Supernatural Secret Agency - Die Rache der Vampirgeister - Andreas Gößling - E-Book

Supernatural Secret Agency - Die Rache der Vampirgeister E-Book

Andreas Gößling

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Beschreibung

Eine packende Mischung aus Agententhriller à la 007 und Fantasywelt

Transsylvanien: Nach seiner lebensgefährlichen Mission bei den Elfen bekommt Arvid es nun mit den Vampirgeistern zu tun. Ihre Forderung: das Schloss des Grafen Dracul in eine Gedenkstätte zu verwandeln. Dabei war Dracul entgegen aller Legenden gar kein Untoter, sondern ein höchst lebendiger Tyrann! Die Supernatural Secret Agency wird misstrauisch: Schmieden die Vampirgeister in Wahrheit ganz andere Pläne? Mit dem neuesten magischen Equipment ausgestattet, muss Arvid Licht ins Dunkel bei den Blutsaugern bringen.

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Seitenzahl: 537

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Der Autor

Autorenfoto: © privat

Andreas Gößling, geboren 1958, lebt und arbeitet als freier Autor in Coburg. Der promovierte Literatur- und Kommunikationswissenschaftler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit fantastischen, mythen- und kulturgeschichtlichen Themen, insbesondere mit der alten Maya-Kultur, mit Drachenmythen und Schöpfungslegenden. Neben Romanen für jugendliche und erwachsene Leser hat er auch zahlreiche Sachbücher veröffentlicht.

Von Andreas Gößling ist bei cbt bereits erschienen:

Die Dämonenpforte (30491)

SuperNatural Secret Agency –

Geheimagent auf Elfenjagd (30698)

SuperNatural Secret Agency –

Die Zwergenverschwörung (30781)

Andreas Gößling

SUPERNATURAL SECRETAGENCY

DieRacheder Vampirgeister

cbtist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. 1. Auflage

Originalausgabe März 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 cbt/cbj Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Frank Griesheimer

Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld

SK Herstellung: AnG

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-05748-0V002

www.cbt-jugendbuch.de

Kapitel I

Blut lecken

eins

Endlich fängt der Lautsprecher über der Tafel an zu scheppern– große Pause. Fast gleichzeitig springen alle von ihren Stühlen und stürmen auf die Tür zu. Mein Freund Julian ist wieder mal der Schnellste– aber noch während er die Hand nach der Klinke ausstreckt, schwingt die Tür auf wie von selbst.

»Vier Stunden noch«, sagt Felisa. »Das halte ich nicht aus!«

Mehr oder weniger die komplette Klasse 10c drängt sich in einem lärmenden Haufen vor der Tür und versperrt mir die Sicht. Nur Felisa sitzt noch wie angeklebt neben mir und lächelt mich an. Nach den Sommerferien hat sie sich einfach auf den Platz zu meiner Linken gesetzt, der in all den Jahren immer frei gewesen ist. Wer will schon neben Arvid »Alien« Warner sitzen?

Aber seit ich Junior Agent bin, ist alles anders. Obwohl hier in der Klasse natürlich niemand weiß, dass mich die SuperNatural Secret Agency– kurz SuperNat– angeheuert hat.

»Außerdem ist es viel zu heiß«, fährt Felisa fort. Ihr Lächeln wird zum Strahlen. »Gehen wir irgendwo schwimmen, Arvid– nur wir zwei?«

Wenn Felisa mich anlächelt, bekomme ich immer noch weiche Knie. Ein paar romantische Stunden mit ihr an einem Waldsee– dafür hätte ich vor ein paar Monaten noch wer weiß was gegeben. Aber die Sache zwischen uns ist vorbei.

Ich liebe Brianna, wie soll ich das Felisa nur erklären? Meine Elfe und ich haben uns im Mai in Irland kennengelernt, bei meinem ersten Einsatz als SuperNat-Agent. Sie hat mir geschworen, dass wir uns demnächst wiedersehen werden– und ich weiß genau, dass Brianna das nicht einfach so dahergesagt hat.

Ich werde sie wiederfinden, sehr bald schon– das spüre ich gerade in diesem Moment deutlich und klar.

»Tut mir leid, Feli«, murmele ich, ohne sie richtig anzusehen. »Ich habe vor den Ferien so viel versäumt, da kann ich jetzt nicht schon wieder fehlen.«

Ihr Lächeln verblasst wie ein Spotlight bei Stromausfall. Ihre Augen fangen an zu schimmern, und ich beschwöre sie im Stillen: Bitte, Feli, fang jetzt nicht an zu heulen!

Ich fühle mich wirklich mies, weil ich sie immer wieder zurückweise– und weil es für Felisa so aussehen muss, als würde ich mich an ihr rächen. Als wollte ich ihr heimzahlen, dass es zwischen uns noch im letzten Jahr genau andersherum war: Da habe ich sie andauernd angeschmachtet und Felisa hat sich über mich lustig gemacht. Zusammen mit Jessica und Lena, ihren besten Freundinnen, hat sie über mich gekichert und mich immer nur »Alien« oder »Psycho« genannt– und das alles bloß, weil ich ihr einmal vorgeführt habe, dass ich Sachen kann, die sonst niemand draufhat. Meinen MP3-Player eine wacklige Runde durch die Luft schweben lassen, zum Beispiel– als ich ihr dieses kleine Kunststück gezeigt habe, ist Felisa regelrecht ausgeflippt und hat herumgeschrien, ich hätte ihr irgendwelche Drogen in die Cola gemischt. Was aber gar nicht stimmte.

»Holy shit, lasst mich doch mal durch!«, dröhnt vom Gang her eine Bassstimme.

Meine Mitschüler weichen nach links und rechts zurück. Draußen vor der Tür zu unserem Klassenzimmer erkenne ich einen stämmigen, hochgewachsenen Mann Mitte dreißig, mit altmodisch gescheitelten Haaren.

Otto!

Mein Herz hämmert plötzlich wie verrückt in meiner Brust herum. Das ist wirklich mein Senior Agent O! Bestimmt gibt es wieder irgendwelchen Ärger mit den Elfen– und Otto will, dass ich noch mal mit Alberta und ihm nach Irland fliege.

»Da bist du ja, Junge!«, trompetet Otto.

Er schaufelt meine Mitschüler zur Seite und ist mit ein paar Riesenschritten bei mir. Wie üblich trägt er einen verbeulten grauen Anzug, der wahrscheinlich schon zu Elvis Presleys Zeiten museumsreif war. Seine Jackentaschen sind mit unförmigen Gegenständen vollgestopft und einen davon erkenne ich auf Anhieb wieder– sein kostbares Satellitenhandy, dessen Antenne aus einer Seitentasche hervorragt.

Alle starren Otto an, aber er scheint es nicht zu bemerken.

»Auf geht’s«, sagt er. »Wir sind in Eile– unterwegs erkläre ich dir alles, was du wissen musst.« Er packt mich beim Oberarm und will mich mit sich ziehen.

Frau Krofinger, unsere Klassenlehrerin, ist noch vorn bei ihrem Pult und packt irgendwelche Bücher zusammen.

»Moment mal!«, sagt sie, lässt die Schlösser ihrer speckigen Aktentasche zuschnappen und kommt zu uns herüber.

Meine Bank steht traditionell ganz hinten in der letzten Reihe, direkt neben dem Fenster. Mit gerunzelter Stirn beobachtet Otto, wie sich Frau Krofinger zwischen den kreuz und quer stehenden Bänken hindurch einen Weg zu uns bahnt. Ihr grauer Haarzopf wippt energisch auf und ab und der Schriftzug auf ihrem T-Shirt kommt mir plötzlich wie eine Kampfansage vor.

»Zero Tolerance for the Devil!«, steht in flammend roten Lettern quer über Frau Krofingers Brust.

Ein bemerkenswertes Statement, sage ich mir, für einen bekennenden Rolling-Stones-Fan wie sie. Fragt sich nur, wer in ihren Augen der Teufel ist.

Hoffentlich nicht Otto.

»Sind Sie ein Verwandter von Arvid?« Frau Krofinger stemmt die Fäuste auf ihre Hüften und sieht Otto streitlustig an. »Der Junge hat bis halb zwei Unterricht und kann auf keinen Fall vorher gehen. Arvid liegt in etlichen Fächern zurück und…«

Mit einer hackenden Handbewegung schneidet ihr Otto das Wort ab.

»…und er wird auch dieses Jahr die eine oder andere Stunde versäumen– sorry«, vollendet er ihren Satz.

Frau Krofinger starrt ihn mit offenem Mund an.

»Also los jetzt, Junge«, sagt Otto zu mir und zieht mich vollends aus meiner Bank.

»Hey, wer sind Sie denn?«, ruft Felisa aus.

Sie erhebt sich vollkommen synchron mit mir von ihrem Stuhl, so als ob wir miteinander verlinkte Roboter wären.

»Ja, genau!«, pflichtet ihr Frau Krofinger bei.

Unsere Deutschlehrerin ist nicht gerade eine Zwergin. Trotzdem muss sie ihren Kopf in den Nacken legen, damitsie Otto ins Gesicht schauen kann. Zum Ausgleich starrt sie so grimmig, als wollte sie ihm einen Verweis androhen.

»Wer sind Sie, zum Teufel?«, fragt Frau Krofinger. »Und wie kommen Sie dazu, einfach so über Arvid zu verfügen?«

Gerade da beginnt Ottos Satellitenhandy zu schnarren.

»Holy shit«, murmelt er und wurstelt das unförmige Gerät aus seiner Jackentasche. Er zieht die Antenne weiter heraus, lauscht mit finsterem Gesichtsausdruck und knurrt nach höchstens zehn Sekunden: »Verstanden. Wir sind unterwegs.«

Frau Krofinger und Felisa wechseln entgeisterte Blicke.

