DSA 93: Hjaldinger-Saga 1 - Glut (Neuausgabe) - Daniela Knor - E-Book

DSA 93: Hjaldinger-Saga 1 - Glut (Neuausgabe) E-Book

Daniela Knor

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten schwelt der Konflikt zwischen dem unbeugsamen Volk der Hjaldinger und dem mächtigen Magierhaus Charybalis, das sich dämonischer Kräfte bedient. Die alte Seherin Urdrun prophezeit den Hjaldingern den nahen Untergang, und tatsächlich sammelt der Feind eine gewaltige Streitmacht. Jedoch sind die Sippen von Hjaldingard durch Blutfehden entzweit und drohen an ihrer Sturheit zu zerbrechen. Glut ist der erste Band der dreiteiligen Hjaldinger-Saga, die erzählt, wie die sagenumwobene Anführerin Jurga die Ahnen der Thorwaler nach Aventurien führte.

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Impressum

Ulisses SpieleBand US25731EPUBTitelbild: Thomas ThimeyerKarte: Steffen BrandRedaktion: Nikolai HochLektorat der Originalausgabe: Catherine BeckKorrektorat der 2. Auflage: Frauke ForsterUmschlaggestaltung und Illustrationen: Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Jörn Aust, Michael Mingers

Administration: Christian Elsässer, Carsten Moos, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz Marketing: Philipp Jerulank, Björn Meyer, Katharina WagnerVerlag: Zoe Adamietz, Jörn Aust, Mirko Bader, Steffen Brand, Simon Burandt, Christiane Ebrecht, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, Johannes Kaub, Matthias Lück, Thomas Michalski, Markus Plötz, Elisabeth Raasch, Diana Rahfoth, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Nils Schürmann, Alex Spohr, Jens Ullrich, Jan Wagner Verlag USA: Robert Adducci, Bill Bridges, Timothy Brown, Darrell Hayhurst, Eric Simon, Ross Watson Vertrieb: Stefan Heinrichs, Jan Hulverscheidt, Thomas Schwertfeger, Stefan Tannert, Anke Zimmermann

Copyright © 2021 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Daniela Knor

Glut

Hjaldinger-Saga I

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

2. überarbeitete Auflage

Dramatis Personae

Die Havar-Sippe

Vardur Arnarssun – Enkel der Hersirin Salbjerg

Salbjerg – Hersirin der Sippe, Großmutter Vardurs

Hjaldvaig Urdrunsduhter – Anführerin der Fahrtgemeinschaft, Tochter Urdruns

Horm – Vardurs bester Freund

Skorri Grimazsun –ein Freund Vardurs

Arnthrud – eine Freundin Vardurs

Wulfaz Thurkellssun – genannt Grisnir, ein Freund Vardurs und ein Berserker

Gudridis – Vardurs Pflegemutter

Egill – Vardurs Pflegevater

Ingjald Egillssun –Vardurs Pflegebruder, Sohn von Egill

Snevar Atlissun –Eines der Mitglieder der Fahrtgemeinschaft auf der Thurehs

Fridgerd – ein Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf der Thurehs

Urdrun – eine alte Zauberpriesterin

Otur – Sohn von Salbjerg, Onkel von Vardur

Die Aasa-Sippe

Gautaz Dagurssun –Hersir der Sippe

Eilif Dagurssun – Gautaz’ Bruder, ein Skalde

Skuld – eine alte Gefährtin Gautaz’ und Berserkerin

Hrok – ein junger Krieger

Korja – Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf Gautaz’ Schiff

Thura – Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf Gautaz’ Schiff

Stainar – Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf Gautaz’ Schiff

Haukur – Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf Gautaz’ Schiff

Die Gunna-Sippe

Katla Oddasduhter –Hersirin der Sippe

Thidrik Hrodmarssun – ein Runenmagier

Signy – ein Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf der Litmarhi

Skidi Gautazsun – Sohn Katlas und Gautaz’

Odda – Katlas Mutter

Die Groa-Sippe

Ullbjern Eirikssun – Hersir der Sippe, Sohn Eirik Godawarjas

Firnvild – eine Tochter Ullbjerns

Alwir – ein Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf der Litmarhi

Ottar – ein Mitglied der Fahrtgemeinschaft auf der Litmarhi

Weitere Personen

Jurga – eine Geächtete der Hagni-Sippe

Thursdur Gudmundurssun – erfahrener Seefahrer und Steuermann aus der Isleif-Sippe, Hjaldvaigs Lebensgefährte

