Geisterschrein - Andreas Gößling - E-Book

Geisterschrein E-Book

Andreas Gößling

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Beschreibung

Wahnsinn – oder Wissenschaft? Liebende – oder Mörderin?  Ein furioser Psychothriller über die Macht der Liebe und die Geister der Vergangenheit Pures Entsetzen erwartet Grete Reiter, als sie frühmorgens in der Suite eines Bangkoker Hotels erwacht: Miko, der mysteriöse Thailänder, in den sie sich nach nur einer Nacht rettungslos verliebt hat, wird eben aus dem 12. Stock in den Tod gestürzt. Grete flüchtet panisch zurück nach Deutschland, ebenso aus Furcht vor dem Mörder wie davor, dass man ihr den Mord anhängen könnte. Wochen später mitten in Berlin. Unvermittelt steht Grete Mikos exaktem Ebenbild gegenüber: dem Archäologen Lenny Mong, der einem uralten Geheimnis auf der Spur ist - einem Kult, der zu unglaublichen Dingen imstande gewesen sein könnte. Auch dazu, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden? Entgegen aller Vernunft wächst in Grete die Überzeugung, dass Lenny Miko ist … Andreas Gößling, Experte auf dem Gebiet archaischer Kulte, haucht dem Mystery-Thriller neues Leben ein: Geschickt verknüpft er die Forschung über Verbindungen zwischen uralten Hochkulturen mit einer leidenschaftlichen Liebe, die selbst den Tod überwindet. Das Ergebnis ist ein furioser Thriller zwischen Thailand und Deutschland, der gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Erklärbarem und Übersinnlichem balanciert.

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Seitenzahl: 691

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Andreas Gößling

Geisterschrein

Thriller

Knaur eBooks

Ein Thriller über die Macht der Liebe, der Literatur und der Geister der Vergangenheit

Über dieses Buch

Pures Entsetzen erwartet Grete Reiter, als sie frühmorgens in der Suite eines Bangkoker Hotels erwacht: Miko, der mysteriöse Thailänder, in den sie sich nach nur einer Nacht rettungslos verliebt hat, wird eben aus dem 12. Stock in den Tod gestürzt. Grete flüchtet panisch zurück nach Deutschland, ebenso aus Furcht vor dem Mörder wie davor, dass man ihr den Mord anhängen könnte.

Wochen später mitten in Berlin. Unvermittelt steht Grete Mikos exaktem Ebenbild gegenüber: dem Archäologen Lenny Mong, der einem uralten Geheimnis auf der Spur ist - einem Kult, der zu unglaublichen Dingen imstande gewesen sein könnte. Auch dazu, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überwinden? Entgegen aller Vernunft wächst in Grete die Überzeugung, dass Lenny Miko ist …

Inhaltsübersicht

Motto

Prolog

Drei

Zwei

Eins

Null

Schluss und Dank

 

 

 

 

Was ist wahr, was Wahn, was Fantasie?

Warum reimt sich Wut auf Blut?

Aus welchem Stoff ist Wirklichkeit?

Wen liebst du, wenn du liebst?

Alex Blumfeld: Nachtlos

 

Prolog

Am frühen Nachmittag des 22. Februar 2017 steht Polizeimajor Wannakit am Fenster seines Büros im Hauptquartier der Royal Thai Police in Bangkok. Von hier aus hat er freien Blick auf den weltberühmten Erawan-Schrein mit der vergoldeten Statue des vierköpfigen Hindugottes Brahma, der wie immer von unzähligen Touristen belagert wird.

Die Sorge des Tourismusministers, sagt sich Wannakit, war offenbar unbegründet. Nicht einmal der Bombenanschlag im vorletzten Sommer, bei dem zwanzig Opfer zu beklagen waren, hat den Strom der Gläubigen und Schaulustigen stoppen können. Kaum hatten die Behörden den Schrein freigegeben, nahm das bunte Treiben wieder seinen Lauf.

Jahr für Jahr ziehen die spirituellen Stätten in Bangkok und ganz Thailand Abermillionen Menschen aus aller Welt an. Und trotzdem lassen sich die Autoritäten immer wieder von der Sorge leiten, der Tourismus, die wichtigste Einnahmequelle des Landes, könne durch gewisse hässliche Zwischenfälle Schaden nehmen.

Zum Beispiel durch den mutmaßlichen Mord, den der Polizeimajor gerade auf dem Tisch hat. Mit der Weisung, die Akte umgehend zu schließen.

Ein Mord im Luxushotel Dusit Thani, das von König Bhumibol höchstpersönlich eingeweiht worden ist? Ausgeschlossen. »Schaffen Sie das aus der Welt, Major.« Wannakit hat die schnarrende Stimme seines Vorgesetzten noch im Ohr.

»Zu Befehl, Herr General.« Er straffte sich, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zu seinem Schreibtisch zurück.

Der Abschlussbericht, den er sich in den zurückliegenden Stunden abgerungen hat, liegt ausgedruckt auf seinem Notebook.

Als Student hat Jirapong Wannakit kurzzeitig davon geträumt, sein Leben der Literatur zu widmen. Zwanzig Jahre ist das her, und dass es ein Traum bleiben würde, war schon damals klar. Schließlich stammt er aus einer Polizistenfamilie. Etwas anderes, als in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters zu treten, kam nie ernsthaft in Betracht.

Doch zumindest, sagt sich Wannakit, hat er die Gelegenheit bekommen, sechs kostbare Semester Literatur zu studieren. Und den einen oder anderen Kunstgriff hat er sich von den Meistern der literarischen Beschwörung abgeschaut.

In einem polizeilichen Abschlussbericht darf er natürlich nicht mit tiefgründigen Metaphern und stilistischen Extravaganzen glänzen. Doch dank seiner literarischen Schulung kann er zumindest seine Zweifel an der Weisheit seiner Vorgesetzten durchschimmern lassen, ohne Kopf und Kragen zu riskieren.

Obwohl … Wannakit fährt sich sinnend über die Stirn. Wenn er seinen Posten einbüßte, könnte er sich womöglich wieder der Literatur zuwenden. Vor allem den deutschen und englischen Romantikern, die haben es ihm wegen ihres Gespürs für übernatürliche Kräfte angetan …

Aber nein, das kommt leider nicht infrage. Wenn er entlassen würde, wäre seine Familie entehrt. Vierköpfiger Brahma, bewahre! Die Geister seiner Ahnen würden ihn verfolgen, bis er die Schande wieder getilgt hätte.

Mit einem Seufzer nimmt der Major hinter seinem Schreibtisch Platz und liest das heikle Schriftstück noch einmal durch.

 

ABSCHLUSSBERICHT zum Tod des MANITHO LUANG

Am frühen Morgen des 17. Februar 2017 stürzte der Geschäftsmann Manitho Luang (41 geworden), wohnhaft in Ruaeng, Ubon Ratchathani, vom Balkon seiner Suite im 12. Stock des Dusit-Thani-Hotels im Lumpini-Viertel. Der Geschädigte erlitt schwerste Hirn-Schädel-Verletzungen; die um 04:32 Uhr eingetroffene Notärztin konnte nur noch den Tod feststellen.

Bei der Leichenschau wurden Griff-, Tritt- und Hiebspuren am Körper des Geschädigten festgestellt, die diesem kurz vor Eintritt des Todes zugefügt worden sein müssen. Die kriminaltechnische Untersuchung der Suite des Manitho Luang erbrachte Hinweise auf eine unbekannte Person, die sich zum Geschehenszeitpunkt mutmaßlich in der Suite und auf dem zugehörigen Balkon aufgehalten hat. Aufgrund der Spurenlage scheint es plausibel, dass Manitho Luang vor seinem tödlichen Sturz von der besagten unbekannten Person körperlich attackiert worden sein könnte.

Der Geschädigte war als Vertriebsleiter bei der bekannten Geisterschrein-Manufaktur seines Halbbruders Santi Luang in Ruaeng, Ubon Ratchathani, beschäftigt. Nach Aussage seines Halbbruders war Manitho Luang ein erfahrener Muay-Thai-Kämpfer, der mehrmals wöchentlich in einem Sportclub trainiert habe. Die Befragung des Santi Luang erbrachte zudem Hinweise auf eine gewisse psychische Labilität des Verstorbenen.

Nach Prüfung aller Umstände sind die erfahrenen Autoritäten der Leitungsebene der Royal Thai Police zu dem Schluss gelangt, dass sich Manitho Luang in suizidaler Absicht vom Balkon seiner Suite gestürzt hat. Die mutmaßlich zum Geschehenszeitpunkt anwesende unbekannte Person kann demnach den Tod des Manitho Luang nicht verursacht haben.

Die Ermittlungen zur Identität der fraglichen Person wurden weisungsgemäß eingestellt; das asservierte Material – DNA-Spuren und Fingerabdrücke – wurde nicht weiter untersucht.

Bangkok, den 22.2.2017

Gez. Major Jirapong Wannakit

Royal Thai Police, Abteilung Verbrechensbekämpfung

 

Wannakit nimmt den bereitliegenden Füller – ein original Majestic von 1935, das gleiche Modell, mit dem angeblich Thomas Mann geschrieben hat –, schraubt die perlgrün schimmernde Kappe ab und setzt seine Unterschrift unter das Dokument.

 

Drei

Stimmen in der Nacht, Grete Reiter schreckt hoch. Wo ist sie? Das Zimmer dunkel, im Fenster grell und tosend die Stadt.

Bangkok. Sie ist im Hotel, wird ihr klar, im Dusit Thani am Lumpini-Park.

Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 04:24 Uhr. Durch die offene Balkontür weht heiße Luft herein. Dazu Fetzen eines erregten Wortwechsels.

Aber das hier ist nicht ihr Zimmer. Alles zu weit weg, die Wand, das Fenster, die Stadt. Ihr Zimmer ist viel kleiner. Und viel weiter unten im Hotelturm.

