Drei Minuten mit der Wirklichkeit - Wolfram Fleischhauer - E-Book

Drei Minuten mit der Wirklichkeit E-Book

Wolfram Fleischhauer

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Beschreibung

Eigentlich will die neunzehnjährige Giulietta Battin, Balletttänzerin an der Berliner Staatsoper, nur herausfinden, was an zeitgenössischer Tango-Musik so verstörend ist. So trifft sie Damian Alsina, den rätselhaften und zugleich genialischen Startänzer eines in Berlin gastierenden Tango-Ensembles. Was wie eine traumhafte Liebesgeschichte beginnt, wächst sich für Giulietta jedoch schon bald zu einem Alptraum aus. Ohne ersichtlichen Anlaß sabotiert Damian auf offener Bühne sein eigenes Stück und ruiniert die Aufführung. Wenige Tage später führt er einen absurden Anschlag auf Giuliettas Familie aus und verschwindet nach Argentinien. Tief verletzt, jedoch zugleich entschlossen, eine Erklärung zu finden, folgt ihm Giulietta nach Buenos Aires. Doch Damian ist wie vom Erdboden verschluckt. Für Giulietta beginnt eine Odyssee durch die sichtbare und unsichtbare Tango-Welt von Buenos Aires, in der sich Damians rätselhafter Tanzstil als verborgener Ariadnefaden in ein teuflisches Labyrinth erweist. Je näher sie einer Antwort kommt, desto furchtbarer scheint sie zu sein. Und dann interessiert sich plötzlich noch jemand für ihre Spurensuche - und der hat ganz andere Pläne ...

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Wolfram Fleischhauer

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Roman

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

MottoProlog1. Teil Escualo1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel2. Teil  ¡Loco! ¡Loco! ¡Loco! 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel3. Teil Renaceré1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelEpilogDanksagung
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How can we know the dancerfrom the dance?

 

William Butler YeatsAmong Schoolchildren

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Prolog

Es war offensichtlich, dass der Beamte ihm diese Version der Vorgänge nicht abnahm.

Natürlich war der Mann darauf geschult, misstrauisch zu sein. Er hatte es von Anfang an bemerkt. Der Beamte glaubte ihm nicht. Markus Battin hatte sich sein Gehirn zermartert, was er ihnen erzählen würde. Es war ihm schwer gefallen, eine überzeugende Geschichte zu erfinden. Es log sich besser, wenn man die Wahrheit kannte. Die Wahrheit! Ein haarfeiner Riss in seinem Lebensgebäude. Er hatte ihn tagelang betrachtet, diesen Riss, und sich einzureden versucht, dass er gar nicht da sei. Ich bin das Opfer eines Verrückten, sagte er sich immer wieder vor. Eines durchgedrehten Spinners.

Er schaute auf den Stapel Blätter vor sich auf dem Tisch, das abgetippte Protokoll seiner Vernehmung. Warum wurde er hier überhaupt vernommen? Schließlich war er das Opfer. Zwei Stunden hatte dieses »Informationsgespräch« gedauert. Ein regelrechtes Verhör war es gewesen. Und jetzt sollte er diese ganze Abschrift noch einmal durchlesen, jede Seite paraphieren, die ganze Geschichte noch einmal durchleben, nur damit die ihre Akten zumachen konnten.

»Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, zu lesen, was Sie unterschreiben«, hatte der Beamte zu ihm gesagt. »Aber falls die Sache irgendein Nachspiel hat, könnte es sein, dass dieses Protokoll als Beweismittel herangezogen wird. Wenn dann etwas falsch wiedergegeben ist, könnten Sie Probleme bekommen. Es dauert ja nicht lange.«

Ein Nachspiel? Was für ein Nachspiel?

Dieser Irre hatte das Land verlassen. Ein Nachspiel hatte das Ganze lediglich für seine Tochter. Battins Magen verkrampfte sich beim Gedanken an Giulietta. Wie hatte der Kerl ihr das nur antun können? Natürlich war die Polizei auch sehr daran interessiert gewesen, Giulietta zu verhören. Um ihr das zu ersparen, hatte er schließlich dieser Befragung zugestimmt. Giulietta war gar nicht vernehmungsfähig. Sie stand unter Schock. Das verübelte er diesem Wahnsinnigen am meisten. Was er Giulietta angetan hatte. Allerdings wurde dadurch alles nur noch unbegreiflicher.

Dieser Damián Alsina hatte seine Tochter geliebt. Sie waren gerade einmal zwei Monate zusammen gewesen, aber die Veränderung in Giulietta war unübersehbar. Nein, nicht er – sie hatte ihn geliebt. Die Rückschläge dieses Sommers hatten ihr schwer zugesetzt. Das war vielleicht ihr einziger Fehler. Sie konnte mit Misserfolgen nicht gut umgehen. Das war schon in der Ballett-Schule so gewesen. Die ewige Kritik, die Schreierei, die bohrenden Selbstzweifel, auf welche es die Lehrer mit fast sadistischer Präzision abgesehen hatten. »Nur die Guten werden angeschrien«, hatte er ihr immer wieder gesagt. »Das Schlimmste ist, wenn sie dich ignorieren. Solange sie dich fertig machen wollen, glauben sie an dich.« Das hatte sie nie begriffen. Oder vielleicht hatte sie es begriffen. In jedem Fall besaß sie keine Abwehrreflexe gegen diese ganzen Gemeinheiten. Sie nahm das alles zu persönlich. Er hatte sich ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Schließlich hatte es doch noch geklappt, zwar unbezahlt und als Hospitantin, aber dafür an einem der besten Häuser des Landes, der Berliner Staatsoper. Aber diese Veränderung an ihr hatte später eingesetzt, irgendwann im September oder Oktober. Sie war plötzlich wie ausgewechselt, war am Wochenende laufend unterwegs und kam überhaupt nicht mehr zu ihnen nach Zehlendorf. Ausnahmsweise hatte diesmal seine Frau zuerst erfahren, was für ein Licht seiner Tochter in der Düsternis ihrer Niedergeschlagenheit plötzlich erschienen war.

»Sie hat ihren Märchenprinzen gefunden«, hatte Anita ihm lapidar mitgeteilt.

»Davon weiß ich ja gar nichts«, hatte er geantwortet. »Dann muss es ein regelrechter Zauberkünstler sein, wenn er sie von heute auf morgen geheilt hat.«

»Für neunzehnjährige Mädchen bedarf es keiner Zauberkünstler«, hatte Anita erwidert, »ein charmanter Mann reicht da völlig aus.«

»Ein Mann?«

»Na ja, Männchen. Er ist dreiundzwanzig.«

»Und? Kennst du ihn schon?«

»Ich? Nein. Wie kommst du darauf?«

»Offensichtlich weißt du schon einiges über ihn.«

»Schau sie dir doch an, dann weißt du alles. Ich habe sie nur gefragt, wie alt er ist.«

Er war zugleich froh und beunruhigt gewesen. Es ging ihr endlich besser. Das war gut. Aber ein Mann? Warum hatte er das nicht bemerkt? Die Arbeit. Er hatte zu viel gearbeitet. Der neue Schichtplan. Das neue Sicherheitskonzept wegen des Regierungsumzugs. Er hatte drei Wochen lang mehr als sonst zu tun gehabt, und dabei war sie ihm entglitten. Er erschrak selbst über die Formulierung. Nein, sie hatte endlich diese Enttäuschung vom Sommer überwunden und sich verliebt. Und sie hatte ihm noch nichts davon erzählt, weil er fast nie zu Hause war, ihre Wege sich kaum gekreuzt hatten. Es fiel ihm schwer, die Nachricht zu schlucken.

Aber wie hing dies alles mit dem Stapel Papier vor ihm zusammen? Er käme hier erst heraus, wenn alles unterschrieben war. Er paraphierte rasch die ersten vier Seiten. Dann kehrte er zum ersten Blatt zurück und überflog den Passus mit den personenbezogenen Daten. Markus Battin, geboren am 12. Februar 1947 in Rostock. Es folgten die unterschiedlichen Stationen seines Lebens in der DDR bis zur Übersiedlung nach West-Berlin im Jahre 1976. Glücklicherweise hatte der Beamte wenigstens dieses Thema nur gestreift. Das hätte ihm jetzt noch gefehlt, über die finsteren DDR-Zeiten reden zu müssen. Seine Namensänderung war offenbar nicht aktenkundig. Jedenfalls hatte der Polizist nicht danach gefragt, und er hatte keinen Anlass gesehen, den Vorgang zu erwähnen. Markus Loess war im Winter des Jahres 1975 im Alter von neunundzwanzig Jahren gestorben. Er hieß jetzt Markus Battin. Und das war gut so.

Er blätterte um und begann an der Stelle zu lesen, wo er den Tathergang geschildert hatte.

 

FRAGE: Am Abend des 23. November 1999 erhielten Sie also einen Telefonanruf von Herrn Alsina.

ANTWORT: Ja.

F: Erinnern Sie sich an die genaue Uhrzeit?

A: Es war zwischen fünf und sechs Uhr abends. Halb sechs wohl.

F: Was war der Inhalt dieses Gesprächs?

A: Damián … also Herr Alsina rief aus dem Studio meiner Tochter an. Er bat mich, vorbeizukommen, da sie mir etwas zeigen wollten.

