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Andreas Gößling

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Beschreibung

Schockierend realistisch - der zweite Fall für Kommissarin Kira Hallstein, von True-Crime-Star Andreas Gößling »Die Mädchen rennen, stolpern, helfen sich gegenseitig wieder auf. Sie rutschen einen Abhang herunter, kriechen auf der anderen Seite wieder hoch, verlieren wertvolle Zeit. Die Jäger kreisen sie ein. Ihre Körper angemalt wie Skelette, die Gesichter hinter grimmig starrenden Ledermasken. Sie haben Speere und Blasrohre, Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Die Gejagten haben nichts, nur ihre Angst. Ihre nackte Haut.« Ganz Berlin ächzt unter hochsommerlicher Hitze, als innerhalb kurzer Zeit zwölf junge Frauen verschwinden – verlockt von einer Social-Media-Kampagne namens »Befrei dich!«. Mit effektvollen Videos von kleinen Vögeln, die sich in Nestern aus Plastikmüll strangulieren, werden die Teen­ager motiviert, ihr soziales »Netz« zu zerreißen und sich in einsamen Wäldern auf Selbsterfahrungstrip zu begeben – auf Nimmerwiedersehen. Was für die Beamten vom Vermisstendezernat zunächst wie reine Routine aussieht, lässt bei Kriminalhauptkommissarin Kira Hallstein sämtliche Alarmglocken schrillen. Und dann taucht die erste Leiche auf. Andreas Gößling hat den »Jahrhundertfall« Dutroux, in den tatsächlich auch Berliner Teenager verwickelt waren, zu einem modernen, atemlos-brachialen True-Crime-Thriller adaptiert. "Genialeren Nervenkitzel findet man sonst nur noch bei Skandinaviens Bestseller-Stars." Literaturmarkt.info

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Seitenzahl: 774

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Andreas Gößling

Drosselbrut

True-Crime-Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ganz Berlin ächzt unter hochsommerlicher Hitze, als innerhalb kurzer Zeit zwölf junge Frauen verschwinden –verlockt von einer scheinbar unwiderstehlichen Social-Media-Kampagne, die ausgerechnet Freiheit von den Zwängen moderner Kommunikation verspricht. So spurlos verschwinden sie in den Wäldern, als hätte sie die Erde selbst verschluckt. Alle stammen aus guten Familien, gingen zur Schule oder auf die Universität – sonst scheint es keine Verbindungen zu geben. Für Kommissarin Kira Hallstein beginnt ein schockierender Trip in die finstersten menschlichen Abgründe.

True-Crime-Star Andreas Gößling hat den »Jahrhundertfall« Dutroux, in den tatsächlich auch Berliner Teenager verwickelt waren, zu einem modernen, atemlos-brachialen Thriller adaptiert.

Inhaltsübersicht

WidmungEINS AffenkäfigMontag, 15. JuniBrandenburg, FriedersdorfBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBrandenburg, Storkower MoorBerlin, Motorroller Max LohmeyerBerlin-Lichtenrade, Auto-ParadiesBerlin-Lichtenrade, Parkplatz BaumarktBerlin-Charlottenburg, Wohnung HallsteinBerlin-Wilmersdorf, VolksparkBerlin-Wilmersdorf, Sportanlage am SchoelerparkBerlin-Mitte, Pkw HallsteinBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, HauptstraßeBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, vor dem E-KombinatBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, ElektrokombinatBrandenburg, nordöstlich von Berlin, Sydower FließBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, ElektrokombinatBrandenburg, nordöstlich von Berlin, Sydower FließBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, ElektrokombinatBrandenburg, nordöstlich von Berlin, Sydower FließBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, ElektrokombinatBrandenburg, nordöstlich von Berlin, Sydower FließZWEI KriechkellerDienstag, 16. JuniUnbekannter Ort, ZellentraktBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, VernehmungszimmerBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, BesprechungszimmerBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, VernehmungszimmerBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, KeithstraßeBerlin-Wilmersdorf, Pkw HallsteinUnbekannter Ort, ZellentraktBerlin-Wilmersdorf, Ortsteil Schmargendorf, Wohnhaus Familie ReinhardtBerlin, Richtung Nordosten, Pkw HallsteinBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, Elektrokombinat, KonferenzraumBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, Elektrokombinat, KellerBerlin-Pankow, Ortsteil Rosenthal, Elektrokombinat, KonferenzraumBerlin-Buch, Krankenhaus des Maßregelvollzugs, Haus 7Berlin, Richtung Südwesten, Pkw HallsteinBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro Franka FundlandtDREI HöhleMittwoch, 17. JuniBerlin-Charlottenburg, Wohnung HallsteinBerlin, Richtung Südwesten, Pkw HallsteinUnbekannter Ort, ZellentraktBerlin-Lichterfelde, Wohnung Familie MilowBerlin, Pkw HallsteinUnbekannter Ort, DachwohnungBerlin-Dahlem, Villa AlthusUnbekannter Ort, DachwohnungBerlin-Dahlem, Villa AlthusBerlin, Pkw HallsteinBerlin-Steglitz, Hito Sushi BarBerlin-Dahlem, Institut für KulturanthropologieBerlin-Steglitz, Hito Sushi BarBerlin-Dahlem, BiergartenBerlin-Steglitz, Hito Sushi BarUnbekannter Ort, ZellentraktBerlin-Steglitz, Pkw HallsteinUnbekannter Ort, alter KellerBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, VernehmungsraumBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro Franka FundlandtBerlin-Wedding, WG-Zimmer Lou van EyckVIER AltarDonnerstag, 18. JuniUnbekannter Ort, DachgeschossBerlin-Lübars, Moorwiesen am KöppchenseeUnbekannter Ort, TreppenhausBerlin-Wedding, Wohnung Matthias HerbstBerlin-Lübars, Moorwiesen am KöppchenseeBerlin-Lübars, Moorwiesen am Köppchensee, Fahrzeug der EinsatzleitungBerlin-Zehlendorf, SchlachtenseeBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBerlin, Pkw HallsteinBerlin-Grunewald, Waldblick-HotelBerlin, Pkw HallsteinBerlin-Spandau, Moorwiesen am TeufelsbruchBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, BesprechungsraumBerlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro HallsteinBerlin-Moabit, Pkw HallsteinBerlin-Moabit, Cobra ClubBerlin-Mitte, Wohnung Melanie und Leon BerkowskyFÜNF Befrei dich!Freitag, 19. JuniUnbekannter Ort, alter KellerBerlin-Friedrichshain, Institut für soziale AnmutUnbekannter Ort, alter KellerBerlin-Friedrichshain, Institut für soziale AnmutUnbekannter Ort, alter KellerBerlin-Friedrichshain, Institut für soziale AnmutBrandenburg, Görlsdorfer FließUnbekannter Ort, alter KellerBrandenburg, Görlsdorfer FließGroßraum Berlin, Pkw HallsteinBrandenburg, Elstermark, Roaring EightiesBrandenburg, Havelland, Pkw HallsteinBrandenburg, Rathenow, Schrotthandlung Richard AndersBrandenburg, bei Kotzen, Datschengrundstück MenzBrandenburg, Havelland, Pkw HallsteinUnbekannter OrtBrandenburg, Havelland, Pkw HallsteinBrandenburg, Elstermark, Roaring EightiesBerlin-Spandau, Gasthaus Zur JagdhütteBrandenburg, Pkw MenzBrandenburg, unterirdische StadtBrandenburg, altes Gutshaus bei OderbergEpilogDanksagung
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All denen, die geopfert werden

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EINS Affenkäfig

 

 

 

 

 

 

Montag, 15. Juni

Brandenburg, Friedersdorf

Um Viertel vor neun fährt die Regionalbahn in den Bahnhof Friedersdorf ein: Endstation. Paula Nieburg steht mit ihrem Fahrrad schon an der Waggontür. Ihr Shirt ist auf dem Rücken unangenehm feucht.

Ich bin zu warm angezogen, denkt die junge Frau. Jeans, Wanderschuhe, und das bei sechsundzwanzig Grad. Der Rucksack klebt ihr zwischen den Schultern. Die Münzknöpfe an ihrem Shirt fühlen sich an wie heiße Fingerspitzen. Aber im Wald ist es bestimmt kühler.

Ihr Herz schlägt schneller als normal, doch Paula fühlt sich gut. Sie kann es kaum erwarten, hinaus ins Freie zu kommen. Das stickige Abteil hinter sich zu lassen und alles andere, was bis gestern ihr Leben war. In ihrem Kopf hört sie die suggestive Männerstimme, die in allen Filmen der »Befrei dich!«-Kampagne aus dem Off ertönt. »Mach es wie der junge Vogel: Zerreiße deine Fesseln, verlasse das Plastiknest, solange du noch die Kraft dafür hast. Befrei dich!« Paula hat jedes der bislang fünf Schocker-Videos unzählige Male auf YouTube gesehen.

Die Schutzbleche scheppern, als sie ihr Fahrrad über den menschenleeren Bahnsteig zum Ausgang schiebt. Die wollte ich schon lange mal festschrauben, geht es ihr durch den Kopf. Das hat sich jetzt auch erledigt.

Verlassen liegt der Bahnhofsvorplatz in der Nachmittagssonne. Friedersdorf scheint nur aus einer Handvoll mickriger Häuser links und rechts der Dorfstraße zu bestehen. Die Stille kommt Paula fast unwirklich vor. Ein Vorposten der Zivilisation, denkt sie. Dabei ist sie gerade mal fünfzig Kilometer östlich von Berlin.

Sie steigt auf ihr Fahrrad und folgt der Landstraße in Richtung Süden. Bald hat sie die letzten Häuser hinter sich. Hier draußen gibt es nur noch Wälder und Seen. Und die Junisonne, die gnadenlos vom Himmel brennt. Keine Autos, keine Radfahrer oder Fußgänger. Nur einmal kommt ihr ein bärtiger Mann in einem alten Geländewagen entgegen. Bestimmt der Förster, denkt Paula.

Mit sechs war sie ein einziges Mal gemeinsam mit ihren Eltern im Urlaub. Im Böhmischen Wald, sie erinnert sich noch gut daran. An die Bergluft, die Stille, die Rufe der Waldvögel. Und an ihren Vater, der sie und ihre Mutter kurz nach diesem Urlaub verließ. Ohne ihnen etwas anderes zurückzulassen als den altertümlichen Lederrucksack, der Paula weich und formlos zwischen den Schultern hängt.

