Dreiecksverhältnisse im Altenheim – Leitung zwischen Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen - Borghild Wicke-Schuldt - E-Book

Dreiecksverhältnisse im Altenheim – Leitung zwischen Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen E-Book

Borghild Wicke-Schuldt

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Beschreibung

Wie sieht der Pflegenotstand in der Praxis aus, unter welchen Bedingungen arbeiten Pflegekräfte? Wie entwickelt sich die Pflege zum lukrativen Geschäft für internationale Konzerne? Borghild Wicke-Schuldt hat brisantes Zahlenmaterial zur demografischen Entwicklung, zu den Auswirkungen des Pflegenotstandes und zur Pflegewirtschaft zusammengestellt. Angehörige und Pflegekräfte erhalten wertvolle Informationen zu Multimorbidität, Demenz und den Folgen einer Kriegskindheit im Alter. Die Autorin gibt Einblicke, wie sich Einrichtungsleitungen der gesellschaftlichen Herausforderung stellen und ihren Bewohnern, deren Angehörigen sowie den Pflegekräften und allen Mitarbeitern gerecht werden können. Fallgeschichten geben praktische Anregungen.

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Leben.Lieben.ArbeitenSYSTEMISCH BERATEN    

Herausgegeben von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Borghild Wicke-Schuldt

Dreiecksverhältnisse im Altenheim

Leitung zwischen Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen

Mit 4 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: biDaala_studio/Shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6088

ISBN 978-3-647-99477-2

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Vorwort von Jochen Schweitzer

Einleitung

I   Der Kontext

1 Die Senioren

1.1 Die demografische Entwicklung in Deutschland

1.2 Multimorbidität

1.3 Demenz

1.4 Kriegskinder im Seniorenheim

2 Die Mitarbeitenden

2.1 Ausbildungen der Mitarbeitenden

2.2 Multikulti in der Pflege

2.3 Arbeitsbedingungen

2.4 Pflegende Angehörige und Betreuungskräfte aus Osteuropa

II  Systemisch leiten im Altenheim

3 Was bedeutet systemisch leiten?

4 Beziehung zu alten Menschen

5 Beratung von Mitarbeitenden

6 Beziehung zu Angehörigen

7 Beratung von Teams

8 Grundsätze für die Zusammenarbeit

9 Gemeinsame Organisationsentwicklung

10 Chefin werden – Chefin sein

11 Vernetzt denken und arbeiten

III Ausblick – Die Entwicklung im Pflegebereich

12 Privatisierung und internationale Konzerne

13 Personalbedarf steigt

14 Aufgaben der Politik

15 Aufgaben von Einrichtungsleitungen

IV Am Ende

Quellen

Literatur

Die Autorin

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.

Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.

Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.

Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

Systemische Fachliteratur zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt es reichlich, zur Arbeit mit alten Menschen hingegen selten. Dabei legt die Bevölkerungsentwicklung nahe, dass in den reichen Ländern dieser Erde künftig immer mehr alte und immer weniger junge Menschen zu betreuen sein werden.

Deshalb ist Altenpflege eine Zukunftsbranche und dieses Buch ein in die Zukunft von vielen von uns hineinleuchtendes. Denn viele von uns werden in ihren letzten Lebensmonaten oder -jahren gepflegt werden müssen, viele von uns auch außerhalb der eigenen Wohnung. Deshalb kann neben Personen, die eine Leitungsrolle in der Altenpflege anstreben oder innehaben, und denjenigen, die ihre Angehörigen zu Hause betreuen oder im Heim besuchen, dieses Buch mit Gewinn auch von allen gelesen werden, die sich mit ihrer eigenen Zukunft auseinandersetzen möchten.

»Dreiecksverhältnisse im Altenheim« – das klingt nach delikaten »Beziehungskisten«. Und so ist es auch. In diesem Buch geht es um das Dreieck zwischen den Bewohnern1 von Alten- und Pflegeheimen, den sie versorgenden Mitarbeitern und den mit ihnen verbundenen Angehörigen. Dieses potenziell spannungsreiche Beziehungsdreieck erfordert eine kluge tägliche Koordination und langfristige Gestaltung – eine Herausforderung für jede Heimleitung. Borghild Wicke-Schuldt beschreibt, wie die Gestaltung und Koordination dieses Dreiecksverhältnisses gelingen kann – und wie Konzepte der systemischen Beratung, Team- und Organisationsentwicklung dabei nützen können.