F: Warum rief er Sie an und nicht Ihre Tochter?

A: Das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, sie sei noch nicht da. Es sollte eine Überraschung sein.

F: Hat Herr Alsina Sie schon einmal angerufen?

A: Nein.

F: Woher hatte er dann Ihre Telefonnummer?

A: Ich denke, er wusste, für welche Firma ich arbeite. Die Nummer der Zentrale steht im Telefonbuch. Außerdem hatte er Giuliettas Mobiltelefon, darauf ist meine Nummer gespeichert.

F: Wieso hatte er das Telefon Ihrer Tochter?

A: Das weiß ich nicht genau. Vermutlich hat er es sich einfach genommen. Giulietta hatte es in ihrer Wohnung vergessen.

F: Vergessen?

 

Menschen vergessen Dinge. Seine Tochter hatte das Telefon zu Hause vergessen. Ein einfacher Vorgang. Oder hatte sie es absichtlich zurückgelassen, damit man sie nicht erreichen konnte? Aber das war unerheblich für die Polizei.

 

A: Ja. Als sie nach Braunschweig fuhr.

F: Wann war das?

A: Am gleichen Tag. Dienstagmorgen.

F: Und wann haben Sie davor das letzte Mal mit ihr gesprochen?

A: Am Montag. Am Dienstag habe ich zweimal versucht, sie zu erreichen, aber ihr Telefon war nicht empfangsbereit.

F: Herr Alsina wusste also, dass Giulietta nicht in der Stadt war und erst am nächsten Abend zurückkommen würde?

A: Ja.

F: Was tat sie in Braunschweig?

A: Sie half einer Freundin beim Umzug. Sie war nicht allein. Sie fuhr mit ein paar Freundinnen hin.

F: Und Herr Alsina nutzte die Abwesenheit Ihrer Tochter, um sich mit Ihnen zu treffen.

A: Ja. So sieht es aus.

F: Wie oft waren Sie ihm zuvor begegnet?

 

Hier hatte er innerlich gestockt, sich dann jedoch für die Wahrheit entschieden. Er hatte diesen Menschen bis vor einer Woche noch nie im Leben gesehen. Das war eine unumstößliche Tatsache. Er musste ihn mit jemandem verwechselt haben. Das würde jedem einleuchten. Seit dem Fall der Mauer geschahen die absonderlichsten Dinge in Berlin. Er hätte selber genügend Leute nennen können, mit denen er noch eine offene Rechnung hatte. Einige Gesichter aus dem Arbeiter- und Bauernstaat waren ihm nur zu gut in Erinnerung. Eine Verwechslung also. Daher war seine Antwort in Ordnung.

 

A: Einmal.

F: Wann und wo?

A: Bei uns zu Hause.

F: Sie hatten ihn eingeladen?

A: Ja. Giulietta kannte ihn bereits seit geraumer Zeit, und wir waren neugierig auf ihn.

F: Es war also ein Abendessen im Familienkreis?

A: So kann man es nennen.

F: Wie war Ihr erster Eindruck von Herrn Alsina?

 

Sollte er ehrlich sein? Er hatte ihn von Anfang an nicht gemocht. Nicht, weil er Ausländer war. Ein Schwabe hätte ihm genauso missfallen. Er war auf alle Männer eifersüchtig, die hinter seiner Tochter her waren. Das wusste er. Er konnte nichts dagegen tun. Giulietta war sein Ein und Alles. Aber er hatte sich unter Kontrolle. Solange diese Burschen sie nur nicht von ihrer Karriere ablenkten. Dieser Damián hatte etwas in den Augen gehabt, das ihm nicht gefiel, überhaupt nicht gefiel. Aber er hatte es fertig gebracht, Giuliettas angeknackstes Selbstbewusstsein wieder aufzubauen. Dass ein dahergelaufener Tango-Tänzer dieses Kunststück zu Stande gebracht hatte, war nun einmal nicht zu ändern. Er war davon ausgegangen, dass die Sache ein Strohfeuer war. Er kannte seine Tochter. Sie hatte einen unbeugsamen Willen. Klassischer Tanz war ihr Leben. Sie würde nicht von heute auf morgen zehn Jahre Ballett-Training an den Nagel hängen und wegen irgendeiner Liebelei ihre Karriere aufs Spiel setzen oder sich womöglich einem läppischen Paartanz widmen. Das Ganze war eine Phase, und dieser Damián war nichts weiter als eine kurze Etappe darin, eine Krücke, ein kurzes Atemholen. Der Argentinier hatte etwas Verschlagenes gehabt. Anita fand ihn charmant. Aber Anitas Menschenkenntnis war nicht besonders gut entwickelt. Dass an diesem Damián etwas faul war, hatte er gleich gespürt. Sonst säße er jetzt auch nicht hier in dieser tristen Amtsstube, um zu erklären, warum dieses hinterhältige Aas offenbar nicht ganz richtig tickte.

 

A: Unbestimmt. Er wirkte schüchtern, irgendwie unsicher. Aber das lag sicher daran, dass er uns nicht kannte und offenbar bemüht war, einen guten Eindruck zu machen.

 

Das klang hohl, befand er richtig. Aber so stand es nun mal da. Hier zu streichen, hätte seltsam gewirkt. Schließlich verlangte man von ihm keine Charakterstudie. Er paraphierte die Seite und blätterte um.

 

F: Woraus schließen Sie das?

A: Haben Sie Kinder?

F: Nein. Warum?

A: Man sieht das sofort bei jungen Menschen. Er war befangen. Überaus nett zu meiner Frau und etwas reserviert mir gegenüber. Typisch für junge Männer, welche die Eltern ihrer Freundin kennen lernen. Das kann Ihnen jeder Vater bestätigen.

 

Rückfragen stellen. Unwissen aufdecken. Die beste Möglichkeit, vom Thema wegzukommen.

 

F: Und das Abendessen verlief völlig normal?

A: Ja. Allerdings ging Herr Alsina recht früh, da er noch zu einer Probe musste.

F: Zu einer Probe. So spät am Abend?

A: Es war nicht spät, als er fortging. Halb zehn vielleicht. Das Theater, wo zwei Tage später die Aufführung stattfand, war wegen einer anderen Veranstaltung bis zweiundzwanzig Uhr belegt. Die Hauptproben mussten daher am Morgen und spätabends stattfinden.

F: Und Ihre Tochter blieb bei Ihnen zu Hause?

A: Ja. Wir saßen noch eine Weile zusammen. Aber sie holte ihn später von der Probe ab und blieb dann in der Stadt.

F: Also, dieses Abendessen fand am Mittwochabend statt, am 17. November genau gesagt. Am Freitag, Samstag und Sonntag wurde das Stück aufgeführt. Am darauf folgenden Dienstag fuhr Ihre Tochter nach Braunschweig, und am selben Abend erhielten Sie diesen Anruf von Herrn Alsina?

A: Ja.

F: Sie haben sich das Stück nicht angesehen?

A: Nein.

F: Und Ihre Frau?

A: Auch nicht. Warum? Ist das von Belang?

F: Nein, nicht unbedingt. Und Sie sagten ja bereits, dass Sie Herrn Alsina bis zu jenem Dienstag nicht mehr getroffen haben. Kommen wir also auf den Tag der Tat zu sprechen. Sie wussten nicht, dass Ihre Tochter nach Braunschweig gefahren war?

A: Nein.

F: Und Herr Alsina wusste, dass Sie das nicht wussten.

A: Das vermute ich.

F: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Giulietta ohne Ihr Wissen nach Braunschweig fuhr?

A: Meine Tochter ist erwachsen. Jedenfalls behandeln wir sie so.

F: Wusste Ihre Frau davon? Von dieser Fahrt nach Braunschweig, meine ich.

A: Nein. Warum fragen Sie das?

F: Nun, ich versetze mich in die Situation von Herrn Alsina. Er hat Ihnen eine Falle gestellt. Das konnte er nur, da er davon ausgehen konnte, dass weder Sie noch Ihre Frau wussten, dass Giulietta nicht in Berlin war. Doch warum sollte Giulietta Ihnen diese Fahrt nach Braunschweig verschwiegen haben?

 

An dieser Stelle hatte er verstanden, worauf der Beamte hinauswollte. Giulietta war heimlich nach Braunschweig gefahren. Damián wusste das. Und warum war sie heimlich gefahren? Weil sie ihren Eltern gegenüber nicht immer ehrlich war. Warum war sie nicht immer ehrlich? Er hatte es hinter der Stirn des Beamten buchstäblich ticken sehen.

 

A: Vielleicht weil sie uns nicht beunruhigen wollte.

F: Beunruhigen? Ihre Tochter ist neunzehn Jahre alt, fast zwanzig. Was ist schon dabei, von Berlin nach Braunschweig zu fahren?

A: Sie wissen ja, dass die letzten Monate nicht ganz einfach für sie waren. Vielleicht haben meine Frau und ich die Fürsorge für sie dabei etwas übertrieben, und sie fühlte sich eingeengt. Junge Menschen reagieren oft so. Man will ihnen helfen, sie empfinden das als Einmischung in ihre Angelegenheiten und machen aus jeder Lappalie ein Geheimnis.

F: Herr Battin. Was für ein Verhältnis haben Sie zu Ihrer Tochter?

