Dreamwalker: Schattenfluch - Eileen Boogen - E-Book

Dreamwalker: Schattenfluch E-Book

Eileen Boogen

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Beschreibung

Sylas Tanaan, Hauptmann des B-Sektors der lafarianischen Garde und Arun Lafurs rechte Hand, hat ein dunkles Geheimnis. Während ihm diese Tatsache schwer auf den Schultern lastet, und er alle Hände voll damit zu tun hat, dieses Geheimnis zu bewahren, häufen sich in Lafaria ominöse Vermisstenfälle. Als Sylas zu Arun gerufen wird, um sich diesem Problem auf diskrete Weise anzunehmen, erwartet der selbstgefällige Hauptmann nicht, dass seine zugeordnete Unterstützung eine blutige Anfängerin sein wird, mit der er bereits kurz zuvor aneinandergeraten ist. Juna Grayn, Sturkopf und kämpferisches Naturtalent, will um jeden Preis in der lafarianischen Garde aufgenommen werden. Leider macht ihre stolze Art ihr direkt am ersten Tag einen Strich durch die Rechnung, als sie mit ihrem neuen Vorgesetzten aneinanderstößt. Allerdings verfolgt Juna weit wichtigere Ziele, als ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft zu werden: Ihre Schwester ist verschwunden, und Juna will diese um jeden Preis wiederfinden. Dabei hat sie keine Ahnung, dass sie bei dieser Mission nicht nur Kopf und Kragen, sondern auch ihr Herz riskiert.

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– Note from the Author –

‚Dreamwalker - Schattenfluch‘ ist der erste Sequel-Band der Dreamwalker- Reihe.

Auch wenn das Buch problemlos ohne Vorkenntnisse gelesen werden kann, empfiehlt es sich dennoch, die ersten drei Bände: „Die Wanderin“ - „Äthermacht“ - und „Bestienzorn“ zu lesen, da dieses Buch Spoiler zu der vorherigen Geschichte enthält.

Ebenfalls werden so die Beziehungen der verschiedenen Charaktere noch deutlicher.

Für die LeserInnen unter euch, die noch nicht vertraut mit den Völkern und Wesen lai‘Harans sind, gibt es eine bildliche Vorstellung eben dieser ab S. →.

Triggerwarnungen:

Dieser Roman enthält bildlich beschriebene Gewaltszenen, Alkoholkonsum, Folter, Mord, Entführung, Gefangenschaft, und sexuelle Inhalte. LeserInnen, die diesen genannten Themen empfindlich gegnüberstehen, sollten sich dementsprechend mental vorbereiten.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Nachwelt

Laianer

Silutaner

Tekhaten

Wai'drak

Mulgur

Lazarus

Sylas zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht, während er durch die nebeligen Gassen Lafarias schleicht, die vom tief stehenden Vollmond in silbriges Licht getaucht werden. Es ist kalt und er ist früher als sonst unterwegs, denn heute fühlt es sich besonders schlimm an. Außerdem muss er sich auf seine Reise vorbereiten und darf in diesem Fall kein Risiko eingehen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er sich dieser Sache angeschlossen hat, obwohl er genau weiß, unter welchem Stern sein Schicksal aktuell steht. Aber kann er es wirklich verantworten, sie allein ziehen zu lassen?

Er setzt einen grimmigen Blick auf und schiebt die Hände tief in die Manteltaschen, bevor er im Schein des fahlen blauen Laternenlichtes auf die Themaan Akademie zuschreitet. Er kommt öfter hier her. In den letzten Jahren hat sich sein Zustand rasant verschlechtert und es wird Zeit, dass er eine Lösung für dieses lästige Problem findet. Leichter gesagt als getan.

Noch einmal sieht er verstohlen zu den Seiten der dunklen Straße bevor er diese überquert und die langen Steintreppen hinaufeilt, um sich vor dem großen Eisentor wiederzufinden. Dickes dunkelgrünes Gestrüpp rahmt die gut zwei Meter hohen Pfosten des Eingangs zum Hof der Akademie.

Die Wachen grunzen genervt, als sie die im Schatten verhüllte Gestalt auf sich zukommen sehen, doch als er den Kopf leicht anhebt und die beiden bulligen Männer einen Blick auf das unter der Kapuze verhüllte Gesicht erhaschen, nicken sie kurz und treten beiseite.

Gemächlich schieben sich die geschwungenen Torbögen quietschend zur Seite und noch einmal wirft Sylas einen Blick über die Schulter, bevor er die Kapuze wieder tiefer ins Gesicht zieht und sich zum Eingang der Akademie aufmacht. Er wartet nicht an der Rezeption, die gerade so oder so unbesetzt zu sein scheint, sondern zieht mit langen, zielsicheren Schritten an dessen Tresen vorbei. Er weiß, wo er hin muss.

Seine Schritte hallen im langen Flur wider, als er geradewegs auf den gläsernen kleinen Aufzug zueilt. Der Aufzug, der ihn direkt zu Fainas Büro führen wird. Faina, die Leiterin der Themaan Akademie und eines der furchteinflößendsten Wesen, die das Volk der Ehleseen bisher vorgebracht hat. Und bedauerlicherweise eine der wenigen fähigen Personen, die ihm bei seinem verdammten Problem helfen können.

Es ist zwar erst kurz vor drei Uhr morgens, aber er ist sich sicher die große Ehleseendame dort aufzufinden. Diese Frau besitzt kein Privatleben, und verbringt sämtliche Zeit außerhalb ihrer Pflichten als Vorsitzende des lafarianischen Rates und Leiterin der Akademie, in ihrem Büro. Mit ihren kleinen… Experimenten. Nach außen hin wirkt es, als wolle die weise Gelehrte sich lediglich die Zeit ein wenig vertreiben, mit ihren zu groß gewachsenen Schlingpflanzen und ihren ätherischen Gewebeproben, aber Sylas weiß es besser. Allerdings bringt ihm dieses Wissen nicht viel, denn wenn er Fainas Absichten – oder zumindest seine Vermutungen über ihre Absichten – an den Rat verraten würde, würde sie sein kleines Geheimnis ebenso verraten. Und das würde bedeuten, dass man ihn verstoßen würde. Wenn er Glück hätte.

Der kleine gläserne Aufzug hält im richtigen Stock und er tritt auf den Gang hinaus. Eilt mit gehetzten Schritten auf die riesige Tür zu, die zu besagtem Büro führt. Ohne zu klopfen, tritt er ein.

Faina sitzt mit einem dicken Wälzer vor der Nase an ihrem Schreibtisch. Ihr Daumen und Zeigefinger stützen ihren Kopf, und ihre starren blauen Augen mit den winzigen Pupillen huschen blitzschnell über die gedruckten Zeilen. Ihre blass bläuliche Haut schimmert im Kerzenlicht gespenstisch.

Die über zwei Meter zwanzig große Dame sieht beiläufig auf, ohne den Kopf dabei zu bewegen, und hebt eine geschwungene Braue. »Es überrascht mich nicht, dass du noch vor deiner Abreise hier auftauchst, Sylas.«

Er schnaubt abfällig und schiebt sich die Kapuze auf die Schultern, was den Blick auf sein silbrigweißes Haar freigibt.

»Wie praktisch«, murmelt er und sieht sich mäßig interessiert um. Seine Hände wandern beiläufig in die Hosentaschen, was die schweren Seiten seines schwarzen Wildledermantels zurückdrängt. »Dann sollten wir hier ja schnell fertig sein, wenn du bereits mit mir gerechnet hast, oder?«

Faina lächelt matt, doch die Geste erreicht ihre Augen nicht. Diese starren wie gewohnt weiter auf die Seiten des Buches, bevor sie sich schließlich gerade aufsetzt, und mit einer grazilen Handbewegung den dicken Wälzer schließt. Dann lässt sie sich langsam gegen die hohe Stuhllehne sinken und kreuzt die Arme.

Sylas nickt mit dem Kinn auf das Buch. »Was liest du da?«

Ihr Blick hascht kurz zu dem Band des Buches hinab, dann macht sie eine wegwerfende Geste. »Nicht der Rede wert.«

Natürlich. Wieder eines ihrer kleinen Geheimnisse. Nicht, dass Sylas sich je besonders dafür interessiert hätte.

»Na dann.« Er lässt seinen Blick wieder durch das Büro schweifen, mustert einen Moment die vielen mit Flüssigkeit gefüllten Behälter, in denen undefinierbare Gewebeproben schwimmen. Wer weiß, was da drin ist. Er unterdrückt einen Schauder, und sieht wieder zu der großen Ehleseenfrau. »Bringen wir es hinter uns. Ich habe zu tun.«

Faina wirft ihre langen, stahlgrauen Flechtzöpfe über ihre Schulter, und zögert einen Moment. Dann seufzt sie und erhebt sich langsam aus ihrem Stuhl. Sylas lässt sie nicht eine Sekunde aus den Augen, doch anstatt zu dem kleinen Schränkchen hinüberzugehen, in dem das Mittel liegt, was ihm die Schmerzen und die Unruhe nimmt, kommt sie geradewegs auf ihn zu.

Er kneift die Augen zusammen und mustert sie argwöhnisch. Seine Muskeln versteifen sich unweigerlich, und die Anspannung lässt die Häärchen in seinem Nacken sich aufstellen. Doch er wäre nicht Sylas Tanaan, wenn er nicht problemlos den unbeeindruckten Gesprächsteilnehmer vorspielen könnte.