Die Bäume am Straßenrand fliegen nur so an ihr vorbei. Von dem Wald zu ihrer Rechten geht ein Sog aus, fordernd und lockend, der sie ganz kribblig macht. Immer fester tritt sie in die Pedale. Sie kann es kaum mehr erwarten, auch die Straße hinter sich zu lassen. Das grelle Tageslicht, die Schwüle, die ihr den Schweiß aus den Poren treibt. Befrei dich!

Laut Google Maps braucht man vom Bahnhof Friedersdorf bis zu dem kleinen Waldparkplatz mit dem Fahrrad dreiundzwanzig Minuten. Paula ist gefühlt nach einer Viertelstunde am Ziel. Der halbrunde Platz ist mit Betonplatten gepflastert und zur Straße hin durch Bäume abgeschirmt. Alles wie auf dem Video. Paula fährt Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen. Aus den Ritzen zwischen den Platten wachsen Wildblumen und Gräser.

Vor der verwitterten Infotafel steigt sie ab und lehnt ihr Fahrrad dagegen. »Erholungsgebiet Storkower Moor« kann sie mit Mühe entziffern. »Achtung, unwegsames Sumpfgelände! Bleiben Sie auf den markierten Wegen.« Auf der Wanderkarte daneben sind nur noch ein paar vergilbte Linien zu erkennen, die sich im Zickzack zwischen ausgebleichten Baumsymbolen dahinwinden.

Egal, denkt Paula. Seit gestern Mittag hat sie sich das Gelände auf Google Earth mehrfach angesehen. Sie wird einfach dem Weg folgen, der parallel zu einem Bachlauf nach Osten führt. Alles Weitere wird sie ihrer Intuition überlassen. Und der Magie des Ortes. Dafür ist sie schließlich hier.

Sie greift hinter sich, zieht ihr Smartphone aus der Seitentasche ihres Rucksacks und ruft ihren Instagram-Account auf. Sie klickt das fünfte Video der »Befrei dich!«-Kampagne an und zieht den Regler bis 04:39 min, zu dem Moment, in dem der Startpunkt dieses Selbstbefreiungstrips ins Bild kommt.

Schon als sie zum ersten Mal ein »Befrei dich!«-Video sah, war sie fasziniert. Auch jetzt beschleunigt sich ihr Herzschlag, und sie spürt ein Kribbeln tief im Bauch, als sie die sanfte und doch drängende Stimme hört. »Lass alles zurück, was dir in deinem neuen Leben hinderlich wäre. Die schlechten Dinge. Die falschen Freunde. Die lähmenden Gedanken, Gewohnheiten, Gefühle. Nimm nur das Nötigste mit, damit du sofort durchstarten kannst. In dein neues, freies Leben.«

In jedem der fünf kurzen Filme ist ein anderer Startpunkt am Rand eines Waldes zu sehen. Seit Wochen wetteifern Hunderte Fans der Kampagne darum, die realen Schauplätze der Videos zu identifizieren. Der Startpunkt des fünften Videos wurde vor zwei Tagen erst von der Followerin Lena94 lokalisiert. Als Paula die GPS-Daten und Beweisfotos in ihrer Chatgruppe sah, stand ihr Entschluss fest. Genau dort würde sie ihren Selbstbefreiungstrip beginnen, am Storkower Moor. Sie hatte nicht die blasseste Ahnung, wo das sein sollte, aber der halbrunde Platz, der dunkle Wald dahinter und das Rauschen der Bäume lösten etwas in ihr aus.

»Achte auf die Zeichen, von innen oder außen«, heißt es in den Videos. »Den Geheimcode deiner Selbstbefreiung. Nur du kannst ihn bemerken, für jeden anderen ist er bedeutungslos. Aber wenn du achtsam bist, wirst du ihn erkennen und verstehen.«

Paula gleicht die Bilder auf dem Display ihres Samsung Galaxy mit der realen Umgebung ab. Dabei weiß sie längst, dass sie am richtigen Ort ist. Zum ersten Mal in meinem Leben, denkt sie. Am Startpunkt meiner Selbstbefreiung.

Sie schaltet das Smartphone aus, löst die Rückseite ab und nimmt Akku und SIM-Karte heraus. »Dein Handy ist die elektronische Fessel, die dich an dein falsches Leben kettet«, heißt es in den Videos der Kampagne. »Facebook, WhatsApp, Snapchat, Instagram, Pinterest, Twitter – alles digitale Fallen, in denen du dich mehr und mehr verfangen hast. Befrei dich! Wie ein Fisch im Netz bist du verstrickt. Befrei dich! Wie die Drosselbrut, die sich in ihren Nestern aus Plastikmüll und Luftballonschnüren selbst stranguliert. Befrei dich, solange du es noch kannst!«

Der Müllbehälter neben der Infotafel ist ein rostiges Stahlskelett mit einem leeren, blauen Plastiksack darin. Paula lässt das Handy zu Boden fallen und tritt mit ihrem ganzen Körpergewicht darauf. Sie hört, wie das Display bricht, und spürt durch ihre Sohle hindurch, wie sich die empfindlichen Innereien des kleinen Geräts verformen. Es fühlt sich befriedigend an. Sie bückt sich, sammelt die Überreste auf und wirft sie in den Mülleimer. Den Akku schmeißt sie ins Gestrüpp hinter der Infotafel. Die SIM-Karte zerbricht sie in zwei Teile, die sie mit der linken Hand umschließt, während sie auf den Waldrand zugeht. Alles genau so, wie es die Videos empfehlen.

In der Baumkrone über ihr stößt ein Vogel einen Warnruf aus. Ein weiterer Vogel, tiefer im Wald, antwortet mit genau der gleichen Tonfolge. Ki-ra-du! Paula lächelt in sich hinein. »Wälder sind Orte der Freiheit, eben die freie Natur«, hört sie die lockende Stimme aus den »Befrei dich!«-Filmen sagen. »Wälder sind ideal, um zur Besinnung zu kommen, die eigene innere Stimme zu hören. Die Sinnsucher, die Minnesänger, die romantischen Dichter – sie alle zog es immer schon in den Wald. Beladen gingen sie hinein, befreit kamen sie heraus. Im Wald, ganz allein für dich, kannst auch du finden, was dir fehlt. Im Wald kannst du befreien, was in dir gefangen ist. Im Wald kannst du mit dir verbinden, was von dir abgespalten ist. Im Wald wirst du ganz du selbst, heil und mit dir eins. Also befreie dich von den Fesseln, die dich in der Stadt festhalten. Oder willst du enden wie die Drosselkinder in ihren Nestern aus Plastikmüll?«

Nein, das will ich nicht, sagt sich Paula. Ich werde mich selbst befreien. Sie lässt die Überreste der SIM-Karte ins Unterholz rieseln. Entschlossen folgt sie dem Weg, der ins Erholungsbiet Storkower Moor hineinführt.

Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude, Büro Hallstein

Kurz vor neun. Max Lohmeyer, Kriminaloberkommissar beim LKA Berlin, betritt das Büro und legt den Piaggio-Helm auf seinen Schreibtisch. Nagelneues Retro-Modell, »naturlederbraun« laut Verkäuferin, in Max’ Augen eher dackelfarben. Aber er mochte den Topf sofort. Passt perfekt zu seinem cremefarbenen Vespa-Roller.

Während Max noch dabei ist, sich aus der Lederjacke zu schälen, fangen sämtliche Telefone das Klingeln an. Vorne auf seinem Schreibtisch, hinten auf Hallsteins Schreibtisch, und irgendwo im Regal plärrt noch ein drittes Mobilteil.

Geht ja gut los, denkt Max. Dabei ist er noch nicht mal richtig wach. Die Kaffeemaschine zu Hause kaputt und das Nescafé-Glas, seine Notfallreserve, rätselhaft leer.

Er lässt sich in seinen Schreibtischsessel fallen, greift nach dem Telefon. »Dezernat elf, KOK Lohmeyer.«

»Geben Sie mir die Hauptkommissarin. Frau Hallstein.«

Männlich, Mitte bis Ende sechzig, taxiert Max. Polterige Stimme, eher ungehobelt als befehlsgewohnt. »Die ist nicht im Haus. Mit wem spreche ich denn? Kann ich etwas ausrichten, Herr …?«

»Schon mal von der Enkelin-K.-o.-Masche gehört?«

Jetzt ist Max hellwach. Er schiebt seinen Helm zur Seite und zieht den Schreibblock mitsamt Kugelschreiber zu sich heran. »Können Sie sachdienliche Hinweise geben?«

»Sind Sie zuständig?«, blafft der Anrufer. »Ja oder nein?« Seine Stimme klingt plötzlich brüchig.

Ein Großvater, geht es Max durch den Kopf. Seine Enkelin ist weg. Oder hat er sie auch schon freigekauft? Wie die fünf anderen Großelternpaare davor. »Sie sind genau richtig bei mir«, versichert er in seinem vertrauenswürdigsten Tonfall. »Oberkommissar Lohmeyer. Meine Kollegin Hallstein und ich arbeiten zusammen an dem Fall.«

»Hat ja bisher nicht viel gebracht«, grollt der Anrufer. »Das perverse Schwein ist immer noch unterwegs. Und jetzt hat er meine Enkelin. Unsere Jäcky …« Er unterbricht sich, aus dem Telefon dringen unartikulierte Laute.

»Bitte versuchen Sie, Ruhe zu bewahren«, sagt Max. »Ich weiß, das ist unter den gegebenen Umständen leicht gesagt, aber es ist absolut notwendig. Den ersten Schritt haben Sie schon getan. Es war vollkommen richtig, dass Sie mich angerufen haben, Herr …«

»Reinhardt. Ihre Ruhe ist für den Arsch. Ich muss heute noch fünfzehntausend Taler hinblättern, sonst hackt er Jäcky in genauso viele Stücke. Das hat er wortwörtlich so geschrieben. Der perverse Dreckskerl!« Die letzten Wörter bellt der Großvater heraus, dann bekommt er einen Hustenanfall.

