7,99 €
Der Schokoladen-Countdown läuft! Vicky liebt Pralinen über alles. Doch leider bleiben die Kalorien auf ihren Hüften liegen. Dabei sähe Vickys Leben sicher ganz anders aus, wenn ihr Bauch flacher wäre, ihre Beine straffer und ihr Hintern kleiner. In drei Tagen hat sie das erste Date mit ihrem neuen Schwarm. Aber mit den überflüssigen Pfunden kriegt sie ihren Traummann nie ins Bett. Die einzige Lösung: abnehmen! Egal wie. Hauptsache, schnell. Denn mit jedem Kilo weniger rückt sie der großen Liebe ein Stückchen näher. Oder etwa nicht? «Macht gute Laune und garantiert nicht dick.» (Max) «Genau das richtige Lesefutter für verträumte Urlaubsstunden, die für immer nach Sommer schmecken sollen.» (Brigitte) «Feinste Strandlektüre.» (Gala) «Ein Buch zum Verlieben.» (Freundin)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2010
Kathrin Tsainis
Dreißig Kilo in drei Tagen
Roman
(Für Ingo)
Der Tag begann mit Mutmaßungen.
Irgendetwas musste über Nacht mit meinem Gesicht passiert sein. Blass und verquollen sah ich es im Spiegel zwischen meinen bettstrubbeligen Haaren hängen, und unter den Augen hatte ich dunkle Dellen. Als hätte man mir Halbmond-Keksförmchen ins Fleisch gepresst.
Vertrug ich womöglich keinen Reis mehr? Ich erinnerte mich, mal von einem Darmpilz gehört zu haben, Candida sonst was. Der nistete sich vorzugsweise bei Frauen ein und ließ sie anschwellen, wenn sie zu viele Kohlehydrate aßen: Nudeln, Kartoffeln, Schokolade, Rosinenschnecken, Reis. Reis zum Beispiel war voll von Kohlehydraten. Ich drückte meinen Kopf auf die Brust. Der Doppelkinntest. Tatsächlich: Es fühlte sich doppelkinniger als gestern an. Geschwollen.
Ich setzte mich zum Zähneputzen auf den Rand der Wanne, der im gleichen Ton wie der Boden und die Wände gekachelt war. «Was ist das denn für eine Farbe?», hatte Usch gefragt, als ich sie zum ersten Mal durch die Wohnung führte, «beigeviolett, oder was?» – «Kalbsleberwurst», sagte ich. Seitdem hieß das Badezimmer nur noch «Schlachthaus».
Müde starrte ich auf den schon etwas ausgeleierten Bund meines Calvin-Klein-Slips hinunter, über dem sich deutlich eine weißliche Speckrolle wölbte.
Sehr wahrscheinlich hatte die ganze Sache gar nichts mit dem Reis zu tun. Eher mit dem, was ich am Abend vorher mit Helen sonst noch alles in mich reingestopft hatte. Meine Güte…
«Neue Unterwäsche wäre auch mal wieder fällig», murmelte ich, während mir der Zahnpastaschaum aus dem Mund lief und mit einem hellen «Plitsch» genau zwischen meinen beiden großen Zehen auf dem Boden landete.
Ein Dienstag im März, neun Uhr morgens. Durchs Oberlicht fiel graues Licht herein, und das gleichmäßige Prasseln kündigte an, dass die Sonne auch heute keine Chance gegen den Regenschleier haben würde, der schon seit dem Wochenende über der Stadt hing.
Helen hatte mir am Vormittag auf den Anrufbeantworter gesprochen: «Vicky, Beste, Helen von ‹Style and Fun› hier. Wunderbare Sachen, WUNDERBAR! Heute Abend, 20Uhr im ‹Delhi›? Phantastischer Inder, großartige Currys, Riesenportionen, Kaiser-Wilhelm-Straße, ungefähr in der Mitte. Geht alles auf Spesen!»
