichterung sieht sie kein riesiges, schuppiges und geflügeltes Ungeheuer. Nur ein kleiner… Junge? Ein schmaler Rücken ist ihr zugedreht, ein Hinterkopf mit zotteligen rabenschwarzen Haaren und… sind das… sind das echte Hasenohren? Ungläubig macht sie noch einen weiteren Schritt um den Baum herum und bleibt dabei mit den nackten Zehen an einer feinen Baumwurzel hängen. Ein schriller Schrei drängt aus ihrer Kehle, und bevor sie darüber nachdenken kann, was gerade geschehen ist, liegt sie mit dem Gesicht und den Händen auf dem Boden.

Der kleine Junge schreckt panisch auf und fällt unbeholfen rückwärts auf den Rücken.

»Aua.« Alva zieht sich auf die Knie und betrachtet traurig ihre dreckigen Hände. Dann fällt ihr Blick auf den Jungen, der ihr nun schräg gegenübersitzt und ängstlich von ihr wegzurutschen scheint. Ihre linke Augenbraue zieht sich fragend hoch. »Hey, du. Du bist kein Drache… und ein Tiger oder sowas auch nicht.«

Sie rafft sich auf die Beine und klopft den groben Schmutz notdürftig von ihrem Nachthemd ab. Seit sie realisiert hat, dass kein böses Ungeheuer ihr die Hölle heiß machen will, ist ihre Angst wie weggeblasen, und sie fühlt sich wieder ganz wie die vorlaute, mutige, tapfere Alva die sie ist.

»…also, wer bist du?«, fragt sie den schwarzhaarigen Jungen, der noch immer – auch wenn jetzt langsamer – von ihr fort rutscht.

Große, glasige Augen starren sie an. Eine leise Stimme, doch verstehen kann sie sie nicht. »Hey, hat dir deine Mama nicht beigebracht, wie man mit einem Mädchen spricht?« Kampflustig stemmt das schmale Mädchen ihre dürren Arme in die Hüfte und lächelt ihn frech an.

Der Junge erstarrt in seiner Bewegung und scheint über ihre Worte nachzudenken. »M…Mädchen?« Fragend sieht er ihr jetzt das erste Mal direkt in die Augen und Alva atmet stoßartig aus.

»Boah, du hast ja voll coole Augen! … sind die echt? Also ich habe ja schon davon gehört, dass manche Menschen Kontaktlinsen reintun, damit die Augen anders aussehen aber deine sehen so…so echt aus.« Noch nie hatte sie einen Menschen mit zwei verschiedenen Augenfarben gesehen. Das linke hat einen beinah goldenen Farbton – wie flüssiger Honig, während das andere Auge eisblau schimmert.

Doch der kleine Junge reagiert noch immer nicht. Er sitzt nur da, wie erstarrt. Aber seine Angst scheint sich allmählich aus seinem Blick zu verflüchtigen.

»Mensch…?« Auch seine Stimme klingt nun fester.

»Ja, Mensch. Oder sehe ich etwa aus wie eine Kröte?« Spöttisch schaut Alva auf den noch immer am Boden kauernden Jungen hinab, doch dann fällt ihr Blick wieder auf seine Ohren, und ihr stockt erneut der Atem. Seine unfassbar schönen Augen sind nicht das einzig Ungewöhnliche an dem Kind. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Ihre unbändige Fantasie hatte ihr keinen Streich gespielt. Aus der wuscheligen schwarzen Mähne die den Kopf und einen großen Teil der Stirn und Augen des Jungen bedecken, schauen tatsächlich… kleine Hasenohren heraus. Auch wenn sie in diesem Moment nach hinten gedreht sind, beinah im rechten Winkel zu seinem Kopf, kann Alva sie deutlich sehen. Das ist gar kein Junge, wird ihr in diesem Moment klar. Das ist ein… ein Hasenmensch? Gibt es Hasenmenschen? Ihre Gedanken fangen an sich zu drehen.

»Do you speak english?«, fragt sie vorsichtig. Keine Antwort. Nur ein fragender Blick. Sie versucht es weiter, will die Hoffnung nicht aufgeben. »Franzais? Spainisch?… Djörmany?«

Der Junge schüttelt verwirrt den Kopf und scheint nun allen Mut zusammenzunehmen, und sich ebenfalls auf die Beine zu rappeln. Seine langen, schwarzen Ohren richten sich auf und drehen sich interessiert zur Seite. Taubengrauer Flaum scheint das Innere zu füllen. Alvas Blick gleitet erneut zu diesen so flauschig aussehenden Dingern. Dann kommt ihr eine Idee. Wenn man sich nicht mit Worten versteht, dann vielleicht mit den Händen. Sie grinst, stolz auf diese grandiose Idee, auf die bestimmt sonst niemand gekommen wäre, und hebt langsam die Hände. Dann zeigt sie mit dem Daumen der rechten Hand auf ihre Brust.

»Alva. Ich. Bin Alllllvva.« Erwartungsvoll beobachtet sie seine Reaktion. Doch noch immer besteht das gegenüberliegende Gesicht aus einem einzigen, großen Fragezeichen. Auch wenn sie sich mittlerweile sicher ist, dass dieses Wesen nicht mal weiß, was ein Fragezeichen ist. Sie atmet schwer aus und senkt den Blick.

»Dein Name… Alva?« Ihr Kopf schreckt in die Höhe als sie die sanfte fragende Stimme des Jungen hört.

Freudig sieht sie ihm in seine schimmernden Augen. »Ja! Ja genau. Ich bin Alva, und wie ist dein Name?«

Der Junge presst nachdenklich die Lippen aufeinander.

»Alva? … Alva Schatz, Bist du schon aufgestanden? Zähne geputzt? Der Bus kommt gleich.« Alva zuckt zusammen, versteht erst nicht. Das war nicht die Stimme des Jungen. Und sie kam auch nicht aus dem Mund des Jungen. Sie kam… aus dem Himmel? Verwirrt sieht sie nach oben, schaut in die dunkler werdenden Wolken, bevor alles so schnell vorbei ist, wie es angefangen hat.

Alva schlägt die Augen auf.

Eins

»Komm schon, Al«, Rebecca seufzt auf. Kopfschüttelnd schlage ich die Ellenbogen auf den Tisch und vergrabe mein Gesicht in den Handflächen. »Du kannst nicht immer alles gleich auf Anhieb schaffen. Man sagt nicht umsonst - es ist noch kein…« –

»Ja ja ja… ich hab schon kapiert. Es iSt nOch KeIn MeiStER vom Himmel gefallen Alva, Übung macht den Meister, Alva. Du musst nur fleißig üben und immer dranbleiben, Alva.« Ich weiß es ist nicht fair, Rebecca so anzufahren, aber ich bin es echt leid mir immer dieselben Floskeln anzuhören.

»Jooooo ich wollte nur helfen, okay? Komm mal runter.« Von meiner besten Freundin kann ich wohl in diesem Fall keine andere Antwort erwarten. Sie weiß, wie man mir zeigt, dass ich mich im Ton vergriffen habe.