Pythatheriope te Aldangara – unter dem Namen ›an Charybalis‹ Spionin in Balan Mayek

Xelias – genannt Barbariu, ein junger Mann aus Trivina

Hyracu – ein alter Bettler in Trivina

Dracomenes – Patron eines zwielichtigen Cirkels in Trivina

Shinxagamea aya Kouramnion – Eine Myriokratin des Horasiats Mayenios

Aegobarenes ul Charybalis – Befehlshaber der Myriade 5 Thalassia

Tanat – ein Häuptling der Alfarthjenna (Tkschoden)

Dioquoras an Charybalis –Offizier in der 5 Thalassia

Gyldas – Haussklave Pythatheriopes

Fischauge – ein junger Mann in Trivina, Xelias Feind

»In den Tagen der Ahnen lebte ein Mann, der Havar hieß.

Vornehmer Abkunft war er,

aus einem Geschlecht, das der Gott Ullramnar selbst gezeugt hatte.

Groß war der Ruhm seiner Taten,

und es erfüllte die Herzen der Krieger mit Stolz, an seiner Seite zu kämpfen.

In den Tagen Havars lebte ein Kuninga1, der Uskur hieß.

Ein Löwengestaltiger war er,

denn die Löwengestaltigen herrschten damals über die Menschen.

Der Gott Khorraz war sein Vater,

und sein Wüten im Kampf füllte die Herzen der Krieger mit Furcht.

Maßlos wie Khorraz vergoss Uskur das Blut der Menschen,

blind und taub in seinem Rausch.

Die Lehren der Rondris, Khorraz’ göttlicher Schwester,

die den Kriegern Ehre gebot,

verschwendet waren sie an den schwarzmähnigen Kuninga.

Maßlose Wut erwuchs darüber unter den Menschen.

Die Völker des Nordens begehrten auf.

Nur Spott und Hohn hatte Uskur für ihren Hass übrig.

Feige Memmen nannte er sie.

Zum Zweikampf forderte er, was er für ein Volk von Schwächlingen hielt.

Da richteten sich die Augen der Menschen auf den Tapfersten unter ihnen,

Havar aus der Sippe Ullramnars.

Groß war Havars Zorn über die Schmähungen aus dem blutigen Löwenmaul.

Mutig trat er vor den Kuninga

und kühn waren die Worte, mit denen er Uskurs Ehre in Zweifel zog.

Da geriet auch der Khorrazsohn in heiligen Zorn und stellte sich Havar zum Kampf.

Freiheit vom Joch der Löwengestaltigen,

das war der Preis, um den sie stritten, einen Tag und eine Nacht hindurch,

bis die Sonne über dem Sieger aufging.

Tot lag der Kuninga auf verwüsteter Walstatt, zerbrochen war sein riesiges Reich.

Die Stämme des Nordens feierten Havar aus Ullramnars Sippe.

Freiheit machte er ihnen zum Geschenk.

Über dem löwengestaltigen Leib seines Gegners leistete der Held einen Schwur.

Nie wieder Knechtschaft zu dulden,

das erlegte er sich auf und seinen Kindern und Kindeskindern

und allen, die nach ihnen kamen.«

—aus der Havar-Saga,aufgezeichnet von der gelehrten Völkerkundlerin Dariaxena te Illacrion

1 hjaldingsche Bezeichnung für ›König‹

Prolog

Angarfjord, Hjaldingard, Brajan 2114 IZ

Wärme strahlte aus dem von der Sonne erhitzten Felsen. Durch Stoff und Haut sickerte sie in den Rücken des Jungen, der sich an das verwitterte Gestein lehnte. Vardur Arnarssun hielt die Augen geschlossen. Der Schrei einer Möwe drang an seine Ohren und ließ die Stiche auf seinem Arm jucken, die dort die gewundene Rune des Vogels formten. Die kleinen Wunden, in die eine Saithakwena – eine Zauberfrau – Asche gerieben hatte, um ihn für immer als Mitglied seiner Sippe zu zeichnen, waren längst verheilt, doch manchmal bildete sich Vardur ein, die graue Farbe in seiner Haut noch immer zu spüren.