Sie ist bei Miko, eigentlich Manitho Luang, in seiner Suite, zwölfter Stock. Nackt und kompakt steht er auf dem Balkon, ein dunkler Schemen, gerahmt von der offenen Tür.

Gestern Abend noch ein Fremder, geht es Grete durch den Kopf. Und jetzt? Sie hat sich noch nie auf den ersten Blick in jemanden verliebt. Bis sie ihn gesehen hat, vorgestern Mittag in der Lobby.

Sie hatten Mango Daiquiri aus seiner Zimmerbar. Und dann atemberaubenden Sex. Er hat seine Finger in ihren Rücken gekrallt, und seine Lippen, seine Zunge spürt sie noch immer an den unglaublichsten Stellen. Aber es war viel mehr als der Sex. Seine Stimme, sein Lächeln, seine smaragdgrünen Augen.

Von Miko hat sie geträumt, jetzt ist sie hellwach. Mit wem redet er um halb fünf Uhr früh? Am Telefon, dachte sie erst, aber sie hört ja auch die Stimme des anderen. Ein heiseres Flüstern.

Wo kommt der plötzlich her? Von diesem anderen sieht sie nicht mal einen Schatten. Er muss weiter links auf dem Balkon stehen, vor der geschlossenen Jalousie.

Miko klingt erregt. Beschwörend redet er auf den anderen ein. Grete versteht kein Wort, die beiden sprechen Thailändisch. Und dann schlägt der Mann zu. Grete sieht nur seine abnorm große Faust, die von links ins Bild schießt und Miko seitlich am Kopf trifft.

Er sackt zusammen, der andere fängt ihn auf. Und dann, wie im Stroboskoplicht, bei jedem Herzschlag ein anderes überbelichtetes Bild: Miko von zwei kräftigen Armen emporgehievt … Miko über der Brüstung, sein Kopf haltlos baumelnd … Miko kopfüber fliegend … dann nur noch seine Beine von den Knien abwärts … und dann – Grete will die Fäuste auf die Ohren pressen, aber sie kann sich nicht rühren – tief unten der Aufprall. Ein dumpfes Klatschen.

Starr sitzt sie im Bett. Hämmern in der Brust, Gedankenfetzen im Kopf: Kontakt mit Einheimischen strikt untersagt, Order von ganz oben … Aber egal, sie hat gestern sowieso beschlossen zu kündigen. PR-Juniormanagerin bei Superbo, dem »deutschen Zara«, das hat sie sich anders vorgestellt. Trotzdem darf niemand erfahren, wo sie in dieser Nacht war. Wo sie immer noch ist …

Grete gleitet aus dem Bett, auf der dem Balkon abgewandten Seite. Sie zittert, in ihrem Kopf echot der Aufprall von Mikos Körper auf dem Asphalt. Im Halbdunkel, am Boden kauernd, zieht sie ihre Sachen über. Slip, Kleid, die roten Slipper in der Hand, mehr hatte sie nicht dabei.

So einen Sturz kann man nicht überleben … Der Satz löst nichts in ihr aus, außer noch mehr Zittern. Schock, denkt sie.

Sie muss von hier verschwinden, sofort. Sie hat Horrorstorys über Bangkoks Gefängnisse gehört. Seit das Militär die Macht ergriffen hat, landen dort auch Ausländer, aus nichtigem Anlass. Wenn sie hier von der Polizei entdeckt wird, ist ihre nächste Unterkunft eine überfüllte Gemeinschaftszelle, mit einer Fäkalrinne in der Mitte, über der die Gefangenen rittlings kauern.

Grete zwingt sich, gleichmäßig zu atmen. Aus und ein. Wie kommt sie hier unbemerkt raus? Wo ist eigentlich der andere Mann? Noch auf dem Balkon? Der Schattenmann …

Sie weiß es nicht, und sie kann ja nicht eben mal nachsehen. Wenn er noch da ist und sie bemerkt, bringt er auch sie um. Die Augenzeugin. Die dabei war, als der Mann ermordet wurde, der sie tiefer berührt hat als jeder andere zuvor.

Nicht heulen, Grete. Reiß dich zusammen …

Auf nackten Füßen schleicht sie durchs vordere Zimmer zur Tür, zieht sie lautlos auf, huscht hinaus.

Der Hotelflur liegt verlassen im Nachtlicht, ein Tunnel in Gold- und Rottönen. Grete folgt den Schildern zum Notausgang, schwindlig, ihr Herz rast. Unter den bloßen Fußsohlen fühlt sich der Teppichboden flauschig an, mit harten, kratzigen Stellen dazwischen.

Uralter Dreck, denkt sie, vielleicht getrocknetes Blut. In dem schattierenden Hell- und Dunkelrot fällt das nicht auf. Außer, du rennst hier auf nackten Füßen entlang.

Doch erst vor der Tür zum Treppenhaus lässt sie die Slipper zu Boden fallen, schlüpft hastig hinein. Das grüne Etuikleid klebt ihr am Körper, schweißnass. Wie rhythmisches Stampfen dröhnt ihr der Puls in den Ohren, doch da ist niemand. Weder im Flur noch im Treppenhaus, als sie die Tür aufzieht und auf den glitzernden Steinstufen abwärts eilt.

Ihre Absätze klacken auf Granit. Also die Slipper wieder aus und weitergerannt, Treppe um Treppe hinab mit wackligen Knien. Auf jedem Stockwerk eine Plattform, an den Feuertüren rot und riesengroß die Etagennummern: 10 – 9 – 8 … Der Countdown, bis er dich kriegt.

Blödes Zeug, er hat dich nicht bemerkt. Niemand verfolgt dich, Grete, du bist in Sicherheit.

Doch ihr Körper sieht das anders. Ihr Herz hämmert, Schweiß tropft ihr aus den Haaren.

Plötzlich polternde Schritte über ihr, passend zu den Schaufelhänden des Schattenmanns vom Balkon. Ihr bleibt fast das Herz stehen. Sie zwingt sich, weiterzugehen, weiterzuatmen, eins und zwei, aus und ein …

Bei jedem Stockwerk unterdrückt sie den Impuls, durch die Tür in den Hotelflur zu stürmen. Sie muss es in die dritte Etage schaffen, aber vorher muss sie den Schattenmann irgendwie abschütteln. Mikos Mörder … Nicht daran denken, nicht jetzt!

Auf der Plattform zum sechsten Stock hat sie eine Eingebung. Neben jeder Etagentür ist eine schmalere Tür, und die hier steht eine Handbreit offen. Dahinter Regale, voll mit Putzmitteln in Eimern und Kartons. Grete lässt die Eisentür mit der roten Sechs auf- und zuknallen und verdrückt sich in die Kammer daneben.

Stockdunkel ist es hier drin, und es riecht nach Chemie und abgestandener Luft. Aber sie zwingt sich, die Tür zuzuziehen. Ihr ist so schwindlig, dass sie sich hinkauern muss. Sie hält den Atem an und lauscht.

Keine Minute später stürmt ihr Verfolger durch die Etagentür neben ihr in den Hotelflur. Grete zählt lautlos bis zehn, schiebt die Kammertür einen winzigen Spalt weit auf und späht hinaus.

Niemand zu sehen. Sie rappelt sich auf und rennt weiter die Treppe hinab. Im dritten Stock stoppt sie erneut, fährt sich mit der Hand durchs verschwitzte Haar und setzt ein Lächeln auf.

Schließlich ist das hier das Land of Smile. Wahrscheinlich hatte auch der Schattenmann das landesübliche Lächeln im Gesicht, als er Miko vom Balkon warf …

Grete öffnet die schwere Feuertür und tritt in den Flur. Ihr Zimmer ist die 321, ziemlich weit vorne bei den Lifts. Sie eilt den Gang entlang, fischt die Schlüsselkarte aus dem Kleid und hält sie vor den Scanner.

Erst als die Zimmertür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, lässt sie den Schrei heraus. Und presst sich im nächsten Moment die Faust auf den Mund.

Still, Grete, du darfst kein Aufsehen erregen. Du weißt von nichts. Du warst die ganze Nacht in deinem Zimmer. Du kanntest den Toten gar nicht.

Was der Wahrheit sogar ziemlich nahekommt, jedenfalls nach landläufigen Begriffen. Sie haben nicht mal eine ganze Nacht zusammen verbracht. Unglaublich, wie dicht gefüllt diese paar Stunden waren. Mit Liebe, Lachen, Tanz sogar und unfassbar offenen Gesprächen. Alles zwischen Miko und ihr war intensiver, als sie es je zuvor erlebt hat. Wie ein ganzes, pralles Leben, gepresst in einen kurzen Traum.

Und trotzdem … Was weiß sie wirklich von ihm? Vor zwei Tagen, als sie im Hotel ankamen, die komplette PR-Truppe aus dem Superbo-Headquarter in München, stand er in der Lobby neben einer Säule. Selber säulengleich. Der Schnitt seiner Augen mandelförmig, die Farbe ein intensives, fast surreales Grün. Dazu schwarzer Anzug, weißes Hemd, wie mehr oder weniger alle asiatischen Männer in der Lobby. Er gehört zum Hotel, dachte Grete, aber ganz falsch.

Sie hat sein Lächeln kennengelernt, seine ausdrucksvolle Stimme, seinen leidenschaftlichen Körper. Aber sonst? Er besitzt eine »Manufaktur für Geisterschreine«, in denen ein mächtiger Geist verehrt wird, genannt Tai Thong Klom.

Ergibt das irgendeinen Sinn? In Thailand anscheinend schon. Tai Thong Klom ist »der Geist einer schwangeren Frau, die bei Geburtskomplikationen verstorben ist und rachsüchtig umherschweift, wenn sie nicht durch Opfer besänftigt wird«, hat Miko ihr erklärt. Doch jetzt kommt ihr seine Story ziemlich aus der Luft gegriffen vor. Buchstäblich: seine Geistergeschichte.