Nach dem Abhören der Nachricht tanzte ich ausgiebig durch die Wohnung. Helen arbeitete als Art-Direktorin bei einer Zeitschrift, die erst vor einem halben Jahr herausgekommen war und sich laut Branchendiensten für einen Neustart ziemlich gut verkaufte.
Kurz bevor meine Freundin Bina nach Los Angeles gegangen war, hatte sie mir Helen auf ihrer Abschiedsparty vorgestellt. Wir vereinbarten, dass ich einige meiner Zeichnungen an die Redaktion schicken würde. Das war vor sechs Wochen gewesen. Mit einem Anruf hatte ich schon nicht mehr gerechnet. Wahnsinn!
Einen neuen Kunden konnte ich dringend gebrauchen, noch dazu so einen fetten Fisch. Immer nur Werbebroschüren oder Verpackungen zu gestalten, hing mir langsam schon etwas zum Hals raus. Eigentlich hatte ich Grafikdesign studiert, um Kinderbuch-Illustratorin zu werden, aber davon kann wahrscheinlich niemand leben, und wer sich als Freischaffende rumdrückt, darf sowieso nicht besonders wählerisch sein. Wenigstens hatte ich schon einen Comic an Land gezogen: Alle zwei Monate durfte ich mich in der Kundenzeitschrift einer Krankenkasse unter der Rubrik «Für unsere Kleinen» mit schmissigen Geschichten rund um Zähneputzen, Vollkornbrot und Bewegung an der frischen Luft austoben.
Schlag 20Uhr saß ich an einem Zweiertisch im «Delhi». Allein mit fünf Kellnern, die offenbar nichts anderes zu tun hatten, als mich zu beobachten. Im Hintergrund jammerte ein einschläferndes Gemisch aus Zimbeln, Geigen und einem mir unbekannten Blasinstrument. Um mich wach zu halten, rückte ich das Porzellanväschen mit den Orchideenstängeln hin und her. Ich starrte ins Leere, dann wieder aus dem Fenster, zwischendurch immer mal wieder auf die Uhr und überlegte, wann ich Helen höflicherweise die Kohlefrage stellen könnte, ohne mich gleich als geldgeiles Stück unbeliebt zu machen.
Viertel nach. Keine Helen. Zwanzig nach. Immer noch nichts. Um halb rauschte sie endlich herein und brachte es in einer einzigen Bewegung fertig, mir zuzuwinken, der Bedienung auf die Schulter zu klopfen, sich aus dem bodenlangen Mantel zu schälen und ihn einem anderen in die Hand zu drücken. Dann stöckelte sie auf Halsbrecher-Absätzen an den Tisch, gab mir zur Begrüßung die Hand und ließ sich keuchend auf den Stuhl fallen.
«’tschuldige die Verspätung», sagte sie, packte ein goldenes Etui samt Feuerzeug aus ihrem zierlichen schwarzen Lackhandtäschchen und steckte sich eine Zigarette an. «Stört dich doch nicht, oder? Wie immer: Kurz bevor ich abhauen wollte, kam mein Chefredakteur rein, so ein Aus-meinem-Arsch-scheint-die-Sonne-Typ, wenn du weißt, was ich meine, und wollte über eine Turkmenistan-Reportage sprechen. Furchtbar!»
Helen wetterte weiter über ihren Boss, rang die Hände wegen der Turkmenistan-Fotos – «Fast nur Schrott, trostlos»–, und ich konnte mich je nach Sachlage nur auf Nicken, Kopfschütteln und «Hm, hm» beschränken, weil Helen zwischen den Worten nie zu atmen schien und sich schon deshalb keine Lücke ergab, in die ich etwas hätte sagen können.
Die Kellner hinter dem Tresen starrten derweil ununterbrochen auf Helens Busen, wobei sie wohlwollend mit den Augen rollten.