A: Wie meinen Sie das?

F: Nun, wenn ein junger Mann den Vater seiner Freundin, den er einmal im Leben gesehen hat, in einen Hinterhalt lockt, dann stellt man sich natürlich einige Fragen. Möglicherweise ist Herr Alsina verrückt …

A: … wenn Sie mich fragen, so ist das genau meine Meinung …

F: … oder er hat in Ihnen vielleicht einen Konkurrenten gesehen, denn Sie haben doch ein sehr inniges Verhältnis zu Ihrer Tochter? Ich will Ihnen damit nicht zu nahe treten. Irgendein Motiv muss Herr Alsina doch gehabt haben. Kann es sein, dass er sich eingebildet hat, zwischen Ihnen und Ihrer Tochter existiere etwas, das seine Beziehung zu Giulietta gefährden könnte? War er vielleicht eifersüchtig auf Sie? Sie müssen das natürlich nicht beantworten. Letztlich geht es hier um das rätselhafte Verhalten von Herrn Alsina, und nicht um Sie.

A: Nein, nein, ich weiß, worauf Sie anspielen. Bitte schön. Meine Tochter ist ein außergewöhnlich attraktives Mädchen, eine schöne Frau, muss man ja wohl schon sagen. Meine Tochter hängt sehr an mir. Wenn Sie wissen wollen, ob man bei uns zu Hause nackt herumläuft …

F: … so war das nicht gemeint …

A: … jedenfalls hat noch kein Freund, den meine Tochter mit nach Hause gebracht hat, mir später heimlich aufgelauert.

F: Ich denke nur laut, Herr Battin. Wenn ich hier etwas unterstelle, dann nicht Ihnen, sondern Herrn Alsina. Vielleicht liegt es daran, dass Herr Alsina Argentinier ist? Ein kulturelles Missverständnis.

A: Möglich ist alles. Ich weiß nichts über Argentinien.

 

Er las den Passus mehrmals durch. Hatte er irgendetwas verraten? Verraten? Es gab nichts zu verbergen, jedenfalls nicht auf dieser Ebene der »Befragung«, wie die das hier nannten. Nein, er hatte gut geantwortet. Der Beamte hatte das Thema gewechselt. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Er paraphierte erneut und las weiter.

 

F: Kehren wir also zu jenem Dienstagabend zurück. Sie sagten vorhin, Herr Alsina habe Sie ins Studio gebeten, weil er und Giulietta Ihnen etwas zeigen wollten?

A: Ja.

F: Kam Ihnen das nicht seltsam vor? Ich meine, eigentlich hätte doch Ihre Tochter Sie anrufen müssen, oder?

A: Ja, sicher. Natürlich kam es mir seltsam vor. Ich kannte ihn ja kaum. Ich versuchte gleich, Giulietta zu erreichen, aber ihr Telefon war ausgeschaltet.

F: Und das hat Sie nicht misstrauisch gemacht?

A: Misstrauisch nicht. Ein wenig unruhig vielleicht.

F: Normal fanden Sie das also nicht?

A: Nein.

F: Sprachen Sie darüber, was Giulietta Ihnen angeblich zeigen wollte?

A: Nein, das war nicht nötig. Ich wusste ja, woran sie mit ihm arbeitete. Ich hatte beim Abendessen sogar gesagt, dass ich das Solo gerne einmal sehen würde.

F: Was für ein Solo?

A: Kennen Sie sich ein wenig mit Ballett aus?

F: Nein, nicht sehr. Tut mir Leid.

A: Meine Tochter ist Praktikantin an der Staatsoper, bewirbt sich aber auch an anderen Häusern. An der Deutschen Oper wird in der nächsten Spielzeit unter anderem ein Tango-Ballett gegeben. In der Schule kommt man mit so etwas nicht in Berührung, und Giulietta fühlte sich unsicher. Sie ist mit Tschaikowsky und Adolphe Adam aufgewachsen. Tango ist zur Zeit anscheinend wieder in Mode, und irgendwie kam sie hier in Berlin in Kontakt mit Leuten aus diesem Milieu. So hat sie diesen Tänzer kennen gelernt. Herr Alsina gab ihr offenbar ein paar Tipps zum besseren Verständnis der Musik, und ich war neugierig, was dabei herausgekommen war.

F: Rekonstruieren wir also diesen Dienstagabend. Sie fahren nach der Arbeit in die Gsovskystraße 31, parken Ihren Wagen und gehen durch die Hofeinfahrt auf das Rückgebäude zu. Fiel Ihnen irgendetwas auf, als Sie durch den Hinterhof gingen?

A: Nein.

F: Sie sind mit den Örtlichkeiten bestens vertraut?

A: Ja, das ist richtig. Ich habe das Studio vor einem Jahr gekauft.

F: Ihre Tochter trainiert dort?

A: Nein. Sie wohnt sozusagen dort.

F: Gemeldet ist sie aber bei Ihnen in Zehlendorf.

A: In den letzten beiden Schuljahren war sie dermaßen eingespannt, dass wir ihr die weite Fahrt von Zehlendorf nach Prenzlauer Berg ersparen wollten. Sie wollte dann unbedingt so eine Fabriketage, und das Angebot war günstig. Natürlich kann man darin auch trainieren, es gibt sogar eine Stange und einen Spiegel, aber Ballett-Tänzer können kaum alleine arbeiten. Wenn niemand korrigiert, kann es sogar schädlich sein. Aber Dehnen und Strecken kann man sich allemal. Jedenfalls wollte sie keine normale Wohnung, sondern so ein Studio. Mittlerweile ist eine Art Wohnung daraus geworden.

F: Also, seit wann wohnt sie dauerhaft in diesem Studio?

A: Ich habe nicht gesagt, dass sie dauerhaft dort wohnt.

F: Herr Battin, ich frage das nicht wegen der Ummeldung, das können Sie getrost vergessen und demnächst nachholen. Es geht hier um die Sache Alsina, nichts weiter.

A: Seit Beginn der Hospitanz an der Staatsoper, also seit Mitte August, kommt sie kaum noch nach Zehlendorf. Abnabelungsphase nennt man das wohl.

F: Ihre Tochter hat hier in Berlin studiert?

A: Ja, an der staatlichen Ballett-Schule.

F: Sie fahren also mit dem Aufzug in den fünften Stock und betreten das Studio. Herr Alsina begrüßt Sie. Sie legen Ihren Mantel ab und fragen nach Giulietta.

A: Ja. So war es.

F: Was geschah dann?

A: Ich stand noch an der Garderobe, wollte mich gerade umdrehen. Da fiel plötzlich ein Sack über mich. Im gleichen Augenblick erhielt ich einen Tritt in die Kniekehlen und knickte ein. Als ich mich von meinem ersten Schreck erholt hatte, wollte ich um Hilfe rufen, doch er hielt mir den Mund zu. Ich bekam einen Faustschlag in den Magen. Ich stürzte und krümmte mich, was er dazu nutzte, die Fesselung zu vollenden. Danach riss er den Sack auf, befreite meinen Kopf und klebte mir im gleichen Augenblick den Mund zu. Schließlich verband er mir die Augen und schleppte mich weiter in das Studio hinein, wuchtete mich auf einen Stuhl und band mich fest. Am Ende entfernte er die Augenbinde, verstärkte jedoch zuvor den Knebel.

F: Und die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort. Hat er Sie nicht beschimpft, Ihnen irgendetwas vorgeworfen? Hat er geflucht? Sie beleidigt?

A: Er sagte nichts. Nein, kein Wort.

F: In der ganzen Zeit, als Sie gefesselt auf diesem Stuhl saßen, hat er kein einziges Mal das Wort an Sie gerichtet?

A: Nein. Kein einziges Mal.

F: Dieser Vorfall ereignete sich am Dienstag gegen neunzehn Uhr. Herr Alsina verließ Berlin am Mittwoch mit der Zehn-Uhr-Maschine nach Frankfurt, von wo er am Abend den Anschlussflug nach Buenos Aires nahm. Das Studio verließ er irgendwann in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Das heißt, er verließ das Studio, blieb ein paar Stunden weg, kehrte noch einmal zurück und ging dann endgültig. Ist das so richtig?

A: Ja. Ich hatte natürlich keine Möglichkeit, die Zeit genau zu verfolgen, aber in groben Zügen stimmt das. Nachdem er mich überwältigt und gefesselt hatte, schien er selber nicht mehr zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Er strich hinter mir herum, tat aber nichts. Ich hatte Angst und war erleichtert, als er endlich ging. Das muss gegen zweiundzwanzig Uhr gewesen sein, denn ich hörte eine Turmuhr schlagen.

F: Und die ganze Zeit über fiel kein einziges Wort?

A: Nein …

 

Er las den Passus mehrmals durch und rief sich diese nicht enden wollenden Augenblicke in Erinnerung, die irren Bewegungen dieses Verrückten, die Art und Weise, wie er vor ihm durchs Zimmer gelaufen war, an der Fensterfront entlang, wie er vor ihn hintrat, ihn anstarrte mit diesem wahnsinnigen Blick. Die Worte des Argentiniers klangen noch in ihm nach. Aber er würde sich hüten, davon zu erzählen. So ein Irrsinn!