Max lässt ihn erst mal wieder zu Atem kommen. Wenn er zu viel Druck macht, legt Herr Reinhardt womöglich auf. Das darf auf keinen Fall passieren, er ist der Erste, der sich an die Polizei wendet, während seine Enkelin noch in der Gewalt des Kidnappers ist.

Warum tut er das?, fragt sich Max. Bisher hat der Mix aus massiver Bedrohung und überschaubarer Lösegeldforderung dafür gesorgt, dass die Angehörigen mit dem Täter kooperiert haben. Jedenfalls in den Fällen, von denen wir wissen, schränkt Max in Gedanken ein. Aber trotzdem, warum geht Reinhardt das Risiko ein?

»Fünfzehntausend sind eine Menge Geld«, sagt er versuchsweise.

»Bullshit! Die Kohle krieg ich zusammen. Jäcky ist sechzehn. Unser einziges Enkelkind. Für unsere Kleine würde ich alles tun!«

»Aber Sie finden den Gedanken unerträglich, dass der Täter erneut davonkommen könnte«, sagt Max. »Das geht mir genauso, Herr Reinhardt. Also lassen Sie uns jetzt den nächsten Schritt machen. Schicken Sie die Täternachricht an mich weiter. Ich gebe Ihnen meine Mail-Adresse. Vielleicht finden unsere IT-Experten ganz schnell einen Hinweis, der uns …«

»Vergessen Sie’s«, fällt ihm der Großvater ins Wort. »Wenn der Typ nicht total verblödet ist, kontrolliert er den Traffic auf dem Server und merkt sofort, dass das Video von einer anderen IP-Adresse aus abgerufen worden ist.«

Max macht große Augen. Der Mann kennt sich aus. »Ihre Bedenken sind im Prinzip natürlich berechtigt. Aber unsere Experten kennen die nötigen Mittel und Wege, damit der Täter nichts bemerkt.«

»Kommt trotzdem nicht infrage«, gibt Reinhardt zurück. »Viel zu gefährlich für Jäcky. Ich bestimme, wo es langgeht, jeden einzelnen Schritt. Oder Sie sind draußen. Verstanden?«

»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Reinhardt. Hundertprozentig. Sagen Sie mir bitte, wo wir uns treffen können. Sie sind doch in Berlin? Ich komme sofort zu Ihnen.«

Reinhardt räuspert sich. Er scheint zu überlegen. »Meine Frau weiß von nichts«, sagt er, »aber das biege ich schon hin. Und Sie kommen allein und in Zivil, verstanden? Kein Lametta, kein Blaulicht.«

»Selbstverständlich«, versichert Max. »Ich komme mit dem Roller. Niemand würde mich für einen Polizisten halten. Wohin also?«

»Auto-Paradies Lichtenrade, Motzener Straße. Sie sind ein Kaufinteressent, kapiert?«

»Hundertprozentig, Herr Reinhardt.« Max notiert die Adresse. Vor Monaten war er mit Hallstein mal in der Gegend, südlichster Zipfel von Berlin. Irgendwie düster. Als würde die Mauer dort noch immer Schatten werfen. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«

Er behält das Telefon in der Hand, um sofort Hallstein anzurufen. Kriminalhauptkommissarin Kira Hallstein, seine direkte Vorgesetzte, hat zum ersten Mal seit Wochen einen freien Tag. Und seit Kurzem einen neuen Lover, falls Max das richtig mitbekommen hat. Es versetzt ihm einen Stich, wie jedes Mal. Hallstein steht auf wilde, verrückte Typen. Und jung müssen sie sein. Max passt nicht in ihr Beuteschema, das hat er mittlerweile kapiert. Zu höflich, zu altmodisch, dazu der bayerische Akzent. Aber das heißt noch lange nicht, dass er seine Hoffnungen begraben würde. Immerhin ist er zehn Jahre jünger als sie. Aber wenn er sie jetzt anruft, kann es sein, dass sie stinksauer reagiert.

Wo sie in letzter Zeit sowieso so leicht aus der Haut fährt, sinniert Max und legt das Telefon vor sich auf den Schreibblock. Eigentlich schon, seit sie aus ihrer Auszeit zurück ist.

Hallstein hat angeordnet, sie umgehend zu informieren, wenn ein größerer Fall hereinkommt. Wenn er jetzt allein weiter ermittelt und sich herausstellt, dass er wirklich dem Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche auf der Spur ist, wird Hallstein ihn pfählen und am Drehspieß braten. Wenn er sie aber aufscheucht und der Erpresser sich als Trittbrettfahrer herausstellt? Oder wenn sich, schlimmer noch, Reinhardt als Spinner erweist, der sich alles nur ausgedacht hat? Dann pfählt und brät sie mich erst recht, denkt Max und wird ganz kribblig. So weit würde Hallstein zwar mutmaßlich nicht gehen, aber ziemlich dominant ist sie schon.

Trotzdem, beschließt er, ich fahre allein ins Auto-Paradies. Erst mal die Mail und das Video prüfen. Wenn das Zeug echt aussieht, schlage ich Alarm.

Ganz wohl ist ihm dabei nicht, aber das ist eben das klassische Dilemma an Hallsteins freien Tagen. Er stellt das Telefon zurück in die Ladeschale, hinterlässt eine Notiz für seine Kollegin Svenja Wuttke und greift sich erneut den Retro-Helm.

Brandenburg, Storkower Moor

Schneller als erwartet schwingt sich Paula Nieburg in den Rhythmus des Waldes ein. Ihre Schritte, ihr Atem, ihre Gedanken, alles an und in ihr bewegt sich im gleichen ruhigen Takt wie die Zweige über ihr, wie der Bach, der neben dem Weg dahinfließt. Der Boden federt unter ihren Füßen. Die Luft riecht würzig und ist angenehm kühl. Sonnenlicht dringt in vereinzelten Strahlen durch die Baumkronen und taucht alles in gedämpftes Grün.

Genauso, denkt Paula, wie damals in unserem Urlaub im Wald. Erinnerungen steigen in ihr auf. Wie sie zwischen ihren Eltern einen moosbewachsenen Weg entlangging, alle drei Hand in Hand. Wie zufrieden sie sich fühlte. Glücklich, denkt Paula, ein Wort, das sie sonst nie gebraucht. Schon gar nicht für sich selbst. Sie sieht sich als kleines Mädchen von sechs Jahren, wie sie mit seligem Lächeln zu ihren Eltern emporschaute. Papa, Mama, beide für mich da. Sie fühlt sogar die Wärme, die sie in jenem Moment durchströmte. Lächelnd greift Paula hinter sich und zieht ihre Wasserflasche aus der Netztasche an ihrem Rucksack. Sie trinkt einen Schluck, schiebt die Flasche zurück ins Fach, alles ohne im Laufen innezuhalten. Eigentlich doch ganz praktisch, Vaters alter Rucksack.

Als sie gefühlt eine Stunde gewandert ist, bleibt sie stehen und schaut sich um. Der Weg ist breit genug für einen Geländewagen, wenn auch mit Löchern und Steinen übersät. Doch die Fahrrinnen im torfig weichen Boden zeigen, dass hier ab und zu ein Forstfahrzeug vorbeikommt. Links neben dem Weg erstreckt sich Sumpf, so weit man schauen kann. Brauner Schlamm, teilweise schillernd grün überzogen, dazwischen Baumskelette, die wie erstarrte Tänzer aussehen. Rechter Hand wird der Weg von dornigem Dickicht gesäumt, dahinter muss der Bach sein.

Ein bisschen ausruhen wäre nicht schlecht, denkt Paula und hält nach einer Sitzgelegenheit Ausschau. Sie steht neben einem mächtigen Baum, der sich über Weg und Dickicht erhebt. Vielleicht eine Eiche, aber mit Bäumen kennt sie sich nicht aus. So wenig wie mit allem anderen, was zur freien Natur gehört.

Ein helles Pfeifen, wie von winzigen Flöten, erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie legt den Kopf zurück und sieht nach oben. Da ist ein Nest in einer Astgabel, vielleicht zwei Meter über ihr. Es besteht aus Zweigen, Grashalmen, Federn, ein kunstvoll erbautes kleines Wunderwerk. Vier Vogelküken sitzen darin, schwarz-braun getupfte Federbällchen, die auf einmal zu schreien beginnen.

Was ist los mit euch?, denkt Paula. Habe ich euch erschreckt? Da kommt die Antwort herbeigeflattert, zwei ausgewachsene Vögel, genauso gemustert wie die Küken, nur viel größer. Bestimmt die Eltern, denkt Paula, sie haben Futter für die Kleinen besorgt.

So leise wie möglich tritt sie ein paar Schritte zur Seite. Die Vogeleltern sind auf dem Nestrand gelandet und stopfen Futter in die weit aufgerissenen Schnäbel der Kleinen. Natürlich, denkt Paula, das sind Drosseln, genau wie in den »Befrei dich!«-Videos. Wieso hat sie das nicht gleich erkannt?

Fasziniert beobachtet sie die Drosselfamilie in ihrem Waldnest und sieht gleichzeitig die Vögel aus den Videos vor sich. Ihr schäbiges Nest in einem verkrüppelten Straßenbaum, erbaut aus Plastikmüll und Schnüren. Ein Slum-Nest, denkt Paula, ein Albtraum-Nest. Während sie die glückliche Vogelfamilie beobachtet, sieht sie vor ihrem inneren Auge die unglücklichen Küken in ihrem Müllnest. Sie sind in den Luftballonschnüren verheddert, die ihre Eltern für den Nestbau verwendet haben. Sie schlagen mit den kleinen Flügeln und geben jämmerliche Schreie von sich. Mit jeder Bewegung zieht sich das Netz um sie herum noch enger zu. Die Kleinen bekommen keine Luft mehr, zucken kraftlos mit den Flügeln. Ihre Eltern flattern um das Nest herum, stupsen die Kinder an, stoßen Klagerufe aus.