Im dämmrigen Zimmer tastet sie sich zum Fenster hinüber, öffnet leise die Balkontür. Feuchtheiße Luft klatscht ihr ins Gesicht. Dazu Jaulen von Polizeisirenen, zuckendes Blaulicht unten auf dem Parkplatz. Sie tritt hinaus, späht über die Brüstung. Und prallt zurück.

Der Plastiksarg hat die Farbe nasser Kreide. Eben wird er aufgeklappt, ein kompakter Körper angehoben, in eine weiße Plane gehüllt. Das Tuch verrutscht, als die beiden Uniformierten den Körper in den Sarg legen. Grete stopft sich die Faust zwischen die Zähne. Lässt sich hinter der Brüstung zu Boden fallen und erstickt den Schrei in ihrem Mund.

Mikos linke Gesichtshälfte ist zerschmettert, ein blutiger Brei. Die andere Kopfseite ist makellos. Der markante Wangenknochen. Das Auge starrt zu ihr herauf, mandelförmig und so leuchtend grün, wie – laut Miko – die Augen von Tai Thong Klom waren, als der Geist noch eine lebendige schwangere Frau war.

Grete lässt sich auf ihr unberührtes Bett fallen. Die Decke ist so straff gespannt, dass man kaum mit der flachen Hand darunterkommt. Aber die Decke braucht sie sowieso nicht. Sie schwitzt wie verrückt, atmet viel zu schnell. Ihr Herz hämmert, dass es fast wehtut.

Der Mann mit den Schaufelhänden, wo kam der so plötzlich her? Sie kann nicht klar denken. Aber du musst, Grete, reiß dich zusammen!

Also der Reihe nach … Um halb vier war sie noch wach. Oder nicht wirklich wach, doch als sie ihr Glas auf dem Nachttisch abstellte, fiel ihr Blick auf den Radiowecker: 03:33 … Für die meisten nur eine Schnapszahl, doch Grete musste an ihre Mutter Hannah denken. »3-3-3, die Dämonenzahl«, hörte sie Hannah murmeln. »Ein Drittel der himmlischen Geister schloss sich dem Aufstand an und wurde mit Satan verbannt …«

Nicht wirklich, Hannah, dachte Grete im Wegdämmern. In den Geschichten ihrer Mutter, einer erfolglosen Fantasy-Schriftstellerin, ist alles in Netze aus dunklen Bedeutungen eingesponnen. Nichts ist einfach das, was es zu sein scheint. Zahlen, Namen, »Konstellationen«, alles ist irgendwie tiefgründig, doppelbödig, schicksalhaft. Dabei ist Hannah die Nüchternheit in Person, wenn sie nicht gerade eine ihrer märchenhaften Storys schreibt. Für Grete ein Rätsel, über das sie sich schon als Kind den Kopf zerbrochen hat.

Sie liegt auf ihrem Bett, im dämmrigen Hotelzimmer. Allmählich beruhigt sich ihr Herz. Das Dusit Thani ist ein Luxusschuppen, fünf Sterne, im vornehmen Lumpini-Viertel. Dass hier ein Mord passiert sein soll, kommt ihr mit einem Mal wenig wahrscheinlich vor. Hat sie alles nur geträumt? Im Halbschlaf ausgesponnen, wie Hannah in ihren Geschichten bizarre Geschehnisse verknüpft, unbekümmert um Logik und Wahrscheinlichkeit?

Sie sieht ihre Mutter vor sich, wie sie eine ihrer Geschichten vorliest, in denen es von Zauberern, magischen Spiegeln, sprechenden Tieren nur so wimmelt. Eigentlich müsste Hannah wallende Rüschenkleider tragen, Haare bis zum Gürtel, Ketten, Armbänder, Ringe in verschwenderischer Fülle, doch niemand kleidet sich nüchterner als sie. Leggins, Longshirt, Ballerinas, dazu die weißblonde Pagenfrisur. Sie sieht mehr wie eine Ballettlehrerin aus, hochgewachsen, streng und kühl. Es spielt aber keine Rolle, denn wenn sie überhaupt einmal zu einer Lesung eingeladen wird, bleiben die Zuhörerstühle überwiegend leer. Ihre Erfolglosigkeit als Autorin ist so kolossal, als wäre sie von einer der Hexen aus ihren eigenen Texten verflucht …

Grete schüttelt den Kopf bei dem Gedanken an Hannah, doch im nächsten Moment fährt sie hoch. Sie darf sich jetzt nicht ausruhen! Was sie gesehen hat, ist wirklich passiert. Sie muss verschwinden, bevor die Polizei hier aufmarschiert und das Areal abriegelt. »Keiner verlässt das Hotel.« So läuft das doch üblicherweise: »Der Täter muss noch irgendwo hier im Haus sein.« Wenn jemand gesehen hat, wie sie Mikos Suite betreten oder verlassen hat, ist sie geliefert.

Sie setzt sich aufrecht hin, sieht sich im Zimmer um. Ihr Koffer in der Ecke neben dem Schrank. Sie wird ihre Siebensachen hineinwerfen und verschwinden. Sandalen, Sneakers, Stilettos, vom Zimmerservice säuberlich aufgereiht.

Grete rappelt sich auf, schaltet überall Licht ein. Aus dem Schranksafe holt sie ihr Smartphone, bucht einen Flug nach München über Frankfurt am Main, Abflug 07:53 Uhr ab Bangkok International Airport. Das kann sie gerade noch schaffen, falls das Taxi nicht in einem der berüchtigten Staus auf dem Highway zum Flughafen steckenbleibt. Aber um fünf Uhr früh hält sich sogar hier das Verkehrschaos in Grenzen.

Sie zerrt den Koffer aus der Nische, wirft ihn aufs Bett, klappt ihn auf. Dann steht sie vor dem offenen Schrank, und anstatt ihre Sachen herauszunehmen, sieht sie wieder Miko vor sich. Wie er in der offenen Balkontür stand, als sie erwachte. Neben ihm der Schattenmann, vom Bett aus unsichtbar.

Miko muss ihn hereingelassen haben, nachdem ich eingeschlafen war. Also kannte er den Mann? Was war so wichtig, dass sie es nachts um vier besprechen mussten? Und worüber sind sie dann in Streit geraten?

Ihr fällt ein, was er ihr gestern Abend über sein Geschäft erzählt hat. Da lagen sie auf seinem Kingsize-Bett, nackt und erhitzt nach ihrem ersten Liebesakt. »Sie sind hinter mir her, verstehst du, Grete?« Sie streichelte seine glatte Haut über den gewölbten Brustmuskeln und hörte mehr auf die Melodie als auf den Sinn seiner Worte. »Die gehen über Leichen«, fuhr er fort. »Weil sie mein Business haben wollen.«

Seinen Handel mit Geisterhäuschen, Grete lächelte amüsiert. Er sieht süß aus, dachte sie, wenn er sich so ins Zeug legt, damit ich ihn ernst nehme. Als Geschäftsmann und nicht nur als Lover.

Aber er hat nicht übertrieben, ganz offensichtlich nicht. Er ist tot. Sie lässt den Satz, seine ungeheuerliche Bedeutung, noch immer nicht an sich heran. Obwohl unten auf dem Parkplatz Sirenen jaulen, Funkgeräte knarzen.

Los jetzt, Grete. Sie stürzt zu ihren aufgereihten Schuhen. Und erstarrt in der Bewegung: Wo sind die Slipper?

Hektisch sieht sie sich im Zimmer um. Das darf nicht wahr sein, sie hat die verdammten Dinger irgendwo liegen gelassen. Nein, nicht irgendwo … Die müssen noch in der Putzkammer sein!

Was jetzt? Soll sie zurück und die Schuhe holen? Nicht, dass ihr Herz an den Tretern hängen würde. Aber würden die nicht den Verdacht der Polizei auf sie lenken?

Natürlich, genau das werden sie tun: wie zwei spitze rote Pfeile auf dich zeigen, Grete – die Frau, die zur Tatzeit mit dem Opfer zusammen war und sich anschließend davongeschlichen hat.

Sie drückt sich die Faust vor den Mund, um nicht erneut aufzuschreien.

Denk nach, befiehlt sich Grete, die Schuhe beweisen gar nichts. Irgendwer kann sie verloren haben, und irgendwer vom Hotelservice kann sie in die Kammer gestellt haben.

Ist das plausibel? Sie kann sich nicht konzentrieren. Bilder von Miko zucken ihr durch den Kopf, wie er sie küsst, mit ihr tanzt, wie sie ihn tritt, wie er vom Balkon stürzt …

Wie auch immer, sie geht nicht noch mal da hoch, um die Schuhe zu holen. Ausgeschlossen. Schon bei dem Gedanken, dass der Schattenmann mit den abartig großen Händen irgendwo da draußen auf sie wartet, wird ihr übel vor Angst. Aber in einem thailändischen Gefängnis zu landen wäre genauso grauenvoll.

Sie muss weg von hier, zurück nach Deutschland, so schnell wie möglich. Bevor die Polizei herausfindet, dass sie jemals bei Miko im Zimmer war. Und dann auch noch zur Tatzeit.

Grete nimmt eine Tüte aus dem Koffer, kauert sich vor den aufgereihten Schuhen hin und verstaut sie in dem Beutel. In Gedanken ist sie bei den haarsträubenden Geschichten, die sie von Kollegen bei Superbo gehört hat.

Seit der populäre thailändische König Bhumibol gestorben ist, sind die regierenden Generäle noch nervöser als zuvor. Vor ein paar Wochen erst sangen leitende Mitarbeiter eines anderen multinationalen Unternehmens in einer Karaoke-Bar in Bangkoks Rotlichtbezirk einen thailändischen Gassenhauer nach. Dann stellte sich heraus, dass es ein Schmählied gegen das Königshaus im Allgemeinen und den neuen »König Bauchfrei« im Besonderen war.

