DSA 109: Hjaldinger-Saga 2 - Sturm (Neuauflage) - Daniela Knor - E-Book

DSA 109: Hjaldinger-Saga 2 - Sturm (Neuauflage) E-Book

Daniela Knor

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Beschreibung

Urdruns Prophezeiung droht, sich zu erfüllen: Die Myriaden des Imperiums wurden in Marsch gesetzt, um Hjaldingard zu erobern. Während die Truppen des Feindes zu Lande und zu Wasser vorrücken, ringen die stolzen Sippen der Hjaldinger noch immer um Einheit. Der mächtige Hersir Ullbjern sammelt eine Flotte zur Verteidigung, doch die charismatische Jurga ruft ihre Anhänger dazu auf, das Undenkbare zu wagen … Sturm ist der zweite Band der dreiteiligen Hjaldinger-Saga, die erzählt, wie die sagenumwobene Anführerin Jurga die Ahnen der Thorwaler nach Aventurien führte.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25732EPUBTitelbild: Arndt DrechslerKarte: Steffen BrandRedaktion: Nikolai HochLektorat der Originalausgabe: Catherine BeckKorrektorat der 2. Auflage: Frauke ForsterUmschlaggestaltung und Illustrationen: Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Jörn Aust, Michael Mingers

Administration: Christian Elsässer, Carsten Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz Marketing: Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina WagnerVerlag: Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Simon Burandt, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Matthias Lück, Susanne Majewski, Thomas Michalski, Jasmin Neitzel, Markus Plötz, Elisabeth Raasch, Diana Rahfoth, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Alex Spohr, Jan Wagner Verlag USA: Bill Bridges, Timothy Brown, Darrell Hayhurst, Eric Simon, Ross Watson Vertrieb: Stefan Heinrichs, Jan Hulverscheidt, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert, Anke Zimmermann

Copyright © 2021 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Daniela Knor

Sturm

Hjaldinger-Saga II

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

2. überarbeitete Auflage

Dramatis Personae

Die Havar-Sippe

Vardur Arnarssun – Enkel der Hersirin Salbjerg

Salbjerg Jorunsduhter – Hersirin der Sippe, Großmutter Vardurs

Horm Ohnehand – Vardurs bester Freund

Arnthrud – eine Freundin Vardurs

Ingjald Egillssun – Vardurs Pflegebruder, Sohn Egills

Firndis Gudridisduhter – Ingjalds Schwester, Tochter Egills

Swartaz Rurikssun – Seeräuber und Horms Onkel

Snevar Atlissun – einst Mitglied der Besatzung auf der Thurehs

Fridgerd – eine Kriegerin

Erla – erfahrene Schiffbauerin und Seefahrerin

Solwa – eine Skaldin

Mardal – Wulfaz’ Schwester, eine blinde Saithaz-Schülerin

Thurkell – Wulfaz’ Vater

Aswa – Wulfaz’ Mutter

Ingun – Horms jüngere Schwester

Arinbjern Bergazsun – Der Anführer der Fahrtgemeinschaft auf der Wegaridan

Yoldra Saunsduhter – Anführerin aus der Nähe des Angarfjords

Esa – eine Heilerin und Priesterin Satus

Eindridi – ein Krieger

Otur – Sohn von Salbjerg, Onkel von Vardur

Hjaldvaig Urdrunsduhter – verstorbene Tochter Urdruns

Urdrun – verstorbene alte Zauberpriesterin

Die Aasa-Sippe

Gautaz Dagurssun –Hersir der Sippe

Eilif Dagurssun – Gautaz’ Bruder, ein Skalde

Skuld – eine alte Gefährtin Gautaz’ und verstorbene Berserkerin

Hrok – ein junger Krieger

Korja – eine hellsichtige Kriegerin

Godrun – eine Runenmagierin

Thura – eine Kriegerin

Stainar – ein Krieger und Schiffbauer

Haukur – ein Krieger

Die Gunna-Sippe

Katla Oddasduhter –Hersirin der Sippe

Thidrik Hrodmarssun – ein Runenmagier

Signy – ein Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf der Litmarhi

Skidi Gautazsun – Sohn Katlas und Gautaz’

Odda – Katlas Mutter

Die Groa-Sippe

Ullbjern Eirikssun – Hersir der Sippe, Sohn Eirik Godawarjas

Firnvild– eine Tochter Ullbjerns

Jotur– ein Runenmagier

Serkaz– Krieger und Freund Ullbjerns

Godrekker– Skalde und Onkel Ullbjerns

Faravid– Skalde, Schüler Godrekkers

Weitere Personen

Jurga Tjalfsduhter– eine Geächtete der Hagni-Sippe

Thursdur Gudmundurssun– erfahrener Seefahrer und Steuermann aus der Isleif-Sippe

Jofridis– Thursdurs Nichte, Isleif-Sippe

Sigvatur– Hjalberas Mann, Isleif-Sippe

Hjalbera– Sigvaturs Frau, Isleif-Sippe

Pythatheriope te Aldangara– Optimatin und Spionin

Xelias– genannt Barbariu, ein junger Mann aus Trivina

Antimelia te Aldangara– eine Magierin aus Serovia/Eyjattur

Hyracu– ein alter Bettler in Trivina

Dracomenes– Patron eines zwielichtigen Cirkels in Trivina

Flavieta– Herrin über die Arena in Trivina

Shinxagamea aya Kouramnion– Myriokratin des Horasiats Mayenios

Aegobarenes ul Charybalis– Befehlshaber der Myriade 5 Thalassia

Dioquoras an Charybalis– Offizier in der 5 Thalassia

Isodoras an Charybalis– Pythatheriopes Adjutant

Darene– Pythatheriopes Kammerdienerin

»In den Tagen der Ahnen lebte ein Mann, der Havar hieß.

Vornehmer Abkunft war er,

aus einem Geschlecht, das der Gott Ullramnar selbst gezeugt hatte.

Groß war der Ruhm seiner Taten,

und es erfüllte die Herzen der Krieger mit Stolz, an seiner Seite zu kämpfen.

In den Tagen Havars lebte ein Kuninga1, der Uskur hieß.

Ein Löwengestaltiger war er,

denn die Löwengestaltigen herrschten damals über die Menschen.

Der Gott Khorraz war sein Vater,

und sein Wüten im Kampf füllte die Herzen der Krieger mit Furcht.

Maßlos wie Khorraz vergoss Uskur das Blut der Menschen,

blind und taub in seinem Rausch.

Die Lehren der Rondris, Khorraz’ göttlicher Schwester,

die den Kriegern Ehre gebot,

verschwendet waren sie an den schwarzmähnigen Kuninga.

Maßlose Wut erwuchs darüber unter den Menschen.

Die Völker des Nordens begehrten auf.

Nur Spott und Hohn hatte Uskur für ihren Hass übrig.

Feige Memmen nannte er sie.

Zum Zweikampf forderte er, was er für ein Volk von Schwächlingen hielt.

Da richteten sich die Augen der Menschen auf den Tapfersten unter ihnen,

Havar aus der Sippe Ullramnars.

Groß war Havars Zorn über die Schmähungen aus dem blutigen Löwenmaul.

Mutig trat er vor den Kuninga

und kühn waren die Worte, mit denen er Uskurs Ehre in Zweifel zog.

Da geriet auch der Khorrazsohn in heiligen Zorn und stellte sich Havar zum Kampf.

Freiheit vom Joch der Löwengestaltigen,

das war der Preis, um den sie stritten, einen Tag und eine Nacht hindurch,

bis die Sonne über dem Sieger aufging.

Tot lag der Kuninga auf verwüsteter Walstatt, zerbrochen war sein riesiges Reich.

Die Stämme des Nordens feierten Havar aus Ullramnars Sippe.