Doch neben alldem Horror geschieht in den »Befrei dich!«-Videos auch jedes Mal ein Wunder. Einer der jungen Vögel schafft es mit einem verzweifelten Ruck, seine Fesseln aufzusprengen. Er reckt den Hals, pumpt seinen kleinen Körper auf, flattert mit den Flügeln und erhebt sich schwankend in die Luft. Erst mühsam und unbeholfen, dann zunehmend kraftvoll steigt er in den Himmel empor. Am Ende des Videos ist die Erde aus der Perspektive der Jungdrossel zu sehen, die sich selbst befreit hat. Aus luftiger Höhe beobachtet der Vogel eine junge Frau, die sich zu Fuß, mit einem kleinen Rucksack als einzigem Gepäck, auf den Weg gemacht hat. Die schmale Gestalt verlässt die Straße und biegt in einen Waldweg ein. »Entgehe dem Schicksal der Drosselbrut!«, fordert die drängende Stimme. »Befrei dich, solange du noch die Kraft hast, das Netz zu zerreißen!«

Paula hat Tränen in den Augen, als sie weitergeht. Aber sie weint vor Freude, weil auch sie es geschafft hat, sich zu befreien. Von ihrem Studium, das ein Albtraum für sie war. Von ihren Freundinnen, im Netz und im analogen Leben, denen sie sich nie nahe fühlte. Sie gab ihr Bestes, um wie alle anderen zu sein, postete die gleichen Bilder und Sprüche, stylte sich wie alle, smilte wie alle, wenn sie Selfies schoss, und fühlte sich immer fremder, beengter dabei. Eingeschnürt wie von unsichtbaren Schnüren. Befrei dich!

Paula ist so tief in Gedanken, dass das Motordröhnen nur allmählich in ihr Bewusstsein dringt. Hinter ihr nähert sich ein Fahrzeug. Räder mahlen im weichen Untergrund, mit hellem Knallen spritzen Steine unter den Reifen hervor. Bestimmt der Förster, denkt Paula wieder und tritt an den Wegrand, um den Wagen vorbeizulassen.

In Gedanken ist sie noch bei den Drosselküken, die in ihrem Müllnest erstickt sind. So wie fast auch ich, denkt sie, dabei ist sie schon neunzehn, längst kein Küken mehr. Da kommt der Wagen angeschlingert, es ist nicht der alte Geländewagen, den sie erwartet hat, sondern ein himmelblaues Gefährt. Ein Transporter, offenbar neu hergerichtet und strahlend blau lackiert, aber so hochbeinig und altertümlich, als käme er direkt aus der Vergangenheit. Aus den Neunziger- oder Achtzigerjahren, so genau kennt sich Paula nicht aus. Jedenfalls ist das ein Oldtimer, sagt sie sich, die haben sich bestimmt verfahren. Oder führt der Weg vielleicht zu einem Campingplatz?

Sie drückt sich mit dem Rucksack ins Dickicht am Wegrand, weiter zurückweichen kann sie nicht. Der Fahrer des Nostalgiemobils hat sein Tempo verlangsamt, Paula sieht sein Gesicht, von gespiegelten Ästen in der Scheibe halb verdeckt. Die abwärts weisenden Mundwinkel, die starren Augen hinter der übergroßen Brille – er sieht selbstgerecht aus, mürrisch, wie ständig gekränkt. Paula hat ein Gespür für Menschen, für das, was sie im Innern ausmacht. Deshalb dachte sie ja – oder ließ sich einreden –, es wäre eine gute Idee, Psychologie und Soziale Arbeit zu studieren. Als ob ich jemandem helfen, gar irgendwen heilen könnte, geht es ihr durch den Kopf. Doch der Mann im himmelblauen Kastenwagen hat nichts Gutes im Sinn, das spürt sie so klar, dass sie sich am ganzen Körper versteift.

Im Schritttempo fährt er an ihr vorüber, so nah, dass sie winzige Pusteln auf dem strahlend neuen Lack ausmachen kann. Das Herz hämmert ihr in der Brust. Gleich ist er vorbei, denkt sie, da fliegt krachend die Schiebetür hinten an der Beifahrerseite auf. In der Öffnung erscheint ein zweiter Mann, jünger, dürrer als der massige Mann am Steuer, und grinst Paula an.

Sie will sich wegducken, herumwerfen, aber ihr Rucksack hat sich im Gestrüpp verheddert und hält sie fest. Der Mann hat rote Augen, Vampiraugen, Säuferaugen, er zieht irre Grimassen, und bevor Paula auch nur den Mund aufbekommen hat, beugt er sich vor, packt sie bei den Hüften und reißt sie in den Wagen hinein. Sie verlieren beide das Gleichgewicht, liegen keuchend übereinander auf dem Boden, während der Mann am Steuer wieder beschleunigt. Das Letzte, was Paula zu sehen bekommt, ist ihr Fahrrad, das neben ihr im Laderaum liegt, und das Aufblitzen der Injektionsnadel, die der dürre Mann ihr in den Hals sticht. Sofort wird es um sie herum schwarz.

Berlin, Motorroller Max Lohmeyer

Das wuchtige LKA-Gebäude in Berlin-Tiergarten stammt noch aus der Kaiserzeit. In den Räumen mit den viel zu hohen Decken ist es bei jeder Wetterlage düster und kühl. Als Max unten aus der Tür tritt, kneift er die Augen zusammen. Die Helligkeit draußen ist jedes Mal ein Schock. Außerdem ist es schon wieder drückend warm, und das im Frühsommer um neun Uhr früh.

Während er mit seiner Vespa auf der Martin-Luther-Straße stadtauswärts fährt, lässt er sich durch den Kopf gehen, was sie bis jetzt über den »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche« wissen. Allzu viel ist es nicht.

Den holprigen Titel hat irgendein Boulevardreporter dem Täter verpasst. So ungelenk er klingt, so umständlich ist das kriminelle Geschäftsmodell, nach dem der Kidnapper vorgeht. Umständlich, aber erfolgreich, denn bisher hat die Masche aus Sicht des Täters durchweg funktioniert – jedenfalls in den Fällen, von denen sie Kenntnis haben. Kriminologen gehen davon aus, dass höchstens zehn Prozent aller Lösegelderpressungen angezeigt werden.

Im Grunde hat der Täter zwei alte Hüte miteinander kombiniert, den Enkeltrick und die K.-o.-Tropfen-Masche. Der Enkeltrick besteht darin, überforderten Großeltern Geld abzugaunern, indem man ihnen vorspiegelt, ihr Kindeskind befinde sich in einer akuten finanziellen Notlage. Die K.-o.-Tropfen-Masche läuft darauf hinaus, einem ahnungslosen Opfer ein Betäubungsmittel – meist auf Benzodiazepin-Basis – einzuflößen, das bei entsprechender Dosierung das Bewusstsein für viele Stunden ausschaltet. Benzos sind zudem schon circa zwanzig Stunden nach der Einnahme nicht mehr im Organismus nachweisbar. Das Opfer leidet an einer Gedächtnislücke, kann sich also bei entsprechender Dosierung weder an den Täter noch an irgendwelche Tatumstände erinnern. Benzodiazepine schalten außerdem nicht nur das Bewusstsein aus, sondern erhöhen zugleich massiv die sexuelle Erregbarkeit. Daher heißen sie auch »Date Rape«-Tropfen und werden häufig von Vergewaltigern eingesetzt.

Der »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Tropfen-Masche« schöpft alle Möglichkeiten aus, die sich ihm mit dieser sinistren Kombination bieten. Seine Opfer sind dreizehn- bis sechzehnjährige Mädchen, die er irgendwo im Stadtgebiet aufgreift. Er verabreicht ihnen (mutmaßlich) K.-o.-Tropfen auf Benzo-Basis und verschleppt sie in eine bizarre Dschungelkulisse, wo er sie vor laufender Kamera vergewaltigt. In den Missbrauchsvideos, betitelt »Im Harem des Affenkönigs«, tritt er selbst als »Affe« auf, mit Ganzkörperfellanzug einschließlich Affenmaske. Nur sein total enthaarter Unterleib ist auf den Videos unverhüllt, das muskulöse Gesäß und der abnorm dimensionierte Penis. Ein Psychopath, daran lässt auch der Stil seiner Botschaften an die Angehörigen keinen Zweifel. Aber er agiert keineswegs impulsiv oder gar chaotisch, sondern durchaus kontrolliert.

Das Snuff-Video lädt er auf einem Server irgendwo in Postsowjetistan hoch und schickt den Link samt Erpresser-Mail an die jeweiligen Großeltern des Opfers. Darin fordert er ein Lösegeld im niedrigen fünfstelligen Bereich. Kategorisch werden die Großeltern angewiesen, keine weiteren Familienangehörigen zu informieren, sonst werde der Link an alle Online-Kontakte des Opfers verschickt und somit »die Zukunft des verfickten Flittchens geschreddert«. Sollten die Großeltern die Polizei einschalten, werde ihre Enkelin »in Einzelteilen zurückerstattet«. Bei vollständiger Kooperation dagegen komme das Mädchen unversehrt frei, das massiv kompromittierende Video werde aus dem Netz genommen und (angeblich) gelöscht.

Auf der Stadtautobahn fährt Max bis zur Abfahrt Tempelhofer Damm und über die B 96 weiter in Richtung Süden. Die Straßen sind verstopft wie praktisch immer, aber mit seiner Vespa schlängelt er sich sogar an hochverdichteten Blechverklumpungen vorbei. Sich kleiner zu machen, als man in Wirklichkeit ist, hat klare Vorteile, nicht nur im Straßenverkehr.

Lichtenrade liegt am südlichen Stadtrand, ein kleinstädtisch anmutender Kiez mit meist unscheinbaren Einfamilienhäusern und absurd holprigen Kopfsteinpflasterstraßen. Mittendrin erhebt sich ein Hochhausgebirge aus den Siebzigerjahren, Modell Plattenbau West. Ein sozialer Brennpunkt mit stattlichen Deliktraten und Großfamilien, die seit Generationen von staatlichen Transferleistungen leben.

Max ist seit eineinhalb Jahren in Berlin, aber die brutale Hässlichkeit mancher Straßenzüge kann ihn noch immer schockieren. Berlin ist nicht nur die Hauptstadt der Schwerkriminalität, sondern auch die Kapitale der Architekturverbrechen, geht es ihm durch den Kopf, als linker Hand die Hochhaussiedlung Lichtenrade-Ost vor ihm auftaucht. Doch seine Gedanken kehren rasch zum »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche« zurück.