Das Video mit den betrunkenen Führungskräften, die halbnackte Tänzerinnen im Arm halten, ist auf YouTube immer noch zu bewundern. Die thailändische Niederlassung des betreffenden Unternehmens dagegen wurde geschlossen und von der Regierung beschlagnahmt.

Um ein ähnliches Desaster für Superbo auszuschließen, wurden Grete und ihre Kolleginnen und Kollegen hier im Hotel praktisch eingesperrt. Mit sporadischem Gruppen-Freigang unter Aufsicht grimmig blickender Local Guides. Für gestern Abend war ein Vier-Gang-Schiffsdinner auf dem Chao Phraya River anberaumt. Grete liebt Thailand und ganz besonders Bangkok, bei früheren Aufenthalten hat sie halbe Tage auf dem stets von Booten wimmelnden Fluss verbracht. Aber für organisierte Vergnügungen wie das Schiffsdinner hat sie nichts übrig. Nach zwei Tagen im Konferenzraum brauchte sie nicht auch noch die überfüllte Enge des Bordrestaurants. Und dazu dieselben Gesichter wie den ganzen Tag schon.

Sie schützte Kopfschmerzen vor und blieb im Hotel. Sie war sauer auf Superbo und auf sich selbst, weil sie sich für ein mittelfettes Gehalt hatte kaufen lassen. PR-Juniormanagerin, noch in der Probezeit. Was hast du geglaubt, Grete, wofür sie dich bezahlen? Dafür, dass du der Öffentlichkeit unbequeme Wahrheiten verkündest? Über Produktionsbedingungen, Unfall- und Umweltschutz in den Produktionsstätten von Superbo in Südostasien und Mittelamerika? Nein, so naiv war sie nicht. Aber sie dachte, man würde ihnen zumindest halbwegs reinen Wein einschenken. Nach dem Motto: »Das sind unsere Baustellen, aber wir arbeiten dran. Und jetzt lasst uns zusammen überlegen, wie wir das so kommunizieren, dass es ethisch okay ist, uns aber auch nicht schadet.« Schließlich steht Superbo für fair und nachhaltig produzierte Mode.

Offiziell sollte ihnen bei dem Meeting »die Wertschöpfungskette des Unternehmens Schritt für Schritt erklärt werden«. Tatsächlich handelt es sich um einen Crashkurs, und der Lehrstoff ist deutlich weniger komplex: Die Kommunikationsfachkräfte von Superbo werden auf Sprachregelungen zu »sensiblen Aspekten« eingeschworen. Die Formulierungen wurden von Hausjuristen und Werbetextern erarbeitet und auf der Vorstandsebene abgesegnet. In den Kongressräumen auf dem Hotelgelände bekommen die PR-Kräfte Wohlfühlsätze eingebimst, die sie nachsprechen müssen wie Schauspielschüler …

Plötzlich Schritte auf dem Flur. Grete schreckt zusammen, angespannt lauscht sie in Richtung Tür. Gott sei Dank, nur der Zimmerservice. Die fangen hier im Morgengrauen an, in den Vorratskammern herumzukramen. Vielleicht stöbert gerade jetzt auch jemand in der Kammer im Treppenhaus und findet ihre Slipper?

Eilends packt sie die restlichen Schuhe ein und verstaut den Beutel im Koffer. Sie rafft Blusen, Röcke, Wäsche aus dem Schrank, wirft alles in die zweite Kofferhälfte. Sie eilt ins Bad, um auch hier rasch zusammenzupacken, da erblickt sie sich im Spiegel.

O Gott, sie sieht aus wie ein Gespenst. Nein, schlimmer, wie eine irre Mörderin auf der Flucht. Die kastanienbraunen Haare wirr, die hellblauen Augen aufgerissen, das Gesicht schweißglänzend und schreckverzerrt. So kann sie unmöglich unten an der Rezeption aufkreuzen.

Sie zieht sich das Kleid über den Kopf und stellt die Dusche an. Kühles Wasser prasselt ihr auf Kopf und Körper. Nur ein paar Minuten später ist sie reisefertig, im hellgrünen Leinenkostüm, der Koffer verschlossen neben ihr. Eine Hand hat sie schon auf der Klinke, da hört sie draußen im Flur leises Klirren von Glas.

Immer noch der Zimmerservice, sagt sich Grete. Sie füllen die Minibar in den Zimmern nach, die gestern frei geworden sind. Kein Grund zur Panik. Aber aus irgendeinem Grund beunruhigt sie das Klirren, die feinen Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf.

Was soll das jetzt, Grete? Du musst los! Wie gelähmt steht sie an der Tür und lauscht nach draußen. Und dann fällt es ihr ein. Das darf einfach nicht wahr sein …

Sie hat nicht nur ihre Slipper in der Putzkammer vergessen. Viel schlimmer sind ihre Spuren in Mikos Suite. Das Glas, aus dem sie getrunken hat. Türklinken und was sonst noch alles, das sie berührt hat. Haare und Hautschuppen in seinem Bett …

Wieso fällt ihr das jetzt erst ein? Vorhin in Mikos Suite hätte sie keine Zeit gehabt, irgendwelche Spuren zu verwischen. Aber dass sie gar nicht auf die Idee kam, fühlt sich an wie ein Tiefschlag – wie einer der »Wirkungstreffer« mit Faust oder Fuß, die Miko ihr letzte Nacht gezeigt hat.

Was ist nur los mit dir, Grete? Erneut bricht ihr der Schweiß aus. Sie hasst das Gefühl, überfordert zu sein. Falsch zu reagieren, weil man nicht – oder zu spät – kapiert hat, was wirklich gespielt wird. Hannahs Geraune von Zauber und Schicksal kam ihr schon mit zwölf, dreizehn wie Flucht vor Logik und Fakten vor.

Aber jetzt ist es zu spät. Um die Slipper aus der Kammer zu holen und um deine Spuren in Mikos Suite zu beseitigen. Wenn du noch länger wartest, schnappt die Falle zu.

Sie setzt ein krampfhaftes Lächeln auf, öffnet die Tür und marschiert mit ihrem Rollkoffer am Putzkommando vorbei in Richtung Lift.

05:05 Uhr. Die Lobby ist dämmrig und bis auf ein paar schläfrige Hotelbedienstete menschenleer. Keine Kollegen von Superbo, die sich über ihren Abgang die Mäuler zerreißen könnten. Und glücklicherweise auch keine Polizisten.

Den breit gebauten, dunkelhäutigen Asiaten im schwarzen Anzug, der an einer Säule lehnt, beachtet Grete kaum. Erst als sie an ihm vorbei zur Rezeption geht, fallen ihr seine abnorm großen Hände auf.

Sie zuckt zusammen, zwingt sich, gleichmäßig weiterzugehen. Ihre Hand zittert nur ein wenig, als sie die Schlüsselkarte auf den Marmortresen legt. Bezahlen muss sie nichts, die Firma kommt für alles auf, einschließlich Minibar.

Wieder hört sie leises Klirren, diesmal in ihrem Kopf. Miko, wie er sein Glas hebt, sanft gegen ihres stößt, den Kopf zurückwirft, die letzten Tropfen in seine Kehle rinnen lässt. Sein golden schimmernder Körper neben ihr auf dem Bett. Sein Lachen, das in ihr nachhallt wie ein Gong …

Der Angestellte hinter dem Tresen sieht sie lächelnd an. »Gute Reise, Frau Reiter.« Dem Tonfall nach hat er es schon ein paarmal wiederholt. Grete nickt und lächelt gleichfalls.

Als sie durch die Drehtür nach draußen geht, spürt sie den Blick des bulligen Mannes neben der Säule wie zwei glühende Pfeile in ihrem Rücken.

Sie unterdrückt den Drang, sich zu ihm umzudrehen, und geht auf das vorderste Taxi in der Schlange zu. »Suvarnabhumi International Airport.« Ungeduldig sieht sie zu, wie der Fahrer ihren Koffer verstaut. Sie ist so nervös, dass sie schreien könnte. Bevor er ihr die Tür öffnen kann, ist sie schon hinten eingestiegen und legt den Sicherheitsgurt an.

Sie hat das Gefühl, dass der Mann mit den viel zu großen Händen ihr gefolgt ist und sie von den Schatten unter dem Vordach aus beobachtet. Doch sie vermeidet es weiterhin, nach ihm zu sehen.

Wenn du weißt, wie er aussieht, muss er dich töten. Ein Satz wie aus einem Krimi. Nie hätte Grete gedacht, dass sie selbst einmal in so eine romanhafte Szene geraten könnte. Ihr Leben lang war sie der Typ, der anderen beim Leben zusah.

Dröhnend und klappernd fährt das betagte Taxi los. Der Fahrer, ein älterer Asiat mit Gebetsfleck auf der Stirn, mustert sie im Rückspiegel. Grete umklammert ihre Handtasche und starrt durch die Seitenscheibe nach draußen. Zum Glück sind die Straßen noch nicht hoffnungslos verstopft.

Bei Superbo hat Grete nicht zuletzt deshalb angeheuert, weil sie hoffte, über kurz oder lang in die thailändische Niederlassung wechseln zu können. Noch gestern Abend, bei ihrem einsamen Dinner im Hotelrestaurant, überlegte sie, wie sie es hinbekommen könnte, ihren Job zu kündigen und trotzdem in Bangkok zu bleiben. Doch wie sollte das gehen? Ihr Bankkonto ist chronisch ausgezehrt. Um als Europäerin hier schnell mal einen Job zu finden, müsste sie schon einer der guten Feen aus Hannahs Märchen über den Weg laufen.

Aber selbst der tollste Job würde ihr nichts mehr helfen: Sie ist auf der Flucht. Bevor die Polizisten herausgefunden haben, mit wem Manitho Luang seine letzte Nacht verbracht hat, muss sie zurück in Deutschland sein. Vage formt sich in ihrem Kopf ein Plan: Sie muss unsichtbar werden, für den Mann mit den Schaufelhänden und für die Polizei.