»Es tut mir leid, Becky. Wirklich. Es ist nur…« – vorsichtig denke ich über meine nächsten Worte nach, denn ich will nicht schon wieder wie eine jammernde Mimose klingen, die nichts anderes kann, als sich über ihre eigenen Verhaltensmuster zu beschweren. »Ach, ich weiß doch auch nicht was mit mir nicht stimmt. Ich bekomme es einfach nicht auf die Reihe.« Fehlgeschlagen. Warum versuche ich es überhaupt was Sinnvolles zu sagen.

Eine zarte Hand legt sich auf meine Schulter. Als ich Becky ansehe, blicke ich in verständnisvolle braune Augen. Ziemlich untypisch dunkle Augen für eine Blondine. Rebecca Samson ist seit ungefähr fünf Jahren meine beste Freundin. Und genau genommen auch die einzige Freundin die ich je hatte. Meine Fähigkeit soziale Kontakte zu pflegen und auch aufrecht zu erhalten lässt wirklich zu wünschen übrig. Aber Becky blieb in der Vergangenheit immer standhaft an meiner Seite. Wenn man meinen Sturkopf und meine fehlende soziale Kompetenz bedenkt, kann ich mich wohl äußerst glücklich schätzen.

»Hör mal Alva«, sie atmet schwer aus, »Nein, weißt du was. Scheiß drauf. Lass uns einfach in die Stadt gehen, wir können morgen weiter lernen. In deinen Dickschädel bekommen wir heute sowieso nichts mehr rein.« Grinsend zwinkert sie mir zu und klappt ihre Bücher und Hefte zusammen, um sie gleich danach in ihrer schicken dunkelgrauen Umhängetasche verschwinden zu lassen.

Ich lächle ihr müde zu und bin insgeheim dankbar dafür, dass sie diese ätzende Situation für mich auflöst. Sie weiß genau, dass ich es von mir aus nie vorgeschlagen hätte, es für heute gut sein zu lassen. Ich will nicht immer wie der Drückeberger des Tages dastehen. Und immerhin haben wir uns erst vor einer knappen halben Stunde in der städtischen Bibliothek getroffen. Auch ich beginne seufzend meine Sachen zusammen zu raufen, bei mir sieht es aber weit weniger elegant aus als bei Becky. Unbeholfen schiebe ich die losen und verknickten Blätter auf die Schnellhefter und stopfe den Stapel in meinen lässig schwarzen - und ziemlich abgewetzten - Eastpak. Diese Rucksäcke sind wohl schon vor einigen Jahren aus der Mode gekommen, aber ich kann mich einfach nicht von dem alten Teil trennen.

Als ich aufstehe und mir das Ding schwungvoll über eine Schulter werfe, reicht mir Becks ihre Hand.

»Komm schon du lernfaules Stück«, lacht sie und zieht mich an der Hand auf die großen Schwingtüren der Bibliothek zu, »Ich habe richtig Lust auf einen dieser fancy Frappucinos.« Ihre blonden schulterlangen Haare umspielen ihr Gesicht als sie sich zu mir umdreht.

»Bei dem Wetter? Es sind mindestens -20° draußen«, spotte ich und überlege, worauf ich Lust hätte.

»Das du immer übertreiben musst. Mein Handy zeigt knapp über 0 an.« Ich zucke mit den Schultern, als Becks die Tür aufstößt und mir stockt der Atem, als mir die kalte Winterluft ins Gesicht schlägt. Ich spüre, wie sich die Hand meiner besten Freundin fester um meine schließt als sie stoßartig ausatmet.

»Puh… vielleicht hast du doch recht. Fühlt sich an wie -20… ich denke, eine heiße Schokolade tut es heute auch.« Unsere Blicke treffen sich und wir fangen beide an zu lachen. Wie ich die Zeit mit diesem Mädchen genieße. Sie schafft es immer wieder den dunklen Schleier in meinen Gedanken mit ihren fröhlichen und optimistischen Sonnenstrahlen zu vertreiben. Sie ist einfach ein Goldstück, denke ich für mich und bemerke, wie sich meine Mundwinkel etwas anheben. Ich will nicht behaupten, dass ich ständig so mürrisch bin wie heute. Ich habe einfach Tief-Phasen. Phasen in denen ich… naja um ehrlich zu sein, in denen ich nichts wirklich auf die Reihe bekomme. Aber genau in diesen Momenten kommt die optimistische und immer fröhliche Rebecca Samson in ihrer goldenen Rüstung um die Ecke, um mich vor dem Ertrinken in meinem eigenen Selbstmitleid zu bewahren. Über dieses Mädchen sollte man wirklich ein Buch schreiben. Jeder Mensch sollte seine eigene, ganz persönliche Rebecca haben.

Ich ziehe meinen schwarzen Schal weiter in mein Gesicht, um meinen Mund und Wangen vor der Kälte zu schützen, als wir über die Janet-Marison Street in Richtung unseres kleinen Stamm Cafés wandern. Der Wind ist wirklich eisig kalt und ich spüre, wie meine Ohren zu brennen anfangen. Da es bereits auf die halb fünf zu geht, wird es auch schon dunkel und die ersten Straßenlaternen werfen ihr warmes Licht auf die Straßen Wellwicks. Ich wohne in dieser kleinen Stadt seit ich denken kann und habe noch nie ernsthaft darüber nachgedacht diesen Ort zu verlassen. Auch wenn mich hier so gesehen nichts weiter halten würde, gibt es dennoch keinen Grund diese Stadt hinter mir zu lassen. Außerdem ist London nur eine knappe Stunde mit dem Auto entfernt, was in vielen Situationen ziemlich praktisch sein kann. In Wellwick zieht langsam das moderne Zeitalter ein, was dem Altstadt-Charme dennoch keinen Abbruch tut. Ganz im Gegenteil, die alten Häuser und die beinahe antik wirkenden Zäune und Laternen harmonisieren meiner Meinung nach wirklich gut mit den modernen Pflasterwegen und neuen Straßenbänken.

Heute ist Mittwoch und trotz der eigentlich anstehenden Rush-Hour ist kaum ein Auto auf den Straßen zu sehen. Wir leben zwar in einem vergleichsweise eher kleinen Städtchen, aber trotzdem sieht man für gewöhnlich volle Straßen um diese Zeit. Aber das soll mich heute nicht stören, denn die Ruhe tut mir in solchen Zeiten besonders gut. Auch Becky merkt das und vermeidet daher unnötigen Smalltalk.

Als wir vor dem kleinen Café ankommen, klopfen wir unsere Schuhe vom angestapften Schnee frei und ich drücke die Tür mit der Schulter auf. Das kleine Glöckchen heißt uns freudig willkommen und die leise und charmante Hintergrund Musik lädt uns sofort zum Bleiben ein.

»Ahhh, schon viel besser. Mensch, ich bin es gar nicht mehr gewohnt, dass es so kalt hier wird. Ich weiß nicht wie ich das finden soll Al, ehrlich. Immerhin habe ich mir abgewöhnt Winterklamotten zu kaufen, man braucht sie ja eh nicht. Aber jetzt… ich meine, sieh dir meine Schuhe an.« Sie hält einen ihrer Füße mit einem leichten Knicks nach hinten und deutet mit ihrer Hand darauf. »Schau dir das nur an, der Schnee hat die Teile durchgeweicht und meine Füße sind eiskalt. Mann ey.«

Ich schmunzle sie an und ziehe eine Augenbraue hoch. »Die große, immer fröhliche Rebecca Samson kann sich ja doch mal über etwas aufregen«, necke ich sie und öffne meinen schwarzen Filzmantel am Gürtel um die wohlige Wärme des Cafés an meinen Körper zu lassen.