In bisher fünf Fällen haben die Angehörigen beziehungsweise Opfer nachträglich Anzeige erstattet, allerdings erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat. Über die Erpresser-Mail hinaus konnten sie nur wenige sachdienliche Hinweise liefern. Den Link zum Video hatte der Täter zu diesem Zeitpunkt längst deaktiviert. Die Opfer selbst wiesen keine körperlichen Gewaltspuren (mehr) auf und gaben an, keine Erinnerungen an die erlittenen Übergriffe zu haben. Das erste Opfer der Serie, Evy Kalasch, vierzehn, wurde Anfang Februar dieses Jahres gekidnappt, das fünfte, Charlotte Halbach, fünfzehn, Ende März. Keines der fünf Mädchen war länger als achtundvierzig Stunden in der Gewalt des Entführers. Nach Zahlung des Lösegelds wurden sie umgehend freigelassen. Sediert und traumatisiert, aber ohne ernstere körperliche Verletzungen.

Trotz intensiver Ermittlungen konnten Hallstein und Max bislang keine Hinweise auf Identität oder Aufenthaltsort des Täters ausfindig machen. Oder der Täter, denn natürlich kann er über Helfershelfer verfügen, doch auch dafür haben sie keine Anhaltspunkte entdeckt. Alle fünf Mädchen waren zum Zeitpunkt der Entführung in Berlin wohnhaft, allerdings in weit voneinander entfernten Stadtteilen. Sie besuchten unterschiedliche Schulen, standen in keiner persönlichen Verbindung miteinander, hatten keine gemeinsamen Freunde oder Bekannten. Und doch gibt es auffällige Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern.

Alle fünf Mädchen waren zum Zeitpunkt ihrer Entführung bei ihren Eltern beziehungsweise bei einem Elternteil wohnhaft. Trotzdem wandte sich der Erpresser mit der Lösegeldforderung jedes Mal an die gleichfalls in Berlin lebenden Großeltern. Genau wie in diesem Fall, sagt sich Max. Auch Jäcky lebt bei ihrer Mutter in Berlin, und auch diesmal hat der Kidnapper seine Lösegeldforderung nicht an sie, sondern an den Großvater gerichtet. Was ist die Logik dahinter? Darauf haben sie bis jetzt nicht einmal eine hypothetische Antwort. Drei Monate intensiver Fahndung, denkt Max, und wir tappen noch immer im Dunkeln. Was sich aber heute ändern könnte.

Max biegt vom Tempelhofer Damm in die Barnetstraße ein. Hier gibt sich Lichtenrade eher bürgerlich, weniger Mietblocks, dafür etliche Eigenheime in liebevoll gepflegten Gärten.

Warum hat Großvater Reinhardt angerufen?, fragt er sich erneut. Wie in den Fällen zuvor hat der Erpresser damit gedroht, seine Geisel in Stücke zu hacken, falls die Polizei eingeschaltet wird. Und da Reinhardt die Berichterstattung in den Medien offenbar genau verfolgt hat, muss ihm auch klar sein, dass sich der Kidnapper an seine eigenen Spielregeln hält: Wenn die Angehörigen kooperieren, lässt er die Geisel nach Zahlung des Lösegelds umgehend frei. Da er keine unerfüllbar hohen Forderungen stellt, erscheint es aus Sicht der Angehörigen wenig sinnvoll, seine Anweisungen zu missachten und damit das Leben ihrer Enkelin zu gefährden.

Das ist letztlich sein Erfolgsgeheimnis, sagt sich Max. Trotzdem hat uns Reinhardt zu Hilfe gerufen. Aus welchem Grund? Tut ihm die Lösegeldzahlung doch so weh, dass er Jäckys Leben riskiert, um die fünfzehntausend Euro möglichst schnell zurückzubekommen?

Max setzt den Blinker und biegt rechts in die Motzener Straße ein. Nicht weit von hier verlief bis vor knapp dreißig Jahren die Mauer zwischen Westberlin und DDR. Nach der Wiedervereinigung haben sich hier allerlei Gewerbebetriebe angesiedelt, Baumärkte, Discounter und Billig-Outlets. Mitten im Einerlei grauer Funktionsbauten entdeckt er schließlich das angerostete Schild über einem Metalltor:

Auto-Paradies LichtenradeInh.: Gerd Reinhardt

Das Schild hat seine Glanzzeiten seit vielen Jahren hinter sich, genauso wie das Tor und der Metallzaun, der das Firmengelände umgibt. Und wie die vierzig oder fünfzig Gebrauchtwagen, die hinter dem Zaun aufgereiht stehen.

Das Tor ist angelehnt. Max drückt es mit dem Vorderrad auf und rollt durch ein Spalier betagter Karossen auf die Verkaufsbaracke zu. Golf, Corsa, A-Klasse, registriert er, alle mindestens zehn Jahre alt. Nicht Vintage, keine Youngtimer, sondern einfach nur abgewrackt. Das hier ist kein Paradies, sondern ein Hospiz für Autos.

Berlin-Lichtenrade, Auto-Paradies

Max steigt von der Vespa und schnallt seinen Helm ab. Die Sonne brennt vom Himmel. Trotz der raschen Fahrt ist ihm unter der Hirschlederjacke warm.

Ein untersetzter Mann mit weißem Haarkranz und schütterem Pferdeschwanz kommt aus der Blechbaracke gestürmt. Er hat das verwitterte Gesicht eines Siebzigjährigen, doch seine Arme sind muskelbepackt und mit Drachentattoos dekoriert. Dazu passend trägt er schwarze Lederjeans und ein ausgeblichenes T-Shirt mit dem Schriftzug Child in Time.

Ein Deep-Purple-Fan, denkt Max. »Herr Reinhardt?« Er streckt dem älteren Herrn die Hand entgegen. Noch vor zwei Jahren, als Kriminalkommissar in Rosenheim, hätte er den bulligen Best Ager eher auf der Täterseite verortet. Aber in Berlin hat er schnell gelernt, dass die Maßstäbe der bayerischen Provinz hier selten Gültigkeit haben.

»Sie kommen wegen der S-Klasse?« Reinhardt spricht mit erhobener Stimme, er schreit fast, obwohl er direkt vor Max steht. Die hingestreckte Hand ignoriert er und stürmt, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter auf den Hof. »Da hinten steht das gute Stück«, ruft er über die Schulter und schwenkt einen Schlüsselbund.

Max sieht sich unauffällig um. Offenbar glaubt der Mann, dass sie beobachtet werden. Das Gelände ist unübersichtlich, zwischen den Autos könnte sich mühelos ein Lauscher verstecken. Aber das ergibt keinen Sinn.

Er folgt Reinhardt in den überdachten hinteren Bereich des Verkaufsgeländes. Hier werden offenbar die Kronjuwelen aufbewahrt. Ein Jaguar, ein 7er BMW, zwei Audi-A8-Limousinen. Doch auch die einstigen Luxusschlitten sind in die Jahre gekommen und sehen ziemlich mitgenommen aus. Kratzer, Rostpickel, altersmatter Lack.

Den Abschluss der Reihe bildet ein goldfarbener S-Klasse-Mercedes. »Steigen Sie ein«, sagt Reinhardt übertrieben laut und zeigt auf die Beifahrerseite. »Der Wagen ist das reinste Schmuckstück, das werden Sie gleich sehen. Aber er hat ein paar Eigenheiten, die muss ich Ihnen erst mal zeigen. Danach dürfen Sie ans Steuer.«

»Alles klar«, sagt Max. Über das vermeintliche Schmuckstück hinweg nickt er Reinhardt zu. Der Kotflügel vorne rechts weist eine hässliche Delle auf, die Nerven des Großvaters sind offenbar nicht weniger lädiert. Sein linkes Auge zuckt, seine Hand zittert so heftig, dass er mehrere Anläufe braucht, um die Fahrertür aufzuschließen.

»Ein W220er, EZ Anfang 02«, sagt Reinhardt, als sie nebeneinander in den schwarzen Ledersesseln sitzen. Der Wagen strömt noch immer eine Big-Boss-mäßige Erhabenheit aus. Auch wenn die Holzverkleidung verkratzt ist, das Leder rissig.

Max dreht sich um und verstaut Jacke und Helm auf der Rückbank. »Einer meiner Brüder hat mal so einen Schlitten gefahren«, sagt er und lächelt Reinhardt an. Er hat zwei Brüder, Daniel und Florian. Beide sind Petrol Heads und ständig pleite, weil sie jeden Cent in Sportwagen oder großmotorige Schlitten mit unstillbarem Spritdurst verfeuern. »Ein 430 SE, oder? Mit 270 PS?«

»Zwo neunundsiebzig«, sagt Reinhardt. »Acht Zylinder, bärenstarke Maschine. Und immer noch flüsterleise.« Er selbst redet noch immer viel zu laut. Der Schweiß läuft ihm übers Gesicht. Sein Auge zuckt.

Mittlerweile ist es Viertel nach zehn. Für dieses Theater haben sie eigentlich keine Zeit, sagt sich Max. Jedenfalls, wenn Reinhardts Story stimmt. Dann wird ihm der Kidnapper in spätestens zwei, drei Stunden mitteilen, wo das Lösegeld deponiert werden soll. Bis dahin muss die Logistik stehen. Datenüberwachung, Observation, SEK. Doch bis jetzt hat Max nicht mal die angebliche Täter-Mail zu sehen bekommen.

Trotzdem, ich lasse ihn erst mal runterkommen. Der Mann steht so unter Stress, der bricht ihm sonst noch zusammen. »Von mir aus kann’s losgehen«, sagt er.

Der Großvater kratzt mit dem Schlüssel am Armaturenbrett herum. Die Drachen auf seinem Bizeps zucken und züngeln. »Erst 175 000 Kilometer auf der Uhr«, ruft er. »Unfallfrei!« Er trifft das Zündschloss und dreht den Schlüssel. Der Motor startet fast unhörbar. »Benziner natürlich«, schreit Reinhardt, schiebt den Automatikhebel auf Drive, und sie rollen los.