Der Fahrer fädelt sich in den Verkehr auf der Stadtautobahn ein und gibt Gas. Zwischen bizarr geformten Wolkenkratzern wälzen sich die Blechkolonnen in Richtung Westen. Bei diesem Tempo brauchen sie bestimmt noch eine Dreiviertelstunde bis zum Flughafen, denkt Grete und dreht sich unruhig um. Keine Polizei zu sehen, doch der enge, dröhnende Toyota fühlt sich auf einmal wie eine rollende Zelle an.

Sie dreht sich wieder nach vorne, erneut starrt der Fahrer sie im Rückspiegel an. Sieht er argwöhnisch aus? Beunruhigt, weil sie nach Verfolgern Ausschau hält?

Im nächsten Moment hat sie den Fahrer vergessen. In Gedanken ist sie wieder im Dusit Thani, gestern Abend. Nachdem sie ihr Dinner eingenommen hatte, schweifte sie durch die pompöse Lobby und die tropische Pool- und Gartenlandschaft des Hotels. Mangobäume und Elefantenstatuen. Grete war aufgebracht und enttäuscht.

Sie fühlte sich in die Irre geführt und als Bullshit-Multiplikatorin missbraucht. Ihr Entschluss, Superbo zu verlassen, stand fest. Eine halbe Stunde lang marschierte sie zwischen beleuchteten Wasserfällen und vergoldeten Minitempeln umher. Hauptsächlich, um Frust abzubauen, aber nicht nur. Unauffällig hielt sie Ausschau nach dem Mann, an den sie immer wieder denken musste, seit sie ihn bei ihrer Ankunft in der Lobby gesehen hatte.

Ungefähr ihr Alter, maximal Anfang vierzig. Schlank, muskulös, eher hellhäutig für einen Thai. Vielleicht Eurasier, vermutete Grete, das würde auch seine Körpergröße erklären. Und seine ungewöhnlichen Augen. Mandelschnitt und Smaragdgrün.

Nach einem Drink in der Bar und einer weiteren vergeblichen Runde durch den Garten ging sie zu den Aufzügen, um in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie stieg in den leeren Lift und hielt ihre Schlüsselkarte an den Scanner unter dem Tastenfeld. Gerade als die Tür zugleiten wollte, stieg noch jemand ein. Er. Der Mann mit den Smaragdaugen.

Er legte seine Karte auf den Scanner und drückte auf die 12. Die verspiegelte Kabine war plötzlich voll von ihm und seinen Doppelgängern. Grete wusste gar nicht, wohin mit sich selbst. Er lächelte sie an, fragend, herausfordernd vielleicht. Grete lächelte zurück, während die Lifttür sich schloss und die Kabine aufwärts fuhr.

Ihr Herzschlag hatte sich abrupt beschleunigt. Schweigend starrten sie einander an. Er sieht perfekt aus, dachte sie. Attraktiv, aber nicht hübsch. Männlich, aber nicht zu sehr. Muskulös, aber nicht aufgepumpt. Großgewachsen für einen Asiaten, aber nur eine Handbreit größer als sie.

Der Aufzug hielt, die Tür ging auf, zwölfte Etage. Grete hatte vergessen, auf den Knopf für ihr eigenes Stockwerk zu drücken. Fehlleistung oder Schicksal? Sie stieg mit ihm aus, ohne groß nachzudenken. Und ohne ihn aus dem Blick zu lassen.

Er fasste sie am Arm und zog sie den Gang hinab. Sein Griff war fest, beinahe, als würde sie abgeführt. Sie sah ihn an, immer noch ohne ein Wort. Plötzlich kam er ihr nervös vor. Weshalb? Sie dachte nicht darüber nach. Ihr war heiß, trotz der gnadenlosen Aircondition.

Sein Zimmer lag fast am Ende des Flurs. Er gehört nicht zum Hotel, wurde ihr klar. Dann dachte sie gar nichts mehr. Sah ihn nur beschwörend an.

Als könnte er Gedanken erraten, kickte er hinter ihnen die Tür ins Schloss, immer noch ohne ein Wort. Eine Suite mit Salon und riesigem Balkon zum Innenhof. Er schubste sie aufs Bett und tat so, als würde er ihr das Kleid herunterreißen, gab aber acht, dass er nichts kaputtmachte. Und ihr nicht wehtat dabei. Dazu starrte er sie mit seinen leuchtend grünen Augen unaufhörlich an.

Mit einer Hand hielt er sie fest, als wäre sie seine Beute, die sich sonst wieder davonmachen würde. Mit der anderen fetzte er sich das Jackett und die restliche Kleidung herunter. Jemand klopfte gegen die Tür, wie zur Steigerung der Spannung bestellt, und er zuckte zusammen. Aber Grete hielt seine Hand fest, die ihren Arm festhielt, und das Klopfen hörte auf. Oder wurde übertönt vom Tosen in Gretes Ohren und überall sonst.

Sie ist besonders empfindsam an besonderen Stellen, und sie hatte so lange davon geträumt, dass endlich einer käme, der von sich aus wüsste, was er mit ihr machen sollte. Wo sie berühren, wann leidenschaftlich und wann zärtlich sein. Wenn sie es erst erklären, ihn wortreich einführen müsste, wäre der Zauber kaputt. Wie schon so oft zuvor.

Später lagen sie schweißnass auf seinem Bett, und Grete dachte: Er ist wirklich perfekt. Und du hast sowieso den falschen Beruf. Weil du tief in deinem Innern glaubst, dass alles, worauf es wirklich ankommt, wortlos abläuft. Nicht ausgesprochen, nicht einmal gedacht werden kann. Weil es keine Sprache dafür gibt. Nur Bilder und Gefühle, ineinander verschlungen wie zwei Körper bei der Liebe.

Wie er hieß, erfuhr sie erst, als sie jeder einen Mango Daiquiri aus seiner Zimmerbar in der Hand hielten. Manitho Luang, aber alle nennen ihn Miko. Grete fühlte sich wie verzaubert von seinem Lächeln, seiner Stimme, seiner schieren Präsenz.

Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Santi leite er die Manufaktur für Geisterschreine im Nordosten Thailands, erzählte er ihr. Dreihundert Arbeiterinnen und Arbeiter in einer großen Halle östlich der Provinzhauptstadt Ubon Ratchathani. Ihr Dorf heißt Ruaeng und liegt nicht weit vom Ufer des Mekong, der Grenze zu Laos und Vietnam.

»Jeder in Thailand kennt unser Dorf zumindest dem Namen nach«, erzählte Miko. »Bei uns steht der jahrhundertealte Schrein von Tai Thong Klom, dem mächtigen Geist einer schwangeren Frau, die bei der Geburt ihres Sohnes verstorben ist. Damit ihr Geist nicht rastlos und rachedurstig umherschweift, muss sie durch Opfer besänftigt werden. So verwandelt sich ihre Rachsucht in Fruchtbarkeit. Die Hüterinnen des Geisterschreins praktizieren seit Jahrhunderten Liebeszauber und -rituale. Aus dem ganzen Land kommen junge Paare zu uns, um ihre Liebeskraft zu stärken. Schon mein Urgroßvater hatte die exklusive Erlaubnis, die Schreine von Tai Thong Klom und Nachbildungen der Dämonin herzustellen und in ganz Thailand zu verkaufen. Seit unser Vater letztes Jahr gestorben ist, wird das Familienunternehmen von Santi und mir geführt. Wir sind so unterschiedlich, wie Brüder nur sein können. Wir sehen uns auch kein bisschen ähnlich. Aber wir verstehen uns gut. Familie eben.«

Er lächelte sie an. Grete war fasziniert, auch wenn sie sein Geschäft nicht richtig ernst nehmen konnte. Es fühlte sich ein bisschen so an, als hätte ihre Mutter beschlossen, einen Handel mit Zauberer- und Hexenpuppen zu eröffnen. Der Unterschied war allerdings, dass die Geisterpüppchen und ihre Behausungen, die in Mikos Manufaktur entstanden, reißenden Absatz fanden. Und dass die Leute hierzulande tatsächlich an die Macht der Geister glaubten.

Unvermittelt wandte sich Miko ab und lauschte in Richtung Tür. Für einen Moment sah er angespannt aus, dann kehrte sein Lächeln zurück.

»Unser Geschäft geht gut, aber gerade deshalb haben wir Probleme«, sagte er in seinem sorgfältigen Schulenglisch. »Jemand versucht, unser Unternehmen an sich zu reißen. Unsere Exklusivrechte, unseren Namen. Sie setzen Santi und mich unter Druck, aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Wohl deshalb sind in letzter Zeit ein paar seltsame Dinge passiert. Wir haben Vertriebsleiter für den Norden, den Osten, die Mitte und den Westen des Landes. Ich halte viermal im Jahr mit ihnen hier im Hotel eine Besprechung ab. Aber diesmal sind nur zwei von ihnen gekommen. Unser Vertriebsleiter Nord ist spurlos verschwunden. Sein Kollege für den Westen hatte einen Autounfall und liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Und mein Bruder ist mit den Nerven runter«, fügte er hinzu. »Dreimal hat es in den letzten sechs Wochen bei ihm gebrannt. Zuerst das Gartenhaus, dann ein Schuppen. Letzte Woche dann ist der Geisterschrein direkt vor seinem Wohnhaus in Flammen aufgegangen. Kannst du dir das vorstellen?«

Grete sah ihn erschrocken an. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, verwickelte Miko sie in eine leidenschaftliche Umarmung.