Es war ein gutes Gefühl gewesen, in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen zu werden – trotz der Schmerzen durch die geweihte Knochennadel. Nach dem Recht seines Volkes war er nun ein Mann. Er durfte jetzt im Hjalding seiner Sippe sprechen, eigene Entscheidungen treffen und gehen, wohin er wollte. Warum komme ich dann verdammt noch mal ausgerechnet wieder hierher?,fragte er sich wütend.

Er musste die Augen nicht öffnen, um das Meer zu sehen, das sich weit unter ihm bis zum Horizont erstreckte – weiter, als je ein Schiff gesegelt war. Jene Schiffe, nach denen er in seinen ersten Jahren auf Thurahlid so oft Ausschau gehalten hatte, in der Hoffnung, dass das eine dabei sein würde, auf dem sein Vater fuhr: Arnar, der so selten gekommen und schließlich für immer ausgeblieben war. Sie hatten ihm vom Tod seines Vaters erzählt, von dem Kampf an einem Gestade so weit im Süden, dass die Götter des Nordens dort keine Macht besaßen. Aber es war Vardur gleich gewesen, ob dort jemals Schnee fiel oder Packeis die Fjorde gerinnen ließ. Was interessierte es ihn, ob die Menschen dort Schlangen anbeteten und auf großen Echsen ritten? Das alles änderte nichts an dem Verrat, den Arnar begangen hatte, lange bevor ihn der Pfeil eines Unbekannten durchbohrt hatte. Der Tod besiegelte nur endgültig, was er selbst begonnen hatte, und Vardur wusste seit diesem Tag, dass die Prophezeiung der Seherin der Wahrheit entsprach. Die Runjas hatten ihm ein besonders grausames Schicksal gewoben.

Beim Gedanken an die Zukunft verkrampfte sich Vardurs Magen zu einem schmerzhaften Knoten. Doch der Augenblick verging, denn es war schwer, an einem so herrlichen Sommertag düstere Gedanken zu hegen. Vardur spürte die Kraft in seinem jungen Körper, die mit jedem Tag zunahm und nach verwegenen Taten schrie, anstatt die Zeit mit Sorgen und Grübeleien zu verschwenden. Glaiwa, die Glänzende, brannte so heiß auf ihn herab, dass die Haut seiner Wangen bereits spannte. Nur die leichte Brise, die den Geschmack von Salz und das Tosen der Brandung zu ihm auf die turmhohen Klippen trug, verschaffte ihm ein wenig Kühlung.

Selbst durch die geschlossenen Lider sengte die Sonne so hell, dass Vardur geblendet wurde. Das Licht ergoss sich in sein Inneres, als wolle es auch die dunkelsten Abgründe seiner Seele ausleuchten, und er hieß das Gefühl willkommen. Vielleicht hat sich die Prophezeiung durch Vaters Tod bereits zur Genüge erfüllt, hoffte er.

Ein leises, schabendes Knirschen schreckte ihn auf. Noch nie war er an dieser einsamen Klippe etwas Größerem als einer Möwe begegnet, aber es gab Bären, Wölfe und weitaus gefährlichere, unheimlichere Wesen in dieser Wildnis, vor denen sich selbst gestandene Krieger fürchteten. Alarmiert stieß er sich von dem Basaltblock ab, an den er sich gelehnt hatte, und sah sich hektisch blinzelnd um. Wie von selbst war seine Hand zu der Axt am Gürtel geschossen, um die Waffe hervorzuziehen. Erst als sich seine Finger um das mit rauem Haileder umwickelte Heft schlossen, merkte er, wie sehr er schwitzte.

Das Geräusch war hinter ihm erklungen. Sein erster Blick galt daher der Spitze des Felsbrockens, doch dort oben bogen sich nur ein paar vereinzelte Grashalme unter dem Wind. Angespannt starrte Vardur abwechselnd nach beiden Seiten des Felsens und wartete mit pochendem Herzen darauf, dass sich zeigte, wessen Tritt auch immer die kleinen Steine zerrieben hatte. Er war sich der wenigen Schritte bis zum Abgrund in seinem Rücken so bewusst, dass er sich noch einmal dafür verfluchte, an diesen abgelegenen Ort gekommen zu sein.