Die Achsfedern ächzen. Der Großvater umklammert das Steuer, dass seine Knöchel weiß hervortreten, biegt auf die Straße ein und gibt Gas. »Mein Handy liegt im Handschuhfach«, sagt er, plötzlich so leise, dass Max Mühe hat, ihn zu verstehen. »Sie brauchen nur drauftippen, die Mail von dem Dreckschwein ist offen.«

Max wirft ihm einen besorgten Blick zu. Reinhardts T-Shirt ist auf der Brust und unter den Armen schweißnass. »Wollen Sie nicht besser rechts ranfahren, Herr Reinhardt? Sie stehen unter enormem Stress. Einen Unfall können wir jetzt gerade gar nicht gebrauchen.«

Der Großvater fährt stur weiter, geht aber ein wenig vom Gas. Max nimmt das Handy aus dem Handschuhfach. Ein HTC, neuestes Modell. Gerd Reinhardt mag ein alter Mann sein, eher Mitte als Anfang siebzig, aber IT-mäßig ist er auf der Höhe der Zeit.

Max tippt auf das Smartphone, der Bildschirm wird hell. Er überfliegt die Mail, sein Herzschlag beschleunigt sich. Das ist er. Der gleiche verrückte Stil wie in den anderen Mails. Nur mit dem Unterschied, dass sie seine Botschaft diesmal zu sehen bekommen, während das Opfer noch in seiner Gewalt ist. Und nicht erst Wochen danach.

»Hey, Oldies, ist Euch eigentlich klar, was für eine Schlampe Eure Enkelin ist? EKELIN trifft es besser, ha-ha! Die kleine Fotze treibt es mit einem AFFEN und hat ihren geilen Spaß dabei! Wie widerlich ist DAS denn?!? Schaut es Euch an, aber pass auf, Opa, dass Oma deinen STÄNDER nicht sieht.Sowolltest Du DreckyJäcky auch immer mal rannehmen, wie?

Und hier kommt, wie Ihr Sie zurückkriegen könnt. Wund gefickt in ALLEN Löchern, sonst aber fast wie neu. Also: Treibt 15 TEUR in 50er und 100er Scheinen auf und macht SCHNELL. Packt alles in einen Unauffälligen Umschlag. Morgen Mittag geht’s weiter. Kein Wort zu Mami oder Papi, sonst geht der Fickfilm online, und die Zukunft von Jäckylein ist geschreddert. Und keinen SCHEISSTON zur Bullerei. Sonst kriegt Ihr FickyJäcky in 15tausend Einzelteilen zurück!!!

Gruß vom AFFENKÖNIG«

Max schaut erneut zu Gerd Reinhardt hinüber. Der Großvater hat die Lippen zusammengepresst und kann doch das Schluchzen nicht unterdrücken. Schweiß läuft ihm über die Wangen, Tränen rinnen aus seinen Augen.

»Fahren Sie rechts ran, Herr Reinhardt«, sagt Max energisch. »Sie sind fix und fertig.«

Reinhardt nickt, ohne ihn anzusehen. Er setzt den Blinker und fährt auf den Parkplatz eines Baumarkts, der trotz der frühen Stunde schon stark frequentiert ist. »Ich fahre nach hinten durch, da ist es ruhiger.« Er parkt neben einem Kleinlastwagen, der ihre Goldkutsche zur Straße hin abschirmt, und schaltet den Motor aus.

»Wie geht es eigentlich Ihrer Frau?«, fragt Max.

Reinhardt wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Hanne hat keine Ahnung«, stößt er hervor.

»Aber Sie wollten ihr doch sagen, dass Sie sich mit mir treffen?«

»Ging nicht. Konnte ich nicht. Sie weiß von gar nichts.«

Max macht große Augen. »Von gar nichts? Auch nicht, dass Jäcky entführt worden ist?«

Reinhardt schüttelt den Kopf, dass sein dünner Pferdeschwanz gegen die Rücklehne peitscht. »Sie hat sowieso schon kaputte Nerven, geht das in Ihren Beamtenschädel rein?«

Max nickt ihm beruhigend zu. Kaputte Nerven?, überlegt er. Wieso? Also doch finanzielle Probleme?

»Sie würde das hier nicht verkraften«, sagt Reinhardt leise. »Keine Chance.« Er holt tief Luft. »Die Mail von dem Schwein ist gestern Nachmittag gekommen. Ich wollte es ihr sagen, hab es aber nicht fertiggebracht. Stattdessen habe ich Hilda angerufen. Unsere Tochter. Jäckys Mutter.« Er schüttelt den Kopf und verstummt.

Max fasst den älteren Mann am Unterarm. »Herr Reinhardt, bitte, wir haben keine Zeit. Was haben Sie zu Ihrer Tochter gesagt? Haben Sie ihr auch von der Kidnapper-Mail erzählt?«

»Schwachsinn!« Reinhardt schüttelt Max’ Hand ab. »Hilda ist ein gutes Mädchen. Sie war auch immer eine gute Mutter für Jäcky. Hat sich um die Kleine gekümmert, für sie gekocht, mit ihr Hausaufgaben gemacht. Aber seit Till sie sitzen gelassen hat, ist sie von der Rolle. Dr. Till Martens, ihr beschissener zweiter Mann. Vor drei Monaten ist er abgehauen, zwei Wochen später hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten. Gott sei Dank hat Jäcky sie rechtzeitig gefunden. Seitdem sitzt Hilda nur noch zu Hause auf der Couch. Im Morgenmantel. Sie lässt sich gehen, verstehen Sie?«

Er formt mit der Hand einen Becher, den er vor seinem Mund hin und her bewegt. »Sie trinkt Rotwein, schon vormittags, das war früher undenkbar bei ihr. Alles nur, weil ihr verfluchter Till sie verlassen hat. Er ist aus seiner Anwaltskanzlei ausgestiegen, Martens & Tornow, Wirtschaftsrecht. Angeblich besucht er in Jakarta Psycho-Kurse. Spirituelle Selbsthypnose, haben Sie so eine Scheiße schon mal gehört?«

Max schüttelt den Kopf. Seit er beim LKA Berlin ist, hatte er schon mit den sonderbarsten Heiligen zu tun. Mit Geistheilern, Dämonenbeschwörern, wiedergeborenen Pharaonen und sogar mit einem selbst ernannten Schöpfergott. Aber unter spiritueller Selbsthypnose kann er sich nicht mal ansatzweise etwas vorstellen.

»Und seitdem kriegen Jäcky und Hilda keinen Pfennig mehr von ihm, weil er angeblich keine Einnahmen mehr hat!«, stößt der Großvater hervor. »Die Mail von dem Dreckschwein habe ich natürlich nicht erwähnt«, fährt er leiser fort. »Ich habe Hilda nur gefragt, wie es ihr und Jäcky so geht. ›Alles gut, Vater‹, hat sie gesagt. ›Ich rackere für meine Kosmetikerprüfung, Jäcky übernachtet bei einer Freundin.‹ Und Sie und ich werden jetzt dafür sorgen, dass sie wieder zu Hause ist, bevor meine Frau und meine Tochter mitbekommen haben, dass irgendwas nicht stimmt.«

Max nickt. »Deshalb bin ich hier, Herr Reinhardt.« Auf den treulosen Schwiegersohn scheint er fast genauso wütend zu sein wie auf den Kidnapper, überlegt er. Und in beiden Fällen geht es – zumindest auch – um Geld. »Till Martens ist nicht Jäckys Vater, oder?«

»Das fehlte noch. Jakob, mein erster Schwiegersohn, war ein guter Kerl. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für eine glückliche Familie die drei waren.«

»Und was ist dann passiert?«

Reinhardts Gesicht verhärtet sich. »Autounfall, das ist jetzt sieben Jahre her. Jakob ist nachts von der Straße abgedrängt worden, draußen in Lübars. Irgendein Idiot muss ihm in der Kurve auf seiner Spur entgegen gekommen sein. Jakob wollte ausweichen, mit hundert Sachen gegen einen Alleebaum, sofort tot. Der Schuldige ist nie gefunden worden. Unfallflucht.« Unter dem angetrockneten Schweiß sieht sein Gesicht wie lackiert aus. »Schnee von gestern. Kommen wir endlich zur Sache. Die fünfzehntausend liegen bei mir zu Hause im Tresor. Fünfziger, Hunderter, unauffälliger Umschlag. Alles, wie es der Dreckskerl verlangt hat.«

»Perfekt, Herr Reinhardt«, lobt Max. »Geben Sie mir nur noch einen Augenblick. Dann besprechen wir, wie es weitergeht.«

Berlin-Lichtenrade, Parkplatz Baumarkt

Max atmet durch und aktiviert erneut den Bildschirm des HTC-Smartphones. Nach einem Seitenblick auf Reinhardt leitet er die Kidnapper-Mail an seine eigene Adresse weiter. Der Großvater sitzt zusammengesunken hinter dem Steuer und scheint mit seinen Gedanken weit weg zu sein. Max scrollt durch die Mail und tippt mit der Fingerspitze auf das Wörtchen So, das mit dem Link unterlegt ist. Das Display wird schwarz, kurz darauf startet das Video mit einem Kamerasturzflug zwischen die Beine einer jungen Frau.

Max’ Magendecke verkrampft sich, noch bevor der Titel des Videos ganz verblasst ist. »Im Harem des Affenkönigs, Folge 9«. Es ist das erste Mal, dass er eines der Erpresservideos zu sehen bekommt. Doch was er auf dem Bildschirm erblickt, deckt sich mit den Beschreibungen, die die Angehörigen der anderen Opfer zu Protokoll gegeben haben.

Eine rothaarige junge Frau, mutmaßlich Jäcky Reinhardt, liegt in Rückenlage auf einem hügelartigen Arrangement, das mit Kunstrasen und synthetischen Schlingpflanzen dekoriert ist. Das Opfer ist unbekleidet, die schulterlangen Haare wie ein Fächer um ihren Kopf herum ausgebreitet, die Beine weit gespreizt. Der »Affenkönig«, ein groß gewachsener Mann in zottligem Orang-Utan-Kostüm, steht zwischen ihren Schenkeln und stößt seinen Penis in sie hinein. Wieder und wieder, wie eine Motorramme. Das eng anliegende Fellimitat umhüllt ihn von Kopf bis Fuß, ausgenommen seine Augen und sein Unterleib. Hinter den halb geschlossenen Lidern des Opfers ist nur das Weiß der Augäpfel zu sehen. Die junge Frau ist offenbar nicht bei Bewusstsein. Und doch nimmt sie in beklemmender Weise Anteil an dem ihr aufgezwungenen Geschlechtsakt.