Freiheit machte er ihnen zum Geschenk.

Über dem löwengestaltigen Leib seines Gegners leistete der Held einen Schwur.

Nie wieder Knechtschaft zu dulden,

das erlegte er sich auf und seinen Kindern und Kindeskindern

und allen, die nach ihnen kamen.«

—aus der Havar-Saga,aufgezeichnet von der gelehrten Völkerkundlerin Dariaxena te Illacrion

1 hjaldingsche Bezeichnung für ›König‹

Was bisher geschah …

Im Sommer 2114 imperialer Zeitrechnung lebt Vardur Arnarssun bei seinen Pflegeeltern Gudridis und Egill am Angarfjord. Vardurs Mutter und Schwester erlagen einem Fieber, als er noch ein Kleinkind war, und sein Vater starb auf einer Seereise in den Süden Myranors. Salbjerg, seine Großmutter und die Anführerin seiner Sippe, schickte ihn zu entfernten Verwandten, was er ihr noch immer übelnimmt, obwohl er seine Pflegefamilie mittlerweile ins Herz geschlossen hat.

Eines Tages taucht ein feindliches Drachenboot im Angarfjord auf. Rasch werden Vardur und sein Pflegebruder Ingjald fortgeschickt, um die jüngeren Kinder der Familie in Sicherheit zu bringen, während sich die anderen Erwachsenen den Bluträchern zum Kampf stellen. Wieder verliert Vardur seine Eltern, und er ist nun endgültig davon überzeugt, dass ein Fluch auf ihm liegt, der alle das Leben kostet, die ihm nahestehen.

Im Frühling 2119 IZ fährt Vardur an Bord der Thurehs gen Norden. Er lebt nun wieder bei seiner Großmutter in Havarskog, dem Stammsitz seiner Sippe, und hat unter den Mitgliedern der Schiffsbesatzung gute Freunde wie Horm, Arnthrud und den Berserker Wulfaz, genannt Grisnir. Er ist zum ersten Mal bei der alljährlichen Reise ins Gletschermeer dabei, die dazu dient, bei den »Alfendienern« genannten Bewohnern der eisigen Küsten Tribut einzutreiben.

Doch stattdessen treffen sie zunächst auf die geheimnisvolle Jurga, die offenbar von ihrer Sippe verbannt und in der Wildnis ausgesetzt wurde. Obwohl Jurga abweisend ist und nichts über sich erzählen will, fühlt sich Vardur zu ihr hingezogen.

In der Zwischenzeit befährt auch Gautaz Dagurssun, der Hersir der Aasa-Sippe, das Gletschermeer und überfällt erfolgreich einen Stamm der Alfendiener, um Sklaven zu fangen. Als Vardur und seine Freunde am Übergabeort eintreffen, finden sie eine Schar aufgebrachter Krieger vor, die sich weigern, Tribut zu leisten, weil ihnen Frauen und Kinder genommen wurden. Hjaldvaig, die Anführerin der Fahrtgemeinschaft, entscheidet, auf den Tribut zu verzichten und Gautaz für seinen Übergriff zur Verantwortung zu ziehen. Der Rückweg verläuft jedoch nicht so reibungslos wie die Hinfahrt. Zuerst vereitelt Jurga eine Waljagd, indem sie fast das Schiff versenkt, das plötzlich von haushohen Wellen ergriffen wird. Hjaldvaig will sie deshalb zurücklassen, doch Vardur bürgt gegen ihren Willen für sie. Nachts werden sie von einem Nachtalben, einem Shakagra, angegriffen, der es auf Jurga abgesehen hat. Es gelingt ihnen, den gefährlichen Gegner in die Flucht zu schlagen, aber Horm verliert in dem Kampf seine rechte Hand und droht zu sterben.

Gautaz macht auf dem Weg nach Süden bei der Hersirin Katla Oddasduhter Station, mit der er einen Sohn hat. Katla hat Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg mit dem Imperium gehört und macht sich Sorgen. Während Gautaz unbeeindruckt nach Eyjattur weitersegelt, wird im weit entfernten Balan Mayek die Optimatin Pythatheriope te Aldangara zu ihrer Vorgesetzten gerufen. Pythatheriope gibt sich als Mitglied des Hauses Charybalis aus, um ihrem eigenen Haus, den Aldangara, Informationen zu beschaffen, die sich im Senat gegen die Charybalis verwenden lassen. Schon lange ist der Kult der Daimonin Charypta und die wachsende Macht der Charybalis anderen Häusern ein Dorn im Auge, doch es ist nicht verboten, Daimonen zu verehren. Phythatheriope soll herausfinden, ob die Gerüchte wahr sind, dass die Charybalis noch dunklere Geheimnisse haben. Um ihnen auf die Schliche zu kommen, will sie Offizierin der Flotte werden, aber bis jetzt hat es nur zu einem Verwaltungsposten gereicht.

Als sie zur Myriokratin gebracht wird, fürchtet Pythatheriope, sie könnte enttarnt sein, aber es stellt sich heraus, dass ihre Vorgesetzte stattdessen einen Handel anzubieten hat: Pythatheriope erhält einen Posten als Offizierin, muss im Gegenzug aber für die Myriokratin den Oberbefehlshaber der Flotte bespitzeln.

Jurga hat Horm vor dem Tod gerettet, behauptet jedoch, dass keine Magie im Spiel war. Einige sind ihr gegenüber nun misstrauischer denn je. Da Gautaz nicht auffindbar ist, kehrt Vardurs Fahrtgemeinschaft unverrichteter Dinge nach Havarskog zurück, wo sich alle auf das große Opferfest, das Sumarblot, vorbereiten, das zur Sommersonnenwende stattfindet. Vardur wähnt sich zunächst glücklich, weil Jurga ihn zum Fest begleitet, doch die Zeremonie gerät zur Katastrophe: Die alte Orakelpriesterin prophezeit den Untergang Hjaldingards, bevor ein Blitz in die Eiche einschlägt, die als Wohnsitz der Fruchtbarkeit spendenden Fylla gilt, und die Priesterinnen niederstreckt.

Pythatheriope belauscht auf einer Feierlichkeit der Flotte, dass der Oberbefehlshaber der Myriade 5 Thalassia einer Gesandten des Oberhauptes der Charybalis etwas zeigen will, das ihre Aufmerksamkeit wert sei. Als sie die beiden verfolgt, gelangt sie in eine Höhle mit unterirdischen Verbindungen zum Meer. In Käfigen entdeckt sie dort entstellte Meeresbewohner und argwöhnt, dass man mit daimonischer Magie an ihnen herumexperimentiert. Doch bevor sie mehr herausfinden kann, wird sie bemerkt und muss fliehen.

Salbjerg nimmt die Prophezeiung der nun toten Priesterin ernst. Sie liest aus den kryptischen Worten eine Warnung vor einem Angriff des Imperiums. Vardur gerät zunächst in Streit mit ihr, weil er keinen Ehrgeiz hat, nach ihr Hersir zu werden, doch schließlich willigt er ein, zumindest mit ihr zu Ullbjern Eirikssun zu fahren, der dem Imperium schon lange unterstellt, dem Bösen zu dienen und es auf Hjaldingard abgesehen zu haben.

Bei Ullbjern trifft bald auch Katla ein, die Vardur verhasst ist, weil sie die Anführerin der Bluträcher war, die seine Pflegeeltern getötet haben. Seine Familie nahm allerdings ein Wergeld, also eine Entschädigung von ihr, an, sodass er kein Recht auf Rache mehr hat.