90C, schätzte ich. Aber auch abgesehen von der Oberweite fand ich Helen ziemlich imposant: ungefähr 1,80 groß (mit Stöckel), mindestens 90Kilo Lebendgewicht und tizianrotes Haar, das ihr dick und schwer bis zwischen die Schulterblätter fiel. Eine der wenigen Frauen, neben denen ich mich zur Abwechslung mal ein bisschen schmächtig fühlen durfte.
Am meisten beeindruckte mich ihr Outfit: schmaler silbergrauer Rock, bis zum Knie geschlitzt, und ein Pulloverchen – vermutlich aus Kaschmir – im gleichen Farbton. Mit Mörderausschnitt. Nichts von wegen Speckhüften kaschieren. Dazu knallrot geschminkte Lippen, dramatisch dunkles Augen-Makeup mit Eyeliner und Lidschatten und obendrein noch diese Zarah-Leander-Stimme.
Im Vergleich zu ihr kam ich mir bieder vor. Obwohl ich den Business-Anzug trug, den mir meine Eltern zum Examen geschenkt hatten. Einen Einreiher von René Lezard, schwarz, klassisch. Das teuerste Stück, das ich besaß – abgesehen von der Stereoanlage vielleicht. Doch jetzt schien er mir nur langweilig.
«Wir lassen uns erst mal die Karte bringen», sagte Helen und zog sich ganz unluxuriös die Pumps aus. Sie rieb sich erst den rechten, dann den linken Fußballen und stöhnte genüsslich. «Diese Schuhe bringen mich noch um, aber sie strecken so schön. Hast du nicht nötig, sei froh.» Sie lachte laut und heiser, tätschelte mir den Arm, und ich beschloss, dass ich Helen ziemlich toll fand. Und nicht nur, weil sie der zwar völlig abwegigen, aber deshalb umso schmeichelhafteren Meinung war, dass ich nichts nötig hätte, was mich dünner aussehen ließe.
«Schön, dass du meine Zeichnungen magst», sagte ich, um etwas geschäftlich zu werden, und vor allem, weil ich endlich wissen wollte, was mir Helen anzubieten hätte.
«Absolut, Mädchen, absolut, ich darf doch ‹Mädchen› sagen, oder? 29 bist du? Ich? O Gott, 49…»
«Sieht man dir überhaupt nicht an», sagte ich und meinte es überhaupt nicht schleimig, denn ich hätte Helen locker acht bis zehn Jahre jünger geschätzt.
«Danke, danke, hör ich immer wieder gern. Aber egal. Ich habe deine Mappe schon dem Boss gezeigt, und er ist ganz meiner Meinung: witzig, Power, genau, was wir brauchen.»
Und dann erzählte sie, dass sich die Illustratorin, die bisher für «Style and Fun» gearbeitet hatte, überraschend und vor allem auf unbestimmte Zeit in ein tibetisches Kloster zum Buddhismus-Studium zurückgezogen habe: «Von heute auf morgen, das unzuverlässige Stück!»
Ich war begeistert. Anderer Leute Erleuchtung würde mir also künftig die Taschen füllen. «Was habt ihr euch denn vorgestellt?», fragte ich Helen und versuchte, nicht wie die Weihnachtsdeko eines Nobelkauf hauses zu strahlen. Allzu große Bedürftigkeit drückt den Preis.
«Monatlich sechs Zeichnungen für unsere Serviceseiten: Da geht es um Kosmetiktipps, Geld und Recht, Psycho-News, und dann haben wir natürlich auch noch Lifestyle- und Wellness-Themen», erklärte Helen. «Wir liefern die Texte, und du motzt sie optisch auf: jung, witzig, Busen darf auch mal zu sehen sein. Hauptsache, Blickfang. Ansonsten kann je nach Bedarf mal ein Test oder eine Glosse anfallen. Lust?»
«Geil», rutschte mir raus. «Ich meine, natürlich. O Mann, so was ist genau das Richtige für mich. Ich finde das Heft intelligent und die Optik absolut klasse, und was Festes kommt meinem Konto natürlich auch nicht gerade ungelegen.»