»Sag du doch mal, Arvid…«, fängt Felisa an.

Aber auch sie bekommt ihren Satz nicht zu Ende.

In seiner Rechten hält Otto nach wie vor das Telefon, mit links fischt er eine zerknickte Visitenkarte aus seiner Jacke und drückt sie Frau Krofinger in die Hand.

»UNESCO«, sagt er, »Abteilung Schutz des kulturellen Menschheitserbes. Wenn alles gut geht, ist Arvid in ein paar Tagen zurück. Auf jetzt, Junge!«

Er packt mich bei den Schultern und schiebt mich vor sich her, auf die Tür zu.

Frau Krofinger und Felisa sind anscheinend so baff, dass sie nicht einmal mehr Satzanfänge hervorbringen. Stumm bleiben sie in unserem stickig heißen Klassenzimmer zurück, während Otto mich draußen den Gang entlangschubst und dann die Treppe zum Dach hoch bugsiert.

»Hey, hier geht es nicht raus!«, protestiere ich.

»Und ob, Junge«, knurrt Otto.

Auf einmal muss ich lachen. Meine Laune macht einen gewaltigen Satz nach oben. Sieht ganz so aus, sage ich mir, als ob ich das hier schmerzlich vermisst hätte– von Otto angeschnauzt und durch die Gegend geschubst zu werden. Von Otto dem Unerschütterlichen, der immer so tut, als hätte er alles vorausgeplant und als ob nichts ihn aus der Fassung bringen könnte. Weshalb er natürlich auch nicht zugeben kann, dass wir auf diesem Weg niemals zu einem Ausgang kommen werden, egal wie lange wir noch die Treppe hochsteigen. Lieber packt er mich beim Kragen und springt mit mir zusammen vom Schuldach.

Ungefähr so kommt es dann auch.

zwei

»Hier oben ist das Ende der Welt«, sage ich, als wir den obersten Treppenabsatz erreicht haben. »Das siehst du doch selbst, O– außer der Feuertür hinaus aufs Flachdach gibt es hier gar nichts.«

»Ende der Welt ist ein gutes Stichwort«, gibt Otto zurück. »Wenn wir uns jetzt nicht verdammt noch mal beeilen, können wir vom Flugzeug aus gerade noch die Welt untergehen sehen.«

Er umklammert meinen Arm mit seiner Riesenpranke und zerrt mich auf die Feuertür zu.

»Untergehen?«, wiederhole ich. »Du willst mir doch hoffentlich nicht sagen, dass es wieder ein Problem mit den Elfen in Irland gibt?«

Dabei hoffe ich im Gegenteil, dass es genau dort ein Problem gibt, das ich jetzt ganz dringend mit meinen beiden Senior Agents Alberta und Otto lösen muss– so nah wie überhaupt möglich beim Mount Brandon, wo ich mich immer mit meiner Elfe getroffen habe. Ich brauche nur ganz flüchtig an Brianna zu denken, da meine ich schon wieder ihre weichen, warmen Lippen auf meinem Mund zu spüren und ihren Körper in meinen Armen.

»Irland? Ach was!«, knurrt Otto.

Er fischt einen Schlüssel aus seiner Jacke, ohne mich loszulassen, und stößt ihn ins Schlüsselloch der Feuertür. Leise kreischend dreht sich das Schloss.

»Wohin verschleppst du mich denn sonst?«, frage ich.

In meinem Innern kämpfen Enttäuschung und Abenteuerlust um die Vorherrschaft.

»Nach Transsylvanien«, gibt Otto zurück.

Das ist bestimmt nur wieder mal einer seiner miesen Witze, sage ich mir. Aber gleichzeitig spüre ich, dass es weit mehr als das ist.

Otto stopft den Schlüssel zurück in seine Jacke, drückt die Tür einen Spaltbreit auf und späht hinaus.

»Vergiss deine Elfe, Arvid«, murmelt er. »Deine neue heiße Liebe hat Reißzähne bis hier.«

Mit der Handkante zieht er eine Linie quer über seine Kehle.

Idiot, denke ich und schaffe es gerade noch, vorher den Ton abzudrehen. Das ist wieder mal typisch Otto– wenn er einen nicht piesacken kann, ist er einfach nicht glücklich.

»Jetzt mal zu deiner heißen Liebe, O«, sage ich so lässig, wie ich es hinbekommen kann. »Was macht eigentlich Alberta?«

Draußen ist das leise Flapp-flapp eines Helikopters zu hören, der offenbar rasch näher kommt. Kein gewaltig großer Militärhubschrauber wie der Merlin, mit dem wir im Mai von der irischen Küste hinaus zum U-Boot HMSTireless geflogen sind. Nein, das da draußen muss ein viel kleinerer Helikopter sein. Trotzdem glaube ich keinen Augenblick lang, dass man mit diesem Ding auf unserer guten alten Schule landen kann. Jedenfalls nicht, ohne dass die einen Dachschaden abbekommt.

»Uns abholen natürlich.« Otto sieht mich mit übertrieben großen Augen von der Seite her an. »Was hast du denn gedacht?«

Einen Moment lang lauscht er noch konzentriert nach draußen, dann stößt er die Feuertür auf. »Du zuerst, Junge!«, ruft er gedämpft und schiebt mich ins Freie.

Höchstens drei Meter über dem kiesbedeckten Flachdach unserer Schule schwebt ein zierlicher Helikopter. Dafür, dass er so klein ist, macht er einen ganz schönen Krach und wirbelt vor allem jede Menge staubigen Wind im Kreis. Die Luftwellen zerren an meinen Haaren, an meinem Sweatshirt und an meinen Nerven. Soll ich mich etwa mit den Händen an eine der zerbrechlich aussehenden Metallkufen klammern oder wie stellt sich Otto das vor?

Der Hubschrauber sackt noch ein paar Zentimeter weiter herunter und hängt dann wie an unsichtbaren Schnüren über uns in der Luft. Seine Kanzel ist ganz aus Glas und dahinter sitzt eine Frau Anfang dreißig und grinst mich kumpelhaft und gleichzeitig mütterlich an. Alberta! Sie ist wirklich gekommen, um uns abzuholen. Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass Otto vorhin nicht etwa einen blöden Witz gerissen hat.

Wir fliegen wirklich nach Transsylvanien.

Wie immer ist Alberta noch sonderbarer als Otto gekleidet. Diesmal trägt sie einen unförmigen Hosenanzug, der mit einer Art Morsezeichen-Muster bedruckt ist. Ihre Hände stecken in eng anliegenden schwarzen Lederhandschuhen, ihren Hals umschließt ein altmodischer Stehkragen. Auf ihrem Kopf thront ein überdimensionaler Kopfhörer, und während wir uns gegenseitig angrinsen, kommt ein tarnfarbenes Stahlseil aus dem Boden des Helikopters zu Otto und mir heruntergeschwankt. Es ist mit Karabinerhaken von Furcht einflößender Größe bestückt.

Bevor ich richtig begriffen habe, was hier vorgeht, hat mich Otto unter den Helikopter gezerrt. Er wickelt das Seil um mich herum und zurrt es mit den Haken fest. Dann macht er Alberta ein Zeichen– aufwärts gereckter Daumen– und im nächsten Moment verliere ich den Boden unter meinen Füßen.

Das Seil wird zurück in den Hubschrauber gezogen und ich schwebe und schwanke mit ihm empor. Schon bin ich an Bord des Hubschraubers, wo mich Alberta mit einem einzigen Handgriff von dem Seil befreit. Schon falle ichin einen Sitz und schnalle mich an, schon saust das Seil wieder nach unten, und natürlich macht sich Otto nicht die Mühe, auch sich selbst mit den Karabinerhaken zu sichern: Er fasst einfach das Tau mit seinen Riesenpranken und turnt wie ein wild gewordener Pavian daran empor.

Ohne zu warten, bis ihr Partner richtig an Bord ist, drückt Alberta den Gashebel herunter, um den Rotor auf Touren zu bringen. Die Maschine brüllt auf und unter uns wird gleichfalls gebrüllt und geschrien. Ich beuge mich auf meinem Sitz vor und schaue durch die langsam zugleitende Bodenluke nach unten: Auf dem Schuldach unter uns stehen Frau Krofinger, Felisa, meine Freunde Timm und Julian und all die anderen und glotzen mit weit aufgerissenen Augen hinter unserem Helikopter her.

Otto hat sich in den Sitz mir gegenüber geworfen. Er braucht ein paar Sekunden, bis er wieder bei Atem ist. Dann beugt er sich zu mir herüber und schreit gegen den Lärm an:

»Willkommen im Team! In zwanzig Minuten steigen wir in den Learjet um. Ankunft in Braşov, Transsylvanien, circa zwölf Uhr fünfzig.«

Das passt mir aber ausgezeichnet, denke ich und versuche vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken. Um zwölf Uhr fünfzig hätte ich eigentlich Chemie bei Herrn Bossardt– mein Albtraumfach bei dem mit Abstand am meisten gefürchteten Lehrer im ganzen Wohlthat-Gymnasium.

Doch dann fällt mir ein, was Otto kurz vorher zu mir gesagt hat: Wenn wir uns nicht verdammt beeilen, können wir vom Flugzeug aus gerade noch die Welt untergehen sehen.

drei

Keine Viertelstunde später landen wir auf dem winzigen Spezialflugplatz irgendwo im brandenburgischen Sand. Von hier sind wir auch im Mai bei unserer Elfen-Mission abgeflogen und wie damals wimmelt das Gelände von Sicherheitsleuten mit automatischen Feuerwaffen und nervösen Schäferhunden.