Das kommt von den Benzodiazepinen, denkt Max. Aber dieses Wissen hilft ihm wenig, der Anblick ist absolut verstörend. Nicht wegen der eingeblendeten Klangkulisse, ein Durcheinander grunzender, fiepender, knurrender Tierstimmen. Auch nicht wegen der ambitionierten Kameraführung mit überraschenden Schnitten und wechselnden Perspektiven. Sondern weil die junge Frau ohne Bewusstsein ist und doch offenkundig starke Lust empfindet. Auf jeden Stoß ihres Vergewaltigers reagiert sie mit inbrünstigem Stöhnen. Ihre Hüften zucken, der Kopf rollt hin und her. Der tropfenförmige Anhänger an ihrer Halskette springt zwischen ihren Brüsten auf und ab. Auch ihre Handgelenke sind mit Kettchen und Armbändern geschmückt, an der linken Hand trägt sie zudem zwei Ringe, einer goldfarben, der zweite dunkelrot.

Mit alldem Schmuck sieht sie noch nackter aus, geht es Max durch den Kopf. Von Berufs wegen musste er schon einige Snuff-Videos ansehen, in denen es weit brutaler zuging. Mit Opfern, die auf jede vorstellbare Art und Weise verletzt, verstümmelt, zu Tode gefoltert wurden. Aber das hier verstört ihn fast noch mehr.

Ihr Ich ist ausgeknipst, wer oder was stöhnt da also vor lauter Geilheit? Ein Klumpen aus Nerven, Muskeln, zuckendem Fleisch? Die Zunge hängt ihr aus dem Mund, ihre Körperspannung ist extrem reduziert. Die Arme schlackern wie bei einer Stoffpuppe, ihr flacher Bauch, Brüste und Wangen wackeln wie Gelee. Und dabei stöhnt sie so außer sich vor Lust, wie Max das nie bei irgendwem erlebt hat. Nicht bei sich selbst und bei keiner Frau, mit der er je im Bett war.

Der Film ist gerade mal 1:32 Minuten lang, aber es fühlt sich an wie eine kleine Ewigkeit. Wie quälend muss es erst für Familienmitglieder sein, ihre eigene Angehörige so missbraucht zu sehen. Max schließt die Wiedergabe-App und legt das Smartphone ins Handschuhfach zurück. Er spürt einen Kloß im Hals. Die Bilder werden ihn verfolgen, der bewusstlos bebende Körper, Jäckys Stöhnen, das nicht ihres ist. Wessen aber sonst?

»Es tut mir so leid für Ihre Enkelin«, sagt er.

Gerd Reinhardt nickt. »Was jetzt?«

Max schenkt ihm sein vertrauenswürdigstes Lächeln. »Sie bringen mich jetzt bitte zu meinem Roller zurück, dann fahren Sie nach Hause und warten, bis der Täter wieder mit Ihnen Kontakt aufnimmt. Wir müssen davon ausgehen, dass er sich am frühen Nachmittag melden wird. So war es jedenfalls in den anderen fünf Fällen, von denen wir – leider erst nachträglich – Kenntnis erlangt haben.«

Reinhardt nickt erneut. Max holt seinen Notizblock aus der Tasche und lässt sich Privatadresse und Festnetznummer der Großeltern aufschreiben. Prinzessinnenstraße, eine der besseren Lichtenrader Ecken, wenn auch in der Flugschneise des Flughafens Schönefeld.

»Sie machen einfach, was der Kidnapper verlangt«, fährt Max fort. »Er wird Sie zu einem Ort irgendwo in der Stadt dirigieren. Dort deponieren Sie den Umschlag mit dem Lösegeld und finden einen zweiten Umschlag vor, mit einer Anweisung, was Sie als Nächstes machen sollen. Halten Sie das Blatt mit der Anweisung so, dass wir einen Blick darauf werfen können. Wir sind ständig in Ihrer Nähe, aber Sie werden uns nicht zu sehen bekommen.«

Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt, ergänzt Max im Stillen. Einen Kidnapper angreifen zu müssen, der die Geisel in seiner Gewalt hat, ist der Worst Case. Aber manchmal bleibt einem keine Wahl.

Der Großvater fixiert einen imaginären Punkt auf der Windschutzscheibe »Sie halten sich zurück, bis Jäcky in Sicherheit ist. Sie machen überhaupt nichts, was in irgendeiner Weise für sie gefährlich sein könnte. Das ist die rote Linie, klar?«

»Darauf können Sie sich hundertprozentig verlassen.«

Reinhardt zieht eine Grimasse. »Das heißt auch, dass nichts irgendwie präpariert werden darf. Das Geld nicht, mein Auto nicht, ich selbst nicht. Wenn die irgendwelche Kabel oder Sensoren oder sonst was finden, hacken sie meine Kleine in Stücke.«

Max achtet darauf, weiter beruhigend zu lächeln. »Wir tun nichts, was Ihre Enkelin gefährden könnte. Darauf haben Sie mein Wort.«

»Sie bringen keine Wanze an meiner Karre an, klar? Und Sie verstecken keine Farbbombe, oder wie das heißt, im Geldumschlag. Oder sind Ihre Leute schon bei mir im Haus und brechen meinen Safe auf?« Er sieht Max durchdringend an.

»Um Himmels willen, nein, Herr Reinhardt. Wir halten uns an die Absprache mit Ihnen.« Max massiert sich die Schläfen. »Aber ein bisschen Spielraum müssen Sie uns schon lassen. Es kann sich immer irgendetwas ergeben, das so nicht vorherzusehen war.«

»Ihr Problem. Ich hab Ihnen gesagt, was geht und was nicht. Und Sie versprechen mir jetzt, dass Sie sich haarklein daran halten.«

Warum ruft er uns zu Hilfe und legt uns dann so enge Fesseln an?, überlegt Max. Bereut er schon, uns ins Boot geholt zu haben? Auf jeden Fall steht der Großvater enorm unter Stress.

»Versprochen, Herr Reinhardt«, wiederholt er. »Ruhen Sie sich zu Hause noch etwas aus. Und wenn es dann losgeht, tun Sie einfach, was der Kidnapper verlangt. Alles wird gut werden«, fügt er hinzu, als Reinhardt nicht reagiert. »Ihre Enkelin kommt wohlbehalten frei. Und der Täter landet hinter Gittern.«

»Das Dreckschwein«, murmelt Reinhardt. Schweiß tropft ihm in den Kragen seines ausgeblichenen T-Shirts.

Max sieht ihn an, und Fetzen aus dem Deep-Purple-Song gehen ihm durch den Kopf: »Sweet child in time / You’ll see the line / The line that’s drawn between / Good and bad / See the blind man / Shooting at the world …« Hat Gerd Reinhardt gerade das Gefühl, dass er und seine Familie von einer blindwütigen Macht beschossen werden, mit der man sich besser nicht anlegen sollte?, überlegt Max.

Der Großvater greift nach dem Zündschlüssel, doch anstatt den Wagen zu starten, dreht er sich erneut zu Max. »In dem Scheißvideo heißt es ›Folge neun‹. Haben Sie doch auch bemerkt?«

Max nickt. »Wir müssen davon ausgehen, dass es weitere Fälle gibt, von denen wir noch keine Kenntnis haben, weil die Opfer beziehungsweise ihre Angehörigen keine Anzeige erstattet haben. Aus Angst, dass sich der Kidnapper rächen könnte, oder weil sie zu traumatisiert sind.«

Reinhardt sieht ihn noch einen Moment lang an, als wollte er eine weitere Frage stellen. Dann dreht er den Zündschlüssel, schiebt den Automatikhebel auf R und parkt aus.

Dass die Folgen sechs bis acht bisher nicht aufgetaucht sind, kann auch eine weniger harmlose Erklärung haben, sagt sich Max, während sie zum Auto-Paradies zurückfahren. Vielleicht hat sich der Kidnapper in diesen Fällen nie bei den Angehörigen gemeldet. K.-o.-Tropfen richtig zu dosieren, ist nicht ganz einfach. Wird dem Opfer eine zu niedrige Dosis verabreicht, wacht es vorzeitig auf und kann den Täter identifizieren. Eine überhöhte Benzo-Gabe dagegen kann zum Atemstillstand führen. Beides bedeutet mit ziemlicher Sicherheit den Tod des Opfers.

Aber diese Varianten behält Max für sich. Stattdessen macht er sich eine mentale Notiz: Vermisstenanzeigen checken. Auch wenn es Hallstein bestimmt nicht entgangen wäre, wenn irgendwo in Berlin oder im Brandenburger Umland in den letzten Monaten ein weiblicher Teenager vermisst gemeldet worden wäre, der auch nur einigermaßen ins Beuteschema des Enkelinnen-Kidnappers passt.

Vor über zwanzig Jahren verschwand Hallsteins jüngerer Bruder Tobias spurlos. Letztes Jahr haben sie und Max ihn unter albtraumhaften Umständen aufgespürt. Doch sie durchforstet noch immer wie besessen Vermisstenanzeigen, als könnte sie ihren Tobi noch einmal finden, diesmal aber rechtzeitig. Ihn finden und retten, bevor er von einem Wolf in Menschengestalt aufgefressen und wieder ausgespuckt worden wäre, zu einem zweiten menschlichen Wolf mutiert.

Berlin-Charlottenburg, Wohnung Hallstein

Kriminalhauptkommissarin Hallstein liegt in ihrem Himmelbett. Sie ist übernächtigt, aber das macht ihr gar nichts. Heute ist ihr freier Tag, und neben ihr liegt Lou.

Er liegt auf dem Rücken, die Arme wie Schwingen ausgebreitet, die schmalen, langgliedrigen Hände locker zu Fäusten geformt. Lou lächelt im Schlaf. Hallstein hat den Kopf in die linke Hand gestützt und starrt ihn an.

Die Sonne scheint durch ihre drei Meter hohen Altbaufenster und lässt den goldgelben Baldachin noch goldener leuchten. Bestimmt ist es draußen schon wieder brütend warm. Perfektes Badeseewetter, sagt sich Hallstein. Aber sie hat andere Pläne. Sie wird den Tag mit Lou im Bett verbringen.