Ich lehnte mich zurück und gratulierte mir im Stillen zu dieser entwaffnend offenen Überleitung zum Thema Bezahlung.
«Ach ja, Kohle! Hätte ich fast vergessen», sagte Helen und schlug sich ihre mehrfach goldberingte Hand auf die Stirn. «Blöd! Was hältst du von 300Euro pro Zeichnung?»
Am liebsten hätte ich Helen auf die Wangen geküsst. Stattdessen lächelte ich nur und faltete die Serviette auf meinem Schoß. «300 sind in Ordnung.»
«Dann können wir ja zum gemütlichen Teil des Abends übergehen und endlich bestellen», sagte Helen.
Eigentlich hatte ich mir ganz fest vorgenommen, einen Salat oder höchstens eine schlichte Vorspeise zu essen, weil ich mich die Tage davor schon nicht hatte beherrschen können. Aber damit war ich bei Helen an der falschen Adresse.
«Kommt gar nicht in die Tüte», sagte sie, als ich nur die mit Gemüse gefüllten Samosas ordern wollte. «Immer dieses Rumgepicke! Ich will mehrere Gänge, und allein essen macht keinen Spaß. Also los. Ich kenne alle Spezialitäten in diesem Laden, vertrau mir. Lass mich nur machen.»
Ich ließ, und so wanderten nacheinander frittiertes Gemüse und Fleisch über den Tisch. Gefüllte Teigtaschen mit diversen Dips und Chutneys. Butterhühnchen in cremiger Soße mit Basmatireis und warmen, dünnen Brotfladen. Außerdem Champagner, «zum Anstoßen», sagte Helen, sowie mehrere Becher Rosenwasser-Pistazien-Joghurtdrinks, «zum Runterspülen».
«Herrlich», stöhnte Helen und polierte ein schon ziemlich abgenagtes Hühnerbein mit ihren Zähnen, «Essen ist das Schönste überhaupt. Ich liebe Essen. Heiner, mein Mann, ist ein großartiger Koch. Zum Glück, ich kann’s leider gar nicht. Aber jetzt», Helen seufzte tief und klopfte sich auf den Bauch, «jetzt kommen ja erst mal magere Zeiten.»
«Magere Zeiten?» Ich verstand gar nichts. Helen und Hungern? Das passte nicht zusammen.
«Ganz dumme Sache, Heiner hat einen Wahnsinns-Bluthochdruck, dabei wiegt er im Gegensatz zu mir nur zehn Kilo zu viel, aber ich bin dabei topgesund.»
Abnehmen müsse er jetzt und vor allem auf den schweren Rotwein und die Zigarren verzichten, erzählte sie weiter, das habe der Arzt verordnet und zum Auftakt eine Woche Fastenkur im Holsteinischen empfohlen.
«Nächsten Dienstag geht’s los, und ich lasse ihn in diesem Null-Kalorien-Camp natürlich nicht allein. Solidarität. Außerdem schaden mir ein paar Pfunde weniger auch nicht, so kurz vorm Frühling.»
«Ich dachte…» Wie sollte ich es ausdrücken, ohne zu persönlich zu werden? Schließlich gehörte Gewicht ähnlich wie Hämorrhoiden und Hammerzehen in die Themengruppe «Kritisch bis tabu» – vor allem, wenn Übergewicht im Spiel war. «Du wirkst so zufrieden mit dir.» Ich machte eine Handbewegung, die jedes Pfund an Helen einschloss.