»Dir ist bewusst«, säuselt Faina und beginnt ihn zu umrunden, »dass es nicht ewig so weiter gehen kann, oder?«

Sein Kiefer spannt sich an, und er bewegt den Kopf synchron zu ihren Bewegungen. »Es wird noch lange genug so weiter gehen. So lange, bis ich eine Lösung dafür habe.«

Die monotone Stimme der Frau lacht heiser auf. »Eine Lösung? Du glaubst noch immer, es gäbe eine Lösung für deinen Zustand? Eine Heilung?« Sie lacht erneut amüsiert und ihre Mundwinkel ziehen sich dabei unnatürlich weit zu den Wangenknochen hinauf. Weiße gerade Zähne kommen zum Vorschein.

Seine Hände ballen sich in seinen Hosentaschen, doch er atmet tief durch, versucht seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. »Können wir dann jetzt?«

Mit einem letzten spöttischen Blick lässt sie schließlich von ihm ab. Die cremefarbenen Leinengewänder wehen um ihre langen Beine, während sie bedächtig auf das silberne Schränkchen hinter ihrem Schreibtisch zugeht, und den Schließmechanismus öffnet. Ein kleiner, gläserner Ständer mit mehreren darin aufgereihten Ampullen steht darin.

Ihre langen, spinnenartigen Finger greifen nach einer, dann zögert sie. »Wie lange wirst du weg sein?«

Mit einem ungeduldigen Seufzen lässt er sich auf dem breiten Stuhl in einer Ecke des Raumes nieder. Seine Fingerkuppen tappen ungeduldig auf die stählernen Armlehnen. »Eine Weile.«

Die Ehleseenfrau scheint kurz zu überlegen, dann greift sie nach weiteren Flaschen. Mit einer Ampulle kommt sie ein paar Schritte auf Sylas zu, und mustert den Tekhaten. Er wirkt aufgekratzter als bei seinen sonstigen Behandlungen. Die Sehne an seinem Hals tritt deutlich durch die blasse Haut hervor, eine dünne Schweißschicht bedeckt seine Stirn, seine quecksilbrigen Augen huschen ungeduldig hin und her. Die senkrechten Pupillen verdünnen sich zu Nadelstreifen und weiten sich wieder, als würden sie pulsieren.

»Es wird schlimmer, habe ich recht?«

Er zögert. Dann schluckt er schwer. »Ja.«

Könnte Faina Mitleid empfinden, würde sie vermutlich jetzt welches spüren. Aber das Volk der Ehleseen ist nicht dafür vorgesehen, Emotionen zu empfinden. Zumindest nicht diese Art von zwischenmenschlichen Emotionen. Stattdessen seufzt sie nur leise und legt die kalten Metallringe um seine Handgelenke, die ihn auf dem Stuhl fixieren. Er schluckt abermals, als sie die Spritze mit der leuchtendblauen Flüssigkeit vor ihre Augen hebt und vorsichtig dagegen schnipst. »Bereit?«

Er schmunzelt sarkastisch. »Jag mir das Zeug endlich rein, ich habe keine Zeit für sowas, Fai–«

Der Schmerz des plötzlichen Einstichs in seine Hauptschlagader raubt ihm den Atem, und die Worte bleiben ihm in der Kehle stecken. Sein Kopf fliegt heftig gegen das Kopfteil des harten Stuhls, als sich die schimmernde Flüssigkeit wie Säure durch seinen Körper frisst, angetrieben durch den Druck seines panisch pumpenden Herzens. Die Adern unter seiner hellen Haut leuchten hellblau auf, und seine Lider pressen sich aufeinander, während er vergebens gegen den Schmerz ankämpft, der seinen gesamten Körper in Flammen setzt.

Es wird einfach nicht angenehmer. Anfangs, als er die ersten Behandlungen erhalten hat, dachte er noch, man würde sich irgendwann an dieses grauenvolle Gefühl gewöhnen, aber heute, mit neunundzwanzig Jahren, kann er mit eisiger Gewissheit sagen: Einen Scheiß wird es.

Schwer keuchend räkelt er sich auf dem Stuhl, seine Arme und Hände krampfen schmerzhaft, während er reflexartig an den Schnallen um sein Handgelenk zerrt.

Einatmen. Ausatmen.

Kraftlos fällt sein Kinn auf die Brust. »Fuck«, keucht er kaum hörbar. Schweißtropfen laufen von der Stirn über seine gerade Nase.

Faina gibt ihm einen Moment, bevor sie die Schnallen an seinen Handgelenken öffnet und einen Schritt zurücktritt.

Ohne ihn weiter zu beachten, geht sie wieder zu ihrem Schreibtisch herüber. »Ich werde dir einige Ampullen vorbereiten. Nur für den Notfall.«

Sylas hebt langsam den Kopf. »Seit wann gibst du das Zeug freiwillig raus, Faina?« Trotz seiner bescheidenen Situation kann er sich das sarkastische Schmunzeln nicht verkneifen.

Faina mustert ihn mit teilnahmsloser Miene. »Seit ich mir ernsthafte Sorgen um deinen Zustand mache, Sylas.«

Er hebt provozierend die Braue. »Du? Du machst dir Sorgen um ein lebendes Wesen? Na, dass ich diesen Tag nochmal erleben darf.« Er drückt sich langsam an den Armlehnen hoch.

»Nicht um dich. Du bist mir völlig egal. Eher darum, was passiert, wenn jemand dein kleines Geheimnis lüftet. Und um das, was das für die restlichen Tekhaten heißen würde.«

Sylas seufzt leise und schüttelt den Kopf. »Ja ja, schon klar.«

Faina dreht sich langsam zu ihm um und überreicht ihm eine schwarze dicke Schachtel aus Metall, in der sie einige Ampullen mit der blauen Flüssigkeit verstaut hat. »Pass gut darauf auf. Wenn das in falsche Hände gerät, haben wir ein großes Problem.«

Er betrachtet die Schachtel einen Moment, dann schiebt er sie in die Tiefe seiner schwarzen Manteltaschen. »Ich werde mir größte Mühe geben.« Erneut ein süffisantes Schmunzeln. Dann dreht er sich Richtung Tür um.

Gerade, als er Fainas Büro verlassen will, erhebt sie erneut die Stimme. »Sylas?« Er hält in der Bewegung inne, sieht flüchtig über seine Schulter zu ihr herüber. »Dir ist bewusst, dass es bald ein Ende haben muss, oder?«

Die Worte treffen ihn wie ein Faustschlag in den Magen, obwohl ihm ihre Bedeutung bereits seit längerem bewusst ist.

Langsam nickt er. »Ich habe vorher noch etwas zu erledigen. Ein letztes Mal.«

»Pass doch auf wo du« – Der breitschultrige Türsteher verstummt und sein Gesicht wird kreidebleich, als er in die silbrig leuchtenden Iriden des Mannes vor sich blickt. »Ent– Entschuldigen Sie, Hauptmann Tanaan. Ich habe…« – er schluckt schwer – »ich habe Sie nicht sofort erkannt.«

Er senkt den Kopf und tritt ehrfürchtig beiseite, um Sylas Eintritt in den Nachtclub zu gewähren. Dieser schiebt sich mit einem abwertenden Zischen an dem breiten Tekhaten vorbei. Sofort schlägt ihm dicke Luft und Rauch entgegen und er rümpft genervt die Nase, während sich augenblicklich zwei leicht bekleidete Laianerinnen an seine Seite drängen.

Die samtig weichen, langen Ohren der linken Dame streichen über seinen Hals und er unterdrückt den Drang, die junge Frau grob von sich zu schieben.

»Hauptmann Tanaan«, säuselt die eine sinnlich und drückt ihren Busen an seinen Arm, während sie neben ihm her tänzelt. »Was verschafft uns denn heute die Ehre?« Ihre süßliche Stimme wird beinahe vollkommen von dem lauten Getöse und der dröhnenden Musik übertönt, aber dennoch hört er ihre Worte klar und deutlich.

Er würdigt sie keines Blickes, lässt seine wachsamen Augen lediglich durch die Menge streifen, bevor er, ohne die Frau anzusehen, seinen Arm von ihrem Griff befreit. »Entschuldige, Keila, sei ein braves Mädchen und such dir einen anderen Stecher für heute Abend, okay?«

Ihre mandelförmigen Augen blitzen giftig auf, bevor ihr gerade noch lasziv-verführerischer Blick sich in eine abwertende Visage verwandelt, die Sylas kurz mustert.

»So ein Arschloch«, murmelt sie zu ihrer Freundin, doch auch wenn sie es so leise sagt, dass selbst ihre Begleiterin sie nicht versteht, grinst Sylas stumm in sich hinein. Er hat sie verstanden. Laut und deutlich.

Die Luft in dem fensterlosen Club ist sauerstoffarm und von ätherischem Dampfrauch durchzogen, welcher nur schwer von den roten und blauen Lichtern durchbrochen wird, die an den Decken angebracht sind. Der Thrall. Einer der beliebtesten Nachtclubs in einem der weniger hübschen und reichen Viertel Lafarias. Einer Gegend, in der sich die verschiedensten Schichten der Gesellschaft tummeln. Die wohlhabenden Lai’Haraner kommen hier her, um sich dem Stress ihres Alltags und der Verantwortung zu entziehen. Und um sich von viel zu jungen Damen bezirzen zu lassen, die ihnen für den ein oder anderen Gil nur zu gern vorspielen, wie hingerissen sie doch von ihnen sind. Mit Geld erreicht man hier viel. In Lai‘Haran herrscht an und für sich eine eher zivilisierte Etikette, und man muss schon in den richtigen Ecken und Winkeln in Lafaria – der Hauptstadt Lai‘Harans – suchen, um die wirklich dreckigen Geschäfte zu finden. Oder eben das nötige Insiderwissen haben.