Die erste Hälfte der Nacht haben sie sich leidenschaftlich geliebt. In der zweiten Hälfte füllte Lou sein Skizzenbuch genauso leidenschaftlich mit Bleistiftzeichnungen. Dabei lag er abwechselnd in Bauch- oder Seitenlage neben ihr, fluchte oder murmelte leise und kratzte unermüdlich mit dem Stift übers Papier. Hallstein schlief entsprechend unruhig, wachte immer wieder auf, sah ihm heimlich beim Zeichnen zu.

Lou ist der Schönste, der sich je von ihr umarmen ließ. Hellblond, sehr hellhäutig, hellblaue Augen. Jungenhafter Typ, aber robust gebaut. So, wie sie es mag.

Er heißt Lou van Eyck, eigentlich Ludwig Eichner. Mit sechzehn beschloss er, Künstler zu werden, und legte sich den neuen Namen zu. Er ist dreiundzwanzig, viel zu jung für sie, das weiß Hallstein auch. Und es ist ihr so was von egal.

Durch Lou bist du neu geboren, sagt sich Hallstein. Herzlichen Glückwunsch, Kira.

Lou nennt sie bei ihrem Vornamen, von Anfang an, und – oh Wunder – sie hat nichts dagegen. Bei ihm fühlt es sich richtig an. Sogar richtig gut. Bei fast jedem anderen klingt Kira wie Rabenkrächzen oder wie das Klirren von Stahl. Wie eine Klinge, die in ihr die immer gleiche alte Wunde öffnet. Deshalb müssen fast alle anderen sie Hallstein nennen. Nicht Frau Hallstein, und keinesfalls Kira. Doch bei Lou ist alles anders.

Er trägt eine grobgliedrige Kupferkette um den Hals, eng umschließend wie ein Hundehalsband, »nur zur Erinnerung, dass niemand wirklich frei ist«. Er unterschreibt mit Lo.v.E., nicht nur auf seinen Bildern. Er studiert an der Universität der Künste, ein paar Straßen von Hallsteins Wohnung entfernt. Schöpfung1-2, so hat er die geheimnisvolle Installation genannt, an der er unaufhörlich arbeitet. Vielleicht ist er ein bisschen verrückt. Und sie ein bisschen zu verrückt nach ihm. Aber auch das ist ihr egal.

Das Skizzenbuch liegt zwischen seinen Füßen, die Blätter wellen sich unter dem schwarzen Pappeinband, so heftig hat er Seite um Seite vollgezeichnet. Ideen, Figuren, Choreografien quellen nur so aus ihm heraus. Schon das Modell von Schöpfung1-2 füllt sein halbes WG-Zimmer bis zur Decke, Maßstab 1:30. Ein klobiger, lang gestreckter Bau aus Pressspan und Gipskarton. Die Vorderfront schmucklos modern, eine betongraue Hochhauswabe, die Rückfront roher Fels, durchlöchert von unzähligen Höhlen. Vorne in den Balkontüren stehen einzelne Figuren und warten auf das Lufttaxi, das sie abholen soll. Hinten in den Höhleneingängen stehen ganz ähnliche Gestalten, nur in Fellumhängen, und warten auf den urzeitlichen Riesenvogel, der sie wegbringen soll.

Auf die Frage, was er mit seinem Werk aussagen will, gibt Lou keine Antwort. »Vernunft, Logik, alles Betrug«, hat er ihr erklärt. Ob er das wirklich meint, hat Hallstein bisher nicht herausgefunden.

Vor einer Woche hat sie ihn zum ersten Mal mit in ihre Wohnung genommen. Immer noch klopft ihr Herz schneller, wenn sie ihn nur ansieht. Sie will ihn streicheln, küssen, an und auf und in sich spüren. Aber er hat bis kurz vor Sonnenaufgang an seiner Kunst gearbeitet, also lässt sie ihn erst mal schlafen.

Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, angelt sie nach seinem Skizzenbuch. Sie kriegt es mit zwei Zehen zu fassen und hebt es behutsam an. Doch dabei kratzt der Einband über sein Schienbein, und Lou schlägt die Augen auf. Diese unglaublich blauen, sofort hellwachen Augen.

»Oh, sorry«, sagt sie.

»Hey, Kira«, murmelt er und zieht sie zu sich heran. »Hast du die Zeichnungen schon gesehen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich gebe zu, dass ich drauf und dran war. Aber ohne deine Zustimmung …«

Er verschließt ihren Mund mit einem stürmischen Kuss. Bevor sie wieder zu Atem gekommen ist, hat er sie um die Mitte gepackt und auf sich draufgesetzt. »Meine Zustimmung?« Sanft dringt er in sie ein. »Ich habe dich gezeichnet, Kira, zehn Mal, fünfzehn Mal. Ich will eine Skulptur von uns beiden machen. Mit dir als Reiterin, genauso wie jetzt.«

»Du bist verrückt«, sagt sie. Er hat ihr mal ein Foto von einer Skulptur gezeigt, die er aus Kunststoff modelliert hat. Naked Sleeper, ein Selfie, lebensgroß. »Ich bin Beamtin«, fügt sie hinzu. »Kriminalbeamte dürfen nicht als nackte Statuen in Museen stehen. Oder gar auf ihrem nackten Lover sitzend, der zwanzig Jahre jünger ist als sie.«

Er krallt seine Finger in ihr Hinterteil. »Honiggelb mache ich uns«, sagt er, »ich sehe uns schon vor mir. Und die Skulptur gehört natürlich dir. Stell damit an, was du willst, Kira.« Er lächelt sie so zärtlich an, dass sie fast heulen muss vor Glück. »Mach mit mir, was du willst«, sagt Lou. »Mit mir und allem, was ich bin und habe. Es gehört dir. Lo.v.E.«

Er sagt noch viel mehr zärtliche Dinge zu ihr, während er sie unverwandt ansieht und sie auf ihm reitet, die Hände auf seine weiße, haarlose Brust gestemmt. In ihr wächst eine Woge, so mächtig, als wäre sie ein Meer, dessen Fluten sich hoch und immer höher auftürmen, bis sie donnernd an einer Felsenküste brechen, krachend und klatschend, wieder und wieder, und sich nur langsam wieder beruhigen, so wie Hallsteins Atem, als sie vornübersinkt und ihre Wange auf Lous Brust legt.

»Unsere Skulptur«, keucht er in ihr Ohr. »Ich mache uns lebensgroß, aus goldgelbem Kunstharz. Wie gefällt dir das?«

Er streichelt ihren schweißnassen Rücken. Bevor sie etwas antworten kann, fängt ihr Smartphone an zu krächzen. Den Klingelton könnte ich bald mal austauschen, sagt sich Hallstein. Vielleicht gegen Möwenschreie?

Sie rollt sich von Lou herunter und hangelt nach dem Blackberry neben ihrem Bett. Auf dem Display steht MaxL.

»LKA. Da muss ich dran.« Sie setzt sich auf die Bettkante und nimmt das Gespräch an. »Hey, Max, was habt ihr?«

»Der Enkelinnen-Kidnapper«, sagt Max. Er kiekst, wie meistens, wenn er aufgeregt ist. »Er hat wieder ein Mädchen entführt. Irgendwann heute soll die Lösegeldübergabe sein.«

»Sagt wer?«

»Der Großvater des Opfers. Gerd Reinhardt, Gebrauchtwagenhändler. Er hat mir die Erpresser-Mail gezeigt. Es gibt auch wieder ein Video. Ganz übel, Hallstein.«

Ihr Herzschlag beschleunigt sich erneut. Aber es fühlt sich ganz anders an als eben noch mit Lou. Jagdfieber, Adrenalin. »Schick mir alles aufs Handy«, weist sie Max an.

Sie beendet das Gespräch, will aufspringen, aber Lou kauert hinter ihr und hält ihr sein aufgeschlagenes Skizzenbuch vor die Nase. Die Bleistiftskizze füllt eine Doppelseite. Hallstein starrt darauf, ihr Herz setzt aus. Sie schließt die Augen. Der Junge, auf dem sie rittlings sitzt, sieht aus wie Tobias. Das kann doch nicht sein! Als sie die Augen wieder aufmacht, hat der junge Mann auf der Zeichnung Lous kantigere Züge.

Gott sei Dank. Ihr Herzschlag setzt wieder ein. Sie atmet tief durch.

»Gefällt es dir nicht?« Er klingt eine Spur irritiert.

»Es ist wunderschön, Lou.«

»Kann dein Kollege die Ganoven nicht allein zur Strecke bringen?«

Sie dreht sich zu ihm um und nimmt ihn in den Arm. »Leider nein. Ich muss jetzt los. Aber wenn du willst, bleib ruhig noch hier.«

Er sieht sie überrascht an. Bisher hat sie ihn jeden Morgen vor die Tür gesetzt, wenn sie zur Arbeit ging. Lou musste sogar immer fünf Minuten vor ihr verschwinden, damit niemand sie zusammen sah.

»Hinter der Küchentür hängt ein Schlüssel.« Sie hastet zu ihrem Schrank, reißt die Türen auf. Die Lösegeldübergabe findet vermutlich in einem Park statt, überlegt sie. Also hellgrünes T-Shirt, dunkelgrüne Chinos. Grün mag sie sowieso am liebsten. »Ich habe keine Ahnung, wie lange es bei mir dauert«, fügt sie hinzu, während sie mit den Anziehsachen in Richtung Bad sprintet. »Falls du wegwillst, bevor ich zurück bin, schließ ab und nimm den Schlüssel mit.«

Nie zuvor hat sie so etwas zu irgendwem gesagt.

Berlin-Wilmersdorf, Volkspark

Kurz vor halb drei. Hallstein und Max sitzen auf der Wiese im Volkspark und mimen ein sich sonnendes Paar. Kinder schreien, Bälle fliegen, Hunde machen Jagd auf Frisbee-Scheiben. Es ist unglaublich heiß, die Schattenplätze unter den wenigen Bäumen sind allesamt belegt. In der Luft ein Geruchsmix aus Sonnenmilch und Grillfleisch. Und irgendwo hier, sagt sich Hallstein, liegt der Täter auf der Lauer.