»Bild dir nicht ein, ich wäre perfekt, Alva. Außerdem färbt deine depressive Stimmung immer mehr auf mich ab, ich sag’s dir. Das ist alles deine Schuld«, grinst sie mich frech an und geht dann auf unseren Stammtisch in einer Ecke am Fenster zu. Seit Jahren trinken wir hier frisch gebrühten Kaffee oder gönnen uns ein Stück von dem leckeren Apfelstrudel, wenn uns alles zu viel wird. Oder eher mir.

Auch sie befreit sich nun von ihrer Jacke, so ein braunes glänzendes Bomberding, und hält sie mir hin.

»Würden Sie bitte…«, unschuldig lächelt sie mich an und wartet drauf, dass ich ihre Jacke entgegen nehme. Spielerisch genervt reiße ich ihr das hässliche Teil aus der Hand und nehme mir einen Bügel von der kleinen Garderobe.

»Faules Stück«, keife ich schmunzelnd und ziehe eine Fratze in ihre Richtung.

»Lieb dich auch Schatz«, entgegnet sie und lässt sich gemütlich auf einen der dunkelgrünen Samtsessel nieder.

»Hey Mädels, schön euch zu sehen.« Ich drehe mich um und blicke in ein freundliches Gesicht mit strahlenden grünen Augen.

»Hey Ben«, entgegne ich lächelnd und mache die drei Schritte auf den Sessel, der Becks gegenübersteht, zu.

»Ben, Hi. Ich wusste gar nicht, dass du heute Schicht hast.« Beckys freudige Stimme lässt Bens Gesicht noch mehr strahlen. Ein schönes Gesicht, mit honigbrauner Haut und markanten Zügen. Der Junge, oder eher Mann, dürfte um die eins fünfundachtzig groß sein und ist gut gebaut. Nicht zu dick, nicht zu dünn - würde meine Mutter sagen. Was sie auch sagen würde, wäre sowas wie: »Mensch Alva, du willst doch nicht allein alt werden. Das ist doch ein stattlicher junger Mann, vielleicht solltest du ihn mal auf einen Drink einladen.« Ungewollt rolle ich mit den Augen bei dem Gedanken und bereue es direkt im nächsten Augenblick. Hoffe, dass Ben es nicht gesehen und mit sich in Verbindung gebracht hat.

Unbeholfen räuspere ich mich und wende den Blick ab, suche auf dem kleinen Tisch zwischen Becks und mir nach der Karte, die ich eigentlich schon längst auswendig kenne.

»Du weißt doch, Becks. Nach der Arbeit ist vor der Arbeit.« Er zuckt mit den Schultern und tritt an den Tisch. »Was darf‘s denn heute für die beiden Schönheiten sein?« Er beugt sich spielerisch vor. Ganz wie ein Butler hält er den einen Unterarm vor seine Hüfte, während die andere elegant hinter seinem Rücken verschwindet. Becks lacht über diese Geste und entscheidet sich kurzerhand dazu mitzuspielen.

»Mir begehrt es nach einer heißen Chocolat«, gekünstelt hochgestochen reckt sie die Nasenspitze in die Höhe und sieht dann herausfordernd zu mir herüber.

»Für mich einfach nur einen Kaffee, wie immer, Danke Ben.« Ich rutsche tiefer in meinen Sessel und starre aus dem großen Panorama Fenster zu meiner Linken. Aus dem Augenwinkel bemerke ich die Blicke, die Becky und Ben austauschen. Wahrscheinlich versucht sie ihm zu bedeuten, dass ich heute nicht in der besten Verfassung für Spielereien bin oder sowas. Mir soll es Recht sein, denn meine Gedanken schweifen sofort wieder ab.

»Klar, kein Problem ihr Zwei.« Ben räuspert sich und wendet sich dann auf leisen Sohlen von uns ab. Ein leises Seufzen.

»Ach Alva, komm schon. Du merkst das doch auch, oder?«

Meine Augen wenden sich zu Becky, ohne dass ich meinen Kopf dabei drehe. »Was meinst du?«, frage ich sie ernsthaft interessiert, auch wenn es wohl nicht so klingen mag.

»Ach komm schon, verarscht du mich?« Überrascht wirft sie die Hände in die Luft und beugt sich dann verschwörerisch zu mir vor. »Ben steht doch total auf dich, das würde selbst ein Blinder ohne Gehör bemerken«, murmelt sie, während ihre Augen kontrollieren, ob der junge Mann auch weit genug weg ist, um diese Unterhaltung nicht zu hören.

Ich rolle mit den Augen und stütze nun meinen Arm auf der Lehne ab, um mein Kinn darauf ablegen zu können. »Ach komm Becks, nicht du auch noch. Ich brauche keinen Mann aktuell. Ich bin ja mit mir selbst überfordert.«

Kopfschüttelnd lehnt sich die circa eins sechzig große Blondine zurück in den Sessel. »Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, Alva«, stöhnt sie und lässt ihren Blick ebenfalls aus dem Fenster wandern. »Jetzt mal ernsthaft, was ist mit dir los? Rede mit mir.« Als sie keine große Reaktion von mir bekommt, fährt sie fort. »Ich meine, ich weiß, dass du immer wieder chaotische Phasen hast und so. Hat doch jeder mal. Aber seit ein paar Wochen bist du echt…. irgendwie anders.«

Ich lasse mir ihre Worte durch den Kopf gehen und überlege ernsthaft, was ich darauf antworten soll. Aber mir fällt nichts Sinnvolles ein. Ich will mir weder eine Ausrede einfallen lassen noch zu einer emotional ausufernden Konversation einladen. Das ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür.

»Becks, lass gut sein für heute, ja?«, sage ich stattdessen und schenke ihr ein wehmütiges stumpfes Lächeln. »Es ist nichts Dramatisches, wirklich. Ich bin nur heute nicht in der Stimmung mich emotionalen Ergüssen hinzugeben. Verstehst du?«

Beckys Gesichtsausdruck zeugt von aufrichtiger Sorge, doch dann nickt sie entschlossen. »Solange du mir versprichst, dass du mit mir darüber redest, wenn dir danach ist, muss ich das wohl akzeptieren. Aber jetzt tu mir den Gefallen und sperr deinen deprimierten Gesichtsausdruck zurück in den Gesichter-Schrank und schenk Ben mal ein süßes Lächeln, ich werde euch nämlich verkuppeln, ob du willst oder nicht.«

Ein verschwörerisches Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus und noch bevor ich protestieren kann nickt sie in Richtung des Café Innenraumes, um mir das Eintreffen unserer Getränke – und Ben – zu bedeuten. Wieder rolle ich mit den Augen, dieses Mal mit dem Gesicht von Ben abgewandt, und warte darauf, dass er meinen Kaffee auf einen kleinen Kork-Untersetzer auf dem Tisch abstellt.

