Die Verschwörung der Engel - Wolfram Fleischhauer - E-Book
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Die Verschwörung der Engel E-Book

Wolfram Fleischhauer

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Beschreibung

Mangarath zählt zu den größten Wundern Phantásiens. Es scheint, als schmücke und beschütze die Stadt der Klänge und Töne das Reich der Kindlichen Kaiserin. Die Stierwächter hatten Mangarath einst erbaut, um Phantásien vor dem Nichts zu retten. Doch nicht jeder lässt sich von ihrem Glanz blenden. Der junge Nadil ist ein Schmetterlinger. Als solcher bemalt er die Flügel der Schmetterlinge von Phantásien mit Sternenstaub. Um selbigen zu kaufen, reist Meister Toralon zu den Sternputzern von Mangarath. Nadil und einige Freunde begleiten ihn. Im Gegensatz zu den Gefährten sucht Nadil in der Stadt keine Zerstreuung. Er sucht seinen Großvater. Der alte Saru ist in Mangarath verschwunden. Deshalb traut Nadil nicht dem Wohlklang und dem schönen Schein der Stadt. Sie birgt irgendein düsteres Geheimnis. Warum sonst haben die Stierwächter das Viertel der Sternputzer abgeschottet? Was bedeuten die rätselhaften Lichter, die immer häufiger den Himmel über der Stadt erhellen? Unversehens gerät Nadil in eine Verschwörung, die ganz Phantásien bedroht. Und sein Großvater scheint darin verstrickt zu sein. Gemeinsam mit seinem Freund Piri macht er sich auf die Reise nach Silandor. Es heißt, von dort kam einst das Nichts ins Reich der Kindlichen Kaiserin. Wenn das stimmt, welche dunkle Macht erwartet sie dann an dem geheimnisumwitterten Ort? »... aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Sechs deutsche Autoren haben sich diesem bekannten Satz aus Michael Endes »Die unendliche Geschichte« angenommen. In der Tradition von Michael Ende unternehmen sie in der Reihe »Die Legenden von Phantásien« spannende Entdeckungsreisen in die Welt der Phantasie: Ralf Isau, Tanja Kinkel, Ulrike Schweikert, Wolfram Fleischhauer, Peter Freund und Peter Dempf erzählen die aufregenden Geschichten eines grenzenlosen Reiches.

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Wolfram Fleischhauer

Die Verschwörung der Engel

Die Legenden von Phantásien

Roman

Für Simon, unseren kleinen Unruhewinzer

Prolog

Sie kauerten auf dem Grat und blickten mit versteinerten Gesichtern in die Ebene von Sirinn-Elial hinab. Sie hatten die ganze Nacht hier gewartet. Niemand sprach ein Wort. Es gab nichts mehr zu sagen. Es gab nur die Ebene von Sirinn-Elial und die unglaublichen Gerüchte, die ihnen in den letzten Tagen zu Ohren gekommen waren.

Aratron ließ seine übermüdeten Augen über die schneebedeckten Berge auf der anderen Seite der Ebene schweifen. Das Gebirge dort hatte noch gar keinen Namen. Jenseits von Sirinn-Elial war noch keiner von ihnen gewesen.

Unter normalen Umständen wären sie abgestiegen, hätten die Ebene durchquert, am Fuß des Gebirges die übliche Zeremonie abgehalten und dann den neuen Landstrich für Phantásien in Besitz genommen. Sie hätten Späher angefordert, einige treu ergebene Cherubim mit ihren Abteilungen wären zu ihrer Unterstützung angerückt, um die ersten Vorposten zu befestigen und von da aus Stück für Stück diesen noch völlig unbekannten Teil Phantásiens zu erschließen. Doch diesmal war alles ganz anders.

Aratron überprüfte, ob seine Gruppe vollständig war. Aber natürlich waren seine Gefährten noch alle da. Wenigstens zwischen ihnen galt weiterhin das alte Gesetz. Die Cherubim Bethor, Phaleg und Hagith kontrollierten die südliche Flanke. Die Sarim Ophiel, Phul und Och hatten sich in nördlicher Richtung sogar noch ein Stück weiter auf dem Grat vorgewagt und konnten von ihrer Position aus nicht nur das nördliche Ende der Ebene von Sirinn-Elial sehen, sondern sogar die verkohlten Reste der Zinnen von Al-Sirinn. Die arglosen Höhenengel von Al-Sirinn, die Beschützer der Windrichtungen, waren schon vor einigen Wochen vernichtet worden. Sie hatten es erst gestern erfahren. Auch die Nachrichten bewegten sich langsamer als früher. Nicht nur die Engelheere.

Niemand wusste, warum diese Überfälle geschahen. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die Höhenengel von Al-Sirinn zu vernichten? Aratron und seine Gefährten blickten auf die dunkle Ebene hinab. Ein eisiger Wind strich über sie hinweg und zerrte an ihren goldenen Haaren, hoch aufgerichteten Flügeln und silbrigen Mänteln. Die äußere Kälte spürten sie nicht. Gleichwohl fröstelten sie. Denn vor ihren Augen nahm plötzlich etwas Gestalt an, das nichts Gutes bedeuten konnte. Hagith hatte es zuerst gesehen und deutete auf die Stelle weit unter ihnen hin. Aratron musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was dort unten vor sich ging. Es hatte weit hinten in der Ebene von Sirinn-Elial begonnen. Das Morgenlicht hatte die Wiesen dort gerade erst in ein feines, zartes Grün getaucht. Doch plötzlich schlängelte sich eine dunkle Linie durch das Gras. Langsam, aber stetig verschwand das Grün und wich einem schmutzigen Grau. Kurz darauf kam die Linie zum Stillstand.

Farbenfresser, dachte Aratron grimmig und wünschte sich, er könnte sofort ein Heer von Cherubim dorthin schicken, um dieser widerlichen Pest Einhalt zu gebieten. Aber gleichzeitig wusste er, dass es nicht klug wäre, jetzt anzugreifen. Ihr Gegner war ihm noch ein Rätsel. Sie hatten keinerlei Anhaltspunkte, was dort vor sich ging. Und das behagte ihm nicht. Nein, er wollte erst beobachten. Mehr konnten sie gegenwärtig nicht tun. Nicht einmal gegen diese feigen Farbenfresser.

Phaleg machte ihm ein Zeichen. Aratron schaute in die gewiesene Richtung. Ach, wenn er bisher noch gehofft hatte, dass alle Gerüchte nur Übertreibungen waren, so war diese Zuversicht nun mit einem Schlag dahin. Er hielt den Atem an und krallte sich so fest an den Felsen, dass das scharfe Gestein fast in seine weiche weiße Haut schnitt. Doch Aratron achtete nicht auf den Schmerz. Er war viel zu beschäftigt damit, sich zu überlegen, wie es zu dem Aufmarsch dort unten hatte kommen können. In aller Heimlichkeit hatten sie sich gesammelt. Es war nicht ihre Gestalt, die ihn so erschreckte. Es war ihre Zahl! Warum waren es so viele? Wie konnte das sein? Die ganze Ebene schien sich mit ihnen füllen zu wollen. Ja, war Sirinn-Elial plötzlich ein monströser Schoß geworden, der unablässig Iblisse ausspie? Allein die heimtückischen Bewegungen der tänzelnden Ungeheuer ließen Aratron zusammenzucken.

Wieder kniff er die Augen zusammen. Jetzt sah er alles aus einer größeren Nähe. Wie sich ihre geschmeidigen Leiber in dem Gewimmel umeinanderschlangen! Einmal war er Zeuge geworden, wie solch ein Iblis einen Seraph gerissen hatte. Die Bilder würden ihn nie wieder verlassen: das angstverzerrte Gesicht des Seraphen, der dem Iblis trotz des langen Kampfes allmählich unterlegen war. Was sollte ein Seraph alleine gegen diese schrecklichen Iblisse schon ausrichten. Das Beste war, sie einfach zu meiden. Wie bei so vielen Geschöpfen Phantásiens war völlig rätselhaft, woher sie überhaupt kamen. Aus welchem dunklen, grässlichen Loch krochen diese Kreaturen? Und warum? Wozu? Und wenn sie schon unbedingt existieren mussten, warum blieben sie dann nicht dort, wo sie herkamen: in den unzugänglichen, unerforschten Teilen von Phantásien, wo sie keinen Schaden anrichten konnten? Aber es war müßig, jetzt über solche Fragen nachzudenken. Dort unten sammelten sie sich. Und dass sie sich dort sammelten, konnte nur bedeuten, dass sie keinesfalls vorhatten, jenseits von Sirinn-Elial zu verbleiben. Und das allein zählte jetzt. Er mochte noch so lange darüber nachdenken, woher diese Ungeheuer kamen; die viel drängendere Frage war, was sie hier wollten und wie er verhindern sollte, dass sie über diesen Grat gekrochen kamen. Aber Aratron wusste keine Antwort darauf.

»Aratron, was ist mit dir?«, hörte er eine Stimme neben sich. Es war Phaleg, der ihn jetzt glücklicherweise von seinen schrecklichen Erinnerungen ablenkte und in die Gegenwart zurückholte.

»Nichts«, log er und schaute seinen Freund wohlwollend an. Aber nicht einmal der kriegserprobte Phaleg und seine Heere konnten ihn jetzt beruhigen. Irgendwo weit hinter ihnen lagerten sie und warteten auf ihre Befehle. Doch was sollte er nur tun? Sollte er sie wirklich gegen diese Ungeheuer losschicken, ohne zu wissen, wo sie ihren Ursprung hatten? »Was denkst du, wie viele werden es sein?«

Phaleg ließ seinen Blick über die Ebene wandern und seine Mundwinkel zuckten vor Ekel. »Wenn ein Iblis drei von uns vernichten kann, so lauert dort unten der zehntausendfache Tod auf uns«, sagte er grimmig. »Aber sieh, dort ist … er.«

Aratron kniff die Augen noch enger zusammen, damit er weitere Einzelheiten erkennen konnte: die glänzenden, irren Augen dieser Ausgeburten der Hölle, ihr geschmeidiges Fell, ihre gezackten Zähne, ihre messerscharfen Klauen. Doch vor allem sah er ihn: Forcas!