Das Buch besticht durch eine sorgfältige, datengesättigte Kontextanalyse der wichtigen Umwelten heutiger Alten- und Pflegeheime in Deutschland. Was für eine Generation von Menschen lebt derzeit dort? Wie zahlenmäßig groß ist sie, welche Zeitgeschichte liegt hinter ihr, welche körperlichen und geistigen Möglichkeiten und Einschränkungen bringen ihre Mitglieder mit? Auf was für Mitarbeiter trifft sie? Aus welchen Herkunftsländern kommen diese, mit welchen Ausbildungen und unter welchen Arbeitsbedingungen sind sie bei uns tätig? Das Buch weist darauf hin, dass die Mehrzahl pflegebedürftiger alter Menschen immer noch von ihren meist weiblichen Angehörigen oder zunehmend von Betreuerinnen aus Mittelosteuropa zu Hause gepflegt wird.

Im Hauptteil »Systemisch leiten« entfaltet die Autorin, konzeptionell klar und anschaulich beschrieben, die Quintessenzen aus 25 Jahren Leitungserfahrung. Sie berichtet über die Bewältigung und Auflösung alltäglicher Krisen von und mit Bewohnerinnen, Mitarbeitern, Angehörigen, über die Teamarbeit und Organisationsentwicklung und zeichnet ihren eigenen Weg in die Leitungsrolle nach. Die kommerzielle Entwicklung der Pflege zu einem lukrativen Pflegemarkt, auf dem international agierende Konzerne und Investmentgesellschaften sich in ungeahntem Ausmaß ausdehnen, wird im Ausblick deutlich. Es gibt aktuell und zukünftig Herausforderungen und Aufgaben, die von der Politik in diesem Bereich bewältigt werden müssen. Dazu ruft Wicke-Schuldt auf, um nicht zuletzt die Einrichtungsleitungen zu konsequenter Interessenvertretung aufzufordern: Alte Menschen sollten uns wichtig sein, wir werden alle einmal zu ihnen gehören.

Dass Altenheime oft nicht nur die letzte Station eines Menschenlebens sind, sondern auch Orte anrührender zwischenmenschlicher Begegnung, ist tröstlich, und überzeugend aus diesem Buch zu erfahren. In der würdevollen Begleitung von Menschen in ihrer letzten Lebensphase stecken besondere Glücksmomente. Wie solche Erlebnisse ermöglicht werden, dafür gibt das Buch zahlreiche Anregungen.

Jochen Schweitzer

1Die Formulierungen in diesem Buch wechseln willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form. Gemeint sind immer beide Geschlechter.

Einleitung

Alten- und Pflegeheime sind wichtige Einrichtungen unserer Gesellschaft. Dieses Buch gibt Einblicke in diesen Bereich, der große Teile unserer Gesellschaft berührt: die alt gewordenen Menschen selbst, ihre Angehörigen, die Mitarbeitenden, die Einrichtungsleitungen, die Träger und Investoren. Wer hat nicht selbst einen pflegebedürftigen Angehörigen oder kennt Personen, die in der Pflege arbeiten?

Als langjährige Leiterin eines Altenheims gefällt mir der Titel »Dreiecksverhältnisse im Altenheim – Leitung zwischen Bewohnern, Mitarbeitern und Angehörigen«. In meinem Kopf generiert er das Bild einer Person, die im Dreieck springt. Einer Leitung, die ständig zwischen den verschiedenen Ecken hin und her läuft, die nie an einem Problem verweilen kann, weil ständig neue Anforderungen anrollen und Entscheidungen erzwingen. Im Dreieck springen, das ist ein treffendes Bild für eine Leitungskraft im Seniorenheim: keine Zeit zum Verweilen, keine Zeit zur Reflexion, keine Zeit für Konzepte, ständige Vorgaben von außen, ständige Anforderungen von Mitarbeitenden, Bewohnern, Angehörigen, Vorgesetzten, Trägern der Einrichtung, Anforderungen von Kontrolleinrichtungen wie Heimaufsicht, Feuerwehr, Wirtschaftskontrolldienst, Arbeitssicherheit, Hygiene, Medizinischer Dienst der Krankenkassen usw.

Trotz all dieser stressigen Situationen, die ständiges Reagieren der Leitung erforderlich machen, müssen die Bedürfnisse und Interessen der Bewohnerinnen und ihrer Angehörigen genauso wie auch die Interessen der Mitarbeitenden berücksichtigt werden. Eine gute Leitungskraft muss immer das Ziel im Auge behalten, dem die gemeinsame Arbeit zusammen mit den Beschäftigten der Einrichtung dient. Das wichtigste Ziel kann nicht »Gewinnmaximierung« oder »Digitalisierung« sein, sondern es muss ein soziales Ziel sein, das dem Interesse aller Beteiligten nach sinnhaftem Arbeiten entspricht und den hilfebedürftigen Senioren zugutekommt.