Der Thrall ist ein zentraler Punkt für eben diese dreckigen Geschäfte. Nur hier sieht man die abgehobene Oberschicht gemeinsam mit den Junkies trinken und lachen. Aber vor allem ist es auch ein Treffpunkt für Deals und allerlei zwielichtige Geschäfte. Die Art von Geschäften, die keine Aufmerksamkeit erregen sollen. Die Art von Geschäften, bei denen still und heimlich große Mengen Gil über die klebrigen Tische geschoben wird.

Sylas drängelt sich langsam zu dem langen Bartresen durch und beugt sich lässig darüber, während seine wachsamen Augen noch immer prüfend über die hitzig tanzende Menge gleiten. Überall räkeln sich hübsche Lai’Haranerinnen und winden sich lasziv auf den Schößen einiger reicher und weniger reicher Männer. Die exotische Musik aus Harfe, Bass und Panflöte hallt von den steinernen Wänden wider, als ein großgewachsener Tekhat zu ihm herantritt. Lässig poliert er ein Glas, während er Sylas kurz mustert und seine Utensilien dann beiseitestellt. Die Hände zu seinen Seiten auf der Arbeitsplatte abgestützt, grinst er dem Weißhaarigen verschmitzt zu.

»Hauptmann Tanaan«, sagt er gedehnt, »was verschafft uns heute die Ehre? Etwa auf Patrouille? Oder seit langem mal wieder… privat hier?« Die tiefe Stimme des Mannes mit dem kurzen hochgestylten Haar hebt sich deutlich von der sonstigen Geräuschkulisse ab.

Sylas antwortet nicht, klopft aber mit seinen Fingerspitzen zweimal auf den dunklen Tresen.

Als der Mann seine Geste bemerkt, grinst er breit und hebt eine Braue. Seine senkrecht geschlitzten Pupillen ziehen sich amüsiert zusammen. »Also… privat«, säuselt er und greift nach einem kleinen Glas, welches er mit golden leuchtender Flüssigkeit füllt. Als er es Sylas hinschiebt, greift dieser beiläufig danach und legt den Kopf ruckartig in den Nacken, um den brennend warmen Inhalt herunterzustürzen. Dann leckt er sich mit der, für das Volk der Tekhaten typischen, zweigeteilten Zungenspitze über die Lippen.

»Nein. Nicht privat«, antwortet er schließlich mit verzogenem Gesicht, »nur ein beschissen langer Tag. Ist er da?«

Jetzt sieht er dem Barkeeper direkt ins Gesicht und dieser kneift die Augen misstrauisch zusammen. »Ja«, sagt er knapp und nickt in Richtung eines Ecktisches.

Sylas folgt seiner Geste, bevor er sich von der Theke wegdrückt und dem Barkeeper zum vorläufigen Abschied knapp zunickt.

Den Kragen seines schwarzen Mantels zurecht zupfend, geht er bedächtig auf einen kleinen, dicklichen Silutaner zu, der gemütlich auf einem samtschwarzen Sofa hängt. Die dicht behaarten Arme über die Lehne ausgebreitet und zwei hübsche, viel zu junge Silutanerinnen neben ihm.

Sylas verzieht angewidert das Gesicht, während er einen Blick auf die Mädchen wirft. Zu jung. Viel zu jung.

Als die Anwesenden ihn bemerken, verstummt das aufgesetzt heitere Gekicher der beiden Mädchen abrupt. Der Mann sieht ebenfalls zu Sylas hinauf und seine amüsierte Miene wird ernst, während seine mausgrauen Silutaner-Ohren sich an seinen Kopf anlegen. Eine Reaktion, die durch den Argwohn ausgelöst wird, den Sylas in den meisten Gästen des Thralls auslöst.

Als wüsste er bereits, dass der Spaß des Abends nun offiziell beendet sei, spannt sich der Kiefer des älteren Mannes an.

»Tanaan.« Er zieht eine Braue hoch, bevor er sich vorbeugt und sein verrutschtes Hemd zurecht zieht, aus dem vorher noch ein Spalt seines dicken Bauches herausragte.

»Kopper«, erwidert Sylas unbeeindruckt. Er schiebt seine Hände mit einer lässigen Geste in die Manteltaschen, um seine Fäuste zu verbergen. Er hasst diesen Mann. Diesen Abschaum eines Mannes, eher gesagt. Jede Faser seines Körpers befiehlt ihm, seinen Gegenüber am Kragen über den Tisch zu ziehen, und ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus der Visage zu prügeln. Doch er muss sich zusammenreißen, denn so wiederwertig und niederträchtig der Scheißkerl auch ist, er ist ebenfalls eine wichtige Informationsquelle, wenn es um die Straßengeschäfte Lafarias geht.

Der Silutaner, dessen dunkles Haar licht und spröde auf seinem Kopf herum wuchert, schnalzt genervt mit der Zunge, was den Mädchen wohl bedeuten soll, dass es nun Zeit ist zu verschwinden.

Betreten dreinblickend erheben diese sich und greifen nach ihren Cocktailgläsern, bevor sie sich mit gesenktem Blick an Sylas vorbei schieben wollen. Noch bevor die erste ihn passieren kann, greift er nach ihrem Arm und sie sieht erschrocken in seine silbern aufblitzenden Iriden. Sein Blick wandert langsam zu dem Glas, bevor er mit dem Kinn zum Tisch nickt. Kurz folgt das Mädchen seiner Blickrichtung, dann presst sie die Lippen aufeinander und stellt das schlanke Glas auf dem niedrigen Sofatisch ab.

»Raus hier«, raunt er ihr über die Musik hinweg ins Ohr, und eine schaurige Gänsehaut bildet sich auf ihrem Nacken. Schnell huschen ihre Augen zu ihrer verängstigt dreinblickenden Freundin, bevor sie beide die Arme um ihre zu spärlich bekleideten Körper schlingen und schnellen Schrittes durch die tanzende Menge verschwinden. Sylas‘ Blick folgt den beiden blutjungen Mädchen – die er höchstens auf vierzehn oder fünfzehn schätzen würde – bis er sich versichert hat, dass sie den Thrall verlassen haben.

Dann dreht er sich wieder zu dem Mann auf dem Sofa herum. »Hatten wir das Thema nicht bereits?«

Der Silutaner, den alle hier nur Kopper nennen, wendet den Blick ab und schnalzt erneut mit der Zunge. »Was willst du, Tanaan? Bist du gekommen, um mir den Spaß zu verderben?« Seine kehlige Stimme wird von einem Akzent unterstrichen, weshalb er einige Worte abrollend ausspricht.

Sylas fährt sich nachdenklich durch sein helles Haar. »Du weißt, weshalb ich hier bin«, gibt er zurück und sieht Kopper mit festem Blick in die Augen. Dieser kratzt sich nachdenklich über die haarige Brust, die nur halbherzig von dem seidig roten Hemd bedeckt wird. Als Sylas einen flüchtigen Blick auf die Bewegung seines Gegenübers wirft, keimt abgrundtiefer Ekel in ihm auf. Ob diese Mädchen ihn dort berühren mussten? Ob deshalb sein Hemd so verzogen und halb aufgeknöpft war? Wut steigt in ihm auf, doch er ballt die Hände in den Manteltaschen noch fester. Durchatmen. Beherrschung behalten. Zusammenreißen. Ein Muskel in seinem Kiefer zuckt.

»Gehen wir nach hinten«, sagt Kopper schließlich mürrisch, und erhebt sich schwerfällig.

Ein breiter Tekhat im dunklen Anzug – wohl Koppers neuer Leibwächter – sieht flüchtig zu den beiden herüber, bevor er beiseitetritt und den Blick auf einen dichten, schwarzen Vorhang freigibt. Sylas kennt das dahinter liegende Zimmer bereits.

Seinen heutigen Geschäftspartner nicht aus den Augen lassend schlendert er hinter diesem her. Mit einem theatralischen Seufzen schiebt Kopper die Fäden des schwarzen Vorhangs beiseite, bevor er sich am Hintern kratzt. Sylas verdreht genervt die Augen, während er in – für seinen Geschmack viel zu langsamen Schritten – hinter dem älteren Silutaner hertrottet.

»Weißt du Tanaan«, raunt Kopper dann, ohne sich zu ihm herumzudrehen, »ich schätze unsere Geschäfte sehr. Das verstärkt meine Beziehungen zum Ministerium.« Sein hässlich verzogenes Kichern hallt durch den Raum, während er sich die rutschende Hose über den dicken Bauch zieht.

»Deine Beziehung zum Ministerium«, sagt Sylas bedächtig und sieht sich teilnahmslos im Raum um, »ist nicht existent, Kopper.« Er wirft einen herablassenden Blick über seine Schulter. »Lediglich deine Informationen, halten uns davon ab, deinen schmutzigen Geschäften ein Ende zu machen. Und das weißt du genau.«

Der amüsierte Ausdruck weicht aus dem faltigen Gesicht des Mannes und macht einem nervösen Grinsen Platz. »Nun werd doch nicht immer gleich so ernst. Ich habe dem Ministerium doch in den letzten Jahren immer gute Dienste erwiesen, oder nicht? Ihr braucht mich. Auch wenn es dir unglaublich schwerfällt, dies zuzugeben.«

Wieder tritt ein selbstgefälliges Grinsen auf das Gesicht des Mannes und er lässt sich auf einem dunkelgrünen Samtsessel nieder. Das Surren einiger Ätherlampen dringt durch den Raum, den Kopper für seine wichtigeren Gespräche nutzt.