Phaleg entfuhr ein unterdrückter Fluch in der Engelsprache. »Nemis tuu-r caphisod!«

Aratron erwiderte nichts. Forcas, einer der mächtigsten Thronengel, hatte sich tatsächlich auf die Seite der Dunkelheit geschlagen. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit. Forcas hatte das Licht verraten. Er war ein Dämon geworden. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, er hätte es niemals geglaubt.

»Geh zu den anderen und sag ihnen, dass wir uns zurückziehen, um die Lage zu besprechen«, flüsterte Aratron. Phaleg nickte und stieß sich rückwärts vom Felsen ab. Aratron sah ihm hinterher, wie er ein ganzes Stück in den Abgrund hinunterstürzte, bis er genügend Geschwindigkeit gewonnen hatte. Er sah zu, wie Phaleg seine beiden Segelflügel öffnete, die Manövrierschwingen quer stellte und zielsicher bei Bethor und Hagith landete. Was für ein großartiger Flieger Phaleg doch war, dachte Aratron stolz.

Aber schon im nächsten Augenblick wurde seine Seele wieder schwer vor Sorgen. Was geschah nur in Phantásien? Warum diese Überfälle? Und woher kamen all diese Ungeheuer? Forcas war übergelaufen. Nun gut, letztlich war kein Engel dagegen gefeit, sich zu irren und zu verirren. Die Vergangenheit war voll von Beispielen. Aratron erinnerte sich jetzt wieder daran, welchen Hass Forcas immer in sich getragen hatte. Forcas hatte Phantásien von Anfang an verflucht. Ja, um ein Haar wäre es ihm sogar gelungen, die Erschaffung Phantásiens zu vereiteln. Doch am Ende hatte Aratron sich durchgesetzt. Und Forcas war verschwunden. Insofern hätte er eigentlich sofort an Forcas denken sollen, als die ersten Angriffe geschahen. Aber diese alte Auseinandersetzung war so lange her. Er hatte Forcas einfach vergessen gehabt und bis vor wenigen Augenblicken nie mehr an ihn gedacht. Und jetzt war Forcas auferstanden und mit ihm ein riesenhaftes Heer der entsetzlichsten Bestien, die Phantásien jemals heimgesucht hatten.

Aratron wandte den Blick von Sirinn-Elial ab und schaute in die Richtung, aus der sie gestern gekommen waren. Schneebedeckte Berggipfel säumten dort den Horizont. Hinter diesen Bergen standen ihre Heere, und dahinter begann das Land, das zu schützen ihre Aufgabe war: Phantásien.

Er stieß sich lautlos vom Felsen ab und folgte seinen Gefährten, die bereits an einer steil aufragenden Felswand vorübersegelten. Kurz darauf hatten die Engel eine versteckte Schlucht erreicht und versammelten sich dort um Aratron.

»Ihr habt mit eigenen Augen gesehen, dass Forcas in Sirinn-Elial ein Heer von Iblissen zusammenzieht«, begann er. »Da wir nicht wissen, wie zahlreich sie sind und was sie vorhaben, halte ich es nicht für klug, sie anzugreifen.«

Phaleg unterbrach ihn. »Aratron, sie haben Al-Sirinn vernichtet. Willst du das ungesühnt lassen?« Der kräftige Cherub konnte seine Entrüstung nur mit Mühe zügeln. Auch Bethor und Hagith, die anderen beiden Cherubim, knurrten zustimmend, während die Sarim Och, Ophiel und Phul unsicher zu Boden schauten.

Aratron blickte von einem zum anderen. Es war immer das gleiche Bild. Die kriegerisch gestimmten Cherubim konnten es kaum erwarten, sich mit ihren Flammenschwertern auch noch dem übermächtigsten Gegner entgegenzuwerfen. Ein Wink von ihm, und Phaleg, Bethor und Hagith würden sich mit ihren drei Heeren auf die Iblisse stürzen, auch auf die Gefahr hin, von ihnen vernichtet zu werden. Das imponierte ihm durchaus. Er selbst war ja auch ein Cherub und fühlte das Feuer der Rache in sich brennen. Doch das Urteil der besonnenen drei Sarim war ihm ebenso wichtig. Durch ein Nicken forderte er Och, Ophiel und Phul auf, sich gleichfalls zu äußern, aber die drei schüttelten nur stumm die Köpfe.

Phaleg verlor die Beherrschung. »Auf euch Sarim ist auch nie Verlass!«, rief er. »Nun, dann gehen wir eben allein. Nicht wahr?«

»Und gegen wen kämpfst du überhaupt?«, antwortete Och ruhig. »Tausende von Iblissen haben wir vor uns. Doch wie sind sie hierher gekommen? Was tun sie hier? Wie willst du sie besiegen, wenn du nicht weißt, wer sie lenkt und zu welchem Zweck?«

»Sie haben sämtliche Höhenengel von Al-Sirinn vernichtet«, entgegnete Bethor scharf. »Wie viele Erklärungen brauchst du, bevor du dich wehrst?«

»Wer seinen Feind nicht versteht«, erwiderte Och, »kann ihn nicht besiegen. Im Gegenteil: Möglicherweise tut er unwissentlich dessen Arbeit.«

Phaleg setzte zu einer Antwort an. Sein Kopf war bereits rot angelaufen vor Zorn. Aber Aratron kam ihm zuvor. »Lasst uns jetzt nicht streiten. Phaleg, du weißt so gut wie ich, dass es Irrsinn wäre, ein solches Heer von Iblissen anzugreifen. Selbst wenn wir dieses hier besiegen sollten, wartet hinter der nächsten Bergkuppe vielleicht schon das nächste auf uns. Och hat recht. Wir müssen versuchen zu verstehen, was eigentlich geschehen ist. Warum diese Überfälle? Wo ist Forcas all die Jahre gewesen? Warum ist er hier erschienen? Wer sind seine Verbündeten? Und was hat er vor?«

Die drei Sarim Och, Ophiel und Phul schlugen wieder die Augen nieder und sagten nichts. Die Cherubim indessen starrten Aratron vorwurfsvoll an. Phalegs, Bethors und Hagiths Schwingen hatten sich sogar aufgerichtet, als wollten die drei sich sogleich in die Schlacht stürzen. Doch ohne Aratrons Befehl würden sie das natürlich nicht tun.

»Wir wissen jetzt, dass die Gerüchte stimmen«, meldete sich Phul zu Wort. »Forcas hat die Iblisse um sich gesammelt. Und sicher ist er nicht allein. Er muss auch noch andere von uns gewonnen haben.«

»Das vermute ich auch«, stimmte Och ihm zu. »Aber ich verstehe nicht, wie er so schnell derart stark werden konnte. Die Ebene … Ich habe so etwas überhaupt noch nicht gesehen. Es wimmelt ja von diesen Bestien.«

Für einen Augenblick verstummten jetzt alle sieben Engel. Ja, sie mussten sich eingestehen, dass sie ratlos waren. Sie konnten sich vorerst nur zurückziehen. Aber was dann?

Aratron hörte plötzlich ein leises Geräusch. Er drehte sich um. Die anderen taten es ihm gleich. Das Geräusch kam aus der Richtung, wo hinter einem schneebedeckten Bergrücken die Engelheere lagerten. Waren sie etwa losmarschiert? Ohne einen Befehl? Nein, das war nicht vorstellbar. Doch offenbar war dort irgendetwas geschehen, denn jetzt konnten sie deutlich eine Gruppe von drei Sarim erkennen, die in großer Eile herangeflogen kamen.

»Was sind das für Sarim?«, fragte Aratron verärgert. »Wie können sie es wagen, ohne Marschbefehl hierher zu kommen?«

Aber weder Och noch Ophiel oder Phul wussten eine Antwort darauf. »Sie gehören nicht zu uns«, sagte Phul. »Ich habe sie noch nie gesehen.«

Die Cherubim zogen unverzüglich ihre Flammenschwerter und stellten sich schützend vor Aratron. Doch die heranfliegenden Sarim ließen sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen begannen sie laut zu rufen: »Samech caphiod Silandor, samech caphiod Silandril!«

Aratron erstarrte. Auch die anderen trauten ihren Ohren nicht. Was riefen diese Sarim? Silandor war gefallen? Das Silandril war in Gefahr? Im Nu stiegen jetzt alle sieben Engel auf und erwarteten die Ankömmlinge.

Mit einem lauten Rauschen kamen die drei Sarim vor ihnen in der Luft zum Stehen. Einer von ihnen ergriff ohne Umschweife das Wort: »Aratron, Silandor ist gefallen. Es ist entsetzlich. Sie haben Silandor.«

Der Engel wurde bleich. »Silandor«, stammelte er und schaute in die Runde. Aber die Gesichter der anderen spiegelten eine noch größere Fassungslosigkeit. Wie konnte das geschehen sein? »Wer hat das getan?«, fragte Aratron.

Doch er bekam keine Antwort auf seine Frage. Denn plötzlich geschah etwas Gespenstisches: Die drei Sarim stürzten erschöpft vor ihnen nieder. »Wir … wir haben alles gegeben, um noch bis hierher zu kommen«, stammelten sie, »… um euch zu warnen … Aber jetzt ist es zu spät … wir … vergehen, seht doch, dort, es gibt keine Rettung für uns. Das Silandril …«

Wie zur Bestätigung zog am Horizont ein violetter Schimmer herauf. Die drei Cherubim reagierten zuerst. Im Nu hatten sie ihre riesigen Schwingen geöffnet und schossen mit gezückten Schwertern ein gewaltiges Stück in den Himmel empor. Dort verharrten sie in ihrer vollen Größe und starrten der unheimlichen Bedrohung entgegen.