Auch Katla wurde von einer Prophezeiung beim Sumarblot zu Ullbjern getrieben und will Genaueres wissen. So entscheiden die drei Hersire, einen Erkundungstrupp nach Trivina zu schicken, um herauszufinden, ob das Imperium einen Angriff auf Hjaldingard plant. Vardur und Jurga melden sich freiwillig für diese Aufgabe und stechen mit Hjaldvaig, ihrem Mann Thursdur, dem Zauberer Thidrik und einigen anderen in See. Thursdur ist überzeugt, dass Jurga eine Auserwählte Effars, des Meeresgottes, sein muss, aber Jurga behauptet, dass sie von einem anderen Wesen geleitet wird. Sie kann nicht sagen, ob es ein Gott oder ein mächtiger Geist ist.

In der Zwischenzeit erhält die Flotte in Balan Mayek den Befehl, gen Trivina auszulaufen, und in Trivina selbst erfährt ein junger Halbhjaldinger namens Xelias am eigenen Leib, dass die Stimmung gegen die »Barbaren« immer feindseliger wird. Er soll in die Arena geschafft und einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden, weshalb er Fluchtpläne schmiedet. Er hat gerade beschlossen, sich bei den Myriaden als Soldat zu verpflichten, als er Vardur und Jurga über den Weg läuft.

Vardur und seine Gefährten werden in Trivina ständig beschattet und ahnen nur, dass sie in Gefahr sind. Erst durch Xelias, der – wie sich bald herausstellt – ein Halbbruder Vardurs ist, erfahren sie, wie aufgeheizt die Stimmung ist und dass die Flotte bereits auf dem Weg sein soll.

Auch Gautaz muss feststellen, dass sich die Zeiten geändert haben. Als er den Sklavenhändler trifft, mit dem er seit Jahren Geschäfte macht, gerät er in einen Hinterhalt. Er und seine Leute können den Kampf zwar für sich entscheiden, doch die Zeit des friedlichen Handels ist vorüber. Das Imperium hat sich als Feind erwiesen.

Hjaldvaig entscheidet, dass sich Xelias ihnen anschließen darf, und will aus Trivina fliehen. Plötzlich wird in der Stadt Alarm geschlagen. Soldaten eilen herbei, um auf die Hjaldinger zu schießen, während sich die Flotte der Stadt nähert. Nur mithilfe eines Windzaubers gelingt es Vardur und seinen Freunden, aus dem Hafen zu entkommen, doch draußen erwarten sie die Kriegsschiffe des Imperiums. Wieder ist es Thidrik, der sie durch einen Zauber zu einem derart furchterregenden Anblick macht, dass die Angst unter den Gegnern Verwirrung stiftet. Trotzdem werden sie noch massiv mit Armbrüsten und großen Geschützen unter Beschuss genommen und von bewaffneten Fischmenschen angegriffen, die Hjaldvaig und den dicken Skorri verschleppen. Schließlich sind nur noch Xelias, Jurga, Thursdur, Thidrik und Vardur übrig. Es gelingt ihnen zwar, der Flotte zu entkommen, doch ihr Schiff sinkt. Alle außer Jurga geben die Hoffnung auf. Jurga beschwört sie, durchzuhalten, und tatsächlich tauchen nach einer Weile Delfine auf, die die Schiffbrüchigen zurück nach Eyjattur tragen, damit sie ihrem Volk die Warnung vor dem drohenden Krieg überbringen können.

In Trivina dagegen wird Pythatheriope Zeugin, wie Hjaldvaig und Skorri Charypta geopfert werden sollen und sich diesem Schicksal durch Selbstmord entziehen.

Prolog

Hjaldingard, Gyldara 2119 IZ

Der Mond schimmerte durch Wolkenschleier und tauchte den Grabhügel in fahles Licht. Wie schwarze Knochenfinger reckten sich kahle Zweige der blassen Scheibe entgegen, als gierten sie danach, die herabsinkende Blaita noch schneller in die Dunkelheit herabzuziehen. Ullbjerns Blick schweifte über den Waldrand, wo die Kronen der alten Eichen aus dichtem Unterholz aufragten. Nichts regte sich in der windstillen Nacht, und doch glaubte Ullbjern, Blicke aus dem Dickicht auf sich zu spüren. Seine Fingerspitzen suchten wie von selbst den kalten Stahl der Axt an seinem Gürtel, um die Geister zu bannen, die Zeugen seines Frevels wurden. Ein schiefes Lächeln huschte über seine Züge. Heute Nacht würde er ganz andere Mächte herausfordern.

Mit dem Ärmel seiner Tunika wischte er sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich wieder dem gewaltigen Grabhügel zu, der sich aus dem Boden emporwölbte wie der grasbewachsene Buckel eines schlafenden Riesen.

»Es kann nicht mehr lange dauern«, versicherte er seinen beiden Begleitern, obwohl sie mit keiner Miene Ungeduld gezeigt hatten. Dampfend stieg sein Atem in der kalten Nachtluft auf. Es roch nach Schnee. Bald schon würde Frost das Erdreich in Stein verwandeln und die Toten bis zum Frühjahr einschließen. Er musste es jetzt wagen, bevor es zu spät war.

Entschlossen packte er den Spaten wieder mit beiden Händen und stieß ihn durch das knisternde Wurzelgeflecht, das die Erde unter der Grasdecke durchzog. Seite an Seite mit Jotur und Serkaz drang er tiefer in den Fuß des Hügels vor, stach Soden ab und schaufelte loses Erdreich aus dem Weg. Gruben sie wirklich an der richtigen Stelle? Es musste stimmen. Die letzten Strahlen der Sonne hatten das Grabmal aus dieser Richtung berührt.

Erneut fuhr der Spaten in die dunkle, fruchtbare Erde, die vom Leib der Urmutter Sumuz geblieben war, nachdem Hranga, die Herrin der Dämonen, sie am Anbeginn der Zeit getötet hatte. Die scharfe Kante prallte auf etwas Hartes und rutschte mit hässlichem Knirschen daran ab. Stein!, durchzuckte es Ullbjern.

»Sollte der Eingang nicht aus Holz sein?«, fragte Serkaz flüsternd.

»Dies ist nicht irgendein Grabhügel«, gab Jotur zu bedenken. Sein kahl geschorener Schädel glänzte im Mondlicht, als trage er einen Helm. »Er wurde über Mauern aufgeschüttet, deren Erbauer bereits vergessen waren, als unsere Ahnen nach Hjaldingard kamen.«

»Das ist genau das, was ich befürchte.« Prüfend kratzte Ullbjern mehr Erde vom verborgenen Gestein. »Dass wir nur die Mauer vor uns haben – keinen Eingang.«

»Hast du erwartet, dass die Toten es dir leicht machen würden, ihre Ruhe zu stören?«

»Spar dir den Spott, Zauberer! Sag mir lieber, ob du magische Kräfte spürst, die uns aufhalten sollen!«

Ullbjern sah zu, wie der bärtige Hüne, in dem jeder Fremde eher einen Krieger als einen Magier vermutet hätte, die Schaufel zur Seite legte und stattdessen nach seinem mannshohen, mit geschnitzten Runen und Knotenbändern überzogenen Stab aus Eibenholz griff. Der Zauberer schloss die Augen. Sein Gesicht, dessen obere Hälfte von einer ledernen Maske verdeckt wurde, verlor jeden Ausdruck. Fast sah es aus, als schliefe er ein, doch mit dem Daumen fuhr er beinahe unmerklich eine in den Stab geschnitzte Rune nach. Auf dem dunklen Leder der Maske prangte ein aus Perlmutt geschnitztes drittes Auge. Es schien Ullbjern von der Stirn des Magiers herab anzustarren, während sich die echten Augäpfel sichtbar unter den Lidern bewegten. Manchmal hegte Ullbjern den Verdacht, dass Jotur nur einen guten Auftritt zum Besten gab, anstatt wahre Magie zu wirken, doch er hätte keinen greifbaren Grund für diese Zweifel nennen können. Zu oft hatte er gesehen, wie der Runaman tatsächlich etwas Unmögliches bewirkt hatte.