Aber anders als bei meinem ersten SuperNat-Einsatz winken mich die Security-Typen diesmal nach einem kurzen ID-Check durch. Junior Agent Warner meldet sich zum Dienst!

Unser Learjet 64RX steht wirklich schon startklar auf dem Rollfeld. Die Triebwerke heulen ohrenbetäubend, der ganze silbergraue Riesenvogel vibriert, als könnte er eskaum erwarten, mit uns in den Himmel hinaufzuschießen.

Und hey– ganz genauso geht es mir auch! Lieber wäre ich ja zu meiner Elfe geflogen, aber irgendwie spüre ich, dass ich Brianna trotzdem bald wiedersehen werde. Und erst einmal wartet ein neues Abenteuer auf mich. Während sich Julian, Timm und all die anderen durch Spinnennetze aus anorganischen Molekülverbindungen durchkämpfen müssen. Viel Spaß, Freunde!

Alberta hat den Helikopter direkt hinter dem Learjet gelandet. Sie schaltet den Rotor ab, wir springen hinaus und rennen hintereinander auf die Gangway zu. Kaum ist Otto als Letzter an Bord gestürmt, da wird die Gangway auch schon weggerollt, die Türen krachen zu und unser Flieger setzt sich in Bewegung.

»Willkommen an Bord, Arvid«, sagt Alberta und strahlt mich an. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich wiederzusehen.«

Ich nicke und strahle gleichfalls und kämpfe währenddessen mit meinem Safety Belt.

»Otto freut sich genauso«, fährt Alberta fort, »auch wenn er sich nichts anmerken lässt– du kennst ihn ja.«

Sie sitzt wieder zu meiner Linken, durch den Gang von mir getrennt. Otto hat sich zwei Sitze vor uns in einen der superbequemen First-class-Sessel gefläzt und geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er murmelt Orakelsprüche in sein Satellitenhandy.

Ist es wirklich erst ein paar Monate her, dass wir die Invasion der irischen Insel durch den Fomori-Gott Domnann und seine Monstergeschöpfe im allerletzten Augenblick abgewendet haben? Im Moment kommt es mir eher vor, als ob seit damals Lichtjahre vergangen wären. Jedenfalls hatte ich schon wieder halb vergessen, wie unglaublich luxuriös so ein Learjet ausgestattet ist. Jede Menge Platz zwischen den Sitzen– sogar Otto kann seine Beine ausstrecken. Zu jedem Sessel gehört außerdem ein eigener kleiner Multifunktionstisch– mit Videotelefon und einem Touchscreen als Tischplatte, auf dem gerade jetzt die Europakarte mit unserer Flugroute erscheint.

»Ready for take-off«, meldet der Pilot über Lautsprecher.

»Gamma-gamma-Könige-drei-omega«, murmelt Otto in sein Telefon und schaltet es ab.

Wie eine Rakete schießt unser Learjet in den Himmel über Brandenburg hinauf. Die Beschleunigung drückt mich in meinen Sitz und die Aufregung lässt mein Herz wie bei einem Drummer-Solo schlagen. So schnell und hart, dass es fast wehtut und man sich trotzdem wünscht, dass es für alle Zeiten so weitergeht.

Ich muss meine Mutter anrufen, fällt mir ein. Sonst macht sie sich wieder Sorgen oder stellt irgendwelchen Unfug an– so wie letztes Mal, als sie unbedingt verhindern wollte, dass ich bei der SuperNat anfing. Dabei hat sie früher selbst als Agentin für die SuperNatural Secret Agency gearbeitet– sonst hätte sie ja meinen Vater nicht kennengelernt. Den geheimnisvollen Ahnengeist Gerwin Warner, Abgesandter eines vor vielen Jahrhunderten ausgerotteten Volkes. Am Ende blieb den SuperNat-Leuten nichts anderes übrig, als meine Mutter in ein Geheimdiensthotel an der Ostsee zu bringen, wo sie bei schönstem Sommerwetter festsaß. Während ihr Sohn die Welt vor den tentakelschwenkenden Fomori zu retten half.

Aber mittlerweile ist meine Mutter längst wieder auf freiem Fuß und wohnt wie früher in unserer Wohnung in einer der bescheideneren Ecken von Berlin-Steglitz. Und ich will auf gar keinen Fall, dass sie sich Sorgen macht, weil ich heute nicht von der Schule nach Hause komme– aber genauso wenig will ich, dass sie wieder Druck macht, damit ich diesen Einsatz sausen lasse.

Auf jeden Fall rufe ich sie heute noch an, nehme ich mir vor. Aber erst einmal will ich wissen, worum es hier überhaupt geht und wie lange dieser Einsatz ungefähr dauern wird. Vielleicht bin ich ja schon wieder in Berlin, bevor meine Mutter überhaupt richtig gemerkt hat, dass ich weg war. Na ja, das ist ziemlich unwahrscheinlich, sage ich mir dann– seit der Sache mit den Fomori beobachtet sie mich so ausdauernd wie eine Bahnsteigkamera.

Otto schwenkt seinen Sessel zu Alberta und mir herum.

»Hör gut zu, Junge«, sagt er. »Jetzt kommt dein Briefing.«

Weit vorgebeugt sitzt er da, die Ellbogen auf seine Oberschenkel gestützt, die so dick wie Baumstämme sind. Keine Ahnung, wie Otto sich diese Unmengen an Muskeln zugelegt hat.

»Unser Ziel ist Bran in Siebenbürgen«, fährt Otto fort und starrt mich dabei düster an. »Die sogenannte Törzburg– sagt dir der Name etwas?«

Ich zucke mit den Schultern. »Nie gehört.«

»Besser bekannt als Burg von Graf Dracula«, fügt Otto hinzu. »Genauer gesagt, von Fürst Vlad III., genannt Draculea, der im 15.Jahrhundert über Siebenbürgen herrschte. Über Transsylvanien, Muntenien oder das Burzenland– die Bezeichnungen wechseln, aber gemeint ist immer derselbe vampirverseuchte Landstrich.«

Otto zieht ein angewidertes Gesicht. Er scheint keine besondere Sympathie für Vampire zu empfinden– und ehrlich gesagt, mir geht es genauso. Schließlich bin ich nur zur Hälfte ein Geist, mit meiner anderen Hälfte aber ein ganz normaler Mensch. Und dieser Mensch aus Fleisch und Blut hat überhaupt keine Lust, von einem Blutsauger angefallen zu werden– »mit Reißzähnen bis hier«, wie Otto vorhin gewitzelt hat.

»Lass mich raten«, sage ich, weil Otto nur noch düster vor sich hinstarrt. »Die Vampirgeister verlangen, dass wir ihre Burg wiederaufbauen, damit die ganze Welt erkennt, was für ein großartiger Bursche der ehrwürdige Dracula war?«

»Das trifft es nicht ganz«, mischt sich Alberta ein. »Aber so in etwa. Wir haben es in Bran mit einem reizenden Vampirpärchen zu tun– Ileana und ihr Gefährte Mircea. Die beiden behaupten,Abgesandte der transsylvanischen Strigoi zu sein– so heißen die untoten Blutsauger auf Rumänisch. Sie verlangen, dass wir die Burg samt Umgebung in den Zustand zurückversetzen, in dem sie zu Lebzeiten des ehrenwerten Grafen Dracula war. Außerdem soll der gesamte Trödelmarkt von dem Vorplatz unter der Burg verbannt werden– ein wirklich scheußlicher Basar, auf dem Vampir-Schrott aller Art verhökert wird. Dracula-Masken und -Plastikgebisse, ›Blut-Burger‹, Vampir-Trashmovies und sonstiger Plunder.«

Alberta verstummt abrupt. Otto brütet weiter finster vor sich hin.

»Und wo ist das Problem?«, frage ich und schaue Alberta an. »Warum orakelt Otto schon wieder vom drohenden Weltuntergang? Richten wir ihnen die Burg doch einfach wieder her– was spricht denn dagegen? Und für den Trödelmarkt wird sich ja bestimmt auch ein anderer Platz finden.«

Ich begreife wirklich nicht, warum A&O so beunruhigt wirken. Verglichen mit unserem Fomori-Fall in Irland wird das hier doch ein Kinderspiel!

»Außerdem kann ich gut verstehen«, füge ich hinzu, »dass so ein Trödelmarkt die Vampire nervt. Sie wollen eben, dass ihr berühmter Ahn ein würdiges Denkmal bekommt. Das hast du mir doch in Irland selbst erklärt«, wende ich mich an Otto– »je schlechter ihr Ruf bei uns Lebendigen ist, desto wichtiger ist es den jeweiligen Geistern, ihr Image aufzupolieren. Und Vampire haben ja definitiv ein Imageproblem.«

Otto taucht aus seinen Grübeleien aus und starrt mich aus schmalen Augen an. Er kann ziemlich Furcht einflößend aussehen.

»Wo das Problem ist, willst du wissen?«, fragt er mich. »Alberta ist mehr oder weniger deiner Meinung– wenn du sie fragst, gibt es überhaupt kein Problem. Falls du aber meine Meinung hören willst…«

Alberta hebt blitzartig eine Hand.

»Stopp, O!«, ruft sie aus. »Erinnerst du dich, was wir besprochen haben?«

Seltsamerweise trägt Alberta immer noch diese eng anliegenden Handschuhe und die Morsezeichen-Jacke mit dem altmodischen Stehkragen bis unters Kinn. So als ob sie mit angreifenden Wespenschwärmen rechnen würde.

Sie setzt ihr mütterlichstes Lächeln auf und wendet sich wieder mir zu.