Aratron und die zurückgebliebenen Sarim schauten angstvoll zu ihnen hinauf. Welch ein prächtiges Bild, dachte Aratron noch. Aber er wusste auch, dass dies das Ende war. Dieser violette Schimmer … das konnte nur eines bedeuten: Silandor war tatsächlich zerstört worden. Wie um alles in der Welt hatte das geschehen können? Sollte Forcas …?

Doch nicht einmal diesen Gedanken konnte er noch zu Ende denken. Mit einem ungeheuerlichen Schrei stürzte Phaleg sich als Erster der Cherubim dem violetten Schimmer entgegen. Er blähte sich auf und schwang sein flammendes Schwert. Heller und heller leuchtete er, aber dann geschah es: Ein weißes, unerträglich gleißendes Licht umhüllte den mutigen Kämpfer und im nächsten Augenblick war er nicht mehr.

Aratron hielt es jetzt nicht länger. Er schwang sich auf, flog zu den Cherubim empor. Als Zweiter hatte sich bereits Hagith dem violetten Licht entgegengeworfen. Ein Zittern überlief ihn. Er zuckte, sammelte seine Kraft, um der furchtbaren, unbekannten Macht Widerstand zu bieten, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich zerriss es ihn. Und auch aus ihm floss ein gleißender Lichtschein, der sich in wenigen Augenblicken verlor. Auch Hagith gab es nun nicht mehr.

Aratron war endlich bei Bethor eingetroffen, der wie gelähmt seinen verschwundenen Gefährten hinterherschaute. »Es ist sinnlos«, stammelte er und fasste den Cherub bei der Schulter. »Lass uns fliehen, Bethor.«

Doch der alte Engelkrieger riss sich los. »Ohne Silandor sind wir verloren«, rief er zornig, »und du weißt es. Nun denn, so sei es!« Und damit schwang er sein Feuerschwert und stürzte dem violetten Licht entgegen. »Wir haben uns getäuscht, Aratron«, rief er noch. »Silandor mag verderben!«

Seine letzten Worte trafen Aratron wie Fausthiebe. »Nein, Bethor, komm zurück!«, schrie er verzweifelt.

Aber der Cherub flog unbeirrt seinem Schicksal entgegen. Und wie seine beiden Gefährten zerbarst er unter einem Lichtblitz von solcher Helligkeit, dass Aratron geblendet zu Boden taumelte. Doch was er dort sah, steigerte sein Entsetzen nur noch mehr: Was war nur mit den Sarim geschehen? Wirkte diese zerstörerische Kraft nun auch schon hier? Die Sarim wanden sich in furchtbaren Krämpfen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Flügel hingen kraftlos herunter und ein schreckliches Zucken hatte ihre Körper ergriffen. Und dann spürte Aratron selbst, wie alles ringsum ihn zu ersticken begann. Er konnte sich kaum noch bewegen. Seine Hände, seine Flügel versagten ihm den Dienst. Ja, es war, als bewegten sich von allen Seiten riesige Eisenplatten auf ihn zu, um ihn zu erdrücken.

Aratron wusste jetzt, was geschehen war. Silandor. Silandor. Immer wieder ging ihm dieses Wort durch den Kopf. Sie waren verloren. Wie hatte das geschehen können? Aber es war zu spät, um darüber nachzudenken. Er musste etwas unternehmen. Ein letzter Gedanke musste zurückbleiben. Das Geheimnis durfte nicht mit ihm verschwinden. Doch in welcher Form sollte er es zurücklassen? Und wer würde es verstehen? Und selbst wenn, war an Rettung dann überhaupt noch zu denken?

Mit einer letzten gewaltigen Anstrengung wandte Aratron seinen Blick von seinen sterbenden Freunden ab und schwang sich noch einmal in die Höhe. Gaya von Raginor!, dachte er. Sie würde das Geheimnis aufbewahren. Jemand musste es dort finden. Aratron spürte, dass er nur noch wenig Zeit hatte. Von allen Seiten erdrückte ihn jetzt diese zerstörerische Macht. Er wand sich, schlug mit den Flügeln, kämpfte sich in eine größere Höhe hinauf, wo sich seine ursprüngliche Gestalt noch einmal in ihrer ganzen Schönheit und Größe entfalten konnte. Ein letztes Mal schaute er auf seine toten Gefährten hinab. Dann nahm er sein Feuerschwert, hob es hoch und hieb sich selbst mit einem gewaltigen Streich in der Mitte entzwei.

Für einen kurzen Augenblick blieb die Welt stehen, angesichts dieser ungeheuerlichen Tat. Die beiden Engelhälften schwebten langsam auseinander und entließen ein kleines, unscheinbares Licht, das wie eine Sternschnuppe davonflog. Dann stürzte Aratrons letzte Gestalt allmählich auf den Boden hinab, erreichte diesen jedoch nicht mehr. Denn schon nach wenigen Augenblicken begann seine Form sich in Licht zu verwandeln, ein Licht, so hell und strahlend, wie es nur der größte aller Cherubim hervorbringen kann.

Erster Teil

1

Schon aus der Ferne war Mangarath eine Augenweide.

Am Fuß des riesenhaften Gebirges Balang-Gir, das sich über den ganzen Horizont erstreckte, lag es leuchtend und glitzernd wie ein kostbares Juwel. Bunte Lichtstrahlen schossen hier und da nach oben und malten leuchtende Farben auf den tiefblauen Abendhimmel. Gewaltige Glastürme, mit Abertausenden kleiner Lichter geschmückt, ragten allerorten empor, unterbrochen von kleineren, doch nicht minder zauberhaft erleuchteten Schlössern und Palästen, die jedes Kind in Phantásien bereits mit Namen kannte, bevor es sie jemals gesehen hatte. Was dort so mattblau schimmerte, das mussten die Mondsteinmosaike der Klangthermen sein. Und die gewaltige Arena, auf deren Zinnen alle Fahnen Phantásiens im Wind flatterten, das war die Heimstatt des Glückschors, wo jeder Besucher begrüßt und besungen wurde.

Das war also Mangarath, dachte Nadil und rieb sich geblendet die Augen, während Elfenauge, sein Riesenschmetterling, plötzlich mit dem Flügelschlag innehielt und auf die hell erleuchtete Stadt zusegelte. Und was man aus der Ferne sah, das war noch das wenigste, wie Nadil nur zu gut wusste. Denn Mangarath war vor allem ein Ort der Musik, der Töne und Klänge, so unvergleichlich, dass niemand zurückkehrte, ohne mit großen Augen davon zu berichten.

»Ist es nicht großartig«, hörte Nadil jetzt Piris Stimme neben sich. »Ich kann es kaum erwarten, in den Geräuschdom zu gehen.«

»Und ich will zuerst im Glückschor mitsingen«, rief Beliar dazwischen und warf ihr langes schwarzes Haar nach hinten.

»Gehen wir auch zu den Lärmsklaven?«, fragte Masía, die sich schon bei der bloßen Nennung dieser Fabelwesen zu gruseln schien.

»Papperlapapp!«, rief Meister Toralon und ließ seinen Zitronenfalter zwischen die aufgeregt durcheinanderredenden jungen Schmetterlinger segeln. »Es gibt doch überhaupt keine Lärmsklaven. Was redest du nur für dummes Zeug. Seht erst einmal zu, dass ihr sicher auf den Boden gelangt«, befahl er streng. »Dann wird sich schon zeigen, wo wir zuerst hingehen.«

Nadil sagte dazu nichts. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Mangarath, dachte er. Dort war Saru, sein Großvater, vor wenigen Wochen das letzte Mal gesehen worden. Und seither keine Nachricht von ihm. Nichts. Bisher wunderte sich noch niemand darüber, denn Saru war schon oft für lange Zeit irgendwo in Phantásien auf Reisen gewesen. »Mach dir nur keine Sorgen um ihn«, hatte seine Mutter gesagt. »Er kommt immer wieder zurück, er ist einfach ein unruhiger Geselle.« Aber Nadils Mutter wusste ja auch nicht, was Saru seinem Enkel vor seiner Abreise aus Nevisehr anvertraut hatte. Sie wusste nichts von den Vorgängen in Sirinn-Elial. Ja, es wusste überhaupt niemand davon. Das war ja das Unglück. Und er hatte Saru auch noch hoch und heilig versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden. Erst wenn er aus Mangarath zurück und wieder in Nevisehr sei, dann würde er ihm weitere Einzelheiten berichten. Doch Saru war aus Mangarath nicht zurückgekehrt. Er war einfach verschwunden.

Nadil vergewisserte sich, dass er fest im Sattel saß, und ließ seinen Blick über die Schwingen von Elfenauge gleiten. Er war stolz auf seinen Schmetterling, ja, er liebte ihn, Elfenauge war so schön geworden. Nadil war überhaupt stolz darauf, ein Schmetterlinger zu sein. Und endlich war er auch groß genug, um auf einem echten Riesenschmetterling aus Nevisehr durch die Luft zu reiten. »Erst wenn deine Schulter an die Schulter eines Purpurbüffels heranreicht, darfst du auf einen Schmetterling steigen«, hatte Saru ihm immer gesagt. Nun ja, jetzt war es so weit. Aber Saru konnte ihn nicht einmal fliegen sehen. Was für eine Enttäuschung! Die schön bemalten Flügel, für die er sich so angestrengt hatte. Es hatte Monate gedauert, denn so ein Flügel war ja zweimal so lang wie er selbst und fast ebenso breit. Aber es machte ihm große Freude, die Flügel dieser Riesenschmetterlinge mit Sternstaub zu bepudern und ein schönes Muster zu malen. Elfenauge war ihm ausnehmend gut gelungen. Er hatte sich allerdings auch besonders angestrengt, denn es war sein Meisterstück zum Abschluss seiner Gesellenzeit. Und zur Belohnung trug ihn Elfenauge jetzt nach Mangarath.