 

A: Ich konnte nicht sprechen, wegen der Knebelung. Ich habe kein einziges Wort von ihm vernommen. Er sagte nichts, absolut nichts.

F: Gab es irgendeine andere Form der Kommunikation zwischen Ihnen? Gebärden. Blicke. Irgendetwas, das einen Anhaltspunkt für Herrn Alsinas Motive liefern könnte?

A: Meine Gebärdensprache war relativ beschränkt, wie Sie sich vorstellen können.

F: Gegen neunzehn Uhr hat er Sie überwältigt. Sie sagten, um zweiundzwanzig Uhr verließ er das Studio, um später noch einmal zurückzukehren. Das macht drei Stunden. Ich meine, er hat drei Stunden mit Ihnen in diesem Studio verbracht. Er muss doch irgendetwas getan haben.

A: Er rauchte Zigaretten.

F: Lief er herum? Schaute er Sie an? Konnten Sie sehen, was er tat?

A: Nein. Ich konnte ihn nicht sehen. Ich spürte, dass er da war. Außerdem hörte ich manchmal seine Schritte, wenn er sich bewegte. Aber er trat kein einziges Mal vor mich hin.

F: Wie stand es mit der Beleuchtung?

A: Die Deckenbeleuchtung schaltete er aus. Soweit ich das erkennen konnte, brannte lediglich die kleine Nachttischlampe neben der Schlafcouch.

F: Haben Sie keine Befreiungsversuche unternommen?

A: Die erste Stunde bewegte ich mich überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie das ist, von einem wildfremden Menschen grundlos überwältigt und gefesselt zu werden. Ich bin kein ängstlicher Typ, aber man denkt dabei automatisch an das Schlimmste.

F: Doch. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.

A: Nach einer Weile, ich weiß wirklich nicht, wie lange, begannen meine Gelenke zu schmerzen, und ich versuchte, meine Position zu verändern. Dabei machte ich natürlich Geräusche durch das verrutschende Klebeband. Herr Alsina reagierte nicht.

F: Sie saßen drei Stunden gemeinsam in diesem Raum, ohne ein Wort zu sprechen?

A: Ja. Ich konnte ja nicht sprechen. Und er sagte nichts.

F: Und dann ging er einfach?

A: Ja. Deshalb glaube ich auch, dass er eine schwerwiegende Bewusstseinsstörung haben muss. Ich bin kein Psychologe, aber wie soll man sich das sonst erklären? Als er verschwunden war, atmete ich zunächst auf, aber nicht sehr lange. Meine Situation war ja unverändert, und er konnte jeden Augenblick zurückkehren, mit einem Benzinkanister oder einem Beil … Ich weiß, das hört sich jetzt verrückt und übertrieben an, aber das sind die Gedanken, die einem in einer solchen Situation durch den Kopf gehen.

F: Nein, Herr Battin, das hört sich überhaupt nicht verrückt an. Deshalb sind wir ja auch so daran interessiert, alle Einzelheiten zu erfahren, und verstehen nicht, warum Sie keine Anzeige erstatten wollen. Möglicherweise ist Herr Alsina wirklich krank, gefährlich krank. Ohne Anzeige können wir überhaupt nichts tun.

A: Sie können auch mit einer Anzeige nichts tun.

F: Das haben wir ja vorhin alles schon besprochen. Sie bleiben also bei Ihrer Weigerung, gegen Herrn Alsina Anzeige zu erstatten?

A: Ja. Das kann ich meiner Tochter nicht antun.

F: Gut. Weitere Ausführungen hierzu sind für das Protokoll unerheblich.

 

Es wurde eine fünfminütige Pause eingelegt.Befragung wieder aufgenommen um 16:43

 

F: Kommen wir noch einmal auf jene Nacht zurück, die Sie gefesselt auf diesem Stuhl verbracht haben. Sie sagten, Herr Alsina sei später noch einmal zurückgekehrt?

A: Ja. Das ist richtig.

F: Wissen Sie in etwa, wie viel Uhr es war?

A: Nein.

F: Die Turmuhr schlug also nicht mehr?

A: Ich war irgendwann eingenickt und schrak hoch, als er die Tür aufschloss. Er kam in meine Nähe, kümmerte sich aber nicht um mich. Er suchte irgendwelche Gegenstände zusammen. Dann wurde es dunkel, und er verschwand.

F: Vorher war das Licht also eingeschaltet gewesen?

A: Ja. Die Lampe neben der Couch brannte wohl, als er das erste Mal wegging.

F: Also, irgendwie ist das alles doch wirklich merkwürdig.

A: Durchaus.

F: Ihre Tochter fand Sie am Mittwochabend?

A: Ja.

F: Ihre Frau gab am Mittwochmorgen eine Vermisstenmeldung auf. Ihre Tochter wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von Ihrem Verschwinden?

A: Nein. Sie war ja in Braunschweig und half ihrer Freundin beim Umzug. Sie hatte ihr Telefon nicht dabei. Meine Frau wusste nicht, wo sie Giulietta erreichen konnte. Als ich die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war, bekam meine Frau Angst und rief die Polizei an, was ja nur verständlich ist. Wir sind einundzwanzig Jahre verheiratet, da spürt man, wenn etwas nicht stimmt. Ich hätte sie nie eine ganze Nacht lang im Unklaren über meinen Verbleib gelassen.

F: Logisch. Ihre Frau wäre nicht auf den Gedanken gekommen, in Giuliettas Studio nach Ihnen zu suchen?

A: Wahrscheinlich nicht. Irgendwann vielleicht schon. Meine Frau wusste ja nichts von dieser Verabredung. Das war alles ganz spontan geschehen. Giulietta war nicht erreichbar. Daher war meine Frau doppelt beunruhigt und hat die Polizei alarmiert.

F: Giulietta fand Sie also zufällig, als sie in ihr Studio zurückkehrte?

A: Ja.

F: Sie wusste nichts von der Vermisstenanzeige, von der Sorge ihrer Mutter, all das war ihr völlig unbekannt?

A: Ja. Sie kam direkt aus Braunschweig zurück und hoffte wohl, Damián in ihrem Studio anzutreffen.

F: Er hatte einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Tochter?

A: Ja. Offenbar.

F: Ihr Anblick dort in dem Studio muss sie doch gehörig erschreckt haben?

A: Sie sagen es.

F: Können Sie sich erinnern, was sie tat, als sie Sie entdeckt hatte?

A: Sie löste mir das Klebeband vom Mund und fragte, was geschehen sei.

F: Und Sie sagten es ihr.

A: Ich bat sie, das restliche Klebeband zu entfernen und sofort Anita … also meine Frau anzurufen, um ihr zu sagen, wo ich sei.

F: Und das tat sie auch.

A: Ja. Sie können sich wohl vorstellen, dass das alles ein wenig durcheinander ging. Das Gespräch verlief etwas unglücklich. Ich hätte selbst anrufen und meine Frau beruhigen sollen. Dann wäre es auch nicht zu diesem etwas übertriebenen Einsatz der Polizei gekommen. Ich will niemanden kritisieren, Sie taten ja nur Ihre Pflicht, aber das Ganze bekam dadurch eine völlig unangemessene Dramatik.

F: Wir hatten eine Vermisstenmeldung und dann den Verdacht auf Menschenraub. Das ist keine Kleinigkeit, wissen Sie das?

A: Ich kenne den Amtsjargon, habe selber damit zu tun. In diesem Fall war es jedenfalls übertrieben. Es war ja am Ende nichts geschehen. Den größten Schaden hat meine Tochter davongetragen, und daran ist die Polizei nicht ganz unschuldig. Das ist alles, was ich hierzu sagen möchte. Eine Anzeige bringt gar nichts. Das würde nur den emotionalen Zustand meiner Tochter verschlimmern. Sie ist völlig durcheinander. Deshalb will sie auch nicht mit Ihnen sprechen. Etwas mehr Fingerspitzengefühl wäre wünschenswert gewesen.

F: Es gibt einen Abschiedsbrief an Ihre Tochter, nicht wahr?

A: Ja.

F: Haben Sie ihn gelesen?

A: Nein. Noch nicht.

F: Wie kam dieser Brief zu Ihrer Tochter?

A: Er lag im Briefkasten.

F: In welchem Briefkasten?

A: In Giuliettas Studio.

F: Kennen Sie den Inhalt dieses Briefes?

A: Nein. Ich erfuhr nur davon, als ich aus dem Krankenhaus zurückkam.

F: Wissen Sie annäherungsweise, was darin stand?

A: Nein. Meine Tochter hat sehr emotional auf die ganze Sache reagiert, und ich habe noch nicht in Ruhe mit ihr sprechen können. Ich bin sicher, dass sie mir den Brief in den nächsten Tagen zeigen wird, und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Inhalt dann mitteilen, vorausgesetzt, sie ist einverstanden. Wenn Sie mich fragen, ist es nichts weiter als ein obskurer Abschiedsbrief.

F: Sind Sie sicher, dass in diesem Brief keine Erklärung für diesen Vorfall enthalten ist? Irgendein Motiv?

A: Ja. Wenn dem so wäre, hätte Giulietta es mir gesagt.

F: Herr Battin. Angenommen, Ihre Tochter wäre an jenem Abend nicht in ihr Studio gegangen, so hätten Sie eine weitere Nacht auf diesem Stuhl verbracht, nicht wahr?