»Wir wollen, dass du dir erst einmal dein eigenes Bild machst, Arvid«, erklärt sie mir. »Schau dich unvoreingenommen dort in Bran um und höre dir an, was Mircea und Ileana von uns verlangen. Als Halbgeist spürst du bestimmt viel genauer als wir, was mit diesen Vampiren los ist. Anschließend setzen wir drei uns zusammen, und jeder sagt, wie er die Sache sieht. Einverstanden?«

Ich nicke Alberta zu und zucke gleichzeitig mit den Schultern.

»Okay«, sage ich. »Meinetwegen.«

Aber gleichzeitig kriecht in mir ein verdammt mulmiges Gefühl hoch.

vier

Im nebelgrauen Range Rover rasen wir am Grund der Schlucht entlang– hoch über uns die Burg. Ich verdrehe mir fast den Hals, um das irrsinnige Gemäuer keinen Moment lang aus den Augen zu lassen. Castelul Bran in Transsylvanien, besser bekannt als Draculaburg.

Im gleißenden Sonnenlicht sehen die Burgmauern gespenstisch weiß aus. Türme mit Dächern wie riesengroße Spitzhüte und drum herum kreisen schwarze Vögel. Fledermäuse? Das kann ja nicht sein, sage ich mir– für die ist es bestimmt noch zu hell. Jedenfalls da oben, auf diesem schwindelerregend steilen Burgberg, der die Schlucht an ihrem Ende wie ein Korken verpfropft.

Hier unten im Tal ist es düster, auch wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Unsere Straße ist eigentlich nur ein schmales Asphaltband, das sich zwischen dem schäumenden Fluss und mehr oder weniger senkrechten Felswänden entlangschlängelt. Ein Gemisch aus Gischt und Nebel wabert über dem Wasser, und die Steine am Ufer sehen aus wie Totenköpfe, aus denen Farnwedel wachsen.

Als wir um Punkt zwölf Uhr fünfzig auf dem abgeriegelten Militärflughafen bei Braşov runtergekommen sind, hat unser rumänischer Kontaktmann schon auf uns gewartet. »Radu Ilavu«, stellte er sich vor und grinste uns mit seinen Goldplomben an. Ein irgendwie ungesund aussehender Bursche, schätzungsweise in Ottos und Albertas Alter, aber dürr wie eine Vogelscheuche. In seinem schwarzen Anzug, der ihm viel zu weit ist, würde man Radu für einen Totengräber halten, wenn er nicht diese unübersehbare Schwäche für Gold hätte: goldene Armbanduhr, breite Goldkette um den Hals und am rechten Handgelenk ein breites Armband.

Otto begrüßte er schulterklopfend, Alberta mit angedeutetem Handkuss. Mir zwinkerte er mit goldenem Grinsen zu.

Unser Fahrer wartete bei unserem Einsatzfahrzeug: Range Rover, neuestes Modell. Mit Allrad-Antrieb, Achtzylindermotor und fast 400PS. Wir setzten uns auf die schwenkbaren Einzelsessel, die um einen Hightech-Tisch angeordnet sind.

Der Fahrer heißt Ioan, also fast genauso wie Ian, unser irischer Driver im Mai– aber größer kann der Unterschied zwischen zwei Menschen kaum sein. Dabei ist Ioan wahrscheinlich auch erst ungefähr Mitte zwanzig, doch wie sein Chef sieht er seltsam kränklich aus. Grau-gelbe Gesichtsfarbe und der ganze Kerl so ausgemergelt, dass sich seine Rippen unter dem T-Shirt abzeichnen.

Während Ioan mit Höllentempo durch das schluchtenge Tal rast, starren Radu, Alberta und Otto unentwegt auf den Tisch, in den ein Monitor eingelassen ist.

Grafiken und Zahlenkolonnen flimmern in mehreren Fenstern über den Bildschirm. Ich kann mir schon denken, welche Daten sie da gerade abgleichen. In zwei Monitorfenstern rasen die unglaublichsten Schrumpfkopf-Bilder durch– links Männerporträts, rechts Frauenfotos, alle wie aus einem Horrorfilm-Casting. Hohlwangige Gesichter mit blutunterlaufenen Augen und marmorbleicher oder staubgrauer Pergamenthaut. Die Männer teilweise mit Nackentolle, die Frauen mit altmodisch aufgetürmten Spinnwebhaaren. Im Hintergrund der Bildschirmfenster sind die Umrisse eines weiteren Horror-Pärchens zu erkennen, mit dem sie die Figuren aus der Vampirdatei offenbar gegenchecken.

Schließlich bleiben beide durchratternden Bilderreihen fast gleichzeitig stehen.

Radu beugt sich vor und tippt mit dem Zeigefinger auf das linke Foto. Zu sehen ist ein scheinbar halb toter Mann mit eingefallenen Wangen und wachsfarbener Haut.

»Seht ihr, das ist Mircea«, sagt Radu mit hartem Akzent auf Deutsch. »Hab ich euch doch gesagt.«

Er tippt noch energischer auf den Bildschirm. Die Goldkette an seinem Handgelenk klirrt.

»Und das da– die gute alte Ileana. Radu kennt doch sein Beißervölkchen.«

Unter den Bildern erscheinen Schriftzeilen, die seine Worte bestätigen. »Mircea Muriacu– Strigoi 2.Kl.– wohnhaft in Darijiu, entweihtes Kloster«, steht unter dem Bild des männlichen Horrorwesens. »Ileana Lănescu– Strigoica 1.Kl.«, ist unter Foto Nummer zwei vermerkt, »wohnhaft in Iacobeni, Schlossruine«.

Radu hat eine seltsam schnarrende Stimme. Er verstehe ja die Sorge des Kollegen Otto, erklärt er. »Aber das sind waschechte Strigoi– Vampire, wie man bei euch sagt. Und zwar nicht irgendwelche Wimmergespenster– lasst euch von dem elenden Aussehen der beiden nur nicht täuschen.«

Der rumänische SuperNat-Mann grinst Alberta und Otto an, dass das Gold in seinem Mund nur so funkelt.

»Eine Strigoica erster Klasse– ihr wisst doch, was das bedeutet?«

Alberta schüttelt den Kopf. Dazu macht sie ein Gesicht, als ob sie es auch gar nicht wissen wollte, aber Radu schnarrt schon weiter.

»Eine mächtige Vampirin«, sagt er. »Mindestens sechshundert Jahre alt. Viel stärker und schneller, als ihr euch das wahrscheinlich vorstellen könnt– Vampire erster Klasse springen, rennen und fliegen so schnell, dass man ihnen mit den Augen kaum folgen kann. Aber wenn ihr sie nicht angreift, habt ihr nichts von ihr zu befürchten. Ileana hat sich unter Kontrolle.«

Er reibt sich den Nacken. So ganz wohl scheint er sich bei diesem Thema auch nicht zu fühlen, obwohl er sich große Mühe gibt, als furchtloser Vampirexperte zu erscheinen.

»Und jetzt zu Mircea«, fährt er fort. »Strigoi zweiter Klasse hört sich für euch vielleicht harmlos an. Trifft aber nicht ganz zu. Mircea hat noch keine dreihundert Jahre auf dem Buckel– jung für einen Zweite-Klasse-Strigoi. Er ist boshaft und etwas unberechenbar. Leider macht es ihm viel Spaß, lebendige Leute zu erschrecken. Und manchmal schießt er dabei über das Ziel hinaus. Aber im Grunde ist auch er– na ja– mehr oder weniger harmlos.«

Alberta wirft Otto einen bedeutungsschweren Blick zu. So, als ob sie sagen wollte: Na siehst du! Doch bevor irgendjemand etwas antworten kann, lässt unser Fahrer plötzlich den V8-Motor aufbrüllen.

Obwohl wir mitten in einer üblen Rechtskurve sind, reißt Ioan den Range Rover nach links und wir schlingern mit mindestens 120Stundenkilometern an einem Bauernwagen vorbei. Die Karre ist mit Heuballen beladen, und erst als ich mich umdrehe, wird mir klar, warum sie dermaßen langsam vorankommt: Das Gefährt wird von zwei klapperdürren Eseln gezogen und der Bauer trottet neben ihnen her. Er hat eine speckige Mütze auf dem Kopf, und als er seine Kippe aus dem Mund nimmt und uns entgeistert hinterherstarrt, zähle ich ein halbes Dutzend Lücken zwischen seinen gelben Zähnen.

Besser Zahnlücken als Reißzähne, zuckt es mir durch den Kopf. Auf einmal habe ich eine Gänsehaut.

»Tut mir leid«, sagt Radu. »Aber Ioan hat Befehl, so schnell wie möglich zu fahren. Sonst schaffen wir es nicht bis zwei Uhr– und Strigoi mögen es überhaupt nicht, wenn man sie warten lässt.«

Er tippt auf seine Armbanduhr und dabei klirrt und glitzert er wie ein Weihnachtsbaum.

Alberta schaltet den Touchscreen aus und lehnt sich in ihrem Sessel zurück. An ihrem seltsamen Stehkragen bemerke ich die Brosche mit den winzigen Brillanten, die sie auch schon in Irland getragen hat. In dem Schmuckstück ist eine raffinierte Kamera versteckt, mit der man Geister aller Art fotografieren kann. Bestimmt hat Alberta auch die Fotos von Mircea und Ileana heimlich gemacht. Eigentlich kann man Vampire ja gar nicht fotografieren– sowenig wie sie Schatten werfen oder im Spiegel zu sehen sind. Aber diese SuperNat-Spezialkamera funktioniert mit Kirlianfotografie– einer Uralttechnik aus dem Dampfmaschinenzeitalter, deren Ergebnisse anschließend mit smarter Grafiksoftware bearbeitet werden.