Piri gab seinem Pfauenauge die Sporen, flatterte übermütig vorneweg und rief: »Mangarath, wir kommen!« Dabei warf er vor Begeisterung sein Hütchen in die Luft. Nadil riss Elfenauge herum und fing Piris Hütchen geschickt auf.

»Schluss mit dem Unsinn«, brummte Meister Toralon, musste jedoch lächeln angesichts von Piris Übermut. Doch kurz darauf verging ihm das Schmunzeln.

»Auf nach Mangarath, auf nach Mangarath«, sangen Masía und Beliar im Chor. Und auch Nadil konnte jetzt nicht mehr an sich halten.

»Jippieee!«, entfuhr es ihm. Doch das gewagte Manöver von eben hatte Elfenauge aus dem Rhythmus gebracht. Er taumelte. Nadils rechter Fuß rutschte aus dem Zaumzeug und glitt … o Schreck, über den kunstvoll gepuderten Flügel.

Augenblicklich geschah etwas Furchtbares. Elfenauge sackte weg. »Nadil«, rief der Schmetterling, »was hast du getan? Ich kann nicht mehr steuern!«

Alles ging so schnell, dass Nadil später nicht einmal mehr wusste, wie es damit zugegangen war. Wäre Meister Toralon nicht sogleich zur Stelle gewesen, so wäre sicher ein Unglück geschehen. Elfenauge trudelte wie ein Herbstblatt durch die Luft. Nadil hielt sich mit aller Kraft fest, doch auf einmal fiel er aus dem Sattel, hielt sich zwar noch am Zaumzeug fest, aber auch er schlitterte jetzt noch über den rechten Flügel.

»Nadil, Nadil, was tust du?«, rief Elfenauge. »Der Sternstaub fliegt davon, hilf mir, hiiiilf mir!«

Doch alle Hilfe kam zu spät. Elfenauge schoss wie ein Stein hinab, auf seinem rechten Flügel den unglücklichen Nadil, der dort hin und her rutschte und verzweifelt versuchte nicht herunterzufallen.

»Hier, halte dich fest, du musst absteigen«, hörte er plötzlich Meister Toralons Stimme über sich.

»Ich kann ihn doch nicht allein lassen«, schluchzte Nadil. »Der arme Elfenauge, ich muss ihm doch helfen!«

»Du kannst ihm nur helfen, wenn du absteigst. Los, halte dich fest.«

Nadil wurde am Kragen gepackt und nach oben gezogen. Meister Toralon hatte erst gar nicht mehr gewartet, sondern ihn einfach ergreifen lassen und aus dem Sattel gelüpft. Jetzt hing er hoch oben in der Luft an den Beinen von Windjunge, Meister Toralons Schmetterling, und sah, wie Elfenauge unter ihm wieder ein wenig zu segeln begann. Er torkelte zwar, doch er fiel jetzt viel langsamer und taumelte halbwegs sicher zum Boden hinab.

Kurz darauf waren sie alle heil gelandet und lauschten mit gesenkten Köpfen Meister Toralons berechtigten Vorwürfen: »Und ihr wollt Schmetterlinger sein? Gibt es denn so etwas? Ihr bringt uns ja alle in Lebensgefahr!« Er ging dabei gewichtig auf und ab, während die Schmetterlinge etwas abseits standen und dem erschöpften Elfenauge Mut zusprachen.

»Er war einfach unvorsichtig«, hörte Nadil den Zitronenfalter Windjunge sagen. »Er hat es nicht böse gemeint. Sie sind noch jung und ungestüm. Das wird ihnen eine Lehre sein.«

»Mir auch«, piepste Elfenauge. »Ich weiß, dass es ein Versehen war, aber schau dir mal meine Flügel an. Wie soll ich denn überhaupt weiterkommen.«

»Meister Toralon hat bestimmt noch etwas Staub dabei«, tröstete ihn der Schmetterling Schneeia, der Masía befördert hatte.

»Aber die Farbe, die schöne Farbe ist dahin.«

Nadil krümmte sich innerlich vor Scham und Wut. Warum war er nur immer so ungestüm. Ach, immer ihm passierten solche Missgeschicke.

Meister Toralon hatte tatsächlich noch Sternstaub dabei und besserte Elfenauges Flügel notdürftig aus. Man sah es dem ramponierten Schmetterling an, dass er sich sehr schämte, so geflickt und ausgebessert in Mangarath ankommen zu müssen. Es war nämlich für einen Riesenschmetterling nicht nur eine Notwendigkeit, ein tadelloses Flügelkleid zu haben, sondern auch eine Frage der Ehre.

»Ich sehe ja aus wie eine Motte«, klagte Elfenauge, als Toralon fertig geworden war.

»Aber immerhin eine bunte Motte«, tröstete ihn Toralon. »In Mangarath lassen wir dich wieder herrichten. Dort bekommen wir so viel Sternstaub, wie wir wollen. Nadil repariert das alles, nicht wahr, Nadil?«

Der junge Schmetterlinger nickte beschämt. »Es tut mir so leid«, sagte Nadil, als er wieder aufsaß. »Ich hatte mir solche Mühe gegeben.«

»Ist schon gut«, erwiderte Elfenauge und schnäuzte sich noch schnell den Staub aus der Nase, bevor es wieder losging. »Ich weiß, dass du es nicht absichtlich getan hast. Sei jetzt aber vorsichtig, ja?«

Auch Piri, Masía und Beliar schauten kleinlaut drein und nahmen vorsichtig in ihren Sätteln Platz.

»So«, rief Meister Toralon, »das ist ja noch einmal gut gegangen. Und jetzt freuen wir uns auf Mangarath. Auf geht’s. In die Lüfte mit euch.«

2

Wenige Minuten später flatterten sie bereits wieder durch die warme Luft des Sommerabends, und es dauerte nicht lange, da hatten sie den unglücklichen Vorfall vergessen. Ein großartiges Panorama bot sich ihnen dar. Das Glitzer- und Farbenmeer vor ihren Augen wurde immer größer und wundervoller, und zudem vernahmen sie nun auch die ersten Töne und Melodien. Hingerissen lauschten sie. Welch herrliche Geräuschkulisse. Sie segelten langsam hinab, und je näher sie der Stadt kamen, desto voller und vielversprechender wurden die Klänge.

Nadil schloss zu Beliar auf. »Ist es nicht wundervoll«, sagte er und warf ihr einen scheuen Blick zu. Sie schaute kurz zu ihm hinüber und lächelte so, dass er fast wieder aus dem Sattel gefallen wäre. Wie schön sie aussah mit ihren wallenden schwarzen Haaren.

»Wundervoll?«, erwiderte sie spöttisch. Er wurde knallrot. Beliar grinste. Sie wusste natürlich, dass Nadil sie immer heimlich beobachtete und wohl ein wenig in sie verliebt war. Aber was bildete sich dieser komische Junge denn ein! Wie er schon aussah. Zugegeben, er hatte hübsche braune Augen und einen blonden, lockigen Haarschopf, der ihn sympathisch machte. Aber er schaute immer so versonnen und traurig drein. Und dann auch noch diese karierten Jacken und Westen, in die seine Eltern ihn steckten. Das waren doch Sachen wie für langweilige Erwachsene. Nadil war ihr einfach zu brav, zu gut erzogen. Ja, er wirkte auch oft so in sich gekehrt. Wie langweilig! Und die meiste Zeit saß er sowieso nur mit seinem Großvater herum und hing an dessen Lippen, wenn Saru von seinen Reisen erzählte. Dabei wusste doch jeder, dass der Großvater ein bisschen verrückt war. Nein, mit Nadil konnte man nicht viel anfangen. Er stellte zwar immer mal etwas an, aber eigentlich mehr aus Missgeschick. Ja, er war ein Tollpatsch, dachte sie, warf stolz ihre Mähne zurück und gab ihrem goldschimmernden Zigeunerfalter die Sporen.

Nadil schaute ihr wehmütig hinterher. So wie Beliar wollte er gern sein. Wild und frei. Er liebte dieses Mädchen über alles, aber es war hoffnungslos. Sie würde sich immer nur über ihn lustig machen.

»Mach dir nichts draus«, sagte Piri, der Szenen wie diese schon oft beobachtet hatte. »Sie ist ein ungezogenes Biest. Kümmere dich nicht um sie.«

Nadil erwiderte nichts. Er lächelte unsicher und schielte dann zu Masía hinüber. Aber Masía flog brav hinter Meister Toralon her und war bemüht, ihren Schneefalter auf Kurs zu halten.

»Warum ist sie nur so giftig?«, fragte er traurig.

»Weil sie dich ärgern will«, erwiderte Piri. »Mädchen sind so. Wenn man sie nicht beachtet, dann beklagen sie sich. Und wenn man sie beachtet, dann beklagen sie sich auch.«

»Masía ist nicht so«, entgegnete Nadil.

»Na, dann rede doch mit ihr«, sagte Piri und grinste.

Nadil runzelte die Stirn. Machte sein bester Freund sich jetzt auch noch über ihn lustig? Aber er hatte keine Lust, mit ihm zu streiten. Warum faszinierte Beliar ihn nur so, fragte er sich. Vielleicht weil sie all das hatte, wonach er sich sehnte? Vor allem Selbstvertrauen. Sie ließ sich nie etwas gefallen und war auch nie um eine Antwort verlegen. Außerdem fand er sie wirklich wunderschön mit ihrem schwarzen Haar und der feinen dunkelblauen Zeichnung auf ihrem hübschen Gesicht. Schmetterlinger bemalten nicht nur Schmetterlinge, sondern auch sich selbst. Und Beliars Mutter hatte ein ganz besonderes Talent dafür, das sie jedoch allein in den Dienst ihrer Tochter stellte. Viele waren neidisch auf Beliars schöne Gesichtsbemalung, und nicht wenige versuchten sie zu kopieren, was aber niemandem gelang. Nadil seufzte. Piri hatte recht. Beliar würde sich nie für ihn interessieren. Er war einfach langweilig.