«Sagen wir mal so», meinte sie nach einer kleinen, nachdenklichen Pause, «ich habe mich damit arrangiert. Ich war nie eine dürre Nonne und werd’s auch nicht mehr werden. Natürlich versuche ich, nicht über mein absolutes Schlachtgewicht zu kommen, und dann noch ein bisschen Sport dazu, um die Massen im Zaum zu halten.» Helen schob das letzte Restchen Reis auf ihrem Teller von links nach rechts. «Aber wenn ich so die Mädels bei mir in der Redaktion sehe, dann kann ich nur sagen: Gott sei Dank, dass ich mir das nicht mehr antun muss. Ich hätte absolut keine Lust, die Panade vom Schnitzel zu kratzen und jedes Mal zu überlegen, ob ich das Stückchen Kuchen lieber sofort wieder auskotzen oder doch auf dem Stepper abtrainieren soll. Dieses permanent schlechte Gewissen, diese Angst vorm Essen. Nee, das ist völlig krank.» Helen begann, jedes Reiskorn einzeln zu zerquetschen.
«Weißt du, was ich klasse fände?», sagte ich. «Wenn man das Fleisch aller Menschen auf einen Haufen werfen und anschließend gleichmäßig verteilen könnte.»
«Phantastische Idee!» Helen lachte so laut, dass das aufgeschickte Mittelalter-Pärchen am Nachbartisch hochschreckte. «Und weil die Mehrheit der Bevölkerung unterernährt ist, gäbe es niemanden mehr, der sich mit Übergewicht rumschlagen müsste.»
«Wäre doch allen geholfen, oder?», sagte ich.
«Ja, blöd nur, dass man dann wieder etwas anderes finden würde, das man an sich nicht leiden kann: Nase zu groß, Ohrläppchen zu klein, Unterarm im Verhältnis zum Oberarm zu lang.» Helen sah mich an. «Wir mögen uns alle einfach ein bisschen zu ungern, das ist das eigentliche Problem. Schlecht für uns, gut für die Industrie, weil wir blöden Hühner immer weiter salben, kaufen und rödeln, uns plagen und doch nie ankommen. Bis wir in die Grube fallen, haben wir uns dann im Schnitt ungefähr 150 bis 160Jahre lang gehasst.»
«Leider», sagte ich, «da hast du leider verdammt recht.»
Nachdem die Ober die leeren Teller und Schüsselchen abgeräumt, Helen bezahlt und wir uns vor der Tür umarmt hatten, marschierte sie in einer für ihre Schuhe atemberaubenden Geschwindigkeit in die Nacht. Sie warf mir noch ein Kusshändchen zu und: «Grüß Bina von mir. Soll sich mal melden.»
Ich lief nach Hause. Mit einem Umweg über die Tankstelle, in der ich mir noch ein Magnum-Mandel kaufte. Nicht dass ich noch Hunger gehabt hätte. Eigentlich war ich bis zur Halskrause voll mit Butterhühnchen, Reis und all dem anderen Kram. Doch üppiges Essen ließ mich immer mit dem bohrenden Verlangen nach etwas Süßem zurück – eine fiese Laune der Natur.
Aber darauf zu verzichten wäre auch irgendwie dämlich gewesen. Wenn schon, dann jetzt, dachte ich. Nach diesem Gelage 500Kalorien mehr oder weniger intus zu haben: scheißegal!
Und nun hockte ich im Schlachthaus. Die Kacheln auf dem Wannenrand machten mir viereckige Abdrücke in den Hintern, mein Mund schmeckte trotz zweimal Putzen mit enorm scharfminziger Zahncreme immer noch nach Knoblauch, und ich kam mir entsetzlich speckig vor. Ärgerte mich: über das Magnum und weil ich das Brot nicht hatte liegen lassen. Viel Brot zum Essen macht fett, weiß doch jeder. Ich eigentlich auch. Nur, dass ich Brot liebte und zwischen Wissen und Tun bei mir in der Regel eine Strecke ungefähr so lang wie von hier bis zum Saturn lag.
Zum ungefähr fünfmillionstenmal in meinem Leben wünschte ich mir, dass ich kotzen könnte. Würgen und weg damit. Genuss ohne Reue. Pervers, klar, und pures Gift für die Speiseröhre, den Magen, die Zähne und sogar das Herz. Aber nur, wenn man’s regelmäßig macht. Und ich wollte ja gar nicht richtig bulimisch sein. Nicht im krankhaften, süchtigen Sinne jedenfalls. Eher so als Notausgang. Gesündigt? Kopf über die Kloschüssel.