Mittlerweile fahren wir eine unglaublich steile Passstraße mit haarsträubenden Spiralkurven hoch. Nach und nach bleiben die zerklüfteten Berggipfel der Karpaten unter uns zurück– nur die Draculaburg erhebt sich weiterhin hoch über uns. Abweisend hockt sie auf ihrem wuchtigen Felsklotz, und Radu erzählt uns, dass da oben schon vor mehr als achthundert Jahren eine Burg gestanden hat.

»Noch nicht das Schloss von Vlad Draculea«, sagt er. »Vorher waren da die Ritter vom Deutschen Orden– nach ihrem ersten Burgkomtur heißt der Burgberg bis heute auch Dietrichstein. Aber die meisten Leute bei uns nennen ihn Straja– auf Deutsch Wacht.«

Von da oben, erklärt uns Radu weiter, ließ sich die Passstraße schon immer ideal kontrollieren. Alles, was von Süden her, von der Walachei über die Karpaten nach Transsylvanien hineinwollte, musste sich durch dieses Nadelöhr zwängen.

»Es gab keinen anderen Pass«, sagt Radu, »jedenfalls nicht für Kutschen und Pferde. Und selbst hier bei der Törzburg war der Pass noch vor hundertfünfzig Jahren so steil, dass man die Kutschen auf den letzten paar Hundert Metern mit Seilen über den Felsgrat ziehen musste.«

Otto, Alberta und ich wechseln Blicke. Irgendwie fühle ich mich plötzlich inmitten all der Felsen wie eingekerkert, und ich spüre, dass es A&O nicht anders geht. Keiner von uns kann sich zu einer Antwort durchringen und schließlich verstummt auch Radu.

Gedankenverloren schaue ich Alberta an. Sie wirkt bedrückt, geradezu verängstigt– ganz anders als in Irland. Und während ich noch darüber nachdenke, wird mir mit einem Mal klar, warum sie diese dicken Lederhandschuhe und vor allem die Jacke mit dem kinnhohen Kragen trägt.

Eine vampirverseuchte Gegend, hat Otto gesagt. Mit meinem kragenlosen Sweatshirt komme ich mir plötzlich furchtbar ungeschützt vor. Schließlich werden wir gleich mit zwei Strigoi zusammentreffen, gegen die wir nicht die geringste Chance haben, wenn es ihnen in den Sinn kommt, uns anzugreifen.

Als ich wieder nach draußen schaue, fahren wir eben in eine Ortschaft ein. »Bran« steht auf einem windschiefen Schild. Die Häuser am Straßenrand wirken bei Weitem nicht so ärmlich und heruntergekommen, wie ich das erwartet hatte. Unterwegs sind wir durch Geisterdörfer gekommen, die aussahen wie von einer Zombieplage heimgesucht– eingeschlagene Fenster, halb herausgerissene Türen, viele Häuser bis auf ein paar Mauerreste niedergebrannt. Hier in Bran aber scheinen die Leute ziemlich wohlhabend zu sein. An den Straßenrändern stehen nagelneue Porsche Cayenne und Audi TT. Die Häuser sehen aus, als ob sie gerade erst frisch angestrichen worden wären. Und allmählich wird mir auch klar, wem die Einwohner von Bran ihren Wohlstand verdanken.

Mindestens jedes zweite Haus beherbergt ein Hotel oder ein Restaurant, Souvenirläden oder Bars. Eine von ihnen heißt natürlich »Dracula-Bar«, eine andere »Vampirclub«, die nächste wirbt mit flackerndem Neonlicht: »Live Horrorshow– open 24h!«.

Radu beugt sich vor und tippt Ioan auf die Schulter. »Stopp!«

Er deutet zum Straßenrand und Ioan parkt den Range Rover in der Serpentinenkurve unter der Burg.

»Mit Ileana und Mircea könnt ihr ja Deutsch reden«, sagt Radu. »Ich warte hier, das ist besser so. Die Strigoi werden nur nervös, wenn sie mich sehen.«

Die Straße neben uns steigt so steil an, dass es mir fast unwirklich vorkommt. Ich beobachte einige Fußgänger– eine Schar schnatternder Japanerinnen, die sich unentwegt Luft zufächeln, und einen Trupp feixender US-Boys mit Cowboyhüten. Die einen gehen weit vorgebeugt aufwärts, die anderen tasten sich mit zurückgeworfenem Oberkörper den Berg herunter– so als würde man einfach umkippen, wenn man das absurde Gefälle nicht durch genauso bizarre Verrenkungen ausgleicht.

»Also dann«, sagt Radu und macht für uns die Tür auf. »Bleibt immer schön ruhig, dann gibt es die wenigsten Probleme.«

Das hört sich nicht gerade beruhigend an, sage ich mir, während ich hinter A&O aus dem Range Rover klettere.

Radu grinst uns goldzähnig hinterher.

fünf

Erst draußen auf der Straße wird mir klar, wie irre heiß es in diesem transsylvanischen Kaff Anfang September ist. Und wie wahnsinnig laut! In unserem von der Außenwelt abgeschotteten Luxuswagen war davon kaum etwas zu ahnen.

Hinter Alberta und Otto kraxle ich die letzte Straßenserpentine zur Burg hoch. Schon von Weitem schallt uns der Lärm vom Trödelmarkt entgegen. Aus Lautsprechern plärren Balkanschnulzen, Animateure schreien in Megafone. Mädchen kreischen und quietschen um die Wette– auch ohne meine telepathischen Kräfte anzuzapfen, kann ich mir mühelos vorstellen, was uns da oben auf dem Burgplatz erwartet.

A&O rempeln sich durch die Menge, und ich gebe mir alle Mühe, nicht abgehängt zu werden. Von einem Kirchturm dröhnt die Stundenglocke– zwei scheppernde Schläge.

Oh verdammt, denke ich– spätestens jetzt fangen die beiden Strigoi an, auf uns sauer zu werden.

Der Platz unter der Burg ist ein Albtraum aus Holzbuden, Marktschreiern mit Fledermausumhängen und betrunkenen Touristen, die sich gegenseitig in die Kehlen beißen. Amerikaner, Russen, Deutsche, Asiaten– es müssen Tausende Dracula-Pilger sein.

Mit verzerrtem Lächeln dreht sich Alberta zu mir um, ohne stehen zu bleiben. Vorsicht– Pickpockets, warnt sie mich in Gedankensprache.

Bei mir ist sowieso nichts zu holen, gebe ich zurück.

Das stimmt zwar, trotzdem macht mich die Aussicht auf Taschendiebe nicht gerade ruhiger. Aber zumindest Vampire werden sich hier draußen in der hellen Nachmittagssonne hoffentlich nicht blicken lassen– keine echten jedenfalls.

An einer Wurstbude werden tatsächlich »Blood Burger« verkauft. An sämtlichen Buden werden Poster und Postkarten verkauft, die einen düster dreinblickenden Mann mit wurmartig gewundenem Schnauzbart zeigen– darunter steht »Fürst Vlad Draculea«. Ein fliegender Händler drängelt sich durch die Menge und preist eine Kassette mit »sämtlichen Dracula-Filmen« an. Die Japanerinnen mit den Fächern haben es auch hier herauf geschafft und stopfen sich gerade alle gleichzeitig Vampirgebisse in den Mund. Ein Artist auf Stelzen, als riesiger Werwolf zurechtgemacht, bringt Unmengen von Kindern zum Kreischen. Mindestens die Hälfte aller Touristen hat sich Draculamasken oder -kostüme umgehängt.

Mir wird immer öder zumute. Wenn ich Vampir wäre, sage ich mir, würde ich diesen Grusel-Schrott auch vom Burggelände verbannen wollen. Schließlich hat hier Graf Dracula gelebt– und der ist ja für Vampire ungefähr das, was Gottvater für Christen oder Karl Marx für Kommunisten darstellt.

Schwitzend haste ich hinter Alberta her. Otto ist uns schon einige Schritte voraus– eben dreht er sich um und winkt uns energisch zu.

Holy shit, jetzt macht schon, A&A!

Aber in dem Gewühle kommt man einfach nicht von der Stelle. Bis zum oberen Ende des Platzes sind es mindestens noch zwanzig Meter. Ich erkenne einen hohen schwarzen Eisenzaun mit einem zweiflügeligen Tor. Der eine Torflügel ist geöffnet und davor steht ein hölzernes Kassenhäuschen mit der Aufschrift »Bilete«. Eine riesige Touristentraube drängelt sich vor dem Ticketschalter.

Wir müssen doch hoffentlich nicht erst noch Eintrittskarten kaufen?, denke ich. Bis dahin sind die Strigoi so sauer auf uns, dass wir uns da drinnen besser gar nicht mehr blicken lassen.

Erleichtert sehe ich, dass Otto an dem Touristenpulk vorbei direkt zum Tor stürmt. Im Rennen fischt er einen zerknitterten Briefumschlag aus seiner Jackentasche. Auf der Torschwelle steht ein uniformierter Mann, und gerade als Otto ihm den Brief überreicht, stößt Alberta einen gellenden Schrei aus.

Einen Gedankenschrei, genauer gesagt– es fühlt sich an, als ob sie mir direkt ins Gehirn kreischen würde.

Alberta! Was ist los?, bringe ich nach einem Moment der Schreckensstarre hervor.

Dabei sehe ich ja selbst, was mit ihr los ist. Oder nein– ich sehe, dass sie am Boden liegt und dass so ein zerlumpter Kerl bei ihr ist, aber ich kapiere nicht, was die beiden da machen. Er kauert auf allen vieren neben ihr und er hält Albertas Fußknöchel fest und hat seinen Kopf tief über ihren linken Fuß gebeugt. Aber aus welchem Grund?