Wieder schaute er zu Masía hinüber. Sie hatte noch nie versucht, Beliar nachzuahmen. Masía war Masía. Um sie war etwas Zeitloses. Aber vor allem war sie blass und schwächlich. Ihr blaues, glatt herunterhängendes Haar verlieh ihr zwar eine gewisse Eleganz, aber sie wirkte fast durchsichtig. Der stämmige Piri neckte sie gern, indem er ihr empfahl, zum Frühstück doch lieber Ölblumensaft zu trinken und nicht immer nur vom Morgentau zu nippen. Sie sehe ja schon selber bald wie ein Tautropfen aus. Aber sie erwiderte meist nur, sie wolle ja nicht wie er einen Bauch wie eine Öllampe bekommen.

»Achtung!«, rief jetzt Meister Toralon. Und schon waren sie am Boden. Elfenauge klappte sogleich seine geflickten Flügel hoch und blieb verschämt stehen, während Taublume, Goldling, Schneeia und Windjunge ihre prächtigen Schwingen noch ein paar Mal majestätisch auf und ab bewegten, bevor sie sie ebenfalls über ihren Körpern gegeneinander legten.

»Ist hier das Sternputzerviertel?«, fragte Nadil Meister Toralon.

»Nein, aber das Sternputzerviertel ist heutzutage ganz von Mangarath eingeschlossen. Deshalb müssen wir hier draußen landen, denn in der Stadt ist es zu eng für Riesenschmetterlinge. Sehr unpraktisch, aber nicht zu ändern.«

»Herzlich willkommen in Mangarath«, flötete eine Stimme. »Oh, welche Ehre, Schmetterlinger. Herzlich willkommen.«

Ein kleiner Flötenalb kam auf sie zugehopst und pfiff ihnen eine kurze Melodie. Der Wicht ging Nadil nur bis zur Kniescheibe, machte aber mit seinem Flötenschnabel einen gehörigen Lärm. »Welche Herberge, bitte?«, fragte er.

Meister Toralon verbeugte sich. »Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin Xapas, erste Empfangsflöte.«

»Angenehm. Ich bin Meister Toralon aus Nevisehr. Das sind meine Schülerinnen und Schüler. Man erwartet uns im Sternputzerviertel.«

»Hi?«, pfiff der Flötenalb. »Dort gibt es aber keine Herberge.«

»Ja, das macht aber nichts«, erwiderte Meister Toralon. »Wir wohnen bei Josian Pegario, unserem Sternstaublieferanten. Schmetterlinger steigen immer dort ab, das ist Ihnen ja wohl bekannt.«

Der Flötenalb zog die Augenbrauen zusammen, wobei ihm ein merkwürdiger, leiser Pfiff entglitt. »Ahem, es tut mir leid«, sagte er, »aber das muss ein Missverständnis sein. Besucher werden ausschließlich in den Klangherbergen untergebracht.«

»Durchaus«, sagte Meister Toralon. »Das weiß ich doch. Wir sind aber keine gewöhnlichen Besucher. Schauen Sie, das sind meine Meisterschüler, die gerade ihre Prüfung bestanden haben. Sie werden die nächsten Jahre des Öfteren hierherkommen, um Sternstaub abzuholen. Deshalb sollen sie Herrn Pegario und seine Sternputzer kennenlernen. Also bitte, Herr Xapas, pfeifen Sie uns doch eine Kutsche her. Wir sind müde von der langen Reise.«

Der Flötenalb rieb sich den Hinterkopf. »Aber … das geht nicht. Wissen Sie denn nicht, dass es eine neue Regel gibt?«

Meister Toralon stutzte. Nadil beobachtete seinen Lehrer aufmerksam. Er kannte Toralon nur zu gut. Widerspruch war ihm zuwider. Und in Gegenwart seiner Schüler von einer Empfangsflöte belehrt zu werden, das war eigentlich schon eine Provokation. Doch wundersamerweise lächelte Meister Toralon jetzt und sagte einfach:

»Ich kläre das, wenn wir am Sterntor eintreffen, ja? Nun holen Sie uns bitte eine Kutsche.« Und damit drehte er sich einfach um, ging zu seinem Zitronenfalter und machte Anstalten, seinen Koffer abzuladen. Der Flötenalb blieb noch einen Moment lang stehen, schaute dann grimmig die jungen Schmetterlinger an, die peinlich berührt dastanden, drehte sich um und stöckelte auf seinen dürren Beinchen davon.

»Was hat denn dieser Wichtigtuer?«, fragte Beliar.

»Flötenalbe sind einfach nervig«, meinte Piri und strich sich eine rote Haarsträhne aus der Stirn. »Ich hasse Flöten.«

Masía sagte nichts, sondern blickte dem Flötenalb nur verständnislos hinterher. Nadil schaute sich misstrauisch um. Ein seltsamer Empfang, dachte er und spürte eine nervöse Unruhe in sich aufsteigen. Aber die Sache würde sich bestimmt gleich aufklären.

Tatsächlich traf kurz darauf eine Kutsche ein. Zwei Flötenkutscher, das waren also Flötenalben, die als Kutscher arbeiteten, saßen auf dem Kutschbock. Gezogen wurde das Gefährt, das wie eine halbierte Pauke aussah, von zwei Brummlerchen. Nadil trat unwillkürlich einen Schritt zurück, denn diese Zugvögel, die deshalb so hießen, weil sie in ganz Phantásien eingesetzt wurden, um Lasten zu ziehen, waren ihm noch nie so ganz geheuer gewesen. Sie waren nämlich ganz schön groß und schwer und walzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.

»Einsteigen, bitte«, pfiffen die Kutscher.

Die fünf müden Reisenden stiegen ein. Xapas stand in einiger Entfernung und schaute unfreundlich zu ihnen herüber.

»Sie kümmern sich doch um die Schmetterlinge, nicht wahr?«, rief Toralon ihm noch zu.

»Selbstverständlich. Selbstverständlich«, flötete der Alb und verbeugte sich. »Einen schönen Aufenthalt in Mangarath.«

Dann entschwand er ihren Blicken.

3

Die Brummlerchen hoppelten los und machten ihrem Namen alle Ehre. Sie brummten. Aber das Gegrummel dieser immer schlecht gelaunten Vögel, die keine Lerchen sein und vor allem nicht zwitschern wollten, war nicht lange zu hören. Denn die Kutsche fuhr direkt auf das gewaltige Eingangstor von Mangarath zu und dahinter in die Arena des Jubelchors der Glückssänger hinein.

Es war wirklich eindrucksvoll. Selbst der kühlen Masía blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Ein riesiges Stadion wuchs vor ihren Augen empor und umschloss sie von allen Seiten. Alle Ränge waren gefüllt. Tausende und Abertausende von Phantásiern aus allen Ecken und Winkeln des Reichs waren dort versammelt und sangen wie aus einer Kehle. Alle trugen lange weiße Roben, und das sah schon lustig aus, denn was einem Purpurbüffeljäger Eleganz verlieh, wirkte bei einem Steinbeißer, der aussah, als habe man ihm ein Lätzchen umgebunden, eher komisch. Doch die Macht des Chorgesangs war überwältigend. Nur die Brummlerchen blieben unbeeindruckt und zogen die Kutsche rasch voran, sodass das Gefährt mit den Schmetterlingern schon bald die Arena hinter sich gelassen hatte.

»Wie schade«, rief Masía, »was für ein toller Chor!«

»Wir haben ja eine Woche Zeit«, beruhigte sie Meister Toralon. »Ihr könnt morgen den ganzen Tag dort mitsingen, wenn ihr wollt.«

Was für ein merkwürdiger Gesang, dachte Nadil. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, alles vergessen zu haben. Wo waren sie hier? Warum waren sie hergekommen? Aber die eigenartige Vergesslichkeit verflüchtigte sich gleich wieder. Außerdem wurde er jetzt durch die vielen Attraktionen abgelenkt, die ihren Weg säumten. Sie fuhren am Museum der Töne vorbei, an dessen Eingangstor viele Besucher auf Einlass warteten. Das Gebäude selbst verriet von außen wenig über seine sagenhafte Sammlung. Nadil und seine Gefährten starrten mit immer größer werdenden Augen auf die vorüberziehenden Sehenswürdigkeiten. Da schimmerte die lichtblaue Mosaikkuppel der Klangthermen. Gleich daneben wuchs der Geräuschdom steil in den Himmel hinauf. Durch die prächtigen Pfeiler und Streben hindurch konnte man in der Kuppel einige Besucher in der Luft schweben sehen. Ja, so ein Schwebeflug auf den unsichtbaren Klangwolken des Geräuschdoms war ein absolutes Muss bei jedem Besuch in Mangarath. So mancher Phantásier blieb zwei Tage dort, und andere wollten überhaupt nicht mehr herauskommen.

Zwischen dem Garten der säuselnden Blumen und dem Klapperwald, der direkt gegenüberlag, bogen sie in eine kleine Seitenstraße ein. Hier standen einige Herbergen, und vor einer davon hielten die Brummlerchen an.

Meister Toralons Gesicht verdunkelte sich. »Das ist doch nicht die Möglichkeit«, knurrte er. »He, Flötenkutscher. Wir wollen zum Sterntor.«

Aber die beiden machten keinerlei Anstalten weiterzufahren. »Befehl ist Befehl«, piepsten sie im Chor. »Uns wurde gesagt, wir sollten Sie ins Zischadin bringen.«

»Und ich sage Ihnen, wir wollen zum Sterntor!«, rief Toralon. »Geht das nicht in eure Holzschnäbel? Zum Flötentor … äh, zum Sterntor!« Er hatte sich aufgerichtet und staubte sogar ein wenig vor lauter Wut.

»Machen Sie hier nicht solch ein Theater!«

Wie aus dem Nichts standen plötzlich vier Stierwächter neben der Kutsche. Nadil durchfuhr ein gewaltiger Schreck. Sogar Beliar kauerte sich furchtsam zusammen.