Sylas seufzt schwer auf. Der fette Silutaner hat recht. So sehr es ihm auch missfällt, aber solange er keine bessere Informationsquelle im Ministerium vorzuweisen hat, muss er gute Miene zu bösem Spiel machen. Dennoch entscheidet er sich, nicht auf Koppers Provokation einzugehen. Stattdessen schnieft er und dreht sich zu diesem um. »Was hast du für mich?«

Als hätte Kopper die Niederlage in Sylas‘ Augen erkannt, grinst er noch breiter, was den Blick auf viel zu viele seiner Zähne freigibt. Er entscheidet sich dazu, sein Glück mit Sylas‘ Geduld überzustrapazieren. »Kommt ganz drauf an…«

Sylas wirbelt zu dem Silutaner herum, die quecksilbrigen Augen leuchtend vor Wut. »Wag es ja nicht zu–«

Sofort hebt der Gauner beschwichtigend die Hände. »Scheiße, entspann dich, Tanaan.« Er schwingt ein Bein über das andere. »Meine Güte, man wird es ja wohl versuchen dürfen«, murmelt er dann mehr zu sich selbst.

»Du darfst überhaupt nichts, außer jetzt endlich deine verdammte Klappe aufmachen, und mit der Sprache herausrücken.«

Kopper runzelt die Stirn, schluckt dann aber schwer. »Also gut. Ich habe etwas für dich, was dir ganz bestimmt schmecken wird. Ein richtiger Informations-Leckerbissen.«

Sylas‘ Geduldsfaden spannt sich gefährlich stramm an, doch er schluckt seine Wut abermals herunter und wartet ab, was der Silutaner zu sagen hat.

Kopper scheint die wachsende Ungeduld zu spüren, weshalb er räuspernd fortfährt. »Ich weiß nicht, ob es dir schon zu Ohren gekommen ist…«, murmelt er und greift seufzend nach einer dicken Zigarre. Mit einem Finger formt er kleine Wirbel aus blau schimmerndem Ätherfäden in die Luft, die wie fallende Spinnweben langsam niedersinken, und sich sanft auf das Ende der Zigarre legen. Nur einen Wimpernschlag später glimmt der von Pampasgras umwickelte Tabak hell auf.

Kopper zieht lange und genüsslich, bevor er den Blick wieder auf Sylas heftet und fortfährt. »…Aber seit geraumer Zeit verschwinden immer wieder Lai’Haraner aus den ärmeren Gegenden Lafarias. Und auch in Atreia und Lannarat sind hier und da Heimatlose und Huren verschwunden.«

Der fette auf dem Sofa kauernde Mann zieht eine Braue hoch und mustert Sylas‘ Ausdruck abwartend. Als sich der Weißhaarige zu ihm umdreht, räuspert er sich und zieht erneut an seiner Zigarre. Nachdem er einige Ringe in die Luft gepustet hat, fügt er hinzu: »Nun. Keiner hat eine Idee, wohin sie verschwunden sind. Es ist auch kaum jemandem aufgefallen, aber mir entgeht gar nichts.«

Sylas schnaubt abwertend und sieht sich wieder geistesabwesend im Raum um, während er langsam auf und ab schlendert.

»Warum sollte mich das Verschwinden einer Handvoll Obdachloser und Huren interessieren?«, fragt er mit gelangweiltem Unterton. Sein Desinteresse ist eine Lüge, aber Kopper durchschaut es nicht.

Der Silutaner braucht einen Moment, um seine Nervosität herunterzuschlucken. »Nun, es ist nicht weiter verwunderlich, dass Abschaum aus Lafaria verschwindet. Und stören würde es wohl auch keinen. Wenn da nicht das Verschwinden einiger einflussreicher Personen dazu kommen würde.« Verschwörerisch senkt er die Stimme und beugt sich vor.

Sylas bleibt stehen. Flüchtig sieht er über die Schulter. »Was für einflussreiche Personen?«

Als freue er sich über das von Sylas gezeigte Interesse, rutscht Kopper auf seinem Platz herum und leckt sich gierig über die dicken Lippen. Seine mausgrauen Ohren huschen aufgeregt herum.

»Nun ja, ich kann dir aus offensichtlichen Gründen keine direkten Namen nennen. Aber es tauchen immer öfter ominöse Abschiedsbriefe in wohlhabenden Familien auf.« Er klemmt die Zigarre zwischen die Lippen und fingert an den Knöpfen seines roten Hemdes herum. »Hauptsächlich Tekhaten.«

Sylas‘ Nackenhaare stellen sich auf, doch er dreht sich nicht zu Kopper herum. Dieser nimmt das Ausbleiben einer Reaktion als Aufforderung, weiterzusprechen. »Nun ja. Ich denke, da gibt es eine Verbindung. Und… nun, ich will dir nicht zu nahetreten, aber man munkelt. Die Leute reden.« Wieder wartet er auf eine Reaktion von dem weißhaarigen Mann, der ihm mit dem Rücken zugewandt vor einem Regal steht. »Die Leute sagen, dass… das Lothran Tanaan vielleicht etwas damit–«

Weiter kommt er nicht, denn die Worte bleiben ihm im Hals stecken, als Sylas ihn mit einer grauenvollen Leichtigkeit am Kragen packt, und vor sich in die Luft hebt. Seine unheilvollen quecksilbernen Iriden leuchten in dem dämmrigen Zimmer auf, und seine schlitzartigen Pupillen ziehen sich zu bedrohlich dünnen Strichen zusammen, was seine Augen beinahe pupillenlos wirken lässt.

Die glimmende Zigarre fällt mit einem dumpfen Geräusch auf den schmierigen Teppich und erlischt. Strampelnd greift der Silutaner mit panischem Blick nach dem Arm, der ihn am Kragen packt. Zu seinem Glück war es nicht seine Kehle, die in diesem Moment vom Hauptmann des B-Sektors zerdrückt wurde.

»Nimm diesen Namen«, presst Sylas wütend hervor, »nie wieder in deinen dreckigen Mund du elende kleine Ratte.« Mit diesen Worten lässt Sylas ihn fallen und der dickliche Mann plumpst hart auf den Boden vor dem Sofa auf. Keuchend rutscht er von Sylas weg. Dieser zupft sich seinen Mantelkragen zurecht, so als wäre nichts geschehen. Das Gesicht mit den scharfen Konturen vollkommen entspannt. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und geht auf die schwarzen Bänder des Vorhanges zu, die ihn geradewegs in den Club zurückführen.

»Ich werde sehen, was ich mit deinen Informationen anfangen kann«, sagt er kalt und lässt den schmierigen Mann mit einem letzten missgünstigen Blick zurück. Als er in die dicke, vom Rauch schwelende Luft hinaustritt, springt ihm sogleich ein bekanntes Gesicht ins Auge und er beißt sich wütend auf die Unterlippe, bevor er sich genervt durchs Haar streicht.

»Bei den Göttern, bleibt mir denn nichts erspart?«, murmelt er zu sich selbst und geht dann mit festen Schritten auf die ihm bekannte Person zu. Immer wieder wird er dabei von tanzenden Frauen und Männern angerempelt und weicht diesen mit angespanntem Blick aus, bevor er die junge Frau an der Schulter packt und sie zu sich herumwirbelt. Als ihre hübschen fliederfarbenen Augen sein Gesicht erkennen, hält sie erschrocken inne. Dann tritt ein Ausdruck von Trotz in die Miene des Teenagers.

»Was machst du schon wieder hier?« fragt Sylas genervt.

Sie versucht ihren dürren Arm aus seinem Griff zu befreien. »Das geht dich… gar nichts an.«

»Dir ist natürlich klar, dass deine Mutter stinksauer sein wird, wenn sie erfährt, dass du hier bist.«

Sie rümpft die Nase und schiebt sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares hinters Ohr. »Dann verrate es ihr halt nicht.«

Sylas kann nicht anders, als verblüfft die Stirn zu runzeln. Verdammte Pubertät. Wo ist die Zeit geblieben, als Leya noch mit Windeln um die Beine ihrer Mutter Leyandra getaumelt ist, während diese versucht hat, ihre Präsentationen vor dem lafarianischen Rat vorzutragen? Ist das wirklich schon so lange her?

Als Hauptmann des B-Sektors und immer im Windschatten seines Ziehbruders Arun Lafur – Sohn des Landesherrschers von Lafaria – kann Sylas gut verstehen, wie es ist, wenn das eigene Privatleben immer irgendwie in der Öffentlichkeit steht. Doch anders als die meisten Lai’Haraner hat er es schon früh aufgegeben, der Öffentlichkeit und dem Volk gefallen zu wollen. Und zu seiner Erleichterung ist es seinem Ziehbruder und besten Freund Arun auch scheißegal. Vor allem, seitdem dieser sein Herz an eine Menschenfrau verloren hat, die nicht einmal aus dieser Realität kommt.

Trotzdem ändert es nichts an der Sache, dass die pubertäre Tochter eines der am meisten geschätzten Ratsmitglieder in einem der schmierigsten Schuppen Lafarias herumlungert – und so gern er ihr zuzwinkern und verschwinden würde, so funktioniert das nicht. Vor allem, weil ihre Gesellschaft hier weit älter zu sein scheint als sie.

Mit einem kurzen Blick über ihren dunklen Schopf hinweg registriert Sylas die Gesichter, der Gruppe hinter Leya. Nicht sonderlich alt, aber definitiv keine Teenager mehr. Er reibt sich genervt seufzend über den Nacken, und gerade als er ansetzt, tritt ein junger Mann an die Seite des Mädchens.