»Danke dir, Ben«

»Gern. Wenn ihr noch was braucht, sagt einfach Bescheid. Steht’s zu Diensten«, grinst er und zwinkert uns zu. Einen kurzen Moment noch steht er da und scheint auf eine Reaktion zu warten, dann dreht er uns den Rücken zu und macht sich wieder daran, sich um die Hand voll Gäste zu kümmern, die sich außer uns noch dazu entschieden haben ihren Abend hier im Star Café zu verbringen.

Becks und ich haben Ben vor einigen Jahren auf einer Party kennengelernt. Einer dieser Partys, die die beliebten It-Girls der Schule veranstalten, wenn ihre Eltern auf Geschäftsreise sind. Ich kann mich noch gut an meinen Widerwillen erinnern, als Becks mich dazu überredet hat, dahin zu gehen. Als ich dann nach stundenlangem Gejammer ihrerseits zugestimmt habe, der Veranstaltung eine Chance zu geben, hat ihr Gesicht gestrahlt wie der Vollmond bei Nacht. »Ich verspreche dir, es wird einem unsozialen Hintern guttun«, hatte sie vorausgesagt, doch da täuschte sie sich gewaltig. Als wir um kurz vor neun dort ankamen, waren die meisten Teenager schon ziemlich betrunken und ich habe mich unbehaglich mit dem mit billigem Bier gefüllten Plastikbecher in eine Ecke zurückgezogen, während Becky den Spaß ihres Lebens hatte. Ben war es, der mich sozusagen aus der Situation gerettet hat. Ich schätze, ich tat ihm leid. Wie ich da stand, junge siebzehn Jahre alt, völlig verstört vom Verhalten meiner Mitmenschen, die mit Trichtern zwischen den Lippen auf Tischen und Theken lagen, während andere Schüler billigen Alk in die Dinger schütteten. Ben hat mich gesehen und beschlossen, dass man das unerfahrene Partyküken wohl retten müsste, und hat mich in ein Gespräch verwickelt. Ich denke es wurde ziemlich schnell offensichtlich, dass ich keine Ambitionen hatte, dort zu sein und als er das feststellte, haben wir den Rest des Abends im großen Garten des Anwesens verbracht, auf einer kleinen Bank gesessen und einfach geredet. Seitdem sind wir eigentlich gut befreundet, auch wenn ich immer einen gewissen Abstand zu ihm gewahrt habe. Warum? Ich habe keine Ahnung. Scheint ein Schutzmechanismus vor gut aussehenden und netten Typen zu sein.

Ich beuge mich vor, nehme die kleine weiße Tasse in beide Hände und halte sie mir unter die Nase. Mein Blick ruht dabei auf Becky, denn ich weiß genau, dass sie noch etwas dazu sagen wird. Wir kennen uns mittlerweile einfach zu gut. Unsere Blicke treffen sich, als auch sie nach ihrer Tasse mit dem Sahnehäubchen greift. Ein kurzer Moment des Innehaltens, dann legt sie los.

»Al, jetzt mal ohne Scheiß. Jede Frau würde sich nach diesem Adonis die Finger lecken«, murmelt sie verschwörerisch und nickt seitlich Richtung Ben, ohne ihren Blick von mir zu nehmen. »Was stimmt mit dir nicht?« Verständnislos lächelt sie mich an.

»Ich bin lesbisch«, entgegne ich trocken, und nippe an der heißen schwarzen Flüssigkeit in meiner Tasse. Ein kurzer Schock huscht über das Gesicht meiner Gegenüber, dann fängt sie sich blitzschnell und lächelt mich herausfordernd an.

»Nein, nein, nein, Süße. Mit so einer billigen Ausrede kommst du aus der Nummer nicht raus. Du hast meine besten Stücke schon zu oft gesehen und, Girl, keine Lesbe würde bei den Schätzchen so desinteressiert reagieren.« Stolz streckt sie ihren Brustkorb nach vorne und lacht dann leise.

Ich pruste los, und muss aufpassen, dass ich den Schluck Kaffee dabei nicht über den Tisch spucke. Die Leichtigkeit zwischen uns ist damit wieder hergestellt, und wir beide versuchen unser lautes Gelächter wieder in den Griff zu bekommen. Als die ersten Gäste vom Tisch schräg aus dem Kaffee genervt herüberschauen, räuspere ich mich und werfe Becks einen gespielt strengen Blick zu. Wieder nippe ich an meinem Kaffee und sie tut es mir gleich. Doch unser beider Mundwinkel zucken beim Trinken noch immer, und daher entscheide ich mich dazu, das Thema in eine andere Richtung zu lenken. Auch wenn mir die Leichtigkeit dieser Stimmung gerade wirklich guttut.

»Becks, Ich weiß nicht, ob ich das mit dem Studium packe«, beichte ich ihr seufzend als ich die Tasse auf den Tisch zurückstelle. Eine ihrer perfekt geformten Augenbrauen erhebt sich, als sie mich fragend ansieht.

»Dein Ernst jetzt? … Al, ich kenne keine Person, die so eine blühende Fantasie hat wie du. Du kannst doch das Schreiben nicht aufgeben. Ich meine, das ist doch das, was du immer machen wolltest?« Sie legt ihren Kopf schräg und sieht mich bemitleidend an. Ich hasse diesen Blick. Ich will nicht bemitleidet werden. Will nicht, dass andere Menschen mich so schwach sehen, wie ich mich selbst momentan sehe. Aber ihr Blick scheint wohl gerechtfertigt zu sein.

Das Schreiben war immer mein einziger Anker in meinem Leben. Aber seit ich das Studium angefangen habe, ist die Freude und der Friede, den mir das Schreiben gebracht hat, eher dem Leistungsdruck und der Last des wahren Lebens gewichen. Ich seufze und mein Blick wandert wieder zu der großen Glasscheibe neben mir, auf der sich mittlerweile leichte Eiskristalle bilden.

»Ich weiß, aber seit ich mich dazu entschieden habe, mich beruflich mit dem Thema zu befassen, ist meine Muse irgendwie… gestorben.« Unbeholfen lächle ich matt über diese plumpe Formulierung, doch auch Becks kichert darüber.

»Jammert nicht eh jeder Schriftsteller über Schreibblockaden? Siehst du, du verhältst dich also schon richtig professionell, Al. Ich sehe dich schon in der Bibliothek sitzen, mit einer schnöseligen Lesebrille auf der Nasenspitze und einen dieser schrecklich spießigen Strickjacken, wie du Romane signierst und dumme Fragen beantwortest.« Ich schnaube über diese Aussage, kann aber ein Lächeln nicht unterdrücken. Auch wenn es ein eher sarkastisches Lächeln ist. Dieses Mädchen ist wirklich unmöglich.

»Komm schon Becks, ich versuche hier gerade ernsthaft über meine Probleme zu sprechen«, gestehe ich, überrascht von meinem spontanen Meinungswechsel. Wollte ich das nicht eigentlich vermeiden?

»Na gut«, entgegnet sie, und nimmt vorsichtig einen größeren Schluck, bevor sie ihre Tasse auf dem Tisch abstellt. Dann legt sie ihre Hände auf die Sessellehnen und klemmt sich ein Bein unter den Oberschenkel. Eine eher unpassende Geste in einem Café, aber da wir hier quasi jeden Tag sind, kann man einfach nicht anders, als sich hier wie zuhause zu fühlen.