»Wo kommen die denn her?«, flüsterte Piri, aber Masía gab ihm rasch einen Knuff.

»Sei still«, wisperte sie. »Das gibt bestimmt Ärger.«

Meister Toralon schaute sich erstaunt um. Dann stieg er einfach aus und trat vor den Stierwächter hin, der ihn angesprochen hatte. »Ehrwürdiger Wächter von Mangarath«, begann er feierlich und verbeugte sich nach Schmetterlinger-Art, indem er seine Arme auf dem Rücken kreuzte. »Ich wünsche lediglich, zu meinem Zielort gebracht zu werden, und diese Flöten hier verweigern mir die Weiterfahrt. Das ist alles.«

»Er will zum Sterntor«, protestierten die Flöten. »Zu den Sternputzern. Xapas hat uns aufgetragen, sie hier im Zischadin abzusetzen.«

»Zum Sterntor?«, brummte der Stierwächter.

Nadil konnte die Augen nicht von dem Wächter wenden. Bei allen Namen der Kindlichen Kaiserin: ein Wächter von Mangarath! Hier, keine Armeslänge von ihm entfernt. Und nicht nur einer. Nein, gleich vier davon! Die tapfersten Krieger Phantásiens. Die Bezwinger des Nichts. Die Retter der Welt und die Begründer Mangaraths. Er war fassungslos. Man sah nur ihre Köpfe, denn die hünenhaften Krieger waren in dunkle Umhänge gekleidet. Aber Nadil wusste aus vielen Erzählungen, welche unbändige Kraft in den schwarzen, muskelbepackten Körpern der Wächter von Mangarath ruhte. Nur ihre Köpfe ähnelten denen von Stieren. Ihre Körper waren von einem feinen, glänzenden schwarzen Fell bedeckt, das dem Fell eines Panthers glich. Doch ihre Gestalt war eigentlich die eines Zyklopen. Ja, es hieß, die Wächter von Mangarath seien in grauer Vorzeit von sterbenden Zyklopen erträumt worden. Aber sonst war kaum etwas über sie bekannt.

»Was wollen Sie dort?«, fragte der Stierwächter unfreundlich.

»Was … was wir dort wollen?« Meister Toralon schien nun endgültig die Fassung zu verlieren. »Also entschuldigen Sie mal. Seit undenklichen Zeiten kommen Schmetterlinger hierher, um Sternstaub zu holen. Das war schon so, bevor Mangarath überhaupt erbaut wurde. Wir wohnen immer bei Herrn Pegario, wenn wir das Sternputzerviertel besuchen. Würden Sie also bitte die Freundlichkeit haben …«

»Die Regeln haben sich geändert«, schnitt ihm der Wächter das Wort ab. »Sie wohnen hier im Zischadin und sonst nirgends. Wenn Sie Herrn Pegario sehen wollen, dann hier im Zischadin. Ich lasse ihn sogleich holen. Auf Wiedersehen.«

Er warf noch einen finsteren Blick auf die vier verschüchtert dasitzenden Kameraden, machte dann auf der Stelle kehrt und eilte mit seinen Begleitern die Straße hinab. Ihre schweren Hufe klapperten auf den Steinen, und ihre mächtigen Hörner ragten über die dunklen, breiten Hinterköpfe in die Luft.

»Na so was«, sagte Piri und wollte einen Scherz machen. Aber es fiel ihm keiner ein.

»Ist doch eigentlich egal, wo wir wohnen«, schlug Masía vor. »Oder?«

»Also, wie die sich aufspielen, hu, hu«, äffte Beliar den Anführer der Wächter nach. »Ich finde, ein Affenkopf würde denen besser stehen. He, schaut mal. Ein Wolkenschlucker.«

Piri und Masía sahen sich nach dem Wolkenschlucker um, der auf der anderen Straßenseite gerade eine Wolke verschluckte, die sich zu weit heruntergewagt hatte.

Doch Nadil konnte seine Augen nicht von Meister Toralon abwenden, der noch immer wie versteinert neben der Kutsche stand und den Wächtern hinterherschaute. »Es ist doch nicht schlimm«, sagte er vorsichtig. »Vielleicht gibt es bei den Sternputzern irgendein Problem. Wir können ja auch hier wohnen, oder?«

Toralon dreht sich zu ihm um und schaute ihn lange an. Aber er erwiderte nichts.

4

»Woher soll ich wissen, wo das Sterntor ist?«, sagte Beliar. »Ich war doch auch noch nie hier.«

»Vielleicht hat deine Mutter es dir ja erzählt«, entgegnete Nadil.

»Nein. Hat sie nicht.«

Sie saßen im Eingangsraum des Zischadins an einem Stalagmiten-Tisch und warteten auf die anderen. Um sie herum zischte und waberte es überall. Unter den Tischen stiegen manchmal kleine Dunstwölkchen empor, und Nadil hätte sich gewünscht, dass ein paar Wolkenschlucker hier vorbeikämen, denn der warme Dampf machte einen ja ganz nass. Wo kam denn dieser Dampf überhaupt her?, wunderte er sich und schaute nach unten. Aber dort sah er nur ein dickes, rostiges Eisengitter über einer kleinen Öffnung, hinter dem es stockdunkel war.

Beliar hatte den Vorfall von eben wohl schon vergessen und wartete ungeduldig darauf, dass sie endlich ihre Besichtigungstour beginnen würden. Sie hatte sich umgezogen und trug nun einen weißen Anzug mit auberginefarbenen Tupfen, den wohl ihre Mutter genäht hatte. Sie sah hinreißend aus. »Wo bleiben die anderen denn nur?«, fragte sie.

»Findest du es nicht komisch, dass wir hier wohnen müssen?«, bohrte Nadil weiter.

»Eigentlich finde ich nur dich komisch, Nadil«, sagte sie spitz. »Jetzt sind wir endlich in Mangarath und du willst unbedingt zu diesen Sternputzern. Ehrlich gesagt: Ich bin sogar froh, dass wir im Zischadin sind und nicht da draußen bei den langweiligen Staubsammlern. Hier ist es doch viel lustiger.«

Nadil schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen sagte er nur: »Beliar, wie kommt es eigentlich, dass du immer alles lächerlich machst? Du warst doch auch neugierig darauf, das Sternputzerdorf zu sehen. Und jetzt tust du so, als wäre es dir egal.«

Das saß. Offenbar hatte er einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Sie schnitt eine Grimasse. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie schroff, stand auf und ging an den Nachbartisch.

Im gleichen Moment betraten die vier Stierwächter die Herberge. Nadil duckte sich auf seinem Stuhl und betrachtete sie scheu. Sie führten einen Mann mit sich. Das musste Josian Pegario sein. Er war sehr hoch gewachsen, kaum kleiner als die Stierwächter, die allerdings viel stämmiger waren als der feingliedrige Sternputzer. Da Pegario ein goldenes Gewand trug, auf dem das Zeichen seiner Zunft aufgestickt war, hob er sich besonders von seinen dunklen Begleitern ab.

Plötzlich fiel Pegarios Blick auf Nadil, und sein Gesicht hellte sich auf. »Nadil. Nadil Maramor!«, rief er aus. Und bevor die Wächter noch reagieren konnten, glitt er zwischen ihnen hindurch und kam auf den jungen Schmetterlinger zu.

Nadil wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Der Mann kannte ihn? Er hatte ihn doch noch nie gesehen. Dennoch erhob er sich sogleich, denn einen so wichtigen Mann durfte er ja wohl nicht im Sitzen empfangen. Er warf Beliar einen unsicheren Blick zu, aber die betrachtete nur staunend die Szene.

»Lieber Nadil«, sagte Pegario. »Solch eine Freude, dich endlich kennenzulernen. Dein Großvater hat mir so viel von dir erzählt. Und diese Ähnlichkeit! Es ist unglaublich.«

»Danke … Herr Pegario«, stammelte Nadil. »Es ist auch für mich eine große Freude.«

»Ein Jammer, dass wir gegenwärtig keine Gäste aufnehmen können«, fuhr Pegario fort. »Wie gern hätte ich dich meiner Familie vorgestellt. Aber es wird ja nicht für lange sein, nicht wahr? Wo ist denn Meister Toralon abgeblieben?«

»Er ist noch oben mit den anderen«, mischte sich Beliar ein, die herangetreten war.

»Wer bist du denn? Nadil, willst du mir nicht deine Freundin vorstellen?«

»Ich heiße Beliar und bin nicht Nadils Freundin«, erwiderte sie mürrisch.

»Hm, nun ja.«

Nadil war schon wieder rot geworden. »Warum dürfen wir denn nicht bei Ihnen wohnen?«, fragte er schnell, um vom Thema abzulenken.

»Ach«, sagte Pegario mit einem kurzen Seitenblick zu den Wächtern, die sich in geringer Entfernung postiert hatten. »Das ist nur vorübergehend, eine Sicherheitsmaßnahme. Nächstes Mal holen wir das alles nach. Bis nachher.« Und plötzlich umarmte er Nadil einfach, küsste ihn auf beide Wangen, ging dann wieder zu den Wächtern und stieg mit ihnen die Treppe hinauf.

»Wer war denn das?«, fragte Beliar, nun wieder etwas versöhnlicher.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nadil. »Ich meine … es war wohl Herr Pegario, aber ich habe ihn noch nie vorher gesehen.«

»Aber er kennt wohl dich?«

»Nein, meinen Großvater.« Nadils Stimme belegte sich. »Du weißt ja, dass ich ihm sehr ähnlich sehe.«

Beliar zuckte mit den Schultern. Das Thema interessierte sie nicht weiter, und Nadil hatte keine Lust, ausgerechnet mit ihr das Verschwinden seines Großvaters zu erörtern.