Was zum Teufel macht der Kerl da?, japse ich in Gedankensprache.

Alberta gibt nur eine Art wimmerndes Stöhnen von sich.

Otto!, rufe ich. Komm zurück, schnell! MitAlberta ist…

Aber was mit ihr ist, kapiere ich immer noch nicht. Dabei habe ich mich endlich durch die Menge zu ihr durchgewühlt und sehe gerade noch, wie der Kerl ihren Fuß loslässt und aufspringt.

»He, was soll das!«, rufe ich. »Warte, du verdamm…!«

Vor Schreck vergesse ich, meinen Satz zu Ende zu schreien. Sein Mund, seine Hände– alles ist mit Blut verschmiert. Er leckt sich die bluttriefenden Lippen, seine Augen glitzern wie irre. Er wirkt geradezu berauscht, triumphierend grinst er mich an und streckt mir sogar die Zunge heraus. Vollkommen entgeistert sehe ich, dass seine Zunge vorn an der Spitze in eine Art Dorn übergeht. Ein abscheulicher Stachel, dick und spitz wie bei einem Kaktus oder einer Brombeerranke.

Im nächsten Moment ist der Bluträuber in der Menge verschwunden. Verblüfft schaue ich nach links und rechts, aber von dem Kerl ist weit und breit nichts mehr zu sehen.

Alberta!

Wieder antwortet sie nur mit einem Stöhnlaut. Ihre Augen sind halb offen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie ganz bei Bewusstsein ist.

Ich beuge mich über sie. An den Füßen trägt sie bloß Sandalen und nicht einmal Strümpfe– die hätten bei diesem grässlichen Stachel allerdings auch nichts genützt. Aber hat irgendwer schon mal von einem Vampir gehört, der seinem Opfer in den Fuß beißt?

Otto hat sich mittlerweile zu uns zurückgekämpft. Er kauert sich neben Albertas Füße und wickelt ihr mit unbeholfenen Bewegungen sein Taschentuch um den Knöchel. Alberta wimmert und zuckt. Otto steckt ihr die heruntergefallene Sandale wieder auf den Fuß und stemmt sich hoch. Vom Kirchturm ertönt gerade in diesem Moment ein leiser Gongschlag– Viertel nach zwei.

Komm jetzt, A, sagt Otto. Und mach dich nicht verrückt– das kann überhaupt kein Vampir gewesen sein.

Behutsam hilft er ihr aufzustehen.

Geht es?, fragt er. Kannst du auftreten?

Ja, ja, geht schon, gibt Alberta zurück.

Sie wirkt immer noch ziemlich durcheinander.

Sei bloß vorsichtig, mahnt Otto.

So fürsorglich habe ich ihn noch nie erlebt– und gleichzeitig so wütend.

Jetzt reicht’s aber!, knirscht er als Nächstes hervor. Diesem Blutsaugergezücht werden wir es zeigen!

Auf Ottos Arm gestützt, humpelt Alberta auf das Parktor zu. Erst jetzt fällt mir auf, dass eine halbe Hundertschaft Gaffer um uns herum stehen geblieben ist. Einige lachen und applaudieren– anscheinend glauben sie, dass wir ihnen eine Vampirshow geliefert haben.

Aber das war keine Show, verdammt noch mal! Auch in mir kocht der Zorn hoch. Aber ich reiße mich zusammen. Sowieso würde ich den Kürzeren ziehen– und als Geheimagent muss ich außerdem alles unterlassen, was den Erfolg unserer Mission gefährden könnte.

Wie sah der Kerl aus?, fragt mich Otto. Du hast ihn doch aus der Nähe gesehen?

Er hatte einen Stachel an der Zunge, gebe ich zurück.

Otto sieht mich entgeistert an. Bist du ganz sicher, Junge?, fragt er.

Ich nicke heftig. Er hat mir sogar die Zunge herausgestreckt, sage ich. Offenbar wollte er, dass ich diesen ekelhaften Stachel sehe.

Otto schleppt Alberta weiter auf das Parktor zu. Ein Upur, murmelt er. Bis vor einer Minute hätte ich noch gewettet, dass es diese Bestien nur in irgendwelchen Schauergeschichten gibt.

Der uniformierte Torwächter winkt uns durch. Offenbar hat Otto ihn vorhin mit seinem Brief gebührend beeindruckt. Hinter A&O schlüpfe ich in den Park unterhalb der Draculaburg.

Wenn du mich fragst, sage ich zu Otto– das hier ist eine Schauergeschichte und wir sind mittendrin.

sechs

Unser Treffpunkt mit den beiden Strigoi ist wieder die Kapelle vor der alten Grafengruft– genau wie gestern, als A&O zum ersten Mal mit Ileana und Mircea geredet haben.

Wir durchqueren den kleinen Park bis zum hinteren Ende– schroff ragt vor uns der Felsklotz empor mit der Burg obendrauf, zu der eine steile Treppe hochführt. Wir aber folgen einem Kiesweg links um den Felsen herum, bis sich das Gestein zu einer Art Höhle öffnet.

Der Durchlass ist mit einer Gittertür versperrt. »Off limite«, steht auf einem rostigen Schild. Und ein zweites Schild daneben warnt uns: »Atenţie! Pericol de Moarte!«

Auch wenn ich kein Wort Rumänisch kann, brauche ich nicht lange herumzurätseln, was diese Aufschriften bedeuten. Wir sollen die Gruft auf keinen Fall betreten, weil es da drinnen lebensgefährlich ist.

A&O verschwenden keinen Blick auf die Schilder. Otto zückt einen rostigen Schlüssel von den Ausmaßen seines Unterarms und schließt die Gittertür auf. Hintereinander passieren wir den engen Durchgang. Alberta geht vorneweg, immer noch humpelnd. Otto zieht seinen Kopf ein und zwängt sich seitlich durch den Spalt im Fels. Ich folge ihnen zögernd und bin mir auf einmal gar nicht mehr sicher, ob ich in diese Gruft hinabsteigen will.

Otto dreht sich zu mir um.

»Zieh die Tür hinter dir zu«, sagt er. »Auf geht’s– jetzt fühlen wir den Vampiren mal gehörig auf den Zahn.«

Er bleckt sein Gebiss, und ich muss einfach zurückgrinsen, ob ich will oder nicht. Ottos Witze sind meistens so mies, dass sie fast schon wieder gut sind.

Aber das Grinsen vergeht mir nach wenigen Schritten. Der Gang in die Gruft hinab ist eng und glitschig. Es riecht nach Moder und Schimmel. Otto hat eine Taschenlampe aus seiner Jacke geholt– der Lichtkegel zuckt über grob behauene Wände, die mit bizarren Mustern aus Schimmelflechten bedeckt sind. Und mit Totenkopfzeichen, in grellem Rot auf den Fels gemalt. »Pericol de Moarte!«

Der Gang endet in einer Art Felskapelle. Otto fischt ein Päckchen Streichhölzer aus seiner Jacke und zündet eine Fackel an, die in einem rostigen Wandhalter steckt.

Unruhig sehe ich mich um. Die flackernde Flamme ist zu schwach, um mehr als ein paar vage Umrisse aus der Dunkelheit hervorzuschälen. Keine Ahnung, wie groß dieser Raum hier ist. Ich erkenne Säulen, die bis zur unregelmäßig gewölbten Decke aufragen. Einen geborstenen Altar mit einem Sarkophag daneben. Der steinerne Deckel liegt schief auf dem Kasten– so als ob gerade ein lebender Leichnam daraus hervorgekrochen wäre. Im Hintergrund kann ich weitere Treppen und Gänge erahnen, die tiefer in den Berg hineinführen. Die Felswände sind schwarz vor Rauch oder Feuchtigkeit und scheinen auf beklemmende Weise mit den Schatten in Winkeln und Nischen zu verschmelzen.

Und dann auf einmal schwappt eine Welle grauenvollen Verwesungsgeruchs herein. Es ist ein würgender Gestank und gleichzeitig jagen chaotische Luftwirbel durch den Raum. Die Schatten, die eben noch wie schwarzer Schlamm in den Mauernischen lagen, fliegen auf und wehen umher. Ein Brausen und Fauchen kommt auf, mit einem pfeifenden Unterton, der mir das Blut in den Adern schockgefriert. Die Fackel flackert so erbärmlich, als wollte sie im nächsten Augenblick erlöschen.

»Wie könnt ihr es wagen, mich warten zu lassen!«

Wie aus dem Boden gewachsen steht vor uns eine riesenhafte Gestalt. Ileana! Kein Zweifel, das muss die Strigoica sein. Sie ist mindestens drei Meter groß. Mit ihrem staubgrauen Umhang und dem blutroten, gleichfalls bodenlangen Kleid darunter sieht sie geradezu majestätisch aus. Die Königin der Vampire!, schießt es mir durch den Kopf, während ich mit offenem Mund zu ihr hochstarre.

Beinahe vergesse ich sogar, mich vor ihr zu fürchten. Aber wirklich nur beinahe.

Eine weitere Woge widerlichen Aasgestanks weht von einem der Gänge hinten in der Kapelle herbei. Wieder gerät die Luft in wirbelnde Bewegung und im nächsten Moment steht neben Ileana ein zweiter Vampir. Das muss Mircea sein. Er ist kaum kleiner als die riesenhafte Strigoica. Sein Haar ist spinnwebdünn und klebt ihm in einzelnen Strähnen am Schädel. Unter seinem staubfarbenen Umhang trägt er eng anliegende Hosen und ein sich bauschendes Rüschenhemd– alles von Motten zerfressen und seit mindestens dreihundert Jahren aus der Mode.