Dieses Buch beleuchtet den Kontext, in dem Leitungsarbeit in einer Senioreneinrichtung heute stattfindet. Es wurden aktuelle Informationen und wichtige Fragen zusammengestellt zu den Bereichen Senioren (Kapitel 1), Mitarbeiter (Kapitel 2) und Kommerzialisierung der Pflege (III Ausblick). In Kapitel II erzähle ich, wie ich als Diplompädagogin mit einer systemischen Ausbildung die Aufgaben der Leitung eines Altenheimes in vielen Jahren entwickelt habe. Ausführlicher ist dies in meinem Buch »Systemisch leiten im Sozial- und Gesundheitswesen« (Wicke-Schuldt, 2018b) dargestellt. Die Auszüge aus dem Buch und die Verwendung der Abbildungen erfolgen mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer Verlages.

Die Leitung hat die Aufgabe, die Beziehungen zwischen allen Menschen in einer Einrichtung zu beachten und zu pflegen sowie gute organisatorische und psychische Bedingungen zu schaffen, um den Beschäftigten zu ermöglichen, die Interessen der alten Menschen und ihrer Angehörigen aktiv zu gestalten.

Pflegebedürftige Menschen dürfen nicht den Profitinteressen international agierender Konzerne und Kapitalgesellschaften ausgeliefert werden. Die Politik muss bundesweit gute Rahmenbedingungen für die Pflegearbeit schaffen, damit dieser Beruf wieder attraktiv wird. Angesichts der großen gesellschaftlichen Probleme sind politisches Handeln und mutige Stellungnahmen von Leitungskräften im Interesse der Senioren und der Mitarbeitenden gefordert.

Der Kontext

1 Die Senioren

1.1    Die demografische Entwicklung in Deutschland

Früher kannte man für die deutsche Bevölkerung die Alterspyramide: Im Jahr 1950 waren 51 % unter 20 und 16 % über 65 Jahre alt. Heute gleicht das Schaubild einem Pilz. Seit 2006 gibt es mehr Deutsche über 65 als unter 20. Mit den nachlassenden demografischen Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges steigt mittlerweile der Anteil der Männer an den Hochbetagten (27 % im Jahr 2000, 36 % im Jahr 2016). Der Geburtenrückgang im Zuge der Verbreitung der Antibabypille ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bewirkte, dass seit 1972 jedes Jahr weniger Kinder geboren wurden als Menschen starben.

Die Anzahl der ab 65-Jährigen wird besonders deutlich in den kommenden Jahrzehnten bis zum Jahr 2036 wachsen. Bei einer kontinuierlichen demografischen Entwicklung wird sie 2037 in Deutschland gut 23,5 Millionen Personen umfassen und damit um etwa 36 % höher sein als im Jahr 2015 (17,3 Millionen). Zwischen 2036 und 2060 wird die Größe dieser Altersgruppe – trotz einer voraussichtlich sinkenden Zahl der Gesamtbevölkerung – fast unverändert bleiben. Die Zahl der ab 80-Jährigen wird bis 2050 fast kontinuierlich zunehmen. Um 2050 wird sie ihr höchstes Niveau mit knapp 10 Millionen Personen erreichen und damit mehr als doppelt so groß sein wie im Jahr 2015 (4,7 Millionen Menschen). Auch ist die Lebenserwartung in höheren Altersjahren in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Bei beiden Geschlechtern gehen die Sterblichkeitsentwicklungen systematisch vom hohen Alter in ein noch höheres Alter über. Im Jahr 1960 erreichten 20 % der Frauen und 15 % der Männer, die den 80. Geburtstag feiern konnten, das Alter von 90 Jahren. 40 Jahre später waren es 45 % der Frauen und 30 % der Männer. Der Anteil derer, die sogar das 100. Lebensjahr erreichen, hat sich stetig vervielfacht und wird voraussichtlich auch in Zukunft weiter ansteigen. 2060 sind im Vergleich zu heute zwölfmal mehr Menschen im Alter ab 100 Jahren zu erwarten, bei der Altersklasse der 90- bis 99-Jährigen wird sich die Anzahl um den Faktor 7 vergrößern.