A: Ja. Ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen.

F: Und wenn sie auch am dritten und vierten Tag nicht gekommen wäre, so wären Sie vermutlich verdurstet. Ist das richtig?

A: Im schlimmsten Falle: ja. Auch wenn das sehr unwahrscheinlich ist.

F: Herr Alsina hat keinerlei Vorkehrungen getroffen, um die Lebensgefahr, in die er Sie somit gebracht hat, irgendwie zu bannen. Er hat Ihnen weder genügend Handlungsspielraum gelassen, damit Sie Ihr Grundüberleben sichern konnten, noch hat er Ihre Angehörigen benachrichtigt. Nichts dieser Art. Ein unglückliches Zusammenspiel von Zufällen, und Sie wären im Studio Ihrer Tochter jämmerlich verendet, oder? Diese Frage ist sehr wichtig. Ich bitte Sie also, Ihre Antwort gut zu überlegen.

A: Er hat es billigend in Kauf genommen, dass mir etwas zustößt. So heißt das ja wohl im Amtsdeutsch. Er hat weder eine Schere in Reichweite abgelegt noch Giulietta oder meine Frau benachrichtigt. Nein, er hatte einfach Glück, oder besser: ich.

F: Herr Alsina und Ihre Tochter hatten eine Liebesbeziehung, nicht wahr?

A: Ja. So kann man es nennen.

F: Wissen Sie in etwa, seit wann?

A: Sie haben sich im September getroffen.

F: Wissen Sie, wann genau?

A: Nein.

F: Kennen Sie die genaueren Umstände dieser Begegnung?

A: Wie ich schon sagte, bereitete Giulietta sich auf allerlei Vortanz-Termine vor. Sie war in ziemlich schlechter Verfassung, weil sie als eine der wenigen aus ihrer Klasse noch immer kein festes Engagement hatte. Lediglich diese Hospitantenstelle an der Staatsoper. So konnte sie wenigstens trainieren und hatte Aussicht darauf, hier und da einzuspringen, falls jemand aus dem Corps de Ballet krank wurde. Sie hatte schreckliche Selbstzweifel. Wenn Sie x-mal vorgetanzt haben und schon nach der Stange aussortiert werden, ist das schwer zu verkraften. Es gelang ihr überhaupt nichts mehr. Als sie diese Hospitantenstelle an der Staatsoper bekam, ging es wieder ein wenig besser, und sie hatte vor, es im Frühjahr an der Deutschen Oper zu versuchen, weil an der Staatsoper auf absehbare Zeit keine feste Stelle frei werden würde. Auf dem Spielplan der Deutschen Oper hat sie dann dieses Tango-Ballett entdeckt. Die Musik liegt völlig außerhalb des Repertoires. Sie wollte sich ein wenig mit Tangomusik vertraut machen und hat sich in Berlin umgehört. Dabei ist sie Herrn Alsina begegnet. Genaueres weiß ich nicht.

F: Sie kannten sich also ungefähr zwei Monate?

A: Ja.

F: Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber ich stelle sie trotzdem. War Ihre Tochter verliebt?

 

Verliebt? Man hätte ein neues Wort erfinden müssen, um ihren Zustand zu beschreiben. Nach dem Gespräch mit Anita hatte er die nächstmögliche Gelegenheit ergriffen, um Giulietta zu sprechen. Und da hatte er es gesehen. Seine Tochter war für ihn immer das schönste Wesen gewesen, das er sich hatte vorstellen können. Doch als er sie an jenem Abend kurz traf, war ihre Schönheit betörend gewesen. Und er hatte eine Distanz gespürt, auch wenn er überhaupt nicht begriff, woher dieser Eindruck kam.

»Was macht die Arbeit, Papa?«, hatte sie gefragt und dabei in einen Apfel gebissen.

»Gut, meine Kleine«, hatte er erwidert.

»Ich mag es nicht, wenn du mich so nennst. Bitte nenn mich nicht mehr so, ja?«

»Reine Gewohnheit, verzeih. Kommst du gut voran?«

»Hmm. Kann ich die Videoanlage aus dem Keller mitnehmen?«

»Klar. Was macht der Tango? Irgendwelche Fortschritte mit dem Stück?«

Genauer wollte er nicht nachfragen. Ihre Reaktion zeigte, dass er gut daran getan hatte.

Sie biss wieder in ihren Apfel und lächelte kurz.

»Hmm. Wird schon. Aria war gestern da. Sie wird nach Braunschweig ziehen. Was hältst du davon?«

Aria war ihm völlig schnuppe.

»Man muss alles versuchen. Soll ich dir die Videoanlage vorbeibringen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Danke. Ist schon mit Mama besprochen. Sie will, dass ich morgen mit ihr einkaufen gehe, da kommt sie ohnehin vorbei. Du bekommst eine todschicke Begleitung für den Empfang bei Hollrichs.«

Ein typisches Küchengespräch, zwischen Tür und Angel, sie auf dem Weg hinaus, er hinein. Zu diesem Zeitpunkt kannte sie diesen Typen drei Wochen.

 

A: Ob sie verliebt war, kann ich so nicht beantworten. Ich will es mal so sagen: Herr Alsina hatte vorübergehend einen überraschend starken Einfluss auf meine Tochter. Da ich weiß, dass meine Tochter einen sehr ausgeprägten eigenen Willen und eine gefestigte Persönlichkeit hat, muss sie wohl so etwas wie Verliebtheit für ihn empfunden haben. Aber das war eine vorübergehende Sache.

F: Ach ja? Woraus schließen Sie das?

A: Sie sagten ja bereits, dass Sie nicht sehr viel über Ballett wissen. Und über Ballett-Tänzerinnen vermutlich auch nicht.

F: Durchaus. Aber ich bin immer bereit, dazuzulernen.

A: Wer Ballett-Tänzerin werden will, und ich meine damit natürlich: wer eine Karriere in diesem Fach anstrebt, der wird nicht nur bestimmte Dinge nicht tun, sondern eine Sache ganz ausschließlich betreiben: Ballett-Tanz. Daneben gibt es sehr wenig, und in der Phase, in der sich meine Tochter gegenwärtig befindet, überhaupt nichts. Niemand weiß das besser als sie selber. Es ist überhaupt kein Thema. Daher habe ich diese Freundschaft mit Herrn Alsina auch nicht überbewertet. Ein Flirt, nichts weiter.

F: Ein Flirt? Sieht Ihre Tochter das auch so?

A: Bezeichnen Sie es, wie Sie wollen. Ich habe das Ganze nicht sehr ernst genommen …

F: … und luden daher Herrn Alsina zum Abendessen ein.

A: Das war die Idee meiner Frau.

F: Herr Alsina war bereits seit zehn Wochen in Deutschland. Zwei Wochen später wäre sein Visum abgelaufen, und er hätte nach Argentinien zurückkehren müssen. Sein Rückflug war ursprünglich für den 26. November gebucht. War Ihre Tochter nicht bedrückt? Sie hatte schließlich fast zwei Monate mit ihm verbracht, oder? Herr Alsina hat ihr, wie Sie selbst gesagt haben, aus einer Krise herausgeholfen, und dabei sind die beiden sich sehr nahe gekommen. Er wohnte sozusagen bei ihr. Sie sagen, das Ganze sei nur ein Flirt gewesen. Warum dann diese Einladung zum Essen? War es Ihrer Tochter vielleicht egal, dass Herr Alsina nach Buenos Aires zurückkehren würde? Oder wollte er noch etwas länger bleiben? Beabsichtigte sie möglicherweise, mit ihm zu gehen?

 

Der Mann hatte offensichtlich den Verstand verloren. Giulietta nach Buenos Aires gehen, im Schlepptau eines Tango-Tänzers. Undenkbar!

 

A: Ich habe keine Ahnung, was für Pläne er hatte. Aber worauf wollen Sie hinaus?

F: Herr Battin. Ich suche ein Motiv. Sehen Sie, ich bin ein einfacher Polizist und soll mir einen Reim auf diesen Vorfall machen. Sie sagten vorhin, Herr Alsina sei wahrscheinlich verrückt. Das ist gut möglich. Aber selbst Verrückte handeln nicht ohne Motive, auch wenn sie sich diese nur einbilden. Es gibt schlechterdings keine Handlung ohne ein Motiv. Im schlimmsten Fall ist das Motiv spontan, existiert nur im Kopf des Täters, fällt sozusagen direkt mit der Handlung zusammen und verschwindet mit ihr sogleich wieder. Das typische Verhalten von Menschen, die wir als verrückt bezeichnen. Aber Herr Alsina handelte ja gar nicht spontan. Ihre Entführung war offenbar sorgfältig geplant.

A: Ach ja?

F: Sicher. Am Tag nach dem Abendessen bei Ihnen buchte Herr Alsina seinen Rückflug nach Buenos Aires auf den darauf folgenden Mittwoch, den 24. November, um. Als Ihre Tochter am 23. November, also an jenem Dienstagmorgen, nach Braunschweig fuhr, wusste Herr Alsina schon seit fast einer Woche, dass er bei ihrer Rückkehr am folgenden Abend bereits auf dem Heimflug wäre. Ihre Tochter erfuhr davon aber nichts, oder? Sie hatte keine Ahnung von Herrn Alsinas Plänen.