Jotur stieß den Atem aus, der seine Miene in eine Dampfwolke hüllte, und öffnete die Augen. »Ich kann nichts entdecken.«

Ullbjern nickte. »Gut.« Er setzte den Spaten wieder an und fuhr fort, den glatten Stein aus der Erde zu schälen.

Immer öfter schabten auch die Werkzeuge seiner Begleiter über Gestein. Geschliffene Blöcke, die ein Mann allein nicht heben konnte, kamen zum Vorschein. Ohne Mörtel hatte man sie so kunstvoll zu einer Mauer gefügt, dass keine Ritzen geblieben waren. Serkaz zog das Messer aus der Scheide, die er an einem Lederriemen um den Hals trug, und versuchte, die Klinge zwischen zwei der Steinblöcke zu schieben. Nur die äußerste Spitze verschwand, bevor er aufgeben musste.

»Rondris’ Kralle!« Ullbjern ballte die Fäuste um den Stiel des Spatens. Sollte sein Vorhaben enden, bevor es richtig begonnen hatte? Waren die Ahnen seinem Plan so wenig gewogen? Ich tue es für Hjaldingard. Wollt ihr unsere Heimat – eure Gräber! – in den Händen der kriecherischen Imperja sehen?

»Hersir, was ist das?« Serkaz deutete auf eine kleine, noch halb unter Erde verborgene Spirale, die einen der Steine verzierte, wagte jedoch nicht, sie zu berühren.

Ullbjern wollte den Fund gerade genauer betrachten, da drängte sich Jotur energisch vor und ging vor dem Zeichen in die Knie. Mit fliegenden Fingern legte der Zauberer das Geflecht aus verschlungenen Linien frei. »Es sind Runen!«

»Das sehe ich«, meinte Ullbjern gereizt. »Hast du nicht gesagt, hier sei keine Magie am Werk?«

Jotur würdigte ihn keines Blickes. Nachdenklich studierte er die Zeichen, die sich dunkel vom hellen Gestein abhoben. »Kein Zauberer ist unfehlbar. Diese Runen stammen aus der Zeit des Alfenkrieges. Vielleicht ist ihre Macht längst verflogen.«

Ullbjerns Ungeduld wuchs. Er war der gewählte Hersir über vier Sippen. Skaldenlieder über ein sinnloses Loch in einem Grabhügel würden seinem Ansehen schaden und jene in ihren Zweifeln bestärken, die ohnehin zögerten, sich ihm anzuschließen. »Kannst du sie lesen, oder hätte ich doch besser einen Saithaman mitnehmen sollen? Der könnte wenigstens mit den Geistern sprechen und sie nach dem Eingang fragen.«

»Aber wenn diese Runen der Schlüssel sind, könnte er dir den Zugang nicht öffnen«, versetzte Jotur unbeeindruckt. Nacheinander tippte er mit dem Zeigefinger auf zwei Stellen in dem verflochtenen Gewirr. »Die Bergrune und die Schutzrune. Ich erkenne nicht alles wieder. In den dunklen Jahren der Drachenzeit ging viel Wissen verloren. Aber ich glaube, dass diese Runen den Eingang schützen. Sie müssen tatsächlich noch wirksam sein.«

»Kannst du ihre Macht nun brechen oder nicht?« Ullbjern merkte, dass er mit dem Spaten herumfuchtelte, und warf ihn verärgert beiseite.

Der Magier rieb mit dem Daumen über eine der schwarzen Linien, betrachtete seine Haut, wo sie die Farbe berührt hatte, und runzelte die Stirn. »Nicht auf die einfache Art.«

»Was soll das heißen?«, hakte Ullbjern nach. »Ist es gefährlich?«

»Das ist es immer, Hersir«, behauptete Jotur, während er sein Messer zog, um mit der Spitze über das bemalte Gestein zu kratzen. Eine winzige schwarze Flocke löste sich.

Ullbjern setzte gerade zu einer ungehaltenen Antwort an, als der Boden unter seinen Füßen erzitterte, als habe sich der schlafende Riese darin geregt. Hastig wich er einen Schritt zurück, doch die Erde lag bereits wieder still.

Serkaz, auf dessen kantigem Gesicht er auf all ihren gemeinsamen Heerfahrten niemals Furcht gesehen hatte, starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Die Zöpfe, zu denen der Krieger seinen roten Bart geflochten hatte, bebten, als er sprach. »Der alte Hroaldur warnt uns, Hersir. Vielleicht sollten wir ihn doch besser in Frieden ruhen lassen.«

»Soll er mir drohen!«, knurrte Ullbjern, obwohl er einen Anflug von Furcht nicht leugnen konnte. »Er stellt mich auf die Probe, ob ich seines Erbes würdig bin. Mach weiter, Zauberer!«

Wortlos schabte Jotur ein weiteres, im Dämmerlicht kaum sichtbares Bröckchen schwarzer Farbe ab. Wieder durchlief ein Zittern Sumuz’ toten Leib, aus dessen Tiefen ein leises Grollen heraufdrang. Ullbjern überkam ein Schauer. Serkaz umklammerte mit kreidebleicher Miene das Heft seines Messers, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Der Runaman erhob sich. »In diese Runen ist ein zweiter Schutzzauber eingewoben, um zu verhindern, dass sie – und damit ihre Wirkung – entfernt werden können. Wir werden sterben, bevor ich auch nur den äußersten Ring …«

»Dir fällt nichts Besseres ein, als die Runen wegzuwischen?«, fuhr Ullbjern ihn an. »Darauf wäre selbst Halfdan Tumbschädel gekommen!«

Drohend schüttelte der Magier die Faust mit seinem Zauberstab. »Hüte deine Zunge, Hersir! Ohne mich wirst du niemals lebend dieses Grab betreten.«

Was ist nur in mich gefahren?Ullbjern hob begütigend eine Hand und rieb sich mit der anderen die Stirn, als könne er die Falten des Grimms damit glätten. Er brauchte Jotur, und diese Angelegenheit war zu wichtig, um sie an einem Streit mit dem Zauberer scheitern zu lassen. »Du hast recht. Was schlägst du vor?«

Der Runaman blickte entschlossen. »Ich werde versuchen, die Macht der Runen durch Magie zu brechen. Zieht euch zum Waldrand zurück! Es könnte sein, dass der Schutzzauber seine Wirkung entfaltet, bevor es mir gelingt, ihn aufzuheben.«

»Geh, Serkaz!«, befahl Ullbjern. »Ich bleibe. Niemand soll sagen können, ich hätte einen anderen vorgeschickt, als es gefährlich wurde.«

Der Krieger entfernte sich nur zögernd. In seinen Zügen stritten Sorge und Furcht um die Vorherrschaft. »Möge Agiz dem Zauberer Geschick verleihen«, murmelte er.

Ullbjern nickte ihm noch einmal zu, dann wandte er sich ab, um dem Runaman über die Schulter zu sehen, der erneut vor dem freigelegten Abschnitt der Mauer kniete.

Der Magier lehnte seinen mit geschnitzten Runen übersäten Zauberstab gerade so lang gegen die Mauer, wie es dauerte, einen verschlossenen Tiegel aus seiner Gürteltasche hervorzuholen und zu öffnen. Eine weiße Paste kam darin zum Vorschein. Jotur tauchte den linken Zeigefinger in die Farbe und griff mit der rechten Hand wieder nach seinem Stab, als fließe ihm daraus eine Kraft zu, von der er keinen Augenblick zu lang getrennt sein durfte.