Ein halbstarker Laianer mit hellem Haar und cremefarbenen langen Ohren legt den Arm um Leyas schmale Schultern. »Hey Mann, gibt es hier ein Problem?« Sein überhebliches Grinsen und der abwertende Blick in dem mit Sommersprossen besetzten Gesicht zeugt von einem viel zu großen Ego. Kurz schüttelt er die blonden Locken und sieht zu Leya herunter. »Alles okay, Baby?«

Baby?!

Ein peinlich berührter Ausdruck tritt auf Leyas Gesicht und Sylas sieht kurz zu ihr, dann zu dem Rotzlöffel, der es gewagt hat, sich ihm in den Weg zu stellen. »Ja, alles in Ordnung, das ist nur–«

»Hey Mann, such dir lieber ein Mädel in deinem Alter, Mann. Das ist meine Freundin«, unterbricht der halbstarke Laianer die junge Tekhatin und macht einen bedrohlichen Schritt auf Sylas zu. Er versucht sich vor ihm aufzubauen, obwohl er einen knappen halben Kopf kleiner ist. Zumindest wenn man die langen Ohren nicht mitzählt, die jetzt kerzengerade in die Luft zeigen.

Der Weißhaarige mustert den Halbstarken ausführlich. Dann wandert sein Blick langsam wieder zu Leya, der die Situation sichtlich peinlich zu sein scheint. Betreten starrt sie auf ihre Schuhspitzen, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Ist der Hampelmann hier nicht ein bisschen alt für dich?«

Leya reagiert mit einem Augenrollen, bevor sie sich an ihren Begleiter wendet. »Schon gut, Lendan. Er ist ein Freund der Familie.«

Sylas‘ Braue hebt sich. »Wo wir schon bei Familie sind, weiß deine Mutter davon?« Er nickt in Richtung des Jungen.

Bei diesen Worten kehrt der Trotz wieder zurück in ihren Blick und sie wirbelt den Kopf zu ihm herauf. »Was glaubst du denn?«

Der blonde Laianer – Lendan – streckt die Hand, in der er noch den Drink hält, in Sylas‘ Richtung aus. »Hey Alter, hast du die Lady nicht gehört, sie will, dass du–« Blitzschnell schleudert Sylas den Arm weg und das Glas fliegt gegen eine Wand, zerschellt mit lautem Klirren an den Steinen und hinterlässt einen dunklen Fleck. Kurz sieht Goldlöckchen der Flugbahn seines überteuerten Drinks hinterher, bevor er von Sylas am Kragen zu dessen Brust gezogen wird. Seine haselnussbraunen Augen weiten sich ängstlich, als er nur noch einen Atemzug von Sylas‘ Gesicht entfernt ist.

»Wenn du die Kleine noch ein einziges Mal anfasst, oder in so einem Ton das Wort an mich richtest, wirst du die Sonne nie wieder aufgehen sehen, Alter.« Mit einem teuflischen Lächeln auf den Lippen fügt er hinzu: »Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Der Laianer schluckt schwer, während sich seine langen Ohren ängstlich an den Kopf legen, dann nickt er hastig.

Sylas dreht den Kopf zur Seite. »Wie war das? Ich konnte dich nicht hören.«

Wieder schluckt Lendan schwer. »Ja. Ja, du…. SIE… Sie haben sich klar ausgedrückt, Sir.«

Sylas schnaubt zufrieden und lässt ihn wieder frei, zupft seinen Kragen zurecht und klopft sein Hemd amüsiert lächelnd ab. Der junge Mann sieht entschuldigend zu Leya herüber, dann nickt er den beiden kurz zu und versucht so angstlos und würdevoll von dannen zu ziehen, wie es ihm möglich ist. Doch als er eine Handvoll tanzende Personen passiert hat, nimmt er die Beine in die Hand und drängelt sich ungestüm durch die Menge. Sylas sieht ihm mit einem süffisanten Grinsen hinterher, während er sich mit der Zungenspitze über die etwas zu spitzen Eckzähne leckt.

»Musste das wirklich sein, Sylas?«, zischt Leya und verschränkt wütend die Arme vor der Brust.

Er wendet den Blick von dem fliehenden Jungen zu ihr. »Geh nach Hause, Leya. Ich habe dich heute Abend nicht hier gesehen. Wenn mir allerdings noch ein einziges Mal zu Ohren kommt, dass du dich hier herumtreibst, erfährt Leyandra davon.«

Sie schnaubt zornig. »Du bist eine scheiß Petze, Sylas.«

Er legt den Kopf amüsiert schief. »Du befindest dich da gerade auf dünnem Eis, junge Dame.«

Sie rümpft die Nase und zieht eine Grimasse, dann greift sie wütend nach ihrer Jacke und stapft an ihm vorbei.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragt er beiläufig, doch sie hebt nur abwinkend die Hand und macht sich auf den Weg zu der großen Metalltür, die aus dem Thrall hinausführt. »Ich finde den Weg schon selbst, Danke.«

Völlig genervt fährt er sich mit der Hand durchs Gesicht, bevor er ihr stirnrunzelnd nachsieht. »Teenager…«, nuschelt er grimmig zu sich selbst, bevor auch er auf die Tür zugeht, um sich aus dem Staub zu machen.

Als er in die Dunkelheit der Nacht hinaustritt, zieht er tief die frische, kühle Luft in seine Lungen und sieht sich kurz um. Die Stadt liegt in trügerischer Stille vor ihm und nur die bläulich leuchtenden Ätherlaternen werfen ihr fahles Licht auf die Straßen Lafarias. Er hasst diese kalten Leuchten, die seine Heimat in ein so distanziert liebloses Licht werfen. Äther – die unerklärliche Kraft, die sein Zuhause, ja seine ganze Welt, am Leben erhält. Nicht gleichzusetzen mit der atemberaubenden Magie aus den Geschichten, aber doch irgendwie… magisch. Eine Kraft, über die sich die Meinungen der Gelehrten und Wissenschaftler streiten. Wo kommt der Äther her? Was ist er? Besteht jedes Lebewesen daraus? Ein Thema, was Sylas nie sonderlich interessiert hat. Er weiß nur, dass er lebt. Atmet. Kämpft. Dass seine Wunden schnell heilen, wenn er im Kampf getroffen wird. Und… andere Dinge. Der Äther war nun eben präsent in seiner Welt, und warum das so ist, ist doch eigentlich egal. Äther in den Adern hin oder her, was macht das für einen Unterschied.

Er sieht hoch in den von Sternen und Galaxien benetzten, klaren Nachthimmel und fragt sich, ob er diese Nacht wohl zur Abwechslung mal ein Auge zubekommt. Doch er schüttelt nur erschöpft den Kopf und schiebt die Hände wieder zurück in die tiefen Taschen seines schwarzen, wadenlangen Mantels, dessen hoher Kragen seinen Nacken schützt.

Er würde es versuchen müssen. Würde versuchen müssen ein wenig Schlaf zu bekommen, denn morgen wird ein anstrengender Tag. Die neuen Rekruten erscheinen das erste Mal auf dem Trainingsgelände der Garde, und deshalb wird er es nicht vermeiden können, dort zu erscheinen. Er kann ja nicht immer alles auf Mara, seine führende Stellvertretung, abwälzen. Und vorher….

Er seufzt auf, als ihm bewusst wird, dass er vor diesem Termin auch noch im Ministerium erscheinen muss. Arun wird auf einen Bericht und eine Einschätzung der Lage in Lafaria warten. Denn auch wenn Kopper es so ausgelegt hatte, als wäre er der einzige in ganz Lafaria, dem die sich häufenden Vermisstenfälle aufgefallen sind, weiß bereits das halbe Ministerium Bescheid und befindet sich in höchster Alarmbereitschaft.

Ein brennender Schmerz zischt durch Sylas‘ Schläfen. Er presst augenblicklich die Lider aufeinander und verzieht die Lippen zu einem schmalen Strich. Es beginnt. Schon wieder. Der Schmerz hämmert pochend von innen gegen seine Schädeldecke und zieht sich weiter durch seinen Nacken. Langsam lässt er den Kopf kreisen, um seine verspannte Nackenmuskulatur zu dehnen, dann entflieht ihm ein kapitulierendes Seufzen. »Drauf geschissen.«

Er macht auf dem Absatz kehrt, um sich wieder in das wilde Getümmel des stickigen Clubs zu werfen. Der Türsteher des Thralls grinst wissend, als er Sylas auf sich zukommen sieht und tritt mit einem Zwinkern beiseite. Dieser schiebt sich langsam durch die tanzende und tobende Menge, bedacht darauf nicht mit den alkoholischen Getränken beschüttet zu werden, dann lässt er sich schwerfällig an der Bar nieder.

»So schnell zurück?« Der Barkeeper, der ihn bereits zuvor bedient hatte, grinst frech und beugt sich charmant lächelnd zu ihm vor. »Was eine…hübsche Überraschung.« Seine strahlend gelben Augen leuchten beinahe in der zwielichtigen Dunkelheit des spärlich beleuchteten Clubs. Seine Ohren sind gespickt mit silbern glänzenden Ringen und Steckern und sein linker Arm wird von wilden schwarzen Tätowierungen verziert. Das glänzendschwarze Tanktop reflektiert einige der roten und blauen Lichtstrahlen, die von der Decke fallen.

Sylas stützt seine Arme auf den Tresen, und beginnt sich die pochenden Schläfen zu massieren. »Halt… einfach die Klappe«, murrt er und tippt erneut mit den Fingerkuppen auf die Holzfläche.