»Ah, was ist das, Madame?«

Ein sichtbarer Schauer überläuft ihn. Plötzlich kauert er vor Alberta auf dem Boden– dabei habe ich gar nicht mitbekommen, wie er sich von der Stelle bewegt hat.

»Eine Verletzung, Madame?«

Er schaut zu ihr auf und seine blutleeren Lippen zucken. Seine Haut auf Wangen und Händen ist auf abscheuliche Weise farblos– durchsichtig, aber darunter ist nichts, oder nur eine Art eingedickter Nebel.

»Von einem Upur«, antwortet Otto an Albertas Stelle, »draußen auf dem Burgplatz. Entweder ihr erklärt uns jetzt glaubwürdig, dass ihr diese Bestie nicht auf Alberta gehetzt habt– oder unsere Verhandlungen sind zu Ende, bevor sie richtig angefangen haben!«

Mirceas bebende Pergamenthand nähert sich Albertas verbundenem Fuß. Sie macht einen Schritt nach hinten und zieht mit einem scharfen Zischen die Luft ein.

Otto hebt seinen linken Arm und schaut demonstrativ auf seine Armbanduhr.

»Ihr habt eine Minute«, sagt er. »Noch fünfundfünfzig Sekunden… dreiundfünfzig… und übrigens: Auch ich hasse es, wenn man mich warten lässt!«

Mircea bewegt fast unmerklich seine Arme– im selben Moment fliegt er rückwärts durch die Luft und landet auf dem geborstenen Altar.

»Du willst uns drohen?«, faucht er. »Hast du vergessen, wer wir sind?«

Wieder bewegt er kaum sichtbar seine Arme– den Bruchteil eines Wimpernschlags später liegt Otto rücklings am Boden und Mircea steht seelenruhig neben ihm, einen Fuß auf Ottos gewaltigem Brustkorb.

»Das reicht, Mircea.«

Ileana schüttelt missbilligend ihr Haupt in Richtung ihres Gefährten.

»Wenn tatsächlich der Upur für diese Wunde verantwortlich ist«, fährt sie fort, »dann werden wir ihn bestrafen. Fredu hatte lediglich den Auftrag, nach Ihnen Ausschau zu halten– Upure kommen mit dem Tageslicht einfach besser zurecht als wir.«

Otto stößt Mirceas Fuß, der in einem halb vermoderten Stiefel steckt, von sich und steht ächzend auf.

»Und machen Sie sich übrigens keine Sorgen, meine Liebe«, fährt die Strigoica mit einem abscheulichen Lächeln in Albertas Richtung fort. »Upur-Stiche sind mehr oder weniger harmlos. Falls Sie befürchten, dass Ihnen demnächst auch so ein Stachel aus der Zunge wächst– das wird nicht passieren.«

Alberta zieht ihren Stehkragen noch etwas höher zu ihrem Kinn hinauf.

»Sehr beruhigend«, erwidert sie in gereiztem Tonfall. »Aber lassen Sie uns jetzt mal lieber unser Gespräch von gestern weiterführen. Wo waren wir noch gleich stehen geblieben? Sie haben uns mit ihrer Forderung konfrontiert, Burg Bran in den Zustand zurückzuversetzen, in dem sie zu Lebzeiten von Graf Vlad Draculea war. Ist das so weit richtig?«

Die Strigoica sieht Alberta aus schmalen Augen an.

»Tadellos«, sagt sie. »Richten Sie die Burg und die nähere Umgebung so her, wie sie vor fünfhundertfünfzig Jahren aussahen, als unser ehrwürdiger Ahn hier gelebt hat. Weg mit den Schundbuden vor den Toren von Castelul Bran und weg mit den Bastionsfundamenten, die den Burgberg unterhalb der Burg verschandeln. Auch im Innern der Burg wartet auf Sie jede Menge Arbeit. Unsere genauen Anweisungen bekommen Sie, wenn die Arbeiten begonnen haben. Und sie müssen unverzüglich beginnen– noch diese Woche!«

Alberta wechselt einen raschen Blick mit Otto. Der nickt ihr auffordernd zu.

»So weit waren wir gestern auch schon«, sagt Alberta zu Ileana. »Aber Sie haben immer noch nicht meine Frage beantwortet, nach der Sie gestern unser Gespräch so abrupt unterbrochen haben.«

Alberta holt erneut tief Luft. Mircea und Ileana machen so finstere Gesichter, als ob sie sich im nächsten Moment auf uns stürzen wollten.

»Weil es eine törichte Frage war, meine Liebe«, erklärt Ileana hoheitsvoll. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit diesem Unsinn heute noch einmal unsere Zeit verschwenden wollen. Eigentlich hatte ich angenommen, dass Sie die Unterbrechung nutzen würden, um sich fachkundig beraten zu lassen. Aber stattdessen schleppen Sie uns diesen Kleinen hier herbei– ist das vielleicht Ihr Experte für transsylvanische Vampirologie?«

sieben

Ileana schenkt mir ein grauenvolles Lächeln und streckt eine Hand nach mir aus. Sie will mir übers Haar streichen oder vielleicht auch den Kopf abreißen– was weiß ich!

Ich weiß nur, dass ich von ihr nicht angefasst werden will. Dass ich so weit wie überhaupt möglich von ihr weg sein will, von dieser stinkenden Königin der Nacht. Aber plötzlich kann ich mich nicht mehr bewegen. Sie starrt mich mit ihren glitzernd gelben Augen an und ich stehe vor ihr wie eine Statue aus Stein. Die tiefen Schatten unter ihren Augen sehen aus wie aufgeschminkt. Die Haut auf ihrer Hand ist fast durchsichtig, und trotzdem sehe ich ihr an, dass sie wie uraltes Leder ist. So rau und zäh.

Nur mit äußerster Mühe gelingt es mir, die Lähmung abzuschütteln. Ich mache einen Satz rückwärts und knalle mit der Schulter gegen eine Säule. Ileana sieht mich aufmerksam an und stößt ein Lachen aus, das sich einfach grässlich anhört. Als ob sie im nächsten Moment ersticken würde. Ganz kurz sehe ich ihre oberen Eckzähne. Sie sind so lang und nadelspitz, dass mir von dem bloßen Anblick schlecht wird.

»Legen Sie sich besser nicht mit dem Jungen an, Gnädigste«, sagt Otto. »Arvid ist ein Halbgeist, und falls Sie hier irgendwelche krummen Spielchen versuchen– er kommt Ihnen auf die Schliche, verlassen Sie sich drauf!«

Ileana schaut erneut zu mir herüber.

»Ein Halbgeist«, murmelt sie.

Diesmal wirkt sie beeindruckt, zumindest ein ganz klein wenig.

Bei ihrem Gefährten Mircea aber lösen Ottos Worte aus irgendeinem Grund einen neuen Wutanfall aus. Der Strigoi hebt seine Arme und auf den Wänden um ihn herum erscheint ein riesenhafter Schatten– mit distelspitzen Flügeln, die wild auf- und abwärts schlagen. Fauchen und Brausen erfüllt aufs Neue die Luft.

»Wag es noch einmal, uns zu drohen, Blutsack!«, kreischt Mircea mit pfeifender Stimme. »Dann werfen wir dich den Mulos zum Fraß vor– die zermetzeln dich mit ihren Klauen und fressen dein Fleisch! Die saufen dein Blut und zerknacken deine Knochen zwischen den Zähnen!«

»Alle Achtung«, gibt Otto zurück. »Diese Mulos scheinen ja gute Kostverwerter zu sein.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, steht er da, während Mircea wie eine tobsüchtige Riesenmotte um ihn herumflattert.

»Aber dafür sind Werwolf-Vampire schließlich bekannt«, fährt Otto fort. »Und einen Sinn für Leckerbissen haben sie offenbar auch– im Gegensatz, könnte man meinen, zu mir!«

Bei dem Wort mir lässt er eine dünne Eisenstange aus seinem rechten Jackenärmel hervorschnellen. Sie ist gut einen halben Meter lang und läuft vorn in eine scheußlich aussehende Spitze aus.

Otto streckt sie dem Strigoi entgegen und Mircea weicht fauchend zurück.

»Ein Spezialpfahl«, erklärt Otto mit zufriedenem Gesichtsausdruck. »Solide Ingenieurskunst, siehst du– und tsching!«

Bei tsching! schleudert er seinen Arm noch einmal in Mirceas Richtung– und mit metallischem Klicken fährt die Eisenstange zu wenigstens einem Meter Länge aus. Ihre Spitze schwebt höchstens noch einen Zentimeter vor Mirceas Herz– oder jedenfalls dort, wo bei lebendigen Menschen das Herz wäre.

»Sehen Sie, staunen Sie– ein Teleskop-Pfahl!«, verkündet Otto im Tonfall eines Marktbudenschreiers. »Für die todsichere Vampirabwehr– egal ob daheim oder unterwegs!«

Er lässt die Stange wieder in seinen Jackenärmel verschwinden.

»Können wir jetzt unsere Verhandlungen fortsetzen, Mircea«, fragt er, »oder willst du erst noch wissen, was ich in meinem linken Ärmel habe?«

Der Strigoi hebt erneut fast unmerklich seine Arme. Im nächsten Moment hockt er auf dem Sarkophagdeckel.

»Weiter!«, faucht er.

»Sehr gut«, lobt Otto. »Wir machen also Fortschritte. Wenn ihr euch jetzt noch das Stinken abgewöhnen würdet, könnten wir fast Freunde werden.«

Otto wirft mir einen raschen Blick zu.