Der Mond war hinter den Bäumen verschwunden. Nur noch die Sterne spendeten Ullbjern karges Licht, doch es genügte, um zu sehen, wie der Zauberer mit der Spitze des Stabs den Grabhügel berührte und den Finger mit der weißen Farbe dem dunklen Runengeflecht näherte. Ullbjern spannte sich in der Erwartung eines neuerlichen, heftigeren Bebens. Kleine Wolken stiegen von Joturs Lippen auf, während er magische Verse raunte. Sein Finger hinterließ eine schimmernde weiße Spur, die – dunkle Linien durchkreuzend – ein neues Muster wob.

Schauderte er, oder zitterte die Erde? Unwillkürlich nahm Ullbjern die breitbeinige Haltung der Seefahrer ein, um sein Gleichgewicht zu wahren. Lauter, beschwörender nun sprach Jotur die Runenverse. Der Boden wankte unter Ullbjerns Füßen wie das Deck eines Schiffes. Ein klagender Laut drang gedämpft aus dem Innern des Hügels, dann war alles still. Die Erde lag wieder unbewegt, nur noch ein leises Knistern war zu hören.

Bilde ich mir das nur ein? Ullbjern warf Jotur einen fragenden Blick zu, doch der starrte noch immer auf die weiße Rune, die er gezogen hatte. Rund um die verschlungenen Linien herum regte sich etwas. Hastig erhob er sich und trat von der Mauer zurück, auf der sich Bewegung ausbreitete, als woge die Oberfläche des Gesteins wie kabbelige See. Doch schon im nächsten Moment ähnelte sie eher rieselndem Sand, der zu Boden regnete.

»Die Steine lösen sich auf«, wisperte Ullbjern. Er rieb sich die Augen, aber er sah noch immer dasselbe. Der Umriss eines Eingangs zeichnete sich ab, wo zuvor eine durchgehende Mauer gewesen war.

»Ein Trugbild«, behauptete Jotur. »Diese Steine hat es nie gegeben.«

Ullbjern furchte die Stirn. »Aber der Spaten ist dagegen gestoßen! Das kann ich mir nicht eingebildet haben.«

Der Zauberer zuckte nur mit den Schultern. »Dies ist das Grab des letzten, von allen Sippen Hjaldingards anerkannten Kuningas. Nur dem fähigsten aller Runaleudi wird die Ehre zugekommen sein, es mit seiner Magie zu verschließen.«

»Sicher«, stimmte Ullbjern zu, doch seine Aufmerksamkeit galt der mannshohen Öffnung, die nun in der Mauer klaffte. Finsternis hockte darin wie ein lauerndes Ungeheuer. Zweifel befielen ihn. Würde er nur eine Grabkammer finden, in der Hroaldurs Überreste von reichen Gaben umringt zerfielen? Oder würde ihn der Gang nach Hraiwagard, ins Reich der Toten führen, aus dem nur Kundige den Weg zurück in die Welt der Lebenden fanden?

Leise Geräusche hinter seinem Rücken ließen ihn herumfahren, doch es war nur Serkaz, der eine Fackel entzündete und damit zu ihm zurückkam.

»Sollen wir dich wirklich nicht begleiten, Hersir?«, erkundigte sich der Krieger mit einem misstrauischen Blick auf den Eingang. »Wer weiß, wie viel zauberisches Blendwerk dich noch erwartet.«

Ullbjern schüttelte den Kopf. »Hroaldur ist mein Vorfahre. Wenn ich etwas von ihm will, muss ich allein vor ihn treten.« Es mag sein, dass er mir Laujakweldiz nicht freiwillig überlassen wird, aber wenn ich diese Prüfung nicht ohne fremde Hilfe bestehe, bin ich es auch nicht wert, diesen Preis zu erringen.

Serkaz senkte den Blick. Ullbjern verstand, dass es dem treuen Gefährten nicht gefallen konnte, ihn allein diesen unheimlichen Schlund betreten zu lassen. Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Wir sehen uns wieder, mein Freund – in dieser Welt oder in der nächsten.«

»Viel Glück, Hersir!«, erwiderte der Krieger rau und reichte ihm die Fackel.

Ullbjern nahm sie und zog seine Axt aus der Halterung am Gürtel. Die polierte Schneide, die silbernen Runen und geflochtenen Bänder, die sie überzogen, glänzten im Sternenlicht auf. Es war eine prächtige Waffe, eines mächtigen Hersirs, ja, eines Kuningas würdig, und doch würde er zehn ihrer Sorte gegen jene Waffe eintauschen, die mit Hroaldur in diesem Hügel ruhte: Laujakweldiz, die Axt, mit der Havar einst den Tyrannen Uskur erschlug, geschmiedet von Aasa, der ersten Schmiedin, die das Wissen darum von Agiz, dem listigen Gott selbst erworben hatte.

Er nickte Jotur zu, der sich auf seinen Stab stützte wie ein müder Wanderer.

»Es sind Geister in diesem Hügel am Werk«, warnte er mit undeutbarer Miene.

Ullbjern hob nur die Axt zum Abschiedsgruß. Er kannte die Hroaldur-Saga, wusste, was die Skalden über die Wächter dieses Grabmals sangen. Entschlossen straffte er die Schultern und betrat den Gang, den seit den fernen Tagen des Alfenkrieges kein Mensch mehr beschritten hatte. Wo er einen Stollen durch die aufgeschüttete Erde erwartet hatte, tanzte das flackernde Licht über Wände aus meisterhaft ineinandergefügten Steinen, wie er sie an keinem anderen Ort Hjaldingards je gesehen hatte. Prüfend blickte er zur niedrigen Decke empor. Haarfeines Wurzelgeflecht, von dem ein Geruch nach Moder und Verfall ausging, hing aus Ritzen zwischen Steinplatten herab.

Ohne sich umzusehen, ging Ullbjern weiter, trieb die Dunkelheit vor sich her, teilte sie wie Nebel, der hinter ihm wieder zusammenfloss. Der Gang endete vor einer Wand, um sich zu gabeln. Die Luft war mit jedem Schritt abgestandener, der Widerhall seiner Schritte dumpfer geworden. Ratlos sah Ullbjern in beide Richtungen. Die Gänge wölbten sich, bevor sie sich in Schwärze verloren. Weiter reichte der Schein der Fackel nicht. In der Stille hörte er den eigenen Atem unnatürlich laut. Seine Freunde mochten nur wenige Schritte entfernt sein, doch es kam ihm vor, als trenne ihn weit mehr von ihnen. Hatte er die jenseitige Welt bereits betreten? Welchem der Gänge sollte er folgen, welchem konnte er gefahrlos den Rücken zuwenden?

Er entschied sich für links, jene Seite, auf die die Urmutter Sumuz einst im Todeskampf gefallen war. Der Boden unter seinen Füßen war festgestampft, als empfinge Hroaldur noch immer Gäste in seiner Halle in Hraiwagard, Skalden und Krieger vergangener Tage, die im Kampf gegen die Alfen den Tod gefunden hatten. Langsam, den ganzen Körper angespannt, ging Ullbjern weiter. Bei jedem Schritt war er sich des anderen Gangs in seinem Rücken bewusst, aus dessen Finsternis Schemen hervorhuschen und ihm den Rückweg abschneiden mochten. Schaudernd warf er einen Blick über die Schulter, doch im unsteten Fackellicht narrten ihn die Schatten mit wildem Spiel.

Ullbjern knurrte unwillig. Zur Linken kam eine große, dunkle Öffnung in Sicht. Vorsichtig, die Axt zum Hieb bereit, leuchtete er hinein. Ein Durchgang, eine unverschlossene Tür, deren Sturz so niedrig war, dass er sich bücken musste, um die Schwelle zu überschreiten. Als er sich dahinter wieder aufrichtete, starrten ihm die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels entgegen. Hastig schwenkte er die fauchende Fackel, nahm das Bild in sich auf. Schilde und Helme blinkten matt unter Staub hervor. Dunkle, ledrige Haut spannte über Knochen, wo sie nicht aufgeplatzt war und den Blick auf die Gebeine freigab. Vier Lager reihten sich an den Wänden auf, die Ruhestätten gefallener Kriegerinnen und Krieger, denen die Ehre zuteilgeworden war, ihren Kuninga ins Totenreich zu begleiten.