»Dann leg mal los, Süße. Was macht dir so große Sorgen, dass du, die nebenbei gemerkt talentierteste Frau, die ich kenne, Angst hast, den Scheiß nicht zu rocken?« Ein strenger Unterton begleitet diese Aussage und plötzlich beschleicht mich das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.

»Ich… naja«, meine Finger fummeln unbeholfen an dem Bund meines übergroßen Pullovers herum. »Ich war nie gut in irgendwas Becks. Ich habe so viel ausprobiert und ich habe das Gefühl, ich habe für nichts Talent außer dem Schreiben. Was ist, wenn ich nun feststelle, dass ich nicht so gut darin bin, wie alle denken? Was ist, wenn ich herausfinde, dass ich einfach nur eine durchschnittliche Frau bin, die denkt, sie könnte was Großes mit ihren Worten erschaffen? Dann würde mein einziger Anker mich im Stich lassen. Ich…«, mein Satz wird von meiner Freundin unterbrochen.

»Ach jetzt hör aber auf! Seit wann bist du so dramatisch? Wo ist denn der Glaube an dich selbst hin? Wann hast du den bitte verloren? Sorry, du weißt, du kannst immer mit mir reden und alles, aber das geht nun wirklich zu weit«, sie winkt ab, »Jetzt hör mal gut zu, Süße. Ich bin immer an deiner Seite, seit so vielen Jahren. Und ich werde auch an deiner scheiß Seite bleiben. Und ich werde dabei zusehen, wie du dein erstes Buch schreibst, deine ersten Autogramme gibst und auch später applaudierend im Publikum sitzen, wenn du, die große Schriftstellerin Alva Williams, einer ihrer heiß begehrten Lesungen hältst. Ich hoffe ich habe dir damit klar genug gemacht, dass es kein Zurück gibt, kein Aufgeben und keine Chance es gar nicht erst zu versuchen.« Rebecca holt tief Luft und ich fühle mich, als hätte ich gerade eine Moralpredigt von meiner Mutter mit angehört.

Mit großen Augen blinzle ich sie an und weiß im ersten Moment gar nicht, was ich nun erwidern soll. Mein Mund öffnet sich, schließt sich jedoch gleich wieder. Ehrlich gesagt bin ich diese Art von Direktheit nicht mal von Becks gewöhnt, weshalb ich schwer schlucken muss.

»Du brauchst dazu auch nichts sagen, denn wie ich bereits erwähnte, ist das keine Bitte, kein Erflehen und auch kein gut gemeinter Rat. Es ist ein Befehl. Klar so weit?«

Wieder blinzle ich sie an, aber dieses Mal löst sich meine Erstarrung und ich schüttele grinsend den Kopf. Ich bin mir unsicher, ob mich ihre Worte in dem Maße erreicht haben, wie sie es erhofft hatte, aber zumindest geht es mir nun tatsächlich ein wenig besser. Zumindest sehe ich ein, dass es mir keineswegs weiterhilft, wenn ich mich in billigem Selbstmitleid ertränke.

»Du bist einfach unverbesserlich«, grinse ich sie an und gebe mich endgültig geschlagen. Ein triumphierendes breites Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit, und siegreich streckt sie Nase und Kinn vor.

»Na also. Scheint ja was gebracht zu haben«, zwinkert sie mir zu und greift wieder nach ihrer Tasse, um diese dieses Mal mit drei großen geräuschvollen Schlucken zu leeren. Über ihrer Oberlippe bildet sich ein kleines Sahnebärtchen, was sie nach dem Absetzen der Tasse schnell ableckt, dann greift sie in ihre Tasche neben sich auf dem Boden. Als sie ihr Handy zückt, verfinstert sich ihr Blick etwas.

»Ach Shit, echt jetzt?«

Besorgt sehe ich sie an. »Alles okay?« Auch ich ziehe meinen Kaffee mit mehreren großen Schlucken leer, da ich bereits ahne, dass wir nun in allgemeiner Aufbruchstimmung sind.

»Ja… ja, alles gut.« Beckys Hand greift sich genervt an die Stirn und schiebt dann eine lockige Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr. »Meine Ma macht wieder Stress. Irgendwas ist mit Alex.«

Alex ist der Freund ihrer Mutter und die beiden streiten sich ununterbrochen. Ich kann Beckys Stimmung vollkommen nachvollziehen, da sich auch meine Eltern vor ihrer Scheidung mehr angeschrien als normal miteinander gesprochen haben.

Ich seufze und nicke verständnisvoll, bevor ich mich umdrehe, um Ben heranzuwinken. Sofort erhellt sich seine Miene als er meine Geste wahrnimmt und er kommt in großen Schritten auf uns zu. Kurz bevor er an unserem Tisch angekommen ist, fährt er sich nervös durch das kurze Haar. Erst jetzt fällt mir auf, dass er erst kürzlich beim Friseur gewesen sein muss, denn normalerweise trägt er sein Haar immer etwas länger. Schmunzelnd stelle ich fest, dass ihm die neue Frisur wirklich gut steht, und frage mich, wie lange er sie wohl schon so trägt und ob es mir einfach nicht aufgefallen ist.

»Alles gut bei euch? Braucht ihr noch was?« Er sieht abwechselnd zu mir und Becky.

»Nein, danke, alles gut. Eigentlich würde ich gern zahlen«, sage ich und krame in meinem alten Rucksack nach meinem Portemonnaie.

»Schon? Dann war das aber ein kurzer Besuch heute. Na dann, die Getränke heute gehen aufs Haus.« Er zwinkert mir wieder zu und in seinem rechten Mundwinkel bildet sich der Schein eines charmanten Lächelns. Ich bin mir sicher, dass dieser Gesichtsausdruck viele Mädchenherzen höherschlagen lassen würde.

Überrascht sehe ich ihn an. »Ach Quatsch, das ist doch nicht nötig, ich zahle das schon.« Als ich anfange wirr an dem Reißverschluss meiner Geldbörse zu fummeln, unwillig nachzugeben und fest entschlossen, meine Rechnung zu bezahlen, legt er seine Hand auf meine. Mein Blick wandert unwillkürlich von seiner großen, aber gepflegten Hand, über seine Unterarme und dann zu seinem Gesicht.

»Alva, Bitte. Tu mir einfach den Gefallen und jetzt macht euch auf den Weg. Rebecca scheint gestresst zu sein.« Er nickt in Richtung meiner besseren Hälfte und damit gewinnt er diese Runde wohl. Seufzend lasse ich meine Hände sinken und schmeiße das olle schwarze Lederding in meinen Eastpak zurück.

»Na gut, Dann gibt es nächstes Mal halt doppeltes Trinkgeld«, necke ich und strecke ihm die Zunge raus. Er lacht leise und wünscht uns noch einen schönen Abend.