»Die riechen noch strenger als Fomori. Oder was meinst du, Junge?«

Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Ileana bei diesen Worten erschauert. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Woher soll diese transsylvanische Strigoica überhaupt wissen, was ein Fomori ist?

Meine Antwort besteht nur aus einem krampfhaften Grinsen. Doch das kriegt außer mir sowieso niemand mit.

»Um auf unsere Frage von gestern zurückzukommen«, ergreift Alberta wieder das Wort. »Sie müssen schon verstehen, Ileana, dass Ihre Antwort– die Glaubwürdigkeit Ihrer Antwort– für alles Weitere absolut entscheidend ist.«

Sie beginnt plötzlich zu schwanken und schaut Otto Hilfe suchend an. Mit zwei schnellen Schritten ist er bei ihr und fasst sie beim Arm. Alberta lehnt sich schwer gegen seine Schulter. Anscheinend ist sie durch die Upur-Attacke doch ziemlich mitgenommen.

»Unsere Historiker und Vampirexperten sind sich ausnahmsweise einmal vollkommen einig«, sagt Otto. »Graf Vlad III., genannt Draculea, war ein grausamer Fürst, der seine Feinde mit Vorliebe auf besonders schmerzhafte Weise umbrachte: Er ließ sie bei lebendigem Leib auf Pfähle aufspießen. Seinen zweiten Beinamen–Ţepes, ›der Pfähler‹– hat er sich also zweifellos verdient. Aber eines war Vlad III. genauso zweifellos nicht.«

Otto legt eine seiner berüchtigten Kunstpausen ein und sieht erst Ileana, dann Mircea erwartungsvoll an.

»Los, weiterreden!«, faucht der Strigoi und stampft mit einem Fuß auf den Sarkophagdeckel. »Damit wir diesen Unsinn endlich hinter uns haben– was beim Großmächtigen Vurkolak soll unser Ahnengeist angeblich nicht gewesen sein?«

Alberta holt mit einem zitternden Seufzer Luft.

»Graf Vlad Draculea kann nicht euer Ahn sein«, sagt sie mit leiser, aber fester Stimme. »Denn er war ein sterblicher Mensch und kein Vampir.«

Für einen kurzen Moment scheint in der düsteren Felskapelle alles wie erstarrt. Die Zeit steht still, mein Herz sowieso. Niemand atmet, niemand gibt auch nur einen Laut von sich. Sogar die Fackelflamme steht so vollkommen reglos in der Wandnische, als wäre sie bloß auf den Fels gemalt.

Eiseskälte geht von Ileana aus, ich spüre es ganz genau: Die Strigoica ist starr vor Angst. In ihrem Innern jagt ein Schrei umher, ein grässlicher Schrei, und sie ballt die Fäuste und presst die Kiefer aufeinander, um den Schrei zurückzuhalten. Um ihre Angst zu verbergen, ein unnennbares Grauen, noch tausendmal grässlicher als alle Angst vor Schmerzen und Tod.

Aber wie kann das sein? Habe ich das wirklich eben in ihrem Inneren erspürt? Und was soll das denn bitte überhaupt heißen, dass Dracula kein Vampir war?

Doch ich komme nicht dazu, darüber nachzudenken. Im nächsten Augenblick bricht ein Inferno los. Mircea faucht und knurrt und rast wie ein Wirbelsturm in der Kapelle umher. Keine Ahnung, ob er fliegt oder rennt oder wie sonst er sich voranbewegt– er ist überall! Und dazu stößt er gellende Pfeiftöne aus, die mir fast das Trommelfell zerfetzen.

Auch Ileana ist außer sich.

»Dreckige Lügen!«, schreit sie. »Wie kommt ihr dazu, unseren ehrwürdigen Ahnengeist zu beschmutzen?«

Mit gellendem Geheul stürzt sie sich auf Alberta, doch Otto reißt seine Partnerin gedankenschnell zur Seite.

»Eure sogenannten Vampirexperten haben sich eben geirrt!«, faucht Mircea. »Aber das braucht euch sowieso nicht zu interessieren– macht einfach, was wir von euch verlangen!«

Der Strigoi rast in der Kapelle herum, und schon der Anblick der Schatten an den Wänden ist mehr, als ich ertragen kann. Diese spitzen Flügel, dieser nach oben zulaufende Fledermauskopf und dann die abscheulichen Klauenfüße!

»Noch diese Woche fangt ihr mit den Umbauten an!«, faucht Mircea. »Widersetzt ihr euch, dann wird es hier in Bran wieder Vampiropfer geben! Wie zu Zeiten von Vlad Draculea! Jeden Tag ein Opfer mehr als am Vortag– bis ihr euren schwachsinnigen Widerstand aufgebt!«

Eben ist der Schatten des Strigoi noch über die Wand am Altar geflattert. Im nächsten Moment stürzt Mircea wie ein Stein von der Decke– mit den ausgestreckten Krallenhänden voran auf Otto zu!

»Zur Seite, O!«, schreie ich.

Nur ganz vage wird mir bewusst, dass ich die Bewegungen der Strigoi auf einmal stark verlangsamt wahrnehme– gerade so schnell, dass ich ihnen mit den Augen folgen kann.

Otto wirft sich zur Seite– einen halben Wimpernschlag bevor Mircea auf ihn gekracht wäre. Der Strigoi schafft es irgendwie, knapp vor dem Boden abzubremsen. Doch bevor er wieder richtig in Schwung kommen kann, lässt Otto aus seinem linken Jackenärmel eine weitere Wunderwaffe hervorschnellen.

Auf den ersten Blick sieht das Ding nicht viel anders aus als der Teleskop-Pfahl von vorhin. Aber an seinem vorderen Ende ist keine Spitze, sondern eine kleine, kreisrunde Scheibe, die den Fackelschein reflektiert.

Mircea und Ileana erstarren.

»Sehen Sie, staunen Sie!«, schnauft Otto atemlos hervor. »Mit SunSim, dem innovativen Sonnenlichtsimulator, schlagen Sie sogar Vampire erster Klasse in die Flucht!«

Mit leisem Klicken schaltet er das Ding ein– und gleißendes Licht überflutet den Raum. Die beiden Strigoi heulen auf. Sogar mir tut das grelle Licht in den Augen weh.

Otto schaltet den Sonnenlichtsimulator wieder aus und springt auf. Das kann ich allerdings nur aus den Geräuschen schließen, die er dabei hervorruft– außer den grellweißen Flämmchen, die vor meinen Augen tanzen, kann ich mindestens eine Minute lang nichts mehr sehen.

Als sich meine Augen von dem Lichtschock erholt haben, sind die beiden Vampire aus der Kapelle verschwunden. A&O sitzen nebeneinander auf dem Boden, Schulter an Schulter gegen eine Felssäule gelehnt.

»Durch den Gang da sind sie abgehauen«, sagt Otto zu Alberta.

Mit dem ausgeschalteten SunSim deutet er auf einen Spalt im Fels, drei Schritte neben dem geborstenen Altar.

»Du willst ihnen doch jetzt nicht etwa hinterherkriechen«, antwortet Alberta und ringt sich ein müdes Lächeln ab.

Otto zieht ein angewidertes Gesicht. »Weder heute noch sonst irgendwann, wenn es nach mir geht«, sagt er. »Die Schlafgemächer der Herrschaften riechen bestimmt noch ranziger als ihr Prunksalon.«

Er rappelt sich auf und hilft Alberta auf die Beine.

»Morgen reden wir weiter!«, schreit er den Strigoi hinterher. »Selber Ort, gleiche Stunde– und sauft gefälligst nicht so viel!«

Erschöpft schleppen wir uns ans Tageslicht zurück. Ich bin so durcheinander, dass ich kaum mehr geradeaus denken kann.

»Was war dein spontaner Eindruck?«, fragt mich Alberta, während wir durch den Park zurück zum lärmenden Gruselmarkt gehen. »Was ist mit den beiden los?«

»Wieso habt ihr behauptet, dass Dracula kein Vampir war?«, frage ich zurück.

Alberta schüttelt lächelnd den Kopf.

»Eins nach dem anderen«, sagt sie. »Ich habe dich zuerst gefragt, Arvid. Bitte konzentriere dich: Was ist in den beiden vorgegangen, als wir ihnen an den Kopf geknallt haben, dass ihr angeblicher Ahnengeist kein Vampir ist?«

Ich horche in mich hinein. Noch einmal vergegenwärtige ich mir diesen erschreckenden Moment, als alles in der Felskapelle erstarrt schien.

»Mircea war einfach wütend, weil ihr seinen Ahnengeist beleidigt habt«, sage ich. »Oder jedenfalls diesen Graf Vlad. Ileana aber hatte auf einmal schreckliche Angst. Das habe ich ganz genau gespürt«, füge ich hinzu, als Alberta mich ungläubig ansieht.

Ich horche in mich hinein und ein eisiger Schauder läuft mir den Rücken herunter. Wovor auch immer sich Ileana eben gefürchtet hat, sage ich mir– es muss etwas absolut Grauenvolles gewesen sein.

Aber darüber will ich im Augenblick wirklich nicht nachdenken.

»Würdet ihr mir jetzt bitte mal erklären«, sage ich zu A&O, »was das Ganze überhaupt sollte? Wenn Dracula kein Vampir ist– dann wohnt der Teufel wohl auch nicht in der Hölle, oder wie?«

Otto haut mir auf die Schulter, dass ich beinahe vom Burgberg fliege.

»Sehr guter Ansatz, Junge«, lobt er. »Alles ist grundsätzlich anders, als es zunächst mal den Anschein hat. Und was dahinter zum Vorschein kommt, ist meistens auch noch lange nicht die Wahrheit.«