Wieso hatten sie keinen Vertreter für den Süden des Landes? Sie kam nicht dazu, ihn zu fragen. Er mixte für sie beide frische Drinks und stellte Musik an. Bird Thongchai, ein unglaublich schmalziger Thai-Sänger, schluchzte aus Mikos Smartphone, gefolgt vom kaum weniger kitschigen James Bay mit seiner Schnulze »Us«. Eng umschlungen tanzten sie durch seine Suite, nackt, glücklich und beschwipst.

Später in der Nacht zeigte er ihr, wie er selbst einen Angreifer durch Thaiboxschläge und -tritte abgewehrt habe, erst vor wenigen Tagen hier in Bangkok. Er spielte es mit ihr nach. Sie war der Angreifer, und er feuerte sie an, so fest zuzuschlagen und zu treten, dass ihre Fingerknöchel wehtaten und er blaue Flecken an den Unterarmen bekam.

Und jetzt ist er tot, zuckt es ihr durch den Kopf. Ihre Griff- und Kickspuren sind auf seiner Haut, und während die Polizei wahrscheinlich längst ihre Spuren in Mikos Zimmer sichert, ist Grete immer noch in der Stadt. Wenn sie am Flughafen ankommt, warten vielleicht schon Uniformierte mit einem Haftbefehl auf sie …

Grete muss heftig schlucken. Wieder spürt sie die Augen des Fahrers im Rückspiegel auf sich. Der Süden Thailands ist überwiegend muslimisch, fällt ihr ein. Vielleicht hat … hatte … Miko deshalb keinen Vertriebsleiter für den Süden des Landes. Als ob das jetzt eine Rolle spielen würde!

Mustafa Soundso steht auf dem Plastikschild, das an einer Schnur unter dem Rückspiegel baumelt. Grete registriert es mechanisch. Sein Gebetsfleck ist wie ein »drittes Auge«, geht es ihr durch den Kopf, an das er als Muslim aber bestimmt nicht glaubt. Anders als Buddhisten, Hindus, Geistergläubige aller Art …

Sie lehnt sich zurück, versinkt wieder im Strom ihrer Gedanken. Auch ihre Mutter glaubt an »Erleuchtung«, allerdings nur bei ihren Fantasy-Geschichten. Sascha Krashkov, ihr Ehemann, zieht Hannah mit ihrem »Erleuchtungsglauben« immer wieder liebevoll auf. Sascha ist Gretes Stiefvater, seit sie elf war. Von Beruf Autohändler, An- und Verkauf von Luxuskarossen, auch wenn er offiziell kein eigenes Gewerbe mehr hat. Er glaube höchstens an Beleuchtung, am besten Xenon, spöttelt er gerne, und – als Deutschrusse mit sibirischem Urgroßvater – an Erleuchtung durch Schnaps.

Ein leicht hysterisches Kichern dringt aus Gretes Kehle. Der Fahrer mustert sie freundlich, im selben Moment jaulen hinter ihnen Polizeisirenen auf. Grete zuckt zusammen und fährt herum. Reflexhaft rutscht sie nach unten und zieht den Kopf ein. Ein Polizeiauto und zwei Motorräder mit Blaulicht rasen auf der Standspur an ihnen vorbei.

Grete taucht wieder hoch. Der Fahrer fixiert sie im Spiegel, seine Augen jetzt vor Argwohn verengt. Sie zieht eine komische Grimasse, »was bin ich nur für ein nervöses Huhn«, doch sein nachdenklicher Blick lässt sie nicht mehr los, bis sie endlich am Flughafen sind.

Im Aussteigen sieht sich Grete verstohlen um. Taxis, Rikschas, Privatautos aller Preis- und Altersklassen drängeln sich vor der Glasfassade. Kofferträger bieten ihre Dienste an, Taschendiebe schlendern mit Tigerlächeln umher. Ganze Großfamilien quellen aus Kleinbussen, beladen sich mit Unmengen an Koffern und Taschen und stürmen auf eine der unablässig auf- und zugleitenden Automatiktüren zu. Doch Polizisten sind nicht zu sehen. Zumindest keine in Uniform.

Kurz überlegt sie noch, den Fahrer durch ein großzügiges Trinkgeld auf ihre Seite zu bringen. Doch sie belässt es bei der üblichen Aufrundung. Was könnte er der Polizei schon erzählen: dass sie nervös war?

Wenn sie mich verdächtigen, denkt Grete, dann wegen der Spuren, die sie in Mikos Suite und an seinem Körper gefunden haben. Entweder ich schaffe es rechtzeitig, in Deutschland unsichtbar zu werden, oder … Kein Oder, beschließt sie und hastet mit ihrem Rollkoffer zum Check-in.

06:24 Uhr. Vor genau zwei Stunden fuhr sie aus dem Schlaf und sah, wie Miko starb.

Das Boarding zieht sich endlos hin, und Grete auf ihrem Fenstersitz kämpft gegen Angstattacken. Direktflug nach Frankfurt, ein Dreamliner, das dauert eben, redet sie auf sich ein. Kein Grund, die Nerven zu verlieren.

Sie schließt die Augen, versucht das Geplapper der Reisenden, die kreischenden Kleinkinder, die Stöße gegen ihre Rückenlehne zu ignorieren. Die füllige Frau neben ihr, eine Deutsche um die dreißig, kramt in ihrer XXL-Handtasche, aus der Knistergeräusche und ein intensiver Geruch nach Schokolade aufsteigen.

»Wollen Sie auch?« Sie stößt Grete mit dem Ellbogen an. »Einen Schokoriegel?«

Die Augen aufzumachen war ein Fehler. Gretes Blick fällt auf zwei Asiaten in schwarzen Anzügen, die sich den Gang entlang auf sie zuschieben. Zivilpolizisten? Auftragskiller? Ihr Puls beginnt zu rasen.

»Oder lieber was mit Nuss?« Die Frau wühlt in ihrer Tasche.

Grete schüttelt den Kopf. »Danke, nein. Ich will nur schlafen.«

Noch werden die Männer durch eine Gruppe westlicher Rucksacktouristen aufgehalten, die ihre Siebensachen umständlich in den Gepäckfächern verstauen. Beide starren Grete an, dann schauen sie genauso auffällig weg.

Der Schweiß bricht ihr aus. Der Flieger ist die perfekte Falle. Wenn das wirklich Polizisten sind, die sie festnehmen wollen, hat sie keine Chance.

Doch als der Gang endlich frei ist, gehen die beiden Asiaten an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Unruhig dreht sich Grete nach links, um zu sehen, wohin sie sich setzen. Mittlerer Block, zwei Reihen hinter ihr. Sie dreht sich wieder nach vorn. Ihr Blick fällt auf einen bulligen Thai Ende zwanzig, mit Goldkettchen und Lederjacke, der auf der anderen Gangseite thront, die Arme vor der Brust verschränkt.

Das Blut sackt ihr aus dem Kopf. Hat der nicht abnorm große Hände? Gretes Herz hämmert. Sie fixiert den Bulligen, bis er den Kopf dreht und sie unwillig ansieht.

Ganz ruhig, Grete. Der Schattenmann auf dem Balkon hatte größere Pranken, oder nicht? Und die beiden Anzugtypen da hinten sind bestimmt auch nicht hinter dir her. Wären sie von der Polizei, hätten sie dich einfach geschnappt und aus dem Flugzeug gezerrt. Und wenn der Schattenmann sie ausgesandt hätte, die Augenzeugin zum Schweigen zu bringen, wärst du nicht mehr am Leben.

Also entspann dich, Grete. Du bist ihnen allen entwischt.

Ihre Paranoia kippt in Euphorie um. Plötzlich muss sie lachen. Sie presst die Lippen zusammen, doch ein kurzes Prusten schafft es nach draußen. Die junge Deutsche neben ihr vergisst zu kauen und sieht sie verwundert an.

Die kriegen mich nie, denkt Grete. Die können von Glück sagen, dass ich nicht wirklich eine irre Killerin bin. Ich würde ihnen allen eine lange Nase drehen.

Hochgefühl erfüllt sie wie Gas, das in einen Ballon strömt. Doch auch das hält nicht lange an. Zwei Minuten später ist ihr zum Heulen zumute. Die ganze emotionale Achterbahn, wird ihr klar, hat nur einen Zweck: sie von der schrecklichen Wahrheit abzulenken.

Sogar Paranoia und Panik sind leichter zu ertragen als der Gedanke: Miko ist tot.

Sie verkriecht sich in ihrem Sitz, wischt sich über die Augen. Wie kann er tot sein? Sie hat ihn doch gerade noch umarmt! Wieso ist sie wieder allein? Sie haben sich doch eben erst gefunden! Aber auch das fühlt sich irgendwie schief an. Als würden sie und Miko sich schon lange kennen.

Endlich ist der Flieger startklar. Der kolossale Vogel rast über die Piste und hebt ab, für Grete sonst immer ein Moment des Hochgefühls. Doch diesmal nimmt sie es kaum wahr.

Kurz darauf wird das Frühstück serviert, sie pickt nur ein paar Happen von dem Plastikteller. In Gedanken ist sie bei Miko.

Unglaublich, wie viel sie einander anvertraut haben. In so kurzer Zeit.

Miko wurde vor zehn Jahren Witwer, gerade mal elf Monate nach der Hochzeit. Seine Frau Nuengthida verstarb aufgrund einer Schwangerschaftskomplikation, zusammen mit dem ungeborenen Kind. »Es war keine Liebesheirat«, erzählte er. »Unsere Familien hatten schon vor langer Zeit entschieden, dass wir heiraten sollten. Aber Nuengthida und ich haben uns gut verstanden. Und ich war stolz darauf, Vater zu werden. Vielleicht hätte das Kind meine Augen geerbt«, fügte er schwermütig hinzu. Nicht alle in seiner Familie seien grünäugig, bei Weitem nicht. Doch so selten, wie manche glaubten, sei diese Augenfarbe bei Asiaten auch wieder nicht.