A: Nein, hatte sie nicht. Was nur beweist, wie gestört dieser Mensch ist.

F: Das Abendessen bei Ihnen war am Mittwoch, dem 17. November. Sie sagten, im Anschluss daran sei Herr Alsina zu einer Probe gefahren, die bis spät in die Nacht andauerte. Am nächsten Tag fanden wieder Proben statt. Ich weiß zwar nicht viel über Tänzer und Tanzaufführungen, aber solche Proben einen Tag vor der Premiere stelle ich mir recht intensiv vor. Dennoch fährt Herr Alsina am Nachmittag durch die halbe Stadt zu einem Reisebüro in Charlottenburg und nimmt persönlich diese Umbuchung vor. Warum macht er das nicht einfach per Telefon? Er spricht ja sehr gut Deutsch.

A: Woher soll ich das wissen?

F: Ich will es Ihnen sagen. Weil er eine Gebühr bezahlen musste. Und warum musste er eine Gebühr bezahlen? Weil die Umbuchungsfrist höchst knapp war, nur zwei Tage. Ursprünglich wäre er am Freitag, dem 26. November, zurückgeflogen. Warum wollte er plötzlich unbedingt zwei Tage früher zurück? Und sehen Sie, jetzt wird es richtig interessant. Denn was denken Sie, was wir in Herrn Alsinas Reisebüro außerdem noch herausgefunden haben?

 

Es war erstaunlich. Obwohl er überhaupt keine Anzeige erstattet hatte, war sorgfältig ermittelt worden. Die waren recht genau über Damián Alsinas letzte Tage und Stunden in Berlin informiert. Ob sie ihn selbst genauso gründlich durchleuchtet hatten?

 

A: Ich höre.

F: Am 15. November hatte Herr Alsina versucht, seinen Rückflug um einige Wochen zu verschieben. Die Angestellte dort erinnerte sich sogar an ihn, weil sie alles versucht hatte, um die Visumfrist mit einem späteren Rückflug in Einklang zu bringen. Aber das ging nicht, weil ab Mitte November die Flüge nach Buenos Aires knapp sind. Wie gesagt, am Montag, dem 15., wollte er seinen Aufenthalt um mehrere Wochen verlängern, am Donnerstag, dem 18. November, also am Tag nach diesem Abendessen, setzte er plötzlich alles daran, ihn um zwei Tage zu verkürzen, und bezahlte sogar den hohen Betrag für eine Umbuchung in die Business-Class, weil anderweitig nichts zu bekommen war. Nehmen wir nun einmal an, Herr Alsina wusste von den Plänen Ihrer Tochter, nach Braunschweig zu fahren – und ich bin mir ziemlich sicher, dass er das wusste –, dann wird die Dringlichkeit dieser Umbuchung auf einmal verdächtig. Es war der ideale Zeitpunkt, um Sie in einen Hinterhalt zu locken. Wenn ich Ihre Tochter sprechen könnte, würde ich sie natürlich fragen, ob sie Damián gegenüber erwähnt hatte, dass sie bei dem Umzug nach Braunschweig ohne Ihr Wissen mitmachen wollte. Gründe kann man sich ja genügend vorstellen. Eine Ballett-Tänzerin soll ja wohl alles andere machen als Kisten schleppen.

A: Sie haben eine rege Fantasie, ich muss schon sagen …

F: Das gehört zu meinem Beruf. Der Dienstag war der einzige Abend, an dem er Sie in diese Falle locken konnte. Das Warum ist deshalb natürlich noch immer nicht beantwortet. Aber das Wie ist schon sehr viel deutlicher geworden. Aus irgendeinem Grunde hat Herr Alsina am Donnerstag, dem 18. November, beschlossen, den Vater seiner Freundin in einen Hinterhalt zu locken, auf einen Stuhl zu fesseln, kein Wort mit ihm zu sprechen, ihn hilflos und in potenzieller Lebensgefahr zurückzulassen und ohne eine Erklärung zu verschwinden. Am 17. November, einen Tag zuvor also, hat Herr Alsina den Vater seiner Freundin zum ersten Mal in seinem Leben gesehen. Sie werden mir nachsehen, dass mir dieses Rätsel zu schaffen macht.

A: Ich sehe Ihnen alles nach, auch die Tatsache, dass wir damit wieder am Ausgangspunkt unseres Gesprächs angelangt sind. Es gibt nur zwei rationale Erklärungen.

F: Und die lauten?

A: Herr Alsina ist entweder verrückt, oder er hat mich mit jemandem verwechselt.

F: Sieht Ihre Tochter das auch so?

A: Meine Tochter steht unter einem schweren emotionalen Schock. Ich glaube nicht, dass sie klar denken kann.

F: Wissen Sie etwas über den Zwischenfall während der Aufführung am Sonntag?

 

Sie wussten wirklich alles.

 

A: Nichts Genaues. Soviel ich gehört habe, ist Herr Alsina im letzten Teil der Aufführung vom Programm abgewichen und hat das Finale verpatzt.

F: Finden Sie das nicht eigenartig?

A: Wenn Sie es genau wissen wollen: Es gibt an diesem Damián Alsina herzlich wenig, das ich nicht eigenartig finde.

F: Haben Sie mit Ihrer Tochter über die Aufführung gesprochen? Hatte sie eine Erklärung dafür, dass er eigenmächtig das Programm geändert hat?

A: Nein.

F: Ein weiteres Zeichen dafür, dass Herr Alsina vielleicht nicht ganz normal ist.

A: Möglich.

F: Sie hat das Theater nach diesem Auftritt recht überstürzt verlassen. Vorher gab es offenbar einen heftigen Streit. Wissen Sie darüber etwas?

A: Ich habe Giulietta erst wieder gesehen, als sie am Mittwochnachmittag in ihr Studio kam und mich dort vorfand, vor zwei Tagen also. Über das, was dem vorausging, sind Sie offenbar besser informiert als ich. Aber ehrlich gesagt sehe ich nicht, wo da eine Verbindung bestehen sollte. Anscheinend gab es zwischen Herrn Alsina und seinen Tanzkollegen erhebliche Spannungen. Aber das kann unmöglich mit mir zusammenhängen. Er muss mich mit jemandem verwechselt haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht.

F: Also gut, nehmen wir das einmal an. Hat er diesen Irrtum noch erkannt, bevor er das Land verließ?

A: Möglich. Aber was ändert das?

F: Ich versuche, logisch weiterzudenken. Herr Alsina traf mit seiner Aktion nicht nur Sie, sondern vor allem Ihre Tochter. Hatte er einen Groll gegen sie? Hatten die beiden Schwierigkeiten? Ergibt sich da vielleicht eine weitere Möglichkeit? Ging es bei der ganzen Geschichte vielleicht gar nicht in erster Linie um Sie, sondern um Ihre Tochter?

A: Oder meine Frau? Oder den Postboten? Ich habe allmählich genug von diesem Gespräch. Sie reden daher, als wären meine Tochter oder ich für diesen ganzen Irrsinn verantwortlich.

F: Nein. Das tut mir Leid, so habe ich das nicht gemeint.

A: Ich habe nichts mehr zu sagen.

 

Gesprächsende: 16:49

Das Protokoll der Befragung wurde dem Befragten zur Durchsicht vorgelegt und von diesem auf jeder Seite paraphiert.

Geschehen zu Berlin, den 26. November 1999

Unterzeichnet

 

Am Ende hatte er ein wenig die Kontrolle verloren.

Worauf hatte der Mann nur hinausgewollt? Battin hatte sich von den Fragen in die Ecke gedrängt gefühlt. Der Beamte hatte ein bestimmtes Ziel verfolgt, wollte irgendetwas aus ihm herauslocken. Aber was?

Wieso wusste die Polizei etwas von den eigenartigen Umständen der letzten Aufführung am Sonntagabend? Von Giuliettas Streit mit Damián? Er lebte mit der ganzen Tanzgruppe in einer Art Dauerkrieg. Bei Tango-Kompanien ging es offenbar genauso zu wie in Ballett-Ensembles. Und dieser Damián war eine Art Diva, ein frühreifer Alleskönner, der keine Gelegenheit ausließ, um seine Überlegenheit auszuspielen. Im letzten Teil der Show am Sonntagabend hatte es einen Zwischenfall gegeben, der Giulietta schockiert hatte. Damián war ohne Vorwarnung vom Programm abgewichen und hatte das ganze Ensemble blamiert. Aber Genaueres wusste Battin nicht darüber. Nur, dass es Streit gegeben hatte, heftigen Streit, sowohl zwischen den Tänzern als auch zwischen Damián und Giulietta, die sich offenbar auf die Seite der anderen geschlagen hatte.

Er unterschrieb energisch und warf geräuschvoll den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. Eine Thermoskanne neben ihm gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Battin drückte genervt auf den Kannendeckel und ließ die Luft entweichen. Dann erhob er sich, ließ den unbequemen Bürostuhl von seinen Kniekehlen abfedern und streckte sich. Was für ein miserables Büro, dachte er noch, bevor er die paar Schritte zur Tür ging, die in den Nebenraum führte. Sein Blick schweifte über die grün gestrichenen Wände, die ekelhaften Gummipflanzen in ihren blassblauen Übertöpfen am Fenster, die polizeipädagogischen Poster an den Wänden, die hier sicher eine ungeheure Wirkung entfalteten. Verbrechen lohnt nicht. Drogen, nein danke. Berufswunsch Polizist?