Nichts rührte sich.

Ullbjern wagte wieder zu atmen. Ein letzter Hauch vergangener Verwesung lag in der Luft. Während er eine Entschuldigung murmelte, zog er sich auf den Gang zurück und ging weiter, nur um sogleich wieder innezuhalten. Hatte er hinter sich ein Geräusch gehört? Er lauschte, doch außer dem leisen Knistern der Fackel und dem eigenen Atem drang nichts an seine Ohren. Vorwärts!, trieb er sich selbst voran. Es kann nicht mehr weit sein. Siehst du?

Nur wenige Schritte vor ihm zeichnete sich zu seiner Rechten ein weiterer Eingang ab. War dort …

Sein Herz schlug rascher, als er erkannte, dass eine Tür den Raum verschloss. Hroaldurs Grabkammer!

Er beschleunigte gerade seine Schritte, als ihn ein neuerliches Geräusch herumwirbeln ließ. Ein tiefes, kaum hörbares Grollen drang aus der Finsternis jenseits des Lichtscheins. Vergeblich versuchte er, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Er zuckte zusammen, als direkt neben ihm ein überraschend lautes, hektisches Schnüffeln erklang. Die Tür zitterte unter dem Kratzen ungeduldiger Krallen.

Schweiß trat auf Ullbjerns Stirn. Eine Bewegung lenkte seinen Blick zurück auf den Gang. Etwas Dunkles schob sich durch die flammenden Schatten auf ihn zu. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück und hob die Axt zum Hieb. Der geduckte, gedrungene Schemen schlich näher, wie ein Raubtier, das sich an Beute heranpirscht. Im Licht der Fackel leuchteten Augen auf wie fahle Monde. Die Ohren flach an den schwarzen Schädel gelegt, die gelblichen Zähne gefletscht, kroch sprungbereit auf ihn zu, was einst ein großer Hund gewesen sein mochte. Doch die Knochen, die an mehreren Stellen bleich durch das schwarze Fell hervorstachen, wiesen das Untier als Wächter aus, durch den ein mächtigerer Gegner wirkte.

Das Grollen aus der toten Kehle wurde lauter. Die Tür der Grabkammer bog sich unter einem dumpfen Aufprall. Wieder scharrten Krallen über das Holz. Wie lange würde es einer solchen Bestie standhalten? Greif an, bevor sie zu zweit sind!, brüllte eine Stimme in seinem Kopf.

Das Untier sprang im gleichen Augenblick, da sich Ullbjern ihm entgegenwarf.

Kapitel 1

Wildnis südwestlich Hjaldingards, Zatura 2120 IZ

Die Hand des Runamans schloss sich überraschend fest um Vardurs Arm. Thidrik Hrodmarssun packte ihn wie ein Werkstück, dem er den letzten Schliff verpassen wollte. Vardurs Schultern versteiften sich. Er musste sich beherrschen, um den Griff des Zauberers nicht hastig abzustreifen wie eine giftige Schlange. Die Vorstellung, freiwillig Magie auf seinen Körper wirken zu lassen, bereitete ihm nun, da die Nacht hereingebrochen war und der Angriff unmittelbar bevorstand, deutlich mehr Unbehagen als im Licht der Mittagssonne, unter der sie diesen Überfall geplant hatten.

»Stillhalten!«, knurrte Thidrik, während er den Zeigefinger der anderen Hand in einen Tiegel tauchte. Auf der Spitze glänzte eine dunkle Paste, als er ihn wieder hervorzog.

Vardur atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Er war der Letzte. Jurga, Thursdur und sogar der vor Furcht zitternde Xelias hatten das beunruhigende Treiben des Zauberers bereits über sich ergehen lassen und warteten nur auf ihn.

Bemüht, selbst das Denken zu unterdrücken, schielte Vardur auf seinen aus der kurzärmeligen, dunklen Tunika ragenden Arm, den Thidrik noch ein wenig mehr anhob. Er hatte jeden verräterischen Flecken bloßer Haut mit Ruß geschwärzt, doch sein Verstand sagte ihm, dass es noch besser war, durch die Schattenrune gleichsam mit der Nacht zu verschmelzen. Warum, zur Tiefe, würde ich dann am liebsten davonlaufen?

Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, reglos zu beobachten, wie sich der Zeigefinger auf seinen Oberarm senkte. Das ist lächerlich. Ich zucke nicht mit der Wimper, wenn Thursdur mir eine Kriegerrune nach der anderen sticht, und jetzt würde ich vor einem Klecks ranzigen Schweineschmalzes flüchten.

Thidriks langer, spitz zulaufender Bart, dessen leuchtendes Rot vom Grau der Nacht geschluckt worden war, bebte wie von eigenem Leben beseelt, als der Zauberer leise Worte murmelte. Vardur spürte den verschmierten Finger mit festen, sicheren Bewegungen über seine Haut gleiten. Die dunkle Paste, deren Farbe er im Mondlicht nicht einmal erraten konnte, verschwamm mit dem Ruß, sodass er keine Umrisse erkannte. Er wartete, lauerte auf ein Funkeln, ein Prickeln oder wenigstens etwas Wärme unter seiner Haut, die nicht von Thidriks Hand ausging – irgendein Zeichen, dass die Magie ihn ergriff, ihn umhüllte, ihre Wirkung entfaltete. Doch er spürte nichts. Nicht einmal, als der Runaman verstummte und ihn losließ. Schwankend zwischen Erleichterung und Enttäuschung, stieß Vardur den unbewusst angehaltenen Atem aus.

»Du siehst aus, als könntest du noch nicht fassen, dass dich eine Seeschlange wieder ausgespuckt hat.« Thursdur, dessen blondes Haar ihm fern der See nur halb so wirr vom Kopf abstand wie gewöhnlich, zwinkerte Vardur zu.

»Stimmt ja auch«, ließ sich Xelias leise vernehmen. Obwohl er nun in hjaldingscher Kleidung steckte, eine Axt am Gürtel trug und Haare und Bart gewachsen waren, umgab ihn noch immer eine Ahnung des Fremden, Andersartigen. Seine Aussprache machte Fortschritte, und er hatte viel über die Bräuche Hjaldingards gelernt, doch noch immer zog er zu rasch den Kopf ein, schien sich durch seine Haltung ständig für seine Anwesenheit zu entschuldigen. Vardur fragte sich, ob sein Halbbruder jemals den duckmäuserischen Geist der Imperja ablegen würde, die ihn aufgezogen hatten.

»Niemand lässt sich gern mit einem Zauber belegen«, behauptete Jurga ernst. »Aber in diesem Fall wird es uns hoffentlich nützlich sein. Sind jetzt alle so weit?« Sie sah sich so ungeduldig unter den Versammelten um, dass ihr die sieben blonden Zöpfe um Hals und Schultern tanzten. »Dann brechen wir auf. Ihr wisst, was zu tun ist.«

Vardur ließ den Blick über ihre Gefährten schweifen, die Jurga in drei Gruppen aufgeteilt hatte. Faravid, der junge Skalde aus Ullbjerns Sippe, hob seinen Bogen zum Abschiedsgruß. »Mögen die Geister uns gewogen sein – und euch ein paar Taten gewähren, die ich besingen kann.«

»Vergiss über dem Dichten das Schießen nicht!«, zog Jofridis, Thursdurs Nichte, ihn auf.