Schade nur, dass das bei mir nicht funktionierte. Was drin war, blieb da in der Regel auch. Da halfen kein warmes Salzwasser und keine drei Finger im Hals. Selbst Kitzeln mit dem Strohhalm brachte nichts. Alles schon probiert.
Blieb nur die klassische Buße: Heute würde es kein Frühstück im «Rosa’s» geben, keine Croissants und keinen Milchkaffee. Stattdessen Brennnesseltee (entwässernd!), Knäckebrot mit Halbfettmargarine und Grapefruit mit Süßstoff (niederkalorisch!). Und danach Arbeit, Arbeit, Arbeit.
Am Schreibtisch zeichnete ich an der Präsentation für einen neuen Schokosnack weiter. Großartig: nichts essen dürfen, aber über Schokolade nachdenken müssen. Draußen regnete es immer noch, ich fühlte mich ein wenig einsam, und aus der Stereoanlage erklang – passend zu meiner Stimmung eingelegt – der Soundtrack von «Titanic».
Gerald, Galerist, schwul und einer meiner besten Freunde, hatte ihn mir zum Geburtstag geschenkt. In Sachen Musik war Céline Dion unser einziger gemeinsamer Nenner, und er schlug jedes Mal die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er sich näher mit meinem CD-Stapel beschäftigte. «Snoop Doggy Dog, Pur und Metallica in einem Haufen. Tust du dir das wirklich alles an?»
«Klar, am liebsten gleichzeitig. Das ist so herrlich unkonventionell, alter Spießer.»
«Love can touch you one time and last for a lifetime…»: Céline Dion sang, hauchte, schmelzte, schrie, während ich kleine, dicke Schokomännchen malte, große, dünne Schokomännchen, Schokohunde, Schokohundfamilien, Schokowolken.
Als ich gegen ungefähr drei Uhr nachmittags meinen Favoriten, ein knuffiges Schokoauto – fettglänzend braun mit wulstiger Stoßstange, Augenzwinkern und Lachmund–, zurechtstrichelte, klingelte es an der Haustür. Ein Blick in meinen Kalender, und da stand: 15Uhr, Regina.
Mist, Mist, Mist! Ich hatte tatsächlich die Verabredung mit Regina vergessen. Sie wollte kommen, um mit mir die Einladungskarten für ihre Hochzeitsfeier zu besprechen, die ich für sie entwerfen sollte.
Nicht dass ich Regina hasste oder so was. Manchmal fand ich sie sogar ganz witzig, und wenn sie nicht derart penetrant von sich selbst eingenommen gewesen wäre, hätte sie sogar richtig nett sein können. Usch kannte sie schon seit dem Sandkasten, und da ich wiederum auch sehr eng mit Usch zusammenhing, ließ es sich kaum vermeiden, Regina ab und zu über den Weg zu laufen.
Allein hatten wir uns bislang allerdings noch nie getroffen, und, ehrlich gesagt, verspürte ich gerade an diesem Tag nicht unbedingt den heißen Drang, damit anzufangen. Ich fühlte mich einfach nicht in der körperlich-seelischen Verfassung, einer feenblonden Porzellanpuppe von Frau gegenüberzutreten, die, das hatte Usch mir mal im Vertrauen erzählt, jeden Morgen ihren Oberschenkel- und Bauchumfang maß und ab 18Uhr keine feste Nahrung mehr zu sich nahm.
Ich überlegte kurz, ob ich einfach nicht aufmachen sollte, aber Totstellen ging schon wegen der lauten Musik nicht mehr. Also Lächeln ins Gesicht gesetzt, hektische Betriebsamkeit an den Tag gelegt und Tür aufgemacht.
«Sorry! Äh, hallo erst mal, hatte gerade noch einen Kunden am Telefon», sagte ich und schraubte meine Stimme in Richtung «Bin ein bisschen abgehetzt».