Piri und Masía erschienen auf der Treppe und standen kurz darauf bei ihnen. Masías schönes blaues Haar war zu einer Haube hochgesteckt, auf die sie ein wenig Sternstaub gestreut hatte, der hell glitzerte. An jedem Zeh trug sie einen Ring und an den Armen mindestens ebenso viele Reife, die bei jeder Bewegung klapperten. Auch Piri hatte sich ein wenig herausgeputzt und trug auf seinem Hemd aus Schneeseide sogar einen Babyschmetterling, ein kleines Pfauenauge, das wie eine Fliege an seinem Kragen saß und dort bedächtig seine hübschen kleinen Flügel auf und ab bewegte. Nadil kam sich in seiner Nesselhose und der karierten Weste wieder einmal sehr altmodisch gekleidet vor. Ja, so ein Hemd aus Schneeseide hätte er auch gern gehabt. Aber seine Familie hätte sich das nicht leisten können, und außerdem gab es bei ihm zu Hause so etwas wie eine stille Übereinkunft, dass solche Äußerlichkeiten nicht wichtig seien und man darauf nichts geben solle. Nadil verstand das nicht. Wenn es angeblich nicht wichtig war, konnte man sich dann nicht ebenso gut ein wenig lustig anziehen? Aber seine Eltern hatten da sehr strenge Vorstellungen.

»Gehen wir?«, fragte Piri.

»Und Meister Toralon?«, wollte Beliar wissen.

»Er hat eine Besprechung mit diesem Herrn Pegario, der gerade gekommen ist«, sagte Masía. »Wir treffen ihn später wieder.«

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Piri und knuffte Nadil freundschaftlich.

Nadil starrte auf einen kleinen, runden Gegenstand, den er soeben in seiner Hosentasche gefunden hatte.

»Was ist denn das?«, fragte Masía.

Nadil ließ das Amulett in seine Hosentasche zurückgleiten und sagte: »Ich komme auch erst später. Ich muss … ich muss …« Aber was er musste, erfuhren die drei nicht, denn er ging einfach auf die Treppe zu und eilte hinauf.

Piri schaute ihm nach. »Was hat er denn?«

»Ach, lass ihn doch«, maulte Beliar. »Offensichtlich muss er mal. Können wir jetzt nicht endlich losgehen? Ich kann es kaum erwarten.«

»Meister Toralon hat gesagt, wir sollen ihn in zwei Stunden am Eingang zu den Klangthermen treffen«, erklärte Masía.

»Na also, dann nichts wie los«, rief Beliar. »Wo fangen wir an?«

5

Es war nicht irgendein Gegenstand.

Nadil hielt das Amulett vorsichtig in der Hand und betrachtete es mit einer Mischung aus Freude und Unbehagen. Was sollte das nur bedeuten? Wie kam Sarus Amulett zu Josian Pegario? Und warum hatte der es ihm heimlich zugesteckt? Er musterte den dunkelgrünen Stein. Das Amulett war nicht viel größer als eine Münze und schmiegte sich weich in seine Handfläche. Aber Nadil wusste, dass es aus dem härtesten Stein geformt war, den es in Phantásien gab: Malatist. Wo Saru das Amulett hergehabt hatte, das wusste Nadil nicht. Von einer seiner vielen Reisen natürlich. Ja, Nadil wusste nicht einmal, wo man Malatist-Gestein finden konnte. Aber Saru hatte dieses Amulett stets gehütet wie seinen Augapfel. »Irgendwann erzähle ich dir mal die Geschichte dieses Amuletts«, hatte er manchmal gesagt, als Nadil noch auf seinem Schoß gesessen und seinen Geschichten zugehört hatte. Und jetzt war Saru verschwunden und ausgerechnet dieses Amulett lag in Nadils Hand. Doch warum hatte Pegario es unbemerkt in seine Hosentasche gleiten lassen? Das konnte doch nur ein Zeichen sein? Aber was sollte es bedeuten?

Er schaute um die Ecke des höhlenartigen Ganges und sah an seinem Ende gerade noch einen der Wächter in einem Durchgang verschwinden. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Dennoch schlich er den Gang entlang bis zu der Stelle, wo die Wächter und Pegario abgebogen waren, und schaute vorsichtig um die Ecke. Dort befand sich ein weiterer Gang und an seinem Ende ein Raum, dessen Tür sich gerade schloss.

Nadil ging darauf zu. Als er näher gekommen war, konnte er zwar Meister Toralons Stimme hinter der Tür hören, aber was der Lehrer sagte, war nicht zu verstehen. Nadil bog nach rechts ab. Hier war es stockdunkel. Er ging unsicher einige Schritte weiter. Plötzlich sah er einen Lichtschimmer an der Decke und vernahm jetzt deutlicher Pegarios Stimme:

»Wir haben auch keine Erklärung dafür«, sagte der Sternputzer gerade.

Dort oben war ein Spalt zwischen den Steinen. Nadil streckte sich, ertastete in der Dunkelheit eine Fuge und zog sich die Wand hoch.

»Und solange wir nicht wissen, um was es sich handelt, soll niemand davon erfahren«, fuhr Pegario fort.

Josian Pegario und Meister Toralon saßen sich an einem Stalaktiten-Tisch gegenüber, der von der Decke herabwuchs. Der Anführer der Stierwächter stand hinter Pegario, die anderen drei hatten sich entlang der Wände postiert und die Arme über der Brust verschränkt.

»Jiinn-Garagor«, wandte sich Pegario an den hünenhaften Wächter in seinem Rücken, »vielleicht können Sie Herrn Toralon noch einige Einzelheiten erklären.«

»Es gibt nichts zu erklären«, antwortete dieser mit bedrohlichem Unterton. »Die Sternputzer können weiterhin ihre Arbeit tun. Aber da Sie, Herr Pegario, Ihre Leute offenbar nicht unter Kontrolle haben, gibt es keine andere Möglichkeit, als das Sternputzerviertel abzuschotten. Sonst müssen wir Sie ganz aus Mangarath verweisen, und Sie wissen, was das bedeutet.«

Pegario hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, natürlich wollen wir das nicht.« Wieder Toralon zugewandt, erklärte er dann: »Die Situation ist noch sehr gespannt, verstehst du. Seit Saru hier war, hat sich das nicht mehr beruhigt. Die Leute haben einfach sehr große Angst.«

Meister Toralon nickte. »Aber ich dachte, die Angelegenheit wäre erledigt? Warum hat Saru sich denn überhaupt eingemischt?«

»Nichts ist erledigt«, raunzte Jiinn-Garagor, und seine Augen blitzten zornig auf. »Sie wissen so gut wie ich, wie schnell sich Panik ausbreitet, wenn wir nicht vorsichtig sind. Die Erscheinungen nehmen zu, ja, es ist in den letzten Monaten sogar noch schlimmer geworden. Und wenn wir nicht so vorsichtig wären … bei allen Kammern des Elfenbeinturms! – dann wäre vielleicht schon alles verloren.«

Meister Toralon schaute Pegario bestürzt an. »Aber … ich meine, weiß denn immer noch niemand, was es damit auf sich hat?«

Pegario sah unsicher vor sich hin, während Jiinn-Garagor an seiner Stelle antwortete. »Nein, wir wissen nicht, was es ist. Aber wir haben es unter Kontrolle. Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Leute nicht die Nerven verlieren, und wir sorgen dafür, dass diese Erscheinungen aufhören. Wir arbeiten daran.«

Eine beklemmende Stille trat ein. Pegario versuchte sie ein wenig aufzulockern. Er lächelte Meister Toralon an und sagte:

»Wir liefern euch natürlich wie immer den Staub. Daran ändert sich nichts. Wie immer fliegen wir jeden Abend hinauf, putzen die Sterne und holen den Staub für die Schmetterlinge. Aber ich muss meine Leute vorerst an einer sehr kurzen Leine halten. Es geschieht ja nicht so oft, doch wenn es geschieht, dann brauche ich Tage, um sie wieder zu beruhigen. Es wäre Wahnsinn, jemanden von außen zu ihnen zu lassen, denn sie würden natürlich davon erzählen, obwohl ich es ihnen strengstens verboten habe. Und du weißt ja, was für ein Unheil Saru angerichtet hat mit seiner Neugier und seinen seltsamen Ideen. Es gab regelrechte Tumulte im Rat.«

»Kein Wort von Saru!«, zischte Jiinn-Garagor.

»Aber was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Toralon, der jetzt ziemlich irritiert klang. »Wir haben seit Wochen keine Nachricht von ihm. Nadil, sein Enkel, ist übrigens mit mir gekommen. Er macht sich große Sorgen, weil niemand von Saru gehört hat.« Er blickte um sich.

Jiinn-Garagors eine Augenbraue war bei der Nennung von Nadils Namen hochgerutscht. »Sarus Enkel?«, fragte er in eisigem Tonfall. Nadil blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Aber er rührte sich nicht in seinem Versteck, sondern lauschte weiterhin gebannt dem Gespräch. »Dieser Verräter hat einen Enkel? Nun, ich hoffe, der ist nicht so verrückt wie Saru. Vielleicht sollten wir ihn sicherheitshalber gleich einsperren.«

»Unsinn«, entfuhr es Toralon. »Nadil ist ein prächtiger Junge, der noch nie etwas Schlechtes getan hat. Aber kann mir jetzt bitte jemand sagen, was mit Saru geschehen ist?«

Wieder entstand ein unbehagliches Schweigen, das schließlich von Pegario unterbrochen wurde. »Er hat versucht, in Silandor einzudringen«, sagte er tonlos.

Toralon starrte mit ungläubiger Miene in die Runde. »Was?«, entfuhr es ihm. »Das hätte ich nie gedacht … Hat er es tatsächlich getan?«

»Du siehst, wir haben keine andere Wahl«, sagte Pegario. »Niemand darf etwas erfahren. Können wir auf dich zählen?«

Jiinn-Garagor machte seinen Leuten ein Zeichen, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Nadil ließ sich sogleich wieder auf den Boden gleiten und eilte, so schnell er konnte, in die Empfangshalle zurück. Etliche Fragen gingen ihm durch den Kopf, während er durch die Gänge huschte. Das Problem mit Saru? Was für ein Problem? Sein Großvater war doch kein Problem? Wovon sprachen diese Leute nur? Was sollte er denn verbrochen haben? Und was war mit den Sternputzern geschehen, dass man sie von allen anderen Phantásiern fernhalten musste? Sogar von den Schmetterlingern aus Nevisehr! Nadils Beine zitterten, aber er schaffte es immerhin, sich zusammenreißen, und gelangte unbemerkt auf die Straße hinaus.