Der attraktive Tekhat deutet die Geste mit einem Schmunzeln und schiebt ein kleines, rundes Whiskey Glas auf den Tisch. Langsam schüttet er einen Schluck der goldenen Flüssigkeit hinein und lässt die Flasche wieder sinken. Sylas wirft ihm einen warnenden Blick zu, ohne seinen Kopf zu heben und beschwichtigend hebt der Tekhat die Flasche erneut, um das Glas bis zum Rand zu füllen.

»Langer Tag gewesen, hm?«, säuselt er, und greift wieder zu seinem Tuch, um ein Glas zu polieren.

Sylas antwortet auf die Frage, in dem er das Glas an die Lippen setzt und den Inhalt mit einem Schluck herunterkippt. Der dicke Glasboden klirrt auf der Theke, als er es abstellt, und mit einer Handbewegung um Nachschub bittet. Stirnrunzelnd folgt der Tekhat der Aufforderung und lehnt sich dann gegen die Bar. Noch einen Moment begutachtet er seinen Gast akribisch - er scheint auf eine Antwort zu warten.

Doch als diese ausbleibt, rollt er mit den Augen. »Dann eben nicht.« Gekränkt wendet er sich von Sylas ab.

»Beschissener Tag.« Eine knappe Antwort. Und bereits kurz nachdem Sylas diese Worte über die Lippen gerutscht sind, bereut er sie bereits. Eigentlich ist er nicht in Stimmung für belanglosen Smalltalk mit Fremden. Das ist er selten. Doch als der junge Mann sich wieder zu ihm dreht, seufzt der Weißhaarige schwer und hebt den Kopf von seiner Handfläche.

»Wie heißt du?« Er nickt mit dem Kinn zu ihm herüber.

Der Barkeeper runzelt die Stirn, grinst dann aber verführerisch. »Heyn«, säuselt er und lehnt sich lasziv mit der Hüfte gegen die Arbeitsfläche in seinem Rücken. Seine Augen wandern quälend langsam über Sylas‘ Erscheinung.

Ach du Scheiße.

»Also gut, Heyn« Sylas räuspert sich und setzt sich gerade auf. »Ich weiß deinen Enthusiasmus wirklich zu schätzen, okay? Aber tu uns beiden bitte einen Gefallen und beschränke unsere Interaktion darauf, dass du mein Glas füllst, sobald es leer ist. Dann sollten wir keine Probleme haben. Tust du das für mich?«

Enttäuschung huscht über Heyns Gesicht, aber anscheinend beschließt er, nicht so schnell aufzugeben. »Wenn das dein Wunsch ist. Allerdings könnte ich auch noch ganz andere Dinge für dich tun…. Hauptmann.«

Sylas verdreht die Augen und stützt seine Stirn wieder auf den Handballen. »Verdammt, ich bin zu nüchtern, für so einen Mist«, murmelt er zu sich selbst, bevor er den Blick wieder zu Heyn hebt. »Kleiner, nimm es mir nicht übel. Aber ich vögle keine Kerle.« Deutlicher hätte er es nicht sagen können.

Heyn hebt verblüfft die Brauen, beißt sich dann peinlich berührt auf die Unterlippe. »Oh«, ist das Einzige, was er herausbringt, dann füllt er Sylas‘ Glas erneut, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen und wendet sich ab.

»Das hättest du auch freundlicher sagen können.« Die warme, Stimme in seinem Rücken lässt Sylas herumfahren. Ein mattes Lächeln schleicht auf sein Gesicht, als er die Frau erkennt, die mit verschränkten Armen, aber amüsiertem Grinsen hinter ihm steht.

»Lange nicht gesehen. Welch‘ eine Ehre, dich hier zu sehen. Hast du wieder deine Informationen von Kopper geholt?« Die groß gewachsene Laianerin mit der goldbraunen Haut und den langen weißen Ohren lässt sich elegant neben ihm auf einem Barhocker nieder. Als sie sich entspannt mit den Unterarmen auf den Tresen lehnt, kommen ihre üppigen Brüste zur Geltung.

»Wie schön dich zu sehen, Xaya«, murmelt Sylas sarkastisch, und nippt an seinem Glas.

Sie lächelt. »Du warst schon immer ein schrecklicher Lügner, Sylas.« Die Frau wirft mit einer weiblichen Geste ihr langes, weißblondes Haar über die Schulter und klimpert mit den ebenfalls hellen Wimpern, die sich im Kontrast zu ihrer goldenen Haut abheben.

»Die Leiterin des Thralls höchstpersönlich. Seit wann lässt du dich dazu herab, dir das Elend hier selbst anzusehen?«

Sie hebt abwertend eine Braue, mustert Sylas genau. Dann schleicht ein giftiges Lächeln um ihre vollen Lippen. Diese Frau sollte man nicht unterschätzen.

Sylas hatte sie unterschätzt. Einmal. Damals, als er noch grün hinter den Ohren und vollkommen genitalgesteuert durchs Leben geschlendert ist. Auch wenn die attraktive Laianerin mit den vollen Brüsten und den sinnlichen Hüften einige Jahre älter ist als er, hatte er sich auf sie eingelassen. Betrunken und willig hatte sie ihn in ihr Bett geholt. Und eine Woche nicht mehr gehen lassen. Ja, eine Woche war er bei ihr versackt. Aber hätte ja keiner ahnen können, dass Mayakraut eine so heftige Wirkung hat, und man dermaßen das Zeitgefühl verliert. Oh Mann, war er damals in Erklärungsnot gekommen, als er schließlich vollkommen zugedröhnt und ganz vernebelt von der vielen Blutarmut in seinem Hirn – zumindest das Hirn in seinem Schädel – aus Xayas Wohnung gestolpert war. Arun hat getobt wie ein wilder Stier, und um ein Haar hätte er seine Anstellung in der lafarianischen Garde verloren. Aber verdammt, das war es wert gewesen. Als die Erinnerungen an diese Zeit in ihm herauf kriechen, muss er ein Schmunzeln unterdrücken. Zehn Jahre ist das jetzt beinahe her.

Xaya winkt Heyn zu und sofort eilt dieser herbei, um ihr ein Getränk einzuschenken. Als würde sie die Antwort auf die Frage des Lebens in ihrem Glas suchen, verliert sich ihr Blick einen Moment lang in der klaren Flüssigkeit, bevor sie Sylas ein süffisantes Lächeln zuwirft und ihr Glas hebt. »Auf die guten alten Zeiten.«

Kurz denkt er über diesen Toast nach, schnaubt dann amüsiert und erwidert ihren Blick. »Auf die… alten Zeiten.« Er lässt sein Glas gegen ihres klirren, bevor er den Inhalt erneut mit einem einzigen Schluck seine trockene Kehle herunterstürzt.

Vogelgezwitscher. Leises elektrisches Summen des Äthers. Langsam öffnet Sylas die schweren Lider und kneift sofort die Augen zusammen, als die hellen Sonnenstrahlen auf seine viel zu empfindlichen Pupillen fallen.

»Fuck«, murmelt er mit rauer Stimme, bevor er sich mit verzerrtem Gesicht aufsetzt. Das Räuspern, welches ihm entflieht, sendet grauenvolle Wellen des Schmerzes in seinen Schädel und er hält einen Moment inne. Dann kratzt er sich verschlafen über den Kopf und wuschelt durch sein zerzaustes Haar, bevor er sich verwirrt umsieht. Sein Blick bleibt an der nackten Tekhatin hängen, die mit dem Rücken zu ihm in seinem Bett liegt. Ein unterdrücktes Stöhnen entflieht ihm. Nicht schon wieder.

Er Lässt seine Hände langsam an seinem müden Gesicht herunterrutschen, während die Informationen träge in seinen Verstand zurückkehren. Als die Erkenntnis kommt, welcher Tag heute ist, reißt er die Augen auf. Einen Fluch murmelnd springt er aus dem Bett und schlüpft in seine Hose.

Die junge Frau neben ihm räkelt sich müde in den hellen Laken, während sie sich verschlafen lächelnd zu ihm umdreht.

Sylas wirft ihr einen flüchtigen Blick zu. »Raus.«

Der entspannte Ausdruck weicht aus ihrem Gesicht und sie funkelt ihn wütend an. »Ist das dein scheiß Ernst, Tanaan?«

Er hält kurz in der Bewegung inne. »Bist du taub? Raus hier. Ich muss los, ich bin spät dran.«

Jetzt steigt ein Ausdruck von Wut in ihre Augen, bevor sie beleidigt die schlanken Beine über die hohe Bettkante wirft und ihre Sachen einsammelt. Wütend mit sich selbst murmelnd zieht sie ihre halb zerfetzte Kleidung an und stürmt aus Sylas‘ Apartment. Die Tür knallt sie so heftig ins Schloss, dass die Wände zu vibrieren scheinen, doch er schert sich nicht darum. Er kennt dieses Verhalten nur zu gut und hat sich bereits daran gewöhnt, dass die Frauen, mit denen er an solchen Abenden im Bett landet, jedes Mal mehr erwarteten. Morgendliches Kuscheln. Schmeicheleien. Frühstück am Bett. Und am besten direkt auch einen Ring am Finger. Warum er sich überhaupt die Mühe macht, vorab zu erklären, dass er nichts Verbindliches will, ist ihm immer wieder ein Rätsel. Als würde jede einzelne von ihnen denken, sie wäre die Ausnahme. Die Eine. Die perfekte Frau, um den berüchtigten Sylas Tanaan zu reparieren.