»Sorry Al, ich wollte jetzt nicht so eine Hektik machen, meine Ma geht mir manchmal so auf den…« –

»Becks, entspann dich«, unterbreche ich sie, »ich hätte sowieso gleich losgemusst. Ich bin echt im Arsch und freue mich einfach auf ein heißes Bad und mein Bett.« Das ist zwar gelogen, aber kleine Notlügen braucht man manchmal. Ich weiß genau, dass ich wieder ewig wach liegen werde und meine Gedanken keine Ruhe finden wollen. Aber Becks scheint gerade eigene Probleme zu haben, also lasse ich diese Info weg und drücke sie an der Tür noch einmal kräftig, bevor sich unsere Wege trennen. Mittlerweile ist es endgültig dunkel geworden und die Laternen werfen ein warmes Licht auf die Straßen und Bürgersteige, die meinen Weg bilden. Noch immer sind die Straßen menschenleer. Kurz genieße ich diesen romantischen Ausblick, da es vor kurzem angefangen haben muss zu schneien. Dann ziehe ich meinen Mantel enger zu und vermumme den unteren Teil meines Gesichts mit dem großen Schal, bevor ich meinen Weg nach Hause fortsetze.

Zwei

Als ich in dem kleinen Apartment ankomme, schlüpfe ich aus meinen knöchelhohen schwarzen Stiefeln und stelle sie auf die Fußmatte im Flur. Ich musste zwar nur knappe fünfzehn Minuten laufen, um hier anzukommen, doch trotzdem habe ich das Gefühl meine Gliedmaßen sind schon mindestens zur Hälfte abgestorben.

Nachdem ich meinen Mantel sorgfältig aufgehängt und den Schal in die Garderobe gelegt habe, mache ich mich sofort auf den Weg in das kleine Bad. Ich mag dieses Badezimmer, denn es ist zwar nur geschätzte 5qm groß, jedoch wurde es vor meinem Einzug neu saniert und mit modernen weißen Fliesen versehen. Als ich mich über die Badewanne beuge, um das Wasser anzustellen, spüre ich wie steif mein Körper sich anfühlt. Das muss wohl von der Kälte kommen, denke ich und schmunzle über diese Ausrede.

»Oder vielleicht solltest du einfach mal wieder zum Sport gehen, Alva«, ermahne ich mich selbst, weiß aber schon beim Aussprechen, dass dieser Ratschlag auf meine eigenen tauben Ohren stößt. Während das heiße Wasser in die Wanne plätschert, wandere ich müde in die Küche und hoffe insgeheim, dass ich noch was Essbares im Kühlschrank habe. Aber die Hoffnung weicht einer kleinen Enttäuschung als ich hineinsehe.

Karotten. Joghurt. Eine Flasche Wasser.

Genervt schlage ich die Tür etwas fester zu als beabsichtigt und wandere zum Küchenschrank, um mir eine Handvoll Kekse aus der länglichen Verpackung zu nehmen.

»Vitamine…«, spotte ich und schiebe mir einen Keks in den Mund. Glücklicherweise steckt mein Körper meine katastrophale Ernährung außergewöhnlich gut weg. Während Becky sich tagtäglich darüber beschwert, dass sie auf ihre Linie achten muss, kann ich mir den raffinierten Zucker und die fettigen Burger fließbandweise reinschaufeln, ohne auch nur annähernd zuzunehmen. Der Traum einer jeden Frau, habe ich mal irgendwo gelesen.

»Naja, irgendwas muss ich ja können, auch wenn es nur -nicht zunehmen- ist.« Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln und mir kommt etwas in den Sinn. »Ist Selbstironie eine Stärke?« Einen Moment lang denke ich heiter darüber nach, bevor ich mir die anderen beiden Kekse kurz hintereinander in den Mund stecke und wieder ins Bad wandere.

Die Wanne ist noch nicht einmal halb voll, also entscheide ich mich dazu, mir noch eine Pflegemaske ins Gesicht zu schmieren, der Haut zuliebe, aber als ich vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken ankomme, halte ich erschrocken inne. Ich muss wohl Ewigkeiten nicht mehr bewusst in das Ding geschaut haben, denn meine Augenringe und meine blasse Haut lassen mich wie ein Gespenst aussehen. Meine sonst so frisch wirkende leicht gebräunte Haut scheint heute eher grau und fahl. Verschlimmert wird diese Tatsache noch von den dunklen Rändern unter meinen grünen Augen. Um Himmels Willen, wieso hat Becky mir nicht gesagt, wie furchtbar ich aussehe. Kopfschüttelnd greife ich nach meinem Haarband und binde mir die erdbeerblonden langen Haare zurück. Wenigstens die sehen aus wie immer.

Forsch spritze ich mir etwas Wasser ins Gesicht und verteile nach dem Waschen eine nach Pfirsich duftende Feuchtigkeitsmaske auf Stirn, Wangen und Kinn. Hoffentlich bewirkt das was.

Nach unzähligen Wanderungen, auf und ab, durch meine knapp fünfzig qm kleine Wohnung schlendere ich ins Bad und befinde den Wasserstand in der Wanne für ausreichend. Meine Nerven geben schlagartig Schmerzsignale ab, als meine Füße in das heiße Wasser eintauchen, doch ich ignoriere es und kurz darauf verschwindet mein Körper in Schaum und Hitze. Seufzend lehne ich meinen Kopf an und schließe die Augen, um für einen kurzen Moment einfach nur zu entspannen.

Doch die Ruhe hält wie erwartet nicht lange an und Beckys schroffe Worte hallen in meinen Gedanken wider. Sie hatte natürlich Recht. Das weiß ich. Ich kann nicht ewig vor meinem Traum weglaufen und ständig neue Ausreden erfinden. Ich muss einfach die Zähne zusammenbeißen und die Sache durchziehen. Ich werde das durchziehen. Ich muss das durchziehen. Was sonst sollte ich mit meinem Leben anfangen, wenn nicht das?

Ich werde in ein paar Tagen siebenundzwanzig Jahre alt und wenn man Wert auf die Worte meines Vaters legen würde, müsste ich bereits fest mit beiden Beinen im Leben stehen. In einer Bank arbeiten, ein dickes Auto fahren und einfach ein „erfolgreiches“ Leben führen. Oder, alternativ dazu, einen Mann haben der all’ das vorweisen kann, und dessen Kinder großziehen. Für meinen Vater gibt es nur diese zwei Optionen. Während meine Mutter, Janet, immer versucht hat meine Träume zu unterstützen, gab es von ihm nur strenge und verständnislose Blicke. Ich schnaube über diese Erinnerung aus meiner Kindheit.

»Das stinkt nach Vaterkomplex«, scherze ich selbstironisch zu mir selbst. Dann verdränge ich diese unwillkommenen Gedanken und lasse mich mit einem langen Seufzer ein wenig tiefer ins Wasser gleiten. Ich beobachte mit verträumtem Blick, wie sich meine Haarspitzen im Wasser kräuseln und sich in den kleinen Schaumwölkchen verfangen. Wenn sie nass sind, wirken sie beinahe rosa. Keinen blassen Schimmer von wem ich diese Gene geerbt habe, aber meine hellblonden Haare haben einen leichten Rotstich. Schon oft hat man mich gefragt, bei welchem Friseur ich sie färben lasse, da dieser „rosa Stich“ so „fancy“ wirken würde. Meist ernte ich jedoch unglaubwürdige Blicke, wenn ich dann erwidere, dass ich seit Jahren nicht beim Friseur war. Ich bin sowieso zu faul, um mir morgens stundenlang die Haare zu machen und die Spitzen schneide ich selbst. Wofür da Geld ausgeben. Mittlerweile trage ich die Mähne auf einer ansehnlichen Länge und da sie ziemlich glatt sind, endet mein Haar ein gutes Stück unter den Schulterblättern. Dennoch verstehe ich nicht, wie diese Haare ihren Weg auf meinen Kopf gefunden haben. Mein Vater hat dunkle Locken, während meine Mutter von natur dunkelblond ist. Wären meine hellgrünen Augen denen meines Vaters nicht so ähnlich und hätte ich nicht diese feine Stupsnase von meiner Mutter, könnte man beinahe behaupten, ich seie adoptiert.