»Vor allem bei Westasiaten«, ergänzte Grete. Da konnte sie mitreden: Ihr Stiefvater, Deutschrusse mit sibirischen Vorfahren, hat eine Bärenstatur und schmal geschnittene grüne Augen.

Auch sie gab so viel von sich selbst preis, dass es ihr im Nachhinein kaum glaublich erscheint. Als Miko nach ihrer Familie fragte, erzählte sie als Erstes von ihrem Stiefvater. Mit seinen grünen Augen und der halb asiatischen Herkunft bildete Alexander »Sascha« Krashkov irgendwie eine Brücke zwischen ihr und Miko.

Dabei war sie schon elf, als Sascha bei ihnen einzog. Bis dahin hatte Hannah sie allein erzogen und sie beide mehr schlecht als recht durchgebracht. Mit mau bezahlten Lektoraten für all die Verlage, die ihre eigenen Manuskripte nicht veröffentlichen wollten.

Sascha war laut und ungehobelt, dann wieder überraschend gefühlvoll. Er aß zu viel, trank zu viel, qualmte »wie ein alter Diesel«, schwitzend und schnaufend. In seiner Gegenwart wirkte jeder andere blass und verhuscht, jedes Zimmer zu klein. Hannah sah neben ihm wie eine Strichzeichnung aus.

Die kleine Grete wollte ihn unbedingt wieder aus ihrer Welt vertreiben. Doch Sascha hatte sie bald schon um den Finger gewickelt.

Das alles hat sie Miko erzählt? Aber wann denn? Nachdem sie sich zum zweiten Mal geliebt hatten? Während sie tanzten? Als er ihr Muay-Thai-Techniken vorführte? Fast schon unheimlich, geht es ihr durch den Kopf.

Die junge Deutsche neben Grete stemmt sich aus ihrem Sessel, die ganze Sitzreihe wackelt. Das Pärchen auf den beiden anderen Sitzen steht gleichfalls auf, um sie durchzulassen. Grete schaut ihnen geistesabwesend zu, versinkt wieder in Gedanken.

Auch von ihrem Ex-Ehemann hat sie Miko natürlich erzählt, allerdings nur kurz und nebenher. Florian Reiter, seinen Nachnamen trägt sie immer noch, obwohl sie seit zwei Jahren geschieden sind. Ein freier Journalist, dessen ewiges Bangen um Aufträge und Einkünfte Grete seit ihrer Kindheit vertraut war. Erst im Nachhinein war ihr klar geworden, dass sie Flori während ihrer Ehe genauso ermutigt und getröstet hatte, wie sie das schon als kleines Mädchen bei ihrer Mutter gemacht hatte.

Flori verließ sie, kurz nachdem er eine Festanstellung bei der Münchner Morgenpost ergattert hatte. Er hatte immer behauptet, dass er »lieber arm und frei als gesichert und gefangen« sei, und Grete hatte nie widersprochen, es aber auch nie so ganz geglaubt. Irgendwie war ihre Trennung folgerichtig, denn in der Rolle der Tröstenden und Ermutigenden wurde sie nicht mehr gebraucht.

Sie blieb in der gemeinsamen Mietwohnung in München-Laim. Eine schlichte Wohngegend, graue Blocks aus den Fünfzigerjahren, das machte ihr nichts aus. Nur die Lücken in der Möblierung und die weißen Flecke an den Wänden irritierten sie nach zwei Jahren immer noch.

Sie arbeitete bei Kunstgut, einer PR-Agentur für Kulturevents. Ihr Job bestand darin, Pressetexte für Konzerte und Buchpräsentationen zu schreiben, Autoren und Musiker bei Auftritten und Interviews zu betreuen. Das brachte gerade so genug zum Leben im teuren München ein. Grete hatte viel zu tun, war auch abends und an Wochenenden auf Achse, aber der ganze Trubel ödete sie zunehmend an. »Immer habe ich nur den anderen beim Leben zugesehen«, erklärte sie Miko. »Verstehst du, was ich meine?«

Er sah sie fragend an, und aufgeregt überlegte sie, wie sie es ihm verständlich machen konnte. »Ich bin immer nur herumgeirrt, auf der Suche nach meiner ›geheimen Tür‹«, sagte sie.

Zu ihrer Verwunderung nickte Miko. Dabei konnte er sie nicht wirklich verstanden haben. Ihre Anspielung bezog sich auf eine Fantasy-Story von Hannah Malström, der erfolglosesten Autorin der Welt. Wenn Hannah nicht zufällig ihre Mutter wäre, hätte auch Grete von der Geschichte nie gehört.

Mit ihren versponnenen Storys ging Hannah ihr meistens auf die Nerven, erklärte sie Miko. Aber da gab es diese eine Geschichte, die sie nie vergessen konnte: Die geheimen Türen. Hannah hatte sie geschrieben, als Grete ein kleines Mädchen von fünf, sechs Jahren war. »Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist«, sagte sie zu Miko, »aber irgendwie ist es die Geschichte meines Lebens geworden.«

Die Story handelt davon, erzählte Grete, dass jeder Mensch die für ihn bestimmten »geheimen Türen« finden muss, um in sein eigenes Leben zu gelangen. Bis dahin streift er nur außen an den Fassaden entlang und kann höchstens mal durch ein beleuchtetes Fenster in das Leben anderer Menschen hineinschauen.

Die junge Heldin der Fantasy-Geschichte läuft durch Wälder und Städte und sucht nach den »geheimen Türen«, die für sie bestimmt sind. Um sie zu finden und, mehr noch, um hindurchgehen zu können, muss sie in einem »Zustand der frohen und mutigen Erwartung« sein. Verlässt sie diesen Zustand – weil sie zum Beispiel ängstlich oder gleichgültig wird –, »verblassen und verschließen sich die geheimen Türen« wieder. Wo sie eben noch ganz deutlich einen Durchlass gesehen und die Klinke sogar schon mit der Hand umfasst hat, ist im nächsten Moment nur noch Fels oder Mauerstein …

Grete war ein bisschen durcheinander, nachdem sie Miko von den geheimen Türen erzählt hatte. Wie jedes Mal, wenn sie über die Story nachdachte oder gar – was so gut wie nie vorkam – mit jemandem darüber sprach.

Als sie Anfang des Jahres auf die Stellenanzeige von Superbo gestoßen war, fügte sie hinzu, konnte sie gar nicht anders, als sich um den Posten als PR-Juniormanagerin zu bewerben. Darüber hatte sie noch nie mit irgendwem geredet, vor jedem anderen hätte sie sich für ihren »kindischen Aberglauben« geschämt. Nicht so bei Miko. »Superbo hat letztes Jahr ein neues Label herausgebracht, und stell dir vor, es heißt SecretGate.«

Sie bewarb sich, wurde auf Probe eingestellt und freute sich auf die Fortbildung, die Mitte Februar in Bangkok stattfinden sollte, wenige Wochen nach ihrem Antritt der neuen Stelle. Dass Superbo eine große Niederlassung in »Big Mango« unterhielt und die hiesige PR-Abteilung ausbauen wollte, bestärkte sie darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

»Den Ausschlag hat für mich aber das SecretGate-Label gegeben«, sagte sie. »Ich glaube sonst nicht an Schicksal und solche Sachen, aber in diesem Fall …« Sie unterbrach sich und sah ihn prüfend an. Nach wie vor hörte er aufmerksam zu. »Die Fortbildung hier im Hotel war dann aber total frustrierend«, fuhr sie fort. »Bis gestern Abend war ich mir sicher, dass ich auf meinen eigenen Aberglauben hereingefallen wäre und meine ›geheime Tür‹ wieder nicht gefunden hätte. Aber das stimmt ja nicht. Ganz im Gegenteil. Verstehst du, Miko?«

Sie sah ihm in die Augen und bekam Gänsehaut. Auch jetzt im Flieger überläuft sie ein Schauder, als sie daran denkt, wie sie ihm von ihrer geheimen Tür erzählt hat. Und wie sie spürte, dass er sie wirklich verstand.

»Eigentlich bin ich ein nüchterner Mensch«, erklärte sie weiter. »Außer bei den geheimen Türen. Ich war immer so allein, verstehst du, so weit ich zurückdenken kann. Aber jetzt habe auch ich meine geheime Tür gefunden.« Sie musste heftig schlucken. »Ich bin hindurchgegangen, und dahinter … bist du.«

Ein Schluchzer stieg in ihr auf. Bevor sie sich über die Augen wischen konnte, hatte Miko sie an sich gezogen und küsste zart ihre Tränen weg. »Du bist nicht allein, Grete«, flüsterte er in ihr Ohr. »Du hast mich gefunden. Wir gehören zusammen. Du und ich …«

»Für immer?« Auch sie flüsterte, als dürfe niemand ihre Liebesschwüre hören.

Er bejahte mit den Augen. Für immer. Sie hörte es, klar und deutlich, obwohl er sie nur ansah, ohne die Lippen zu bewegen.

Wieder kamen ihr die Tränen, diesmal vor Glück. Seine Umarmung wurde leidenschaftlicher, erneut liebten sie sich, und dann tanzten sie wieder zu den Schmalzgesängen von Bird Thongchai. Sie lachten und ließen sich doch mitreißen vom Liebesrausch des Sängers. »Nichts kann uns je wieder trennen«, übersetzte Miko, »wir sind für immer vereint.« Sie sangen es zusammen, lachend und tanzend, sie auf Englisch, er auf Thai …

All das ist in einer einzigen Nacht passiert?, staunt Grete im Flieger. Das alles hat sie Miko erzählt, und er hat es verstanden? Auch das Nichtgesagte, die mitschwingenden Untertöne? Ein Fremder aus einer anderen Kultur, mit dem sie gerade mal ein paar Stunden in einem Hotelzimmer war?

Dreimal ja, antwortet sie sich selbst. Ein so tiefes Verständnis wie zwischen Miko und ihr hat sie nie zuvor gespürt. Bei keinem Lover, keinem Lebensgefährten, auch nicht bei Flori. Bei dem schon gar nicht.