Bullshit.

Er schnaubt abfällig und schüttelt den Kopf, bevor er zügig zum Spiegel geht und versucht sich die vollkommen zerzausten Haare zu richten. Nach einem Moment gibt er es auf, denn die hinten und an den Seiten kurz geschnittenen Haare stehen wild in alle Richtungen ab, und die längere Partie vorn fällt ihm immer wieder in die Stirn.

»Scheiß drauf«, brummt er und verflucht sich – wie so oft – für die Entscheidung, noch einmal in den Thrall gegangen zu sein. Es nimmt jedes Mal dasselbe Ende. Jedes. verfluchte. Mal.

Grübelnd versucht er sich an den gestrigen Abend zu erinnern, doch nur einzelne, verschwommene Schemen der Puzzleteile sirren in seinem Kopf herum. Xaya war dort. Sie haben angestoßen. Wieder und wieder. Dann kamen weitere Damen dazu. Unter anderem auch… Sein Blick wandert zu seiner Wohnungstür, durch die die Tekhatin eben abgedampft ist. Verdammt, wie hieß sie noch gleich? Er verzieht grübelnd das Gesicht, als sich die Kopfschmerzen erneut zu Wort melden. Auch egal, er ist spät dran.

Er beißt sich angespannt auf die Lippe, bevor er einen halben Liter Wasser herunterstürzt und sich dann auf den Weg macht. Auf den Weg, seinem Vorgesetzten – und gleichzeitig besten Freund – seinen wöchentlichen Bericht zu erstatten. Nur würde er die abendlichen Ausschweifungen eventuell aus dem Bericht streichen.

...

Arun steht mit verschränkten Armen an dem großen Panoramafenster seines Büros, als Sylas atemlos das Büro betritt. Aruns flüchtiger Blick über seine Schulter verrät Sylas, dass sein General nicht sonderlich erfreut über die nicht ganz unerhebliche Verspätung ist.

»Entschuldige, ich–«

»War wieder den ganzen Abend im Thrall und habe deshalb meinen Arsch nicht aus dem Bett gekriegt, um meinen Pflichten nachzukommen. Ja. Ich weiß.« Arun dreht sich zu seinem Hauptmann herum und mustert diesen streng. Seine verschiedenfarbigen Augen brennen sich dabei in Sylas‘ Gesicht.

Dieser presst die Lippen aufeinander und versucht ein Augenrollen zu unterdrücken, dann strafft er die Schultern. Schuldgefühle krabbeln langsam seinem Nacken empor, doch er überspielt sie mit einem schelmischen Grinsen. »Es gibt auch noch Männer unter uns, die ihre Prinzessin nicht zuhause im Bett liegen haben, Arun. Wir müssen uns noch die Arbeit machen, die Damen zu erobern.«

»Schwätzer.« Arun wirft ihm einen spöttischen Blick zu, muss aber dennoch ein Schmunzeln unterdrücken. Dann streicht er sich kopfschüttelnd über das Gesicht und seufzt. »Also. Was hast du zu berichten? Hatte Kopper was Sinnvolles?« Er schreitet zielsicher auf seinen Schreibtisch zu und wühlt beiläufig in seinen Unterlagen.

»Nein, nicht wirklich«, grummelt Sylas, »nicht mehr, als wir selbst bereits wissen. Überall verschwinden Lai’Haraner aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Das einzig neue, was er für mich hatte, war die Tatsache, dass es nicht mehr nur in Lafaria passiert. Auch in Atreia und Lannarat verschwinden mittlerweile Personen.«

Aruns Kiefer spannt sich an, und er hält in der Bewegung inne. »Verflucht.« Seine Augen huschen hin und her, als würde er in seinem Kopf einige Schlüsse ziehen. Dann schnaubt er und lässt sich auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Geistesabwesend fällt sein Kopf in den Nacken und einige Sekunden vergehen, ohne dass einer von beiden etwas sagt.

Schließlich bricht Sylas die Stille. »Was ist, wenn das Verschwinden der Heimatlosen doch mit den Abschiedsbriefen zusammenhängt?«

Arun antwortet nicht. Seine Augen schweifen noch immer über die raue Zimmerdecke. Seufzend wendet sich Sylas zum großen Fenster und betrachtet die sich unter ihnen befindende Stadt. Die akkurat gemauerten Hausreihen, mit den breiten Pflasterwegen. Beleuchtet von türkisblauen Ätherlaternen, die die in regelmäßigen Abständen gepflanzten Bäume in magisches Licht tauchen. Die riesige Ätherbahn – das am meisten genutzte Transportmittel in Lafaria – windet sich wie ein gläserner Lindwurm über den Himmel und durch die Straßen der Stadt, durchzuckt von atemberaubend schnell rasenden Stahlkugeln, die die Transportkabinen darstellen. Eine wahrlich chaotische Stadt aus den Gemäuern vergangener Zeiten, in bizarrer Kombination mit der modernen Äthertechnologie, die die Ehleseen mit der Zeit entwickelt haben.

»Also schön. Ich werde mit Wolthan darüber sprechen. Wir müssen der Sache wohl oder übel nachgehen.« Arun wuschelt sich durch die schwarze kinnlange Mähne.

Sylas nickt knapp. »Alles klar, ich muss dann–«

Die Tür des Büros wird aufgestoßen und zwei Personen kommen wild brabbelnd und lachend hineingestürmt. Als Sylas die beiden mit hochgezogenen Brauen betrachtet, verstummen diese langsam.

»Oh entschuldige. Ich wusste nicht, dass ihr in einer Besprechung seid«, sagt Alva kleinlaut, und wirft dem aschblonden Teenager an ihrer Seite einen amüsierten Blick zu. Auch Iru unterdrückt sein Kichern, als er Sylas seine Faust zur Begrüßung hinhält. Alva hatte dem Jungen diese Art der Begrüßung gezeigt und seitdem begrüßt er jeden so, den er als Freund bezeichnet.

»Hat Arun dir immer noch keine Manieren beigebracht, Sonnenschein?«, säuselt Sylas und wirft der Frau ein süffisantes Grinsen zu.

Alva verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und streckt ihm die Zunge raus, bevor sie zu Arun hinter den Schreibtisch tritt und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen drückt. »Braucht ihr noch lange? Du weißt schon, du hast versprochen, dass wir heute…«

»Wir sind hier gleich fertig. Wartet unten auf mich, okay?« unterbricht er sie mit einem schmalen Lächeln.

Sie nickt knapp, bevor sie Sylas einen vielsagenden Blick zuwirft und zusammen mit Iru den Raum verlässt. Kurz sieht der Weißhaarige ihr nach und fragt sich insgeheim, was ihn an Alva so fasziniert. Was ihn seit damals so fasziniert, als er sie – diese fremdartige junge Frau – vor den Mauern Lafarias gefunden hatte. Nur die Götter selbst wissen, warum er sie nicht gleich eliminiert hatte, wie er es eigentlich hätte tun sollen. Immerhin nahm er damals an, sie sei ein Eindringling der Lycaner. Aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten, Alva gleich vor den Mauern der Hauptstadt hinzurichten. Zu ihrer aller Glück. Jetzt hatte sein bester Freund die Liebe seines Lebens gefunden, und er eine teure Freundin.

Er schiebt den Gedanken kopfschüttelnd beiseite und wendet sich wieder zu Arun, der sich nun daran macht, den chaotischen Papierstapel zusammenzuschieben.

»Wie lange hast du vor, mit deiner neuen kleinen Familie auf… wie würde Alva sagen?... ‚Friede, Freude, Eiertorte‘ zu machen?«, säuselt Sylas ironisch und verschränkt spottend die Arme.

»Erst einmal heißt es ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ … und abgesehen davon…« Arun wirft seinem Kumpel einen vielsagenden Blick zu. »Sie haben viel durchgemacht. Ein wenig Entspannung schadet da wohl nicht«, murmelt Arun geistesabwesend. Sein Blick verdunkelt sich, als keimen die bizarren Bilder der letzten Monate vor seinem geistigen Auge auf.

»Wo ist bloß der eiskalte, gefühllose Junggeselle geblieben, der mit mir die Grenzen unsicher gemacht hat?« Sylas seufzt theatralisch.

Arun, der sich die schwere schwarze Jacke über die Schulter wirft und seine Arme darin versenkt, kommt auf Sylas zu. Mit einem mitleidigen Blick legt er beide Hände auf die Schultern seines Hauptmannes und drückt diese freundschaftlich. »Irgendwann…. Irgendwann, will auch dich jemand haben, mein Freund.«

Sylas schubst ihn amüsiert feixend von sich weg und auch Arun lacht schelmisch auf, bevor seine Miene ernst wird. Beinahe besorgt. »Ernsthaft, Sylas. Irgendwann ist es Zeit mal erwachsen zu werden. Solltest du dir auch mal überlegen.«

Sylas ahmt ein Würgegeräusch nach und erntet nur erneut einen Schlag gegen die Schulter, bevor die beiden lachend Aruns Büro verlassen. Während Arun sich auf den Weg macht, sein neues, erwachsenes und verantwortungsbewusstes Leben auszukosten, wendet sich Sylas in Richtung Ätherbahn, um seinen Pflichten als Ausbilder der neuen Rekruten nachzukommen. Ein Fluch entflieht ihm, als er auf die Uhr an seinem Handgelenk schaut. Er ist viel zu spät dran und zu allem Übermaß sieht er auch noch wie ein Penner aus. Und wahrscheinlich riecht er dank der Alkoholfahne auch wie einer. Seufzend fährt er sich erneut durch das müde Gesicht und die wilden Haare, dann straffen sich seine Schultern und er macht sich auf den Weg.