Oha, böser Fehler: telefonieren, Kunde, Musik? Ziemlich unglaubwürdige Konstellation. Aber Regina schien nichts zu merken.
«Kein Problem», sagte sie, hauchte ein Küsschen rechts, ein Küsschen links neben meine Wangen und drückte mir ein Kuchenpaket in die Hand. «Apfelstreusel.»
Ausgerechnet Apfelstreusel!
Wir setzten uns in die Küche, ich machte Tee und begutachtete Regina mit gewisser Genugtuung aus den Augenwinkeln. Verglichen mit unserer letzten Begegnung vor ein paar Wochen sah sie deutlich schwangerer aus: ein hübsches Kügelchen in Nabelhöhe und etwas vollere Schenkel und Hüften. Darüber konnten weder ihre olivenfarbenen Cargohosen noch das knallorange Fleece-Shirt hinwegtäuschen, das vermutlich ihrem Freund und künftigen Kindsvater Peter gehörte. Das Messen war für sie jetzt bestimmt auch nicht mehr die reine Freude.
Regina packte derweil drei Kuchenstückchen auf einen Teller, sah sie versonnen an, klaubte schließlich ein paar Streusel herunter und steckte sie – einzeln – in den Mund. Wie hatte Helen das noch genannt? Rumgepicke?
«Seit ich schwanger bin, bringe ich noch weniger runter als früher», sagte sie.
Ich hätte ihr dafür den Teekessel auf den Kopf hauen können, weil ich kaum an mich halten konnte, das Zeug nicht sofort zu verschlingen. Stattdessen rückte ich ihn nur ein wenig auf der Herdplatte hin und her. «Wie läuft’s denn mit dem Baby?», fragte ich über die Schulter, um die Konversation in Gang zu bringen.
«Alles prima. Bin jetzt im sechsten Monat. Keine Übelkeit mehr, es bewegt sich schon ganz ordentlich, und ich muss öfter aufs Klo als früher.»
Dann erläuterte sie mir lang und breit, wie schwierig es sei, die richtige Geburtsklinik zu finden – «Wir haben schließlich keinen Bock auf diese Entbindungsfabriken»–, streifte das Thema «Kaiserschnitt», den sie absolut vermeiden wollte – «Es soll alles ganz natürlich sein»–, und schwenkte schließlich auf ihr Intimleben um.
Regina erzählte, dass Peter beim Sex seit neuestem immer unten liegen wolle, damit er ihre neue Weiblichkeit auch schön im Blick habe. «Dieses Mutterding, mit den dicken Möpsen und so, turnt ihn dermaßen an, dass wir noch öfter als früher rummachen», sagte sie.
«Was heißt das in Zahlen ausgedrückt?», fragte ich wider alle Selbstschutzregeln.
«Na, drei-, viermal die Woche kommt schon hin.»
Das war eigentlich nicht unbedingt die Information, die ich mir gewünscht hätte. Insgesamt war es überhaupt mehr, als ich hören wollte. Warum musste ich auch so blöd fragen? Seit der Trennung von Ralf vor sechs Monaten nicht mal die Andeutung von Sex, aber Geschichten darüber lostreten. Schön dämlich!
«Und du? Willst du eigentlich Kinder?»
Ich zuckte zusammen. Neben «Warum kommst du uns nie besuchen?», «Hättest du nicht doch besser Betriebswirtschaft studieren sollen?» und «Wann kaufst du dir denn mal richtige Möbel?» gehörte die Kinderfrage zu meinen Hassthemen aus dem Standardprogramm von Oma und Tante Hedwig. Meistens mit den Nachsätzen «Ach, sie hat doch noch Zeit, außerdem braucht’s auch einen Vater, nicht!». (Tante Hedwig) und «Heutzutage gibt’s ja immer mehr späte Mütter». (Oma), wobei sie bei «späte Mütter» tief zu seufzen pflegte.