Ich entschließe mich kurzerhand dazu, Mama das nächste Mal auf unseren Stammbaum anzusprechen, um diesem haarigen Rätsel auf die Spur zu gehen, dann schiebe ich die Gedanken beiseite. Die Hitze des Badewassers vertreibt die schwere Kälte aus meinen Gliedern und mit flackernden Lidern nicke ich allmählich ein…

Schwarzer Nebel tanzt durch mein Sichtfeld. Mein Kopf dreht sich. Ich drehe mich. Dann wird alles in ein gleißend helles Licht getränkt. Weiße Umrisse auf kobaltblauem Untergrund. Wolken?

»Dein Name… Alva?«

Ich zucke zusammen und wirble herum, sehe mich in der verschleierten Umgebung aus Farben und Nebel um.

»Hallo?«, höre ich mich rufen, aber ich bekomme keine Antwort. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Greift nach meinem wild schlagenden Herzen, versenkt seine Klauen in meinem Verstand. Ich kenne dieses Gefühl. Meine Hand legt sich auf meine klopfende Brust und plötzlich überfällt mich der unbändige Drang, der Stimme zu folgen. Ihren Besitzer zu finden. »Wo bist du?«, rufe ich erneut, doch die Stimme aus dem Off bleibt stumm. Ich kneife die Augen zusammen, aber kann meine nähere Umgebung nicht klar erkennen. Wo zum Teufel bin ich? Ist das ein…

»…ein Traum?«, murmle ich und blinzle die schweren Lider auf. Als ich das leise surren der Deckenlampe wahrnehme und das beinahe kalt gewordene Badewasser spüre, schrecke ich verblüfft hoch. Ein wenig des mittlerweile schaumlosen Wassers schwappt bei meiner abrupten Bewegung über den Beckenrand und ich fasse mir stöhnend an den Kopf. Ich muss eingeschlafen sein.

Eine halbe Stunde später stehe ich mit einem weichen hellblauen Frottee-Handtuch vor dem großen Spiegel in meinem Schlafzimmer. Mit müdem Blick betrachte ich mich darin und stelle beruhigt fest, dass mein Gesicht etwas entspannter aussieht und nicht mehr dem eines Untoten gleicht. Zufrieden nicke ich und öffne den Kleiderschrank, um mir einen der flauschigen Schlafanzüge zu greifen und mich schnell darin einzupacken, bevor die kühle Luft mich wieder zum Frieren bringt.

Während ich mir die rosa Hose über den Hintern ziehe, fasse ich einen Entschluss. Ich werde morgen ein Buch schreiben! Kurz halte ich inne und denke darüber nach. Vielleicht ein Kapitel. Kleine Schritte. Oder zumindest ein Story Plot. Irgendwo muss man ja anfangen.

Noch einmal wandere ich zum Kühlschrank, so als hätte sich der Inhalt darin in der letzten Stunde auf wundersame Weise geändert, und wandere genauso enttäuscht wie beim ersten Mal, zurück ins Schlafzimmer. Normalerweise treibt es mich nicht so früh ins Bett, aber mein Körper fühlt sich schwer und müde an. Daher ergreift mich eine kleine Hoffnung heute Nacht vielleicht doch ein bisschen Erholung zu bekommen. Noch vor einiger Zeit hat mich der Gedanke gequält allein in meinem Bett zu liegen. Einsam. Beinahe vergessen kam ich mir vor. Auch wenn ich früher ein ausgesprochen ausgeprägtes und wildes Liebesleben geführt habe, hatte ich jedoch nie echtes Glück in der Liebe. In meinen frühen Zwanzigern hatte ich, wie die meisten jungen Menschen in der verrückten Phase zwischen dem Teenager Dasein und dem Ernst des Lebens als Erwachsener, ständig neue Romanzen. Ich war jung und naiv und sah in jedem Mann die große Liebe. Den finalen Stich ins Herz hat mir dann wohl mein letzter Freund verpasst, den ich mit einer guten Freundin im Bett erwischt habe. Ein abschätziges Schmunzeln huscht über mein Gesicht, als die Erinnerung an ihn vor meinem inneren Auge auftaucht. Ich hatte mich zu sehr in seinen stechend blauen Augen verloren, hab mich zu sehr von seinen schönen Worten einlullen lassen.

Ein ganzes Jahr habe ich mit dem Trottel durchgehalten, bevor er aufgeflogen ist. Ich habe ihn zufälligerweise mit einer brünetten Schönheit auf meinem Sofa erwischt. Ja. Auf meinem Sofa, denn wir haben nie zusammen gewohnt. Er hatte aber einen Schlüssel zu meinem Apartment und anscheinend lag dies näher für seine Absichten, als seine Wohnung ein paar Orte weiter. Eine bizarre Geschichte, aber zumindest hat sie mir die Augen geöffnet. Ich habe mich nach ihm mit dem Gedanken der Enttäuschung in diesem aussichtslosen Spiel der großen Liebe abgefunden und beschlossen eine Weile auszusetzen. Diese »Weile« hält nun schon ein paar Jahre an und wirklich großen Ansporn wieder mitzuspielen habe ich bisher nicht.

Mit der Zeit lernt man das allein sein wertzuschätzen, stelle ich fest und nehme die Tatsache hin, dass ich auch heute mein Schlafzimmer wieder für mich allein habe. Ehrlich gesagt bin ich froh darum. Wirklich. Was sollte ich in dieser chaotischen Lebensphase auch mit einem Partner. Ständige Diskussionen über die kleinsten Dinge. Eifersuchtsdramen, Kompromisse. Rechtfertigungen für alles was man tun und lassen will. Ohne mich. Wenn ich wirklich eines Tages der Einsamkeit erliege, schaffe ich mir ein Haustier an.

Mein Bett empfängt mich mit einer willkommenen Umarmung und sofort kuschle ich mich in die schwere Decke und meine großen Kissen ein.

»Ich habe dich auch vermisst« nuschle ich müde lächelnd in den Stoff und drehe mich auf den Rücken, um den Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Das Gespräch mit Becky über Ben kommt mir wieder in den Sinn.

»Ben« murmle ich leise in die Dunkelheit und erwische mich bei dem Gedanken alle Fakten über ihn vor meinem inneren Auge aufzurufen. Doch schon kurz darauf schüttele ich entschieden den Kopf, so als würde der Gedanke dadurch aus meinen Ohren herausfallen. Nein. Becky wollte mich aufziehen. Das macht sie ständig, so als wäre sie persönlich für mein Liebesglück verantwortlich. Nirgends können wir hin gehen, ohne dass ich bei jedem ansehnlichen Kerl, der den Anschein macht als wäre er ungefähr in unserem Alter, einen Ellbogen in der Rippe habe, ein nervöses Kopfzucken in dessen Richtung meiner Gegenüber zu sehen bekomme, oder ein mädchenhaftes »Uuuuuh, schau mal der« zugeflüstert bekomme.