Leise schnarchend schläft neben ihr die dicke Frau. Mit beiden Armen hält sie die Tasche voll Schokolade umklammert.

Ob sie sich einsam fühlt? Von der Welt ausgeschlossen, auf der Suche nach ihrem eigenen Leben? Wie oft hat Grete sich das bei anderen Menschen gefragt, aber sie hat nie mit irgendwem darüber gesprochen. Bis letzte Nacht.

Warum gerade mit Miko? Weil sie spürte, dass es ihm ähnlich ging? Dass auch er auf der Suche nach seinen geheimen Türen war?

Keinem anderen hat sie sich je so offenbart. Nur dass sie schon mal in einem Selbstverteidigungskurs war, hat sie ihm verschwiegen. Er war so eifrig, als er ihr die Grundtechniken des Muay Thai zeigte, da wollte sie ihn nicht enttäuschen. Und ja, auch dass Sascha es mit dem Gesetz nicht immer genau nimmt und einmal an einer Verurteilung wegen Autoschieberei vorbeigeschrammt ist, behielt sie für sich.

Miko kam ihr so aufrecht vor, so moralisch unbeirrbar, dass sie fürchtete, Saschas Machenschaften würden auch auf sie einen Schatten werfen. Immerhin ist Sascha – neben ihrer Mutter – fast alles, was sie an Familie vorzuweisen hat. Und Familie ist für Miko das Wichtigste auf der Welt. Nein … war …

Jäh steigen Schluchzer in ihr auf. Grete steht auf, schubst die schlafende Sitznachbarin an, drängelt sich an ihr und dem Pärchen daneben vorbei. Sie hat Economy Class gebucht, bei der engen Bestuhlung müsste sie eigentlich warten, bis alle aufgestanden sind. Aber das hält sie nicht aus. Sie fühlt sich eingefangen, eingeschnürt, sie bekommt keine Luft mehr.

Als sie es auf den Gang geschafft hat, spürt sie den Blick des bulligen Asiaten auf ihrer Schläfe und erstarrt. Sie ist schon halb an ihm vorbei, doch fast gegen ihren Willen bleibt sie stehen und dreht sich um. Als wäre sie seine Puppe, die er an unsichtbaren Fäden dirigiert.

Als sie ihm ins Gesicht schaut, blättert er mit gleichmütiger Miene im Bordmenü. Sie ist sich sicher, dass er sie gerade eben noch angestarrt hat. Er hat einen kugelrunden, kahlgeschorenen Kopf und einen dunkelbraunen Teint, beinahe wie Sascha. Aber seine Augen funkeln nicht listig-lustig wie so oft bei ihrem Stiefvater. Es sind stumpfschwarze Gräben, gefüllt mit nichts als Dunkelheit. Seine Hände, die die Speisekarte beim Umblättern fast zerreißen, kommen ihr jetzt doch wieder abartig groß vor. Wie die Pranken des Schattenmannes …

Sie wendet sich um und hastet zu den Toiletten. Zum Glück ist eine der Kabinen frei. Sie zwängt sich hinein und riegelt hinter sich zu.

Aber hier drin kriegt sie erst recht keine Luft. Das ist ein Schrank, ein aufrecht stehender Sarg! Gretes Herz rast. Jeder Atemzug ein trockener Schluchzer. Ihr ist kalt und heiß, die Gedanken in ihrem Kopf sind Stimmen, die auf sie einschreien. Grete ist kurz vor einer Panikattacke, sie weiß es, obwohl sie so etwas noch nie erlebt hat.

»Zumindest nicht so schlimm, bei Weitem nicht so schlimm«, flüstert sie, auf der Toilette sitzend. Sie entleert ihre Blase, so schnell es geht, dann steht sie vor dem Waschbecken, spritzt sich lauwarmes Wasser ins Gesicht und vermeidet es, in den Spiegel zu sehen.

»Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht durch«, flüstert sie. Ihr alter Trick, um Widerstand zu mobilisieren. »Und ob du das durchhältst, Grete«, schreien die Stimmen in ihr, »das wäre doch gelacht!«

Jemand klopft an die Kabinentür. Grete zieht ein Papierhandtuch aus dem Spender, trocknet sich das Gesicht ab. »Moment noch«, flüstert sie und riskiert jetzt doch einen Blick in den Spiegel.

Ihre Wangen sind rot gefleckt. Die Augen aufgerissen, die Haare strähnig und viel zu dunkel für ihren bleichen Teint.

Auf einmal weiß sie, was sie machen muss, um den Schattenmann abzuschütteln. Totale Verwandlung … Grete Reiter wird nie gelebt haben. Hat sie ja auch nicht, denkt Grete, setzt ein Lächeln auf und riegelt die Tür auf.

Ihr Herz schlägt immer noch zu schnell, aber zumindest das Schwitzen hat aufgehört. Unter der Leinenjacke klebt ihr das T-Shirt am Rücken.

Und wenn schon, sie wird das hier durchstehen. Noch neun Stunden bis Frankfurt, das wäre doch gelacht. Und sobald sie gelandet sind, wird sie anfangen, ihren Plan umzusetzen. Punkt eins, Punkt zwei, Punkt drei …

Sie marschiert zurück zu ihrer Sitzreihe. Das Pärchen hat seine Plätze verlassen und vertritt sich die Beine im Gang, nur die füllige Deutsche sitzt wie für immer in ihrem Sessel.

Bei dem Gedanken, über den Fleisch- und Schokoladenberg hinweg auf ihren Fensterplatz zurückzuklettern, bricht Grete erneut der Schweiß aus. Ich kann das einfach nicht, denkt sie wieder. Gleich bekomme ich einen Schreikrampf.

Aber sie kriegt sich unter Kontrolle. Eben kommt der Steward mit einem Wagen voller Getränke vorbei. Grete bestellt Rotwein, gleich zwei von den Minifläschchen. Sie muss schlafen, am besten bis zur Landung in Frankfurt, sonst dreht sie hier noch durch.

Wieder verkriecht sie sich in ihrer Nische, dämmert vor sich hin. Zum Mittagessen trinkt sie noch mehr Wein, dann schläft sie tatsächlich ein und fährt Stunden später aus einem Traum auf, schreiend und tränenüberströmt. Alle starren sie an. Die Schokoladenfrau, der Bullige, die beiden Männer in den schwarzen Anzügen. Ihr Herz rast. Hat sie im Schlaf gesprochen? Mikos Namen gerufen?

Im Traum war sie bei ihm auf dem Balkon. Wie von Geisterhand angehoben, kippte er über die Brüstung und stürzte kopfüber in den Tod.

Wie ein Turmspringer, durchfährt es Grete. Vor Angst kann sie kaum atmen.

Angst wovor? Dass es nicht nur ein Traum war? Aber was denn sonst?

Grete hat Weiterflug bis München gebucht, doch seit ihrem Albtraum von Miko und ihr weiß sie: In so eine fliegende Klapse steigt sie nicht mehr ein.

Sie zählt die Minuten bis zur Landung, 12:11 Uhr Ortszeit in Frankfurt/Main. Im Terminal 1 folgt sie den EXIT-Schildern, die beiden Asiaten mit den schwarzen Anzügen im Schlepptau. Der Bullige mit den großen Händen hat ihr beim Aussteigen den Vortritt gelassen. Als Grete sich umdreht, steht er zehn Meter hinter ihr auf dem Laufband, sein Bordcase neben sich, die Hände in den Taschen seiner schwarzen Lederjacke, und schaut mit regloser Miene ins Leere.

Das sind einfach irgendwelche Reisenden, sagt sich Grete. Woher sollte denn irgendwer wissen, welchen Flieger sie genommen hat? Und wenn sie es herausgefunden hätten: Wie wahrscheinlich ist es, dass sie im Flugzeug in ihrer unmittelbaren Nähe Sitzplätze erwischt haben? Vor allem aber: Warum unternehmen sie nichts, sondern trotten wie Schafe hinter ihr her?

Einzige logische Antwort: weil du dir alles nur einbildest, Grete.

Das klingt plausibel, aber es fühlt sich nicht so an. Ganz im Gegenteil.

Sie ist übermüdet und steht unter Schock. Vielleicht sieht alles wieder harmlos aus, wenn sie sich erst mal richtig ausgeschlafen hat?

Blödsinn, Grete. Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Dass es nie wieder so sein wird, sich nie mehr anfühlen wird wie früher. Bevor du Miko gefunden und wieder verloren hast.

Als Grete die Passkontrolle passiert, stehen ihre vermeintlichen Verfolger noch in der Schlange für Nicht-EU-Bürger. Die beiden Anzugtypen auf den Fersen wippend, der Bullige weit hinter ihnen, über sein Smartphone gebeugt.

Eilends durchquert Grete kurz darauf die Halle mit den Gepäckbändern. Ihr Koffer wird wahrscheinlich jetzt gerade umgeladen und fliegt in gut einer Stunde weiter nach München. Dagegen versammeln sich praktisch alle Passagiere aus ihrer Maschine bei dem Förderband, über dem ihre Flugnummer auf dem Display steht. Wie auch sonst, kaum jemand geht bloß mit Bordgepäck auf Fernreise.

Im Vorbeigehen schaut Grete kurz in die Runde: Auch einer der beiden Anzugmänner hat sich am Gepäckband positioniert. Sein Kollege aber knöpft sich das Jackett zu und marschiert hinter ihr her in Richtung Ausgang.

Grete umklammert den Schulterriemen ihrer Handtasche und beschleunigt. Fast rennend steuert sie auf die Doppeltür unter dem EXIT-Schild zu. Als die Tür vor ihr aufgleitet, riskiert sie noch einen Blick über die Schulter. Auch der Bullige stürmt, sein Bordcase an der linken Pranke schlenkernd, mit Riesenschritten hinter ihr her.