«Irgendwann, vielleicht», sagte ich, hoffentlich nicht zu bemüht, «aber weißt du, Kinderkriegen ist eine ziemlich endgültige Entscheidung. Ungefähr wie Selbstmord: Wenn man sich einmal dazu durchgerungen hat, gibt’s kein Zurück mehr. Das verändert einen für immer.»
Diesmal war es Regina, die zusammenzuckte, und wir verlegten die Unterhaltung in stillem Einverständnis auf Hochzeitseinladungskarten.
Der Kuchen blieb bis auf Reginas Krümelei unberührt zurück. Ich hatte schon deshalb nichts davon gegessen, weil ich glaubte, mich noch nicht genügend gegeißelt zu haben. Außerdem wollte ich mir von Regina, diesem Vorbild an Askese, wirklich nicht beim Essen zuschauen lassen.
Ich scribbelte ihr mit dem Bleistift mehrere Vorschläge für die Einladung auf einen großen Bogen Papier. Am besten gefiel ihr der, auf dem zwei unglaublich hochbeinige Menschen, einer (Regina) im Hochzeitskleid, einer in Frack und Zylinder (Peter), unter einem blühenden Baum stehen und ein kleines Baby (namenlos, «bringt Unglück, wenn man es vorher verrät») zwischen sich haben. Über der Szenerie flog ein Flugzeug, das ein Spruchband hinter sich im Wind flattern ließ: «Sei mit uns glücklich! Sonntag, 14.August. Regina + Peter.»
Ich hätte mich eher erhängt, als eine derart konventionelle Karte unter die Leute zu bringen, aber Regina war zu jeder anderen Idee nur ein schwammiges «Nee, irgendwie anders, finde ich» zu entlocken gewesen, bis ich dahinterkam, dass sie das «Auch für Schwiegereltern verträglich»-Programm wollte.
Mir sollte es recht sein, ich bekam 150Euro dafür, sie hatte ihren Seelenfrieden und ich bald wieder meine Ruhe, weil wir nun ja fertig waren und sie sich noch mit Peter in der Stadt treffen wollte.
Sie war eigentlich schon mit einem Bein aus der Tür, als sie «Ach, Vicky, fast hätte ich es vergessen» sagte. «Mir passt nichts mehr, kannst du mir nicht ein oder zwei Hosen von dir leihen? Du hast doch so ein paar weite Dinger.» Regina strahlte mich an, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als eine Schwangere mit Garderobe auszustatten.
«Klar, logo, warum nicht? Kein Problem», sagte ich und war schon auf dem Weg ins Schlafzimmer. Ran an meinen Kleiderschrank und blind zwei Hosen rausgegriffen, die ich Regina schließlich in die Hand drückte.
«Super, bist ein Schatz», sagte sie, machte Luftküsse und segelte endgültig zur Tür raus. «Bis bald!»
Ich fiel schwer auf einen Küchenstuhl. Die Bruchstücke der vergangenen Minuten rumpelten durch meinen Kopf: schwangere Frau, dicker Bauch, meine Hosen. Und formierten sich zu einer erschütternden Aussage: Ich war also mittlerweile schon so offensichtlich fett, dass werdende Mütter mich um Klamotten anhauten!
Ich hätte mich dafür ohrfeigen können, dass ich Regina sozusagen im Affekt die Sachen mitgegeben hatte! Ich hätte sie sofort rausschmeißen sollen. Und ihren blöden Streuselkuchen gleich hinterher.
Vielleicht sollte ich ihn lieber gleich entsorgen, überlegte ich, sonst würde ich ihn bloß aufessen. Stattdessen packte ich ihn unter Alu in den Kühlschrank. Viel zu schade zum Wegwerfen.
Ich ging ins Wohnzimmer und rief sofort Usch an.
«Das hat sie bestimmt nicht böse gemeint», sagte Usch. «Regina ist manchmal ein bisschen zu geradeaus und macht sich überhaupt keine Gedanken darüber, wie was eventuell ankommen könnte. Ärger dich nicht.»