»Vor allem solltet ihr treffen«, rief Thursdur den davoneilenden Schützen nach.

»Leiser!«, mahnte Jurga. »Sie könnten auch nachts Späher ausgesandt haben, die wir nicht auf uns aufmerksam machen wollen.«

Der Steuermann setzte eine schuldbewusste Miene auf und nickte. Vardur wandte sich zu Wulfaz um, dessen Blick er auf sich fühlte. Der Berserker legte ihm stumm eine Hand auf die Schulter.

Vardur erwiderte die Geste. »Wir zählen auf euch. Lasst sie glauben, dass ihr hundert Krieger seid!«

Wulfaz lächelte. Zu viele Zähne und Zahnfleisch blitzten durch die Wolfsscharte, die ihm seinen Namen eingetragen hatte. Die eingestochene Mondsichel auf seiner Wange, die Fremde vor der unberechenbaren Wut warnte, krümmte sich zu einem Vollmond. »Thagalgrimm selbst wird nicht lauter toben können.«

Vardur erwiderte das Lächeln. Wenn Wulfaz Thagalgrimm, das heilige Tier des Gottes Ullramnar, übertreffen wollte, würde er sich mächtig anstrengen müssen, denn es hieß, dass es der Geist des weißen Bären sei, der die Berserker in Raserei versetzte.

Wulfaz und seine beiden Begleiter verschwanden zwischen den Bäumen. Vardur wünschte, er hätte Jurga davon überzeugen können, sich ihnen anzuschließen, doch davon hatte sie nichts hören wollen. Sie war die Anführerin, sie hatte diese Krieger in die Wildnis geführt, und sie würde sich nicht in der zweiten Reihe verstecken – nicht einmal für ihn. Er schüttelte den Kopf. Stur und unbeugsam. Die Hagni-Sippe müsste stolz auf diesen Inbegriff ihres Gründers sein. Stattdessen hatten sie Jurga verbannt. Der Hersir der Hagni-Sippe, ihr eigener Vater, hatte sie verstoßen, weil sie von diesem seltsamen, mächtigen Meeresgeist besessen war. Oder war es Effar, der launische Gott der See, wie Thursdur glaubte?

»Vardur! Hast du Wurzeln geschlagen?« Die steile Falte auf Jurgas Stirn zeigte ihm, dass ihr eigentlich nicht nach Scherzen zumute war. Zu gefährlich war ihr Plan, und sein Gelingen hing davon ab, dass alles nahezu gleichzeitig geschah.

»Nein, gehen wir«, erwiderte Vardur ruppiger, als er beabsichtigt hatte. Sie sollte nicht glauben, dass er sich fürchtete. Zumindest nicht um mein Leben. Missmutig stapfte er ins Unterholz, ohne sich noch einmal nach Thidrik umzusehen, der als Einziger zurückblieb, um ihr Lager zu bewachen. Unser Lager …

So sprachen auch die Krieger der Imperja von den Orten, an denen sie sich für die Nacht niederließen, doch der Unterschied hätte nicht größer sein können. Aber was war bei den Imperja nicht vollkommen anders? Er verstand nicht, wie sie dachten oder warum sie einen solchen Aufwand betrieben. Seit dem vergangenen Herbst hallten Tag für Tag ungezählte Axthiebe und das Bersten niedersinkender Stämme durch die schier endlosen Wälder zu Füßen der Berge. Wie ein Keil trieben die Imperja einen Spalt durch das Meer der Bäume, anstatt einfach hindurchzuziehen, wie es jeder vernünftige Hjaldinger getan hätte. Sie fällten die Stämme, von den dünnen, gerade für einen Speer tauglichen Stecken bis hin zu den uralten, wuchtigen Riesen. Sie räumten sie mithilfe kräftiger Pferde und sechsbeiniger Danthreki zur Seite und ebneten den Boden, bis er einem ausgetrampelten Pfad himmelhoher Giganten glich. Bereiteten sie den Weg für Feinde, die er sich nicht einmal vorstellen konnte? Hatten sie keine Angst vor der Rache der Geister, deren Wohnsitze sie zerstörten? Dabei gaben sie sich nicht einmal mit einem einzigen Spalt zufrieden. Zwei weitere Heerscharen der Imperja bahnten sich zwischen Abareyjar und den Bergatun ihren Weg gen Norden, gen Hjaldingard. Wenn man den Worten Ullbjerns Verbündeter aus dem Imperium glauben konnte, waren die beteiligten Truppen nur die Vorhut der Hauptstreitmacht, die man erst jetzt, im Frühling, in Marsch setzen würde.

Darum werden wir uns kümmern müssen, wenn sie hier sind, ermahnte Vardur sich. Es hatte keinen Sinn, sich ausgerechnet heute Nacht den Kopf darüber zu zerbrechen. Sie waren Jurga in die Wildnis gefolgt, um die Imperja zurückzuschlagen, hatten geglaubt, es mit ein paar Schiffsbesatzungen zu tun zu haben. Welch ein Hohn! Auf jeden der ihren kamen zwanzig, manchmal dreißig Gegner. Alles, was sie tun konnten, war zu versuchen, den Vormarsch dieser Krieger zu verlangsamen, bis Ullbjern ein großes Heer aller Hjaldinger versammelt haben würde. Sie waren die Hornissen, die den gewaltigen Widamark-Bären aufhalten wollten und dabei riskierten, von den Pranken zermalmt zu werden.

Unter den Bäumen herrschte Stille. Mondlicht sickerte durch das noch lückenhafte Blätterdach. Es roch nach feuchter Erde und frisch gesprossenem Laub. Der heisere Ruf eines Mondhähers klang aus den Zweigen herab, bevor leises Rascheln seine Flucht verriet. Vardur folgte Jurga, die sich festen Schrittes einen Pfad durch Farne und Dornengestrüpp brach. Es war klug gewesen, trotz der kühlen Nacht auf die Umhänge zu verzichten. Sich im falschen Moment zu verheddern, konnte sie ihren einzigen Vorteil kosten.

Er sah sich nach Thursdur und Xelias um, die sich hinter ihm eingereiht hatten, und fing einen ernsten Blick des Steuermanns auf. Früher hätte er mir aufmunternd zugegrinst. Von Zeit zu Zeit blitzte Thursdurs heiteres Gemüt wieder auf, doch seit ihrem aberwitzigen Ausbruch aus dem abgeriegelten Hafen Trivinas war er trübsinniger geworden. Vardur konnte es ihm nicht verdenken. Thursdur hatte die Frau verloren, die er liebte. Trotzdem wünschte er, er könnte seinem Freund die frühere Leichtigkeit zurückgeben.

Vor ihnen wurde es heller. Jurga bedeutete ihnen, langsamer zu gehen. Ihre schlanke Gestalt hob sich schwarz von dem schwachen rötlichen Schein ab, der durch die Bäume schimmerte. Sie schlich bis zum Waldrand, wo sie hinter dem Stamm einer Steinbuche in Deckung ging. Vardur pirschte an ihre Seite und spähte vorsichtig um den Baum herum.