Die Sache war für ihn erledigt. Er musste sich jetzt vor allem um Giulietta kümmern. Giulietta! Das war jetzt das Wichtigste. Ihre Karriere. Diese Sache war vorbei. Bald würde sie das auch so sehen.

Er lenkte seinen Volvo aus der Tiefgarage des Bankhauses am Zoo und fädelte sich in den Verkehr ein. Dann nahm er sein Mobiltelefon und wählte Giuliettas Nummer, bekam jedoch nur den Anrufbeantworter. Dafür hatte Anita versucht, ihn anzurufen. Er drückte die Rückruftaste.

»Markus?«

»Ja. Ich bin auf dem Weg.«

»Ich sitze hier schon seit zwanzig Minuten. Wieso warst du nicht im Büro?«

»Ich war bei der Polizei. Ich bin in fünf Minuten da. Weißt du, wo Giulietta steckt?«

»Wo soll sie schon sein? In der Oper.«

»Aber es ist halb sechs, da ist sie längst fertig, und ihr Telefon ist abgeschaltet.«

»Dann will sie wohl ihre Ruhe. Ich erwarte dich. Bis gleich, ja?«

Er brauchte fast zwanzig Minuten durch den Feierabendverkehr bis ins Klinikum Steglitz. Als er in die Einfahrt einbiegen wollte, sprang Anita ihm fast vor die Kühlerhaube. Er bremste scharf.

»Das war knapp«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Was wollte die Polizei?«

»Erklärungen.«

Er gab ihr eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs. Anita ignorierte seine Frage, wie ihr Tag gewesen sei, und sagte:

»Du siehst ganz blass aus, Markus. Giulietta hat mir versprochen, heute Abend vorbeizukommen. Ich kann nicht glauben, dass sie keine Erklärung für das Verhalten dieses Mannes hat. Ich meine, sie war zwei Monate mit ihm zusammen. Aber bis dahin reden wir über etwas anderes, ja?«

Er starrte konzentriert durch die regennassen Scheiben. Erst am Mexikoplatz lichtete sich der Verkehr. Als sie wenige Minuten später den Kies der Hauseinfahrt unter den Reifen knirschen hörten, war es bereits stockdunkel. Anitas Golf stand in der Einfahrt. Im Haus brannte jedoch kein Licht.

»Sagtest du nicht, sie hätte dein Auto haben wollen?«, fragte er beim Aussteigen.

»Doch. Sie hat mich heute Morgen vor der Klinik abgesetzt. Wahrscheinlich ist sie oben. Schau, was ich hier habe. Entenbrust.« Sie hielt eine Einkaufstasche hoch. »Und Chardonnay. ’97er.«

Er lächelte sie an, ging auf sie zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. »Vielleicht wollte dieser Verrückte mich deshalb aus dem Verkehr ziehen, weil ich zwei so großartige Frauen um mich habe. Das hat er einfach nicht ausgehalten.«

»Bestimmt. Schließt du jetzt bitte auf.«

Sie betraten das Wohnzimmer und schalteten das Licht an. Anita sah es zuerst und runzelte fragend die Stirn. Battin folgte ihrem Blick und betrachtete verblüfft das aufgeschlagene Ringbuch auf der Couch neben dem Kamin. Dann ging er darauf zu, nahm es in die Hand, warf es wieder hin und rief laut: »Giulietta?«

Anita setzte die Einkaufstüte auf dem Tisch ab und griff ihrerseits nach dem Aktenordner. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, was um ihn herum vorging. Mit drei Sätzen war er bei der Treppe, die in die obere Etage führte. Er lief in den ersten Stock und stürmte in Giuliettas Zimmer. Sie benutzte es nur noch als Ablage, als Lagerraum für Dinge, die sie nicht mehr brauchte, jedoch nicht wegwerfen wollte. In ein paar Sekunden hatte er alles gesehen, was er sehen musste. Auf dem abgezogenen Bett lag ein aufgeschlagenes Telefonbuch: Botschaften und Konsulate. Ihr gelber Schalenkoffer auf dem Schrank war verschwunden. Er fluchte leise, machte kehrt und rannte die Treppe wieder hinunter. Anita stand am Wohnzimmertisch und blätterte langsam den braunen Ringordner durch, der die gesammelten Dokumente der Familie enthielt: Geburtsurkunden, Zeugnisse und vor allem: die Reisepässe. Der von Giulietta fehlte.

Battin ließ sich auf die Couch fallen und nahm seinen Kopf zwischen die Hände.

Anita machte ein paar hilflose Bewegungen.

»Markus?«

Er antwortete nicht.

»Markus. Was geht hier vor?«

Er hob den Kopf und schaute sie an. Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse platzen. Erst jetzt sah er, dass Anita überhaupt nicht mehr in den Ringordner schaute, sondern auf einen Zettel, den sie wie ein totes Insekt zwischen den Fingern hielt.

»Wir müssen die Polizei alarmieren«, sagte er leise. »Die müssen sie aufhalten.«

Anita starrte ihn an.

Was war mit ihrem Gesicht geschehen? Sie war kreidebleich. Er erhob sich und ging auf sie zu, aber sie wich vor ihm zurück.

»Markus, sag mir die Wahrheit«, sagte sie ruhig.

»Anita …«

»Was hast du ihr angetan?«

»Seid ihr alle verrückt geworden?«, fragte er fassungslos.

Jetzt hielt es ihn nicht mehr. Er ergriff Anita bei den Schultern, aber sie stieß ihn von sich.

»Fass mich nicht an«, zischte sie.

»Anita, mein Gott …«

»Was ist zwischen euch gewesen?«, fragte sie drohend.

Er trat ein paar Schritte zurück.

»Wovon redest du überhaupt?«, stieß er wütend hervor.

Er bekam Angst. Panische Angst. Seine Familie war verrückt geworden.

»Davon«, sagte sie, musterte ihn feindselig und warf den Zettel vor ihm auf den Tisch.

»Lies das! Und dann sag mir die Wahrheit.«

Er hob den Zettel auf und las.

Nein, es war überhaupt nichts vorbei. Die Worte flirrten vor seinen Augen wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm.

Giulietta,ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht.Frag deinen Vater.Er weiß alles. Verzeih mir und vergiss mich.Für immer.Damián

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1. Teil Escualo

So wie man Wasser findet, wenn man gräbt,so findet der Mensch überall das Unbegreifliche,bald früher, bald später.

 

Georg Christoph Lichtenberg

1

Giulietta versuchte, nicht zu zittern.

Sie blickte nervös um sich und musterte verstohlen die Gesichter der anderen Fluggäste im Terminal B des Züricher Flughafens. Ihr Magen fühlte sich an, als habe sie Säure geschluckt. Ihr Herz klopfte, und wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass sie gestern Mittag in Berlin zumindest äußerlich kerngesund in das Zubringerflugzeug gestiegen war, so hätte sie auf Fieber getippt.

Ihr Magen rumorte. Er wollte Nahrung, aber sie wusste, dass er sie nicht bei sich behalten würde. Es war ihr Tänzerinnenmagen. Sie hatte zehn Jahre lang Ballett studiert. Sie kannte ihren Körper und alle Schmerzen, deren er fähig war. Was sie indessen nicht kannte, war seine Fähigkeit, sich so sehr in einem einzigen Schmerz einzurichten. Es waren zweiundsiebzig Stunden vergangen, seit ihr Leben gegen diese unsichtbare Wand geknallt war, und noch immer litt sie an Brechreiz, Sodbrennen und Schüttelfrost. Und all dies vor allem, wenn sie an einen Namen dachte: Damián.

Aber auch das lange Warten hatte sie zermürbt. Gestern Nachmittag war sie hier in der Hoffnung angekommen, noch am selben Abend über Warteliste einen Platz zu bekommen. Man hatte ihr versichert, wenn es am Freitag nicht klappen würde, käme sie garantiert am Samstag mit. Sie hatte ihre letzten Bargeldreserven für eine weitgehend schlaflose Nacht im Flughafenhotel ausgegeben. Jetzt besaß sie noch ein paar Schweizer Franken und eine Kreditkarte, die ihr nicht gehörte. Aber das war gleichgültig. Sie hatte einen Platz in der Samstagsmaschine nach Buenos Aires. Das allein zählte.

Sie stand auf, ging zur Kaffeebar und verlangte eine Flasche stilles Wasser. Der Kellner musterte sie interessiert. Offenbar sah sie nicht ganz so schlecht aus, wie sie sich fühlte. Sie erwiderte seinen Blick nicht, schaute überhaupt niemandem ins Gesicht. Sie war daran gewöhnt, dass Männer sie anstarrten, und kümmerte sich nicht weiter darum. Aber sie hatte Furcht, erkannt zu werden. Das war natürlich albern. Wer sollte sie hier schon kennen? Und dennoch. Sie war auf der Flucht, auch wenn sie nicht recht wusste, wovor.

Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, schaute auf die Anzeigetafel, um das Signal zum Einsteigen im Blick zu haben, setzte die Wasserflasche an die Lippen und trank ein wenig. Der Gedanke an die vor ihr liegenden zwölf Stunden Flug erfüllte sie mit Unruhe, doch die größte Angst hatte sie davor, dass ihr Vater hier auftauchen würde. Es war natürlich völlig unwahrscheinlich. Nein, es war unmöglich. Er konnte nicht wissen, auf welchem europäischen Flughafen sie saß, um einen Anschlussflug nach Buenos Aires zu nehmen. Sie könnte überall sein, in London, Madrid oder Amsterdam. Er konnte nicht weg aus Berlin. Es war das Hauptstadtjahr. Er arbeitete seit Monaten täglich zwölf bis vierzehn Stunden, um dieses Sicherheitskonzept fertig zu stellen. Er konnte jetzt nicht ausfallen. Das ging nicht. Jedenfalls nicht gleich.

Konnte man feststellen, wer wann wo welches Flugzeug nahm? Die Polizei vermochte das sicher. Aber dazu müsste man sie zur Fahndung ausschreiben. Und das durfte die Polizei wohl nur, wenn sie etwas verbrochen hätte. Aber sie hatte nichts verbrochen. Sie war ein erwachsener Mensch von neunzehn Jahren. Niemand hatte das Recht, sie polizeilich suchen zu lassen. Auch ihre Eltern nicht. Oder vielleicht doch?

Sie hielt nervös nach allem Ausschau, was irgendwie einer Uniform ähnelte. Aber niemand behelligte sie. Die Menschen um sie herum kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, blätterten gelangweilt in Zeitschriften oder vertrieben sich die Zeit mit Duty-free-Einkäufen. Hier und da tippte ein Geschäftsreisender auf seinem Laptop herum oder spielte mit seinem Mobiltelefon. Giulietta schloss die Augen und atmete tief und langsam. Das Wasser tat ihr gut. Sie würde schon ein wenig Ruhe finden, wenn sie nur erst in diesem Flugzeug säße. Jeder Kilometer, der sie mehr in Damiáns Nähe brachte, würde sie ruhiger werden lassen. Es gab nur dieses eine Ziel. Sie würde ihn finden, und alles würde sich klären. Es war undenkbar, dass es für sein Verhalten keine Erklärung gab. Und unabhängig von jeder Erklärung war ihre Liebe, die über alles erhaben war.

Ein vorübergehendes älteres Paar unterhielt sich auf Spanisch. Giulietta verstand die Sprache nicht, aber allein der Tonfall, der Singsang schob einen Eiskeil durch ihre Eingeweide. Vor allem die Stimme der Frau traf sie hart und heimtückisch. Sie sprach genauso wie Nieves, Damiáns Tanzpartnerin. In dem ganzen Durcheinander der letzten Tage nach der Vorstellung hatte Giulietta überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Nieves. Schnee. Ein solch schöner Name für die gehasste Frau. Ob sie noch in Berlin geblieben war? Gab es hier vielleicht einen Zusammenhang? Steckte sie hinter diesem Rätsel?

Vierzig Minuten bis zum Einstieg. Morgen früh um 11 Uhr Ortszeit würde sie in Buenos Aires landen. Sie hatte weder eine konkrete Vorstellung davon, wo das war, noch die leiseste Ahnung, was für ein Land sie betreten würde. Aber das war völlig gleichgültig. Sie wäre auch nach Tokio oder Dakar geflogen. Damián war in Buenos Aires. Alles andere war unwichtig.

Sie würde vom Flughafen in die Stadt fahren und den Taxifahrer bitten, sie in der Stadtmitte in der nächstbesten Tangobar abzusetzen. Dann würde sie alle dort auftauchenden Tanzgäste fragen, wo sie Damián finden könnte. Er war einer der bekanntesten Tänzer der Stadt. Er war ein Star. Mit Sicherheit wusste jemand, wo er wohnte. Im Ballett war das ja auch so. Jeder kannte jeden. Ballett war eine kleine Welt. Mit dem Tango wäre es nicht anders.

Dann würde sie seine Straße, sein Haus aufsuchen, die Treppe hinaufgehen bis vor seine Tür, sie würde klingeln, und er würde öffnen. Vielleicht würde er nicht öffnen. Vielleicht wäre er nicht da. Wer weiß? Möglicherweise hatte er eine Verabredung oder ein Probe irgendwo. Dann würde sie vor seiner Tür warten, oder eben auf der Treppe. Sie würde dort sitzen und sich nicht von der Stelle rühren, auf jedes Geräusch achten, das durch das Treppenhaus zu ihr hinauf käme. Sie würde sein Lieblingsparfüm aufgelegt haben, und der Duft würde ihr voraus- und ihm entgegeneilen. Noch bevor er sie sehen würde, wüsste er bereits, dass sie gekommen war, dass sie auf ihn wartete, dass sie um die halbe Welt gereist war, damit er sie in seine Arme nahm, ganz egal, was in Berlin geschehen war, denn was zuvor geschehen war, war so viel wichtiger, so viel einmaliger, so viel unerhörter, dass dieser seltsame Vorfall gar keinen wirklichen Einfluss darauf haben konnte.

Tränen schossen ihr in die Augen, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie durfte jetzt nicht daran denken, wie es wäre, ihn wieder zu sehen. Zwölf Stunden Flug. Dann möglicherweise ein ganzer Tag, bis sie ihn gefunden hatte. Und wenn sie ihn nicht fand? Er war nach Buenos Aires geflogen. Die Polizei hatte dies festgestellt. Aber war er auch dort geblieben? Er war vorgestern dort angekommen, am Donnerstagmorgen. Sie würde erst am Sonntag eintreffen. Drei Tage später. Nein, er wäre sicher noch in der Stadt. Er musste in der Stadt sein. Wo sollte er denn hingehen? Giulietta wusste, dass es Dutzende von Möglichkeiten gab. Aber was auch immer geschah, sie würde bleiben, bis sie ihn gefunden hätte.

Sie erhob sich und ging in den Toilettenraum. Sie schaute ihr Gesicht kaum an, als sie vor den Spiegel trat, wusch es nur mehrmals mit kaltem Wasser ab und ließ die Tropfen einfach herunterrollen. So sah man wenigstens nicht, dass sie noch immer weinte. Erst nach einigen weiteren Minuten war der Anfall plötzlich vorüber. Sie putzte sich die Nase, rieb sich das Gesicht trocken, noch immer bemüht, sich so wenig wie möglich zu betrachten. Denn alles, was sie dort sah, tat ihr weh. Weil er jeder Einzelheit ihres Gesichtes eine eigene Liebeserklärung gemacht hatte. Ihre unteren Augenlider hatten ihn fasziniert, weil sie waagrecht waren. Das sei sehr selten, hatte er gesagt.

Selbst ihr eigenes Gesicht erinnerte sie nur an ihn.

Sie schulterte ihre Reisetasche und begab sich auf einen Rundgang durch die Abfertigungshalle. Bilder der letzten zwei Tage schossen ihr durch den Kopf. Das Gespräch mit Frau Ballestieri, der Ballett-Direktorin der Staatsoper, am Donnerstagabend nach den Proben. Der eisige Blick, als Giulietta ihr Anliegen vorgetragen hatte. Eine Hospitantin, die um Urlaub bat? Nach so kurzer Zeit im Ensemble? Ausgerechnet jetzt, mitten in der Spielzeit? Wo gab es denn so etwas? Sie könnte sich ja gerne wieder abmelden. Es gäbe genügend Tänzerinnen, die von ihrer Stelle träumten. Giulietta hatte erst ein wenig gelogen, etwas von einer Verletzung gestammelt, aber die Frau hatte sofort gemerkt, dass ihre Geschichte nicht stimmte. Dann hatte sie die Wahrheit erzählt. Die Wahrheit? Giulietta wusste nicht, was sich in Wahrheit zwischen Damián und ihrem Vater abgespielt hatte. Und wie sollte sie dieser Frau erklären, was geschehen war? Sie versuchte es, bruchstückhaft. Die Frau hörte ihr zu und stellte ein paar Verständnisfragen, die Giulietta nicht beantworten konnte. Giulietta versuchte, ihr klarzumachen, dass es keine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte war, die sie veranlasste, alles stehen und liegen zu lassen, sondern dass sie das Gefühl hatte, von ihren sämtlichen Sinnen betrogen zu werden. Ihre Welt war völlig aus dem Lot. Sie musste das Vertrauen in ihre Sinne zurückgewinnen dürfen. Entweder war die Welt verrückt geworden oder sie.

Frau Ballestieri hatte sie streng zurechtgewiesen. Ein Ballett-Ensemble sei wie ein Körper, den man nicht so einfach verlassen konnte. Ein Corps de Ballet. Was sie zu tun im Begriff sei, könnte ihre Karriere ruinieren, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wenn sich das herumspräche, würde niemand sie jemals wieder engagieren. Privatleben sei hier nicht zweit-, sondern drittrangig. Sie könne das nicht durchgehen lassen. Sie würde ihr damit auch gar keinen Gefallen tun. Sie könnte ihr nur so weit entgegenkommen, sie aus internen Gründen fristlos zu entlassen. Sie wäre ja noch in der Probezeit. Das käme schon vor und stellte sie nicht bloß. Die Stelle würde umgehend neu besetzt. Mehr könne sie nicht tun.