Die frühe Mittagssonne brennt in seinen heute viel zu überempfindlichen Augen, als er mit zusammengekniffenen Lidern aus dem Runner der Ätherbahn klettert und den Rücken durchstreckt. Die metallischen Kugeln, mit denen man durch die gläsernen Tunnel der Ätherbahn geschossen wird, kommen auf eine sportliche Maximalgeschwindigkeit von sechshundert Kilometern pro Stunde, aber da Sylas in Lafaria aufgewachsen ist, macht ihm das eigentlich nicht das Geringste aus. Allerdings ändert sich die Lage, wenn man mit einer nicht zu verachtenden Menge Restalkohol im Blut – und wohl auch im Magen – mit so einem Teil durch die Lüfte saust.

Er drängt die in ihm rumorende Übelkeit zurück und lässt den verspannten Nacken knacken, bevor er tief durchatmet, um sich auf das Kommende vorzubereiten. Allerdings bleibt ihm nicht viel Zeit zum Verschnaufen, denn sofort bemerkt er die kleine Silutanerin, die mit vernichtendem Blick auf ihn zugestürmt kommt. Ihre schwarzen, glatten, kinnlangen Haare wippen im Takt ihrer Schritte. Das Gesicht zu einer entnervten Grimasse verzerrt, die ihre Emotionen wie eine Leuchttafel verkündet. Mara ist nicht erfreut. Überhaupt nicht erfreut.

Sylas kneift sich in die Nasenwurzel, denn schon bei diesem Anblick kann er ihre wütenden Worte bereits hören. Er fährt mit den Fingern durch sein glänzend weißes Haar, seufzt tief auf und erhebt die Stimme, noch bevor seine Stellvertreterin etwas sagen kann.

»Ich weiß, Ich weiß: ‚Sie sind wieder zu spät, Hauptmann. Welchen Eindruck macht das denn, wenn sie nicht pünktlich erscheinen, Hauptmann…«

Er hebt beschwichtigend die Hände und tritt an ihr vorbei, ohne sie dabei anzusehen, während sich ihre feinen Lippen öffnen und schließen, wie bei einem Fisch an Land. Sprachlos.

Jedoch hält die Verblüffung über die unverschämte Dreistigkeit ihres Vorgesetzten nicht lange an, denn schon, als er an ihr vorbei getreten ist, brennen sich ihre zornigen Augen förmlich in seinen Rücken. Als würden ihre goldenen Iriden Hitze erzeugen, spürt Sylas ihren tödlichen Blick zwischen seinen Schulterblättern. Insgeheim hofft er nur, dass die kampferfahrene Silutanerin ihm nicht mit ausgefahrenen Krallen auf die Schultern springt und ihm mit ihren hübschen Händen den Kopf abreißt. Aber er hat sie nicht zuletzt wegen ihrer starken Nerven als seine Stellvertretung gewählt.

»Darüber reden wir noch«, zischt sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor, bevor sie sich an seine Fersen heftet. Ein schnüffelndes Geräusch erklingt hinter ihm und kurz darauf folgt ein entsetztes Raunen. »Haben Sie… Haben Sie etwa getrunken?«

»Wie kommst du denn darauf?«, säuselt Sylas in gespielt empörter Tonlage und rollt mit den Augen, ohne dass sie es sieht.

»Sie stinken wie ein in Whiskey getunktes Mandragora!«

Er schmunzelt. Was ein kreativer Vergleich. Aber anstatt darauf einzugehen, fragt er nur: »Sind die Neuen bereits aufgestellt?«

Mara schnaubt abfällig und wirft die Hände in einer frustrierten Geste in die Luft. »Haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Es ist kurz nach zwölf! Wir sind bereits durch mit der Vorstellung und der Einweisung. Bei Gott, hätten Sie eine halbe Stunde länger gebraucht, hätte ich alle nach Hause geschickt.«

»Na wunderbar, dann habe ich mir ja das nervtötende Prozedere gespart«, grinst er statt einer Entschuldigung, und zwinkert Mara provozierend zu. Ihrem feurigen Blick kann er entnehmen, dass er sie heute wohl lieber nicht weiter reizt und schluckt deshalb seine nächste Neckerei zu seiner eigenen Sicherheit herunter.

»Sie sind…«, presst Mara mit einem unterdrückten Knurren hervor, »einfach unerträglich.«

Sylas dreht sich im Laufen zu ihr um und zwinkert ihr zu, bevor er sich wieder nach vorn wendet und sich kurz umsieht. »Wo sind die Frischlinge jetzt?«

»Ich habe sie in die Kantine gesetzt und gesagt, sie sollen sich einen Moment Zeit nehmen, um sich mit der Umgebung vertraut zu machen. Also, wenn Sie noch vorhaben, sich vorzustellen, werde ich sie sich auf dem Übungsplatz B aufstellen lassen.«

Sylas sieht noch einmal mit verzerrtem Gesicht in den für seinen Geschmack heute viel zu hellen Himmel. Noch immer brennt die Helligkeit in seinen Augen und er unterdrückt den Drang, die Hand über die Augen zu heben. »Können wir das nicht drinnen machen?«

»Komm schon, du hast so lange auf diesen Tag gewartet. Reiß dich verdammt noch mal zusammen.« Junas Hände verkrampfen sich nervös um den Rand des Waschbeckens, während sie ihrem Spiegelbild tief in die hellblauen Augen sieht.

Sie betrachtet das gestresste Gesicht, welches ihr entgegenblickt. Die großen, hellblauen Augen, die golden gebräunte Haut, die Sommersprossen, die auf ihrer etwas zu breiten Stupsnase verteilt sind. Das herzförmige Gesicht, welches von den kürzeren Strähnen ihrer schwarzen Mähne eingerahmt wird, die nicht von dem Haargummi gehalten werden können.

Ein genervtes Grunzen begleitet ihre gekrümmten Finger, als sie fahrig beginnt, ihren Scheitelpony zu richten.

»Okay, durchatmen. Es wird alles nach Plan laufen.« Sie beißt sich frustriert auf ihre Unterlippe, als sie das unkontrolliert nervöse Zucken ihres linken spitzen Ohrs registriert. Eine Eigenschaft, die sofort ihr aufgewühltes Inneres verrät.

Heute wird ihr erster Tag bei den Rekruten der lafarianischen Garde sein. Ihr allererster Schritt in die Karriere, die sie sich seit so vielen Jahren wünscht. Für die sie trainiert, seit sie denken kann. Für die sie so hart gearbeitet hat. Schnaubend kneift sie sich in die Nasenwurzel, bevor sie sich endlich von ihrem Spiegelbild abwendet.

Sie hatte es zuerst nicht glauben können, als der Mann, der sich ihr als Han vorgestellt hatte, vor einigen Monaten auf sie zu kam. Er hatte sie bei einer ihrer Trainingseinheiten beobachtet und noch bevor sie ihn bemerkt hatte, war er hinter ihrem Rücken aufgetaucht und hatte ihr spitzbübisch grinsend gesagt, dass sie Talent habe.

‚Ein wenig zu grobmotorisch, aber ausbaufähig‘ Das waren seine Worte. Nach einer angeregten Unterhaltung mit dem ihr damals noch fremden Silutaner, hatte er ihr angeboten, ein gutes Wort im Ministerium für sie einzulegen. Normalerweise ist es Personen mit einer so geringschätzigen Herkunft, wie die ihre, nicht gestattet, auch nur von einem Platz in der militärischen Garde Lafarias zu träumen.

Aber dieser Han hatte versichert, er habe Beziehungen. Kontakte zum Garden-General und einem der Hauptmänner.

Erneut schnaubt sie auf, als sie an das Gespräch zurückdenkt. Als sie dachte, der Fremde wolle sie auf den Arm nehmen. Sich über sie lustig machen. Doch ein paar Wochen später erhielt sie eine Nachricht mit der Zusage ihrer Anmeldung, die sie nie abgeschickt hatte. Bis heute hatte sie den Silutaner jedoch nicht mehr wiedergesehen, und ihm ihren Dank auszusprechen steht definitiv ganz oben auf ihrer Liste.

Ihre Hände massieren gedankenverloren ihre von Muskelkater geplagten Oberarme. Tägliches, stundenlanges trainieren zur Verbesserung ihrer Techniken hat eben auch seinen Preis. Aber Juna kann es sich nicht leisten, eine Verschnaufpause einzulegen und ihre Muskeln zu entspannen. Sie muss ab heute alles geben. Jeden Tag. Sie muss um jeden Preis die Einführungszeit überstehen, und allen beweisen, dass auch ein Lai’Haraner von ihrem Stand das Zeug dazu hat, zu kämpfen.

»Scheiße«, stößt sie plötzlich aus, als ihr Blick auf die alte Uhr an der verwitterten Steinwand fällt. Hastig greift sie nach dem schmuddeligen Rucksack und stürmt zur Tür hinaus.

»Fuck, Fuck, Fuck!«, flucht ihre sonst eher seidige Stimme rau und verzweifelt, als sie zu der kleinen Stallung hinter ihrer Hütte stürmt. Die weiße Mylanos Stute schnaubt freudig und wirft den Kopf zurück, während Juna mit hektischen Bewegungen das Zaumzeug über die gewundenen kleinen Hörner und den pferdeartigen Kopf zieht. Noch ein halbherziges Lob an das Tier geflüstert, schwingt sie sich in den Sattel und treibt das Mylanos in wildem Galopp auf die Wiesen vor ihrem Dorf.