Er war völlig durcheinander. Viel hatte er ja nicht mit angehört, aber es genügte, um ihm Mangarath von einem Moment zum anderen als bedrohlich und unheimlich erscheinen zu lassen. Dieser Jiinn-Garagor war ihm schon jetzt verhasst. Wie der über Saru gesprochen hatte. Aber Nadil war viel zu verwirrt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Mit Erleichterung sah er in der Kuppel des Geräuschdoms etwas Weißes mit auberginefarbenen Tupfen durch die Luft segeln. Wenn Beliar dort war, konnten auch die beiden anderen nicht weit sein.

6

Jiinn-Garagor vergewisserte sich, dass Pegario und Toralon getrennt eskortiert wurden. Der Schmetterlinger würde ihm keine Probleme bereiten, dachte er. Aber diesem Pegario traute er einfach nicht über den Weg. Der Sternputzer war zu plötzlich umgeschwenkt. Noch vor einigen Wochen hatte er diesen Saru im Rat unterstützt. Jetzt, nach allem, was geschehen war, musste er natürlich einsehen, dass er zu einem gefährlichen Verräter gehalten hatte. Entsprechend hatte er das Lager gewechselt. Aber irgendetwas an Pegario gefiel ihm einfach nicht. Wusste der Sternputzer etwas? Sollte er ihn nicht vorsorglich beseitigen lassen? Aber das Risiko war groß. Ihr stärkster Trumpf war die allgemeine Ahnungslosigkeit. Solange niemand wusste, was in Mangarath überhaupt geschah, konnten sie ihre Pläne ungehindert vorantreiben.

Jiinn-Garagor warf seinen Kopf stolz in die Höhe und schnaubte zweimal hörbar aus. Er fühlte sich so stark wie schon lange nicht mehr. Pegario hatte Angst gehabt. Er hatte es genau gespürt und sich daran regelrecht berauscht. Jetzt war er in Hochstimmung. Alles lief nach Plan. Niemand konnte sie aufhalten.

Er durchschritt einen Torbogen, lief eine dunkle Gasse entlang und gelangte an deren Ende zu einer schweren Holztür. Er klopfte, zweimal lang, zweimal kurz. Die Tür öffnete sich und er trat ein. Ein unverwechselbarer Geruch signalisierte ihm sofort, dass die Person, mit der er verabredet war, schon eingetroffen war. Jiinn-Garagors Nüstern zitterten erregt. Dieser Geruch war wie eine Droge für ihn. Er roch die Gewalt darin, den kolossalen, unerbittlichen Willen, dem sich niemand entziehen konnte. Und dann sah er die Gestalt.

»Sei gegrüßt, ehrwürdiger Forcas«, sagte er und verbeugte sich tief.

Der Angesprochene nickte leicht. Sein Gesicht lag halb im Dunkeln, was die unheimlichen Züge noch verstärkte. Sein Kopf war länglich und hager. Tiefe Falten durchzogen seine hohlen Wangen und durchfurchten selbst die zusammengekniffenen Lippen. Eine scharf geschnittene Nase stand darüber, doch wenn man in dieses Gesicht blickte, wurde man vor allem von den Augen gefangen genommen. Ja, sie waren so entsetzlich, dass man unweigerlich den Eindruck gewann, in diesem Kopf müsse noch ein zweites Wesen von geradezu unvorstellbarer Hässlichkeit stecken, das sich des Engels als Maske bediente. Jiinn-Garagor schauderte stets ein wenig beim Anblick dieser grünen, von schmalen schwarzen Schlitzen durchzogenen Augenbälle, die ihn eiskalt anblickten.

»Sei gegrüßt, ehrwürdiger Jiinn-Garagor«, kam die Antwort näselnd aus dem kaum geöffneten Mund des Engels. »Du hast dich verspätet.«

»Ein kleiner Zwischenfall. Nichts von Bedeutung.«

Der Geräuschteppich von Mangarath drang auch in dieses verborgene Zimmer und füllte die Gesprächspausen der beiden Gestalten.

»Noch ein Zwischenfall?«, erwiderte Forcas. »Es gibt deren zurzeit etwas viele, findest du nicht?«

Jiinn-Garagor trat von einem Bein auf das andere. Der bedrohliche Unterton in Forcas’ Stimme war ihm nicht entgangen. »Ich versichere dir, dass es nicht der Rede wert ist«, beeilte er sich zu sagen.

»Was ist geschehen?«, fragte Forcas scharf.

»Ein … ein paar Schmetterlinger wollten im Sternputzerdorf absteigen. Sie wussten noch nichts von der neuen Regel. Ein Missverständnis. Nichts weiter.«

»Schmetterlinger?«, zischte Forcas. »Schon wieder?«

Jiinn-Garagor biss sich auf die Lippen. Warum hatte er die Sache überhaupt erwähnt? Natürlich würde Forcas sogleich an den Zwischenfall mit Saru erinnert werden. Und das war das Letzte, was Jiinn-Garagor jetzt wollte. Der Fall war glücklicherweise erledigt. Saru war beseitigt. Sie hatten ihren Fehler wieder gutgemacht. »Ja«, antwortete er unsicher. »Aber das muss nichts bedeuten. Schmetterlinger kommen seit ewigen Zeiten hierher, um Sternstaub zu holen.«

»Dieser Saru war auch einer von ihnen. Wer sagt dir, dass sie nicht nach ihm suchen?«

Jiinn-Garagor machte eine wegwerfende Handbewegung. »Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Keiner wird ihn jemals finden. Du kannst ganz beruhigt sein.«

Forcas richtete seine ekelhaften Augen auf ihn und durchbohrte ihn geradezu mit seinem Blick. Wenn er erfährt, dass Sarus Enkel in der Stadt ist, gibt es ein Unglück, dachte Jiinn-Garagor. Forcas würde ihn sicher sofort verhaften lassen, und dann gäbe es Unruhe. Nein, er würde Forcas nichts davon sagen. Dieser Nadil war zwar mit Saru verwandt, aber solange er sich nicht auffällig verhielt, würden sie ihn in Ruhe lassen. Alles hing davon ab, dass niemand Verdacht schöpfte. Doch das begriff Forcas einfach nicht.

»Es geht also alles seinen geplanten Gang, oder irre ich mich?«, fragte Forcas.

»Du irrst dich nicht«, antwortete Jiinn-Garagor, erleichtert, dass sie endlich auf ein anderes Thema zu sprechen kamen. »Die Erscheinungen nehmen zu, aber niemand kümmert sich im Augenblick ernsthaft darum. Die Musik« – er machte eine lässige Handbewegung –, »sie wirkt Wunder.«

Forcas nickte, augenscheinlich zufrieden. »Es dauert nicht mehr lange.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir haben gestern Pandriel genommen. Es war ein Fest. Du hättest deine Freude daran gehabt.«

Jiinn-Garagor setzte sich. »Du überraschst mich«, sagte er. »Ich hatte gehört, die Belagerung würde wohl noch den ganzen Winter dauern.«

Ein kühles Lächeln huschte über Forcas’ Gesicht. Jiinn-Garagor war versucht zu fragen, durch welchen heimtückischen Trick es dem Engel gelungen war, Pandriel zu nehmen. Aber er wusste, dass Forcas es eilig hatte. Ihm genügte außerdem die Vorstellung, die Schneeelfen von Pandriel einem Heer von mordgierigen Iblissen ausgeliefert zu sehen. Fürwahr, es musste ein Fest gewesen sein.

»Und Albion?«, erkundigte er sich knapp nach dem Herrscher der Schneeelfen. Forcas zog etwas aus der Tasche und warf es Jiinn-Garagor vor die Füße. Der hob das verschmierte Bündel auf, faltete es auseinander und betrachtete das makabre Mitbringsel. Es war ein Elfenherz. Mattsilbrig schimmerte es wie ein kleiner toter Vogel in der groben schwarzen Hand des Stierwächters.

»Lass es dir gut schmecken«, zischte Forcas. »Es müsste äußerst nahrhaft sein. Es wird dir die nötige Kraft geben, damit du die Zügel in der Hand behalten kannst. Die Erscheinungen werden bestimmt noch stärker werden. Sei also vorbereitet und kümmere dich darum, dass alles ruhig bleibt. Der Ring um Mangarath ist nun bald geschlossen, und wir können beginnen, den Angriff vorzubereiten. Brauchst du Hilfe? Soll ich dir ein paar Iblisse schicken?«

War Forcas verrückt geworden – Iblisse in Mangarath? Jetzt schon? Jiinn-Garagor schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist nicht notwendig.«

»Nun gut, ich verlasse mich auf dich.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das Problem mit diesem Schmetterlinger ist also endgültig erledigt?«

Jiinn-Garagor war auf der Hut, denn er kannte Forcas’ Heimtücke. »Saru wird uns nie wieder Probleme machen«, erklärte er mit ruhiger Stimme.

Forcas’ Augen blickten noch kälter als zuvor.

Er misstraut mir, dachte Jiinn-Garagor panisch. Oder wollte er ihn nur verunsichern? »Saru ist tot«, sagte er.

»Das hoffe ich«, erwiderte Forcas. »Wo ist seine Leiche?«

Der Stierwächter runzelte die Stirn. »Im Lärmkrater.«

»Verbrannt?«

Jiinn-Garagor nickte.

»Bist du sicher?«

»Ja. Todsicher.«

Forcas hob leicht den Kopf. »Gut. Sehr gut. Weiß jemand davon?«

»Nein. Er gilt als verschollen.«