Einmal wollte sie mich sogar überreden, mich auf diesen furchtbaren Dating Apps anzumelden. Als brauche ich sowas. Ich könnte einen Mann haben. Denke ich. Aber ich will es einfach nicht. Simpel.

Ich spüre, wie das bockige Kind in mir hochkommt. Ich will nicht. Ich will ich will ich will nicht. Unwillkürlich muss ich darüber kichern und gestehe mir ein, dass ich höchst wahrscheinlich zur verrückten betrunkenen Tante werde, wenn ich weiter so mache. Die Art von Tante, die immer großartige und teure Geschenke mitbringt und von ihren Reisen erzählt. Von ihren Abenteuern als selbstbewusste und eigenständige Single Frau. Wieder lache ich leise über meine Gedanken.

»Genau Alva, als wäre das die Art von Tante, die du werden würdest, solltest du mal Neffen oder Nichten haben.«

Wieder ein guter Grund keinen Partner zu suchen. Wahrscheinlich würde er mich für verrückt erklären, wenn er mitbekäme wie viele Selbstgespräche ich führe. Nein, kein Mann für mich. Auch kein Ben. Auch wenn er unverschämt gut aussieht und charmant ist. Und auf mich steht? Könnte das wirklich der Fall sein? Ich drehe mich auf die Seite und lege eine Hand unter mein Kissen, fest entschlossen zu versuchen diese Gedanken abzuschalten. Ich atme tief und lang ein und schließe meine müden Augen. Überraschenderweise zieht es mich schon nach ein paar Minuten in die Welt der Träume.

Drei

Nebel. Heller Nebel der mit Schlieren aus tiefem Schwarz zu tanzen scheint. Ich kann nichts erkennen. Meine Augen brauchen eine Weile, um klar zu sehen. Ich blinzle. Einmal. Noch einmal. Verschwommene Bilder von tiefgrünem Gras. Nicht ganz klar zu erfassen. So als wäre es da, direkt unter mir, jedoch auch nicht. Ergibt das Sinn?

Ich versuche mich umzuschauen. Die Umrisse eines großen Baumes schmücken den Horizont, die rosa Krone umrahmt von stechend blauem Himmel. Eine Trauerweide. Ich kenne diesen Baum. Habe ihn schon einmal gesehen. Die Wurzeln ziehen sich schwer und alt durch die Erde, brechen an einigen Stellen die Oberfläche des Bodens auf, nur um gleich darauf wieder abzutauchen. Ein mulmiges Gefühl der Vertrautheit durchfährt mich und breitet sich klebrig in meinem Magen aus.

»Hallo?« Warum rufe ich das? Erwarte ich eine Antwort? Wenn ja, von wem? Ich verstehe nicht, bekomme diesen Nebel in meinem Kopf nicht zu fassen.

Plötzlich eine Stimme. Blendende Helligkeit taucht mein Sichtfeld in strahlendes Weiß, bevor eine kleine Silhouette vor mir auftaucht. Ein Kind. Ein Junge? Er hat mir den Rücken zugedreht und wirft mir einen fragenden Blick über die Schulter zu. Dann bemerke ich ein entscheidendes Detail. Durch die verwuschelten schwarzen Haare des Jungen, erstrecken sich kleine, schwarze Hasenohren.

Meine Beine bleiben abrupt stehen. Als würden sie nicht mehr zu mir gehören, sondern einer höheren Macht gehorchen. Ich stoße ungläubig einen Schwall Luft aus.

Wieder die Stimme. Ruft sie mich? Ich kann die Worte nicht verstehen. Wie ein Flüstern im Wind, ich kann die Richtung nicht ausmachen.

»Hallo?« Ich rufe in die Helligkeit hinein, halte inne und warte auf eine Antwort. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Feuchtes Gras unter meinen Füßen. Ich sehe an mir herunter. Barfuß. Und ich trage ein Nachthemd? Ich hatte doch einen Schlafanzug angezogen, oder?

»Dein Name…Alva?« Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken.

»Hallo? Wer…wer ist da? Zeig dich gefälligst.« Wieder diese instinktive Angst. Ich schlucke. Plötzlich stehe ich direkt vor einer kleinen, von gleißendem Licht umhüllten Gestalt. Ich halte mir die Hand vor die Augen und blinzle zwischen meine Finger hindurch, um etwas zu erkennen. »Wer bist du?«

Der Junge dreht sich zu mir herum. Leuchtende Augen. Ich habe diese Augen schon einmal gesehen. Eines goldbraun, erinnert an flüssigen Honig und blank polierten Bernstein. Das andere so strahlend blau wie Eisschollen, dessen Farbe sich durch helle Sonnenstrahlen bricht.

Ich erschaudere. »Das kann nicht sein.« Ich weiche ungläubig einen Schritt zurück, während der Junge mich neugierig mustert.

»Alva…« Seine Stimme klingt hallend. Beinahe wie ein Echo, dass durch Zeit und Raum wandert. Ich strecke ungläubig die zittrigen Finger nach ihm aus, langsam wandert meine Hand auf ihn zu, doch bevor ich ihn erreiche, füllen sich die Augen des Jungen mit blanker Panik. Erschrocken ziehe ich die Hand zurück und mustere seinen mich durchbohrenden, starren Blick.

Nein. Er sieht nicht mich an. Er schaut an mir vorbei. Ich sehe über meine Schulter, aber ehe ich reagieren kann, umhüllt mich schwarzer dicker Nebel. Droht mich zu ersticken. Ich verliere den Halt unter den Füßen, der Boden scheint unter mir wegzubrechen. Ich falle. Ich falle? Der Boden ist verschwunden.

Der Junge rückt in immer weitere Ferne, scheint mir etwas zuzurufen. Es wird alles immer dunkler. Und dunkler. Mein Herz macht einen schreckhaften Satz, als eine riesige Pranke mein Gesicht umschließt, mich zu ersticken droht. Dann ein unerträglicher Schmerz. Dunkles Blut tränkt mein Blickfeld. Rums.

Schreiend und nach Luft ringend finde ich mich auf dem Boden neben meinem Bett wieder. Ich brauche einige Sekunden, bis ich realisiere, dass ich in meinem Schlafzimmer bin. Kein Nebel. Kein Junge. Keine Pranken. Ich lege die Hand an meine Stirn, um meinen Kopf zu stützen, bevor ich ein paar Mal tief einatme. Mein Gesicht ist schweißgebadet und einzelne Haarsträhnen kleben an meiner Haut.

»Verdammte Scheiße«, murmle ich zu mir selbst, bevor ich mich an der Bettkante hochziehe. Als ich mich auf diese setze, versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Was war das für ein Traum? Ich habe seit Jahren nicht mehr richtig geträumt. Zumindest nicht diese Art von Traum, an die man sich nach dem Aufwachen noch erinnern kann. Geschweige denn mitten in der Nacht schreiend deshalb aus dem Bett fällt. Aber schon als ich versuche die einzelnen Eindrücke des Traumes zu fassen zu bekommen, spüre ich wie sie sich verflüchtigen. Wie dünne Nebelschwaden gleiten sie mir durch die Finger.