Der Schein eines Feuers wölbte sich wie eine Kuppel über der Lichtung, auf der die Imperja ihr Lager aufgeschlagen hatten. Hinter einem Ring nackter Erde, aus der nur noch ein paar Baumstümpfe und zertrampeltes Gestrüpp ragten, erahnte Vardur den flachen Graben, der die eigentliche Schwierigkeit umgab: einen Wall, gekrönt von einer Palisade aus angespitzten Pfählen, die Menschen, Tiere und Zelte vor Angriffen schützte. Je nachdem, wie sie den Tag über vorangekommen waren, errichteten die Imperja fast jeden Abend aufs Neue eine solche Anlage, die Raubtiere abhielt und sich leichter gegen Überfälle verteidigen ließ. Vardur verstand die Vorteile, die sie bot, aber er begriff nicht, wie diese Krieger es aushielten, mit der Geschwindigkeit einer Schnecke vorzurücken. Wie viel schneller wären sie vorangekommen, wenn sie einfach losmarschiert wären! Loderte denn keine Kampfeslust in ihnen? Brannten sie nicht darauf, Rache für ihre Angehörigen zu nehmen, die von Raubfahrern wie Swartaz und Ullbjern getötet worden waren? Wenn nichts davon zutraf, wenn weder Zorn noch der Wunsch nach Vergeltung sie antrieben, warum waren sie dann überhaupt hier? Nicht einmal die Aussicht auf reiche Beute konnte sie angelockt haben, denn ganz Hjaldingard barg nicht genug Schätze, um solche Heerscharen gieriger Krieger reich zu machen.

Gereizt vertrieb Vardur die lästigen Gedanken. Er hatte längst aufgegeben, auf Antworten zu hoffen. Sie waren hier, rückten auf seine Heimat vor und mussten aufgehalten werden, solange es möglich war.

»Alles scheint ruhig zu sein«, wisperte Jurga.

Vardur nickte. Soweit er es erkennen konnte, brannte im gesamten Lager nur noch ein einziges Feuer. Vereinzelt ragten höhere Zelte der Anführer über der Palisade auf, doch der Großteil war ebenso seiner Sicht entzogen wie die Last- und Zugtiere, auf die sie es abgesehen hatten. Ohne die Danthrekis und Pferde, die Wurzelstöcke ausrissen und gefällte Stämme aus dem Weg zogen, würde der Zug solange festsitzen, bis die Tiere wieder eingefangen oder ersetzt wären. Vardur hoffte, dass der Vormarsch der Imperja dadurch mindestens einen halben Mond, vielleicht sogar länger verzögert werden würde.

Aus dem Lager drang kein Laut zu ihnen herüber. Doch sie wussten, dass nicht alle feindlichen Krieger schliefen. Mehrere Wachen drehten auf dem Wall ihre Runden. Vardur konnte ihre Köpfe als Schattenrisse über die Spitzen der Pfähle wandern sehen, wenn sie vorüberzogen. Seine Geduld schwand. Wann würde Faravid endlich das Zeichen geben, dass die Bogenschützen auf ihren Posten waren?

Gerade als er einen besorgten Blick mit Jurga wechselte, glaubte er, etwas zu hören, doch das Geräusch war zu leise gewesen, um es sicher zu bestimmen. Der Skalde hatte versprochen, das Horn, mit dem er den Brunftschrei eines Thakurbullen täuschend echt nachahmen konnte, in dämpfenden Stoff zu blasen, damit sich die Imperja nicht wunderten, warum sie das gewaltige Tier nicht sahen, wenn es doch so nah war. Hatte die Wolle den Ruf nun dermaßen erstickt, dass sie ihn nicht mehr erkannten?

»Ich weiß ja nicht, wie ein Thakur klingt, aber …«, flüsterte Xelias hinter ihm.

Jurga schnitt ihm mit einer energischen Geste das Wort ab.

Vardur horchte in die Nacht. Wieder hob der dumpfe Laut an, wurde diesmal lauter und endete in einem stotternden Knarren. Ein Lächeln stahl sich auf Thursdurs Züge. »Endlich ein Skalde, der singen kann.«

Selbst um Jurgas Mundwinkel zuckte es verdächtig. Ihre Augen funkelten. »Es geht los.« Wie eine Waldkatze huschte sie davon.

Vardur folgte ihr, tief geduckt und so leise, wie es ihm nur möglich war. Er kauerte sich hinter jeden Baumstumpf, der ein wenig Deckung bot, blickte immer wieder zur Palisade hinüber, ob dort ein Kopf auftauchte und in seine Richtung sah. Mochte Agiz, der Listige, geben, dass Thidriks Zauber seine Wirkung tat!

Sie näherten sich dem Tor. Worauf wartest du, Wulfaz? Wir sind fast da!

Jurga hielt inne. Sofort folgte Vardur ihrem Beispiel, ging hinter einem Baumstumpf in die Hocke und zog den Kopf ein. Reisig brach unter Xelias’ oder Thursdurs Füßen. Er wagte nicht, sich umzusehen. Jede Bewegung mochte die eine sein, die sie verriet. Die leisen Schritte erstarben. Nur noch Vardurs Atem fauchte in seinen Ohren wie ein Blasebalg.

Er fuhr zusammen, als plötzlich Lärm ausbrach: Ein Poltern und Brüllen, das nicht von dieser Welt zu stammen schien, dröhnte von der anderen Seite des Lagers herüber. Sogleich ertönten Warnrufe hinter der Palisade.

Jurga rannte im selben Augenblick los, da Vardur einen Wächter in Richtung des Lärmens davoneilen sah und ein erster Brandpfeil einer Sternschnuppe gleich vom Himmel fiel. Vardur schnellte aus der mageren Deckung hervor und setzte hinter Jurga her. Vor dem mannshohen Tor holte er sie ein. Sie hatte ihre Axt bereits gezogen und klemmte sich den Stiel zwischen die Zähne, um die Hände freizuhaben.

Weitere Brandpfeile zischten durch die Nacht. Rasch verschränkte Vardur die Hände, spürte kaum, wie Jurgas Stiefel seine Handflächen quetschte, als er sie nach oben katapultierte. Fast schien sie ihm über das Tor zu fliegen, dann war sie fort, verschwunden hinter den armdicken Pfählen.

Neben ihm schwang sich Xelias – von Thursdurs Armen beflügelt – über das Hindernis. Vardur riss seine Axt heraus, biss auf das Heft und suchte hektisch Thursdurs Blick. Jetzt ich!

Der Steuermann nickte. Vardur stellte einen Fuß in die dargebotenen Hände, griff nach den Spitzen der Pfähle und stieß sich ab. Noch im Sprung versuchte er, sich bereits einen Überblick zu verschaffen, doch er erhaschte nur einen flüchtigen Eindruck zahlreicher Zelte und auflodernder Flammen. Die Landung war hart. Der Aufprall jagte Schmerz durch seine Füße und zwang ihn, tief in die Knie zu gehen. Beinahe wäre er vornübergekippt. Er fing sich mit den Händen ab, sprang auf und griff dabei nach der Axt.

Das Lager hatte sich in einen brodelnden Kessel verwandelt. Pferde wieherten, Danthrekis röhrten. Ihre Hufe stampften die Erde, als sie an ihren Stricken zerrten oder gegen die Umfriedungen ihrer Pferche drängten. Männer quollen aus den Zelten, brüllten und liefen durcheinander, während die Flammen fauchend zum Himmel leckten. Überall sprangen sie auf, erfüllten das Lager mit verwirrenden Schatten und flackerndem Licht.

Vor Vardur lag ein Imperi am Boden, in dessen Hals ein blutender Spalt klaffte. Dahinter tänzelte Jurga um einen weiteren, durch Rüstung und Helm geschützten Krieger, der sie mit einer Kentema, dem kurzen, schweren Spieß der Imperja, auf Abstand hielt. Sie bemerkte seinen Blick und schrie, ohne die Augen von ihrem Gegner abzuwenden: »Tor auf!«

Vardur rang mit seinem Verlangen, sie zu beschützen. Ein Pferd, das sich losgerissen haben musste, preschte vorüber und nahm ihm die Entscheidung ab. Wenn die Tiere nicht aus dem Lager entkämen, wäre der Überfall vergebens. Er wirbelte herum und entdeckte Xelias, der gerade den Querbalken zur Seite warf, der das Tor gesichert hatte. Hinter ihnen mischten sich gebrüllte Befehle in das Geschrei der Fuhrleute. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.