Etwas bewegte sich im Schatten des Felsblocks. Instinktiv hob Vardur die Axt zum Hieb. Wie ein Blitz durchfuhr ihn das Erkennen, als die Gestalt ins Licht trat, und ließ seinen Arm gerade noch rechtzeitig innehalten. Ingjald Egillssun entdeckte ihn im gleichen Augenblick. Doch anstelle von Erschrecken erschien ein breites Grinsen auf dem Gesicht des zwölfjährigen Jungen.

»Was gibt es da zu lachen? Du könntest tot sein, du Narr!«, fuhr Vardur seinen Pflegebruder an, der nun erst recht losprustete.

»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, johlte Ingjald.

»Die Augen sooo groß vor Angst.«

»Ich hatte keine Angst!«, leugnete Vardur aufgebracht und spürte die Schamesröte in seine Wangen steigen. »Ich fürchte mich vor gar nichts!«

»Doch, vor mir«, lachte der Junge schadenfroh, wich jedoch vor dem Zorn des drei Jahre Älteren einen Schritt zurück.

Sie gehörten derselben Sippe an, besaßen sogar das gleiche Haar, das in der Sonne wie dunkles Kupfer glänzte, und die gleichen Sommersprossen, die man auf der gebräunten Haut kaum erkennen konnte. Aber damit endete ihre Ähnlichkeit bereits. Während Vardur die Züge seines Vaters Arnar geerbt hatte, die mit den Jahren immer kantiger werden würden, wies Ingjald das rundliche Gesicht auf, das auch seinen Eltern zu eigen war.

»Schlecht hätt’ ich deiner Mutter dieses Geschenk gedankt, wenn jetzt dein Blut daran klebte«, knurrte Vardur, um sich ­einen letzten Rest Würde zu bewahren, und hielt dem Jüngeren vorwurfsvoll das sorgfältig polierte Blatt der Axt aus kostbarem Stahl unter die Nase.

Für einen Moment verdüsterte die Vorstellung Ingjalds Miene, dann gewann das Triumphgefühl wieder die Oberhand. »Du hättest ja doch daneben geschlagen«, spottete er achselzuckend.

»Verdammt vorlaut für einen, der noch den Finger der Mutter braucht«, höhnte Vardur zurück, denn er wusste, wie sehr es den Jungen ärgerte, dass sein älterer Freund in die Reihen der Männer aufgenommen worden war, während ihm die Sippenrune noch jeden Morgen aufs Neue von seiner Mutter aufgemalt werden musste.

Die Spitze traf, und Ingjald ballte zornig die Fäuste. »Leg doch die Waffe weg, wenn du dich traust, du Angsthase!«, gellte die hohe, reine Knabenstimme, die seine Jugend noch unterstrich.

Vardur schob die Axt betont langsam in den Gürtel zurück, während er mit dem Verlangen rang, seinem Bruder tatsächlich einen Kinnhaken zu verpassen. »Erwachsene Männer prügeln sich nicht mit Kindern«, erklärte er stattdessen überlegen.

Mit einem wütenden Aufschrei warf sich Ingjald auf ihn und drosch blindlings auf ihn ein. Heißer Zorn brandete nun auch in Vardur auf, doch noch immer drohte der Rand der Steilküste in seinem Rücken mit einem tiefen Sturz auf die unbarmherzigen Felsen in der Brandung. Die Angst, zerschmettert zu werden, fuhr wie ein eisiger Speer durch seine hitzeflimmernden Gedanken und verlieh ihnen neue Klarheit. Entschlossen stemmte er sich der Wucht des Angriffs entgegen, ohne zurückzuschlagen. Stattdessen packte er Ingjald bei den Handgelenken und drückte mit aller Kraft zu. »Willst du, dass wir beide als Fischfutter enden?«, keuchte er, während sein Bruder heftig darum rang, sich aus dem schmerzhaften Griff zu befreien. »Hör sofort auf damit!«

Einen Augenblick lang schwankten sie noch bedrohlich, dann spürte Vardur, wie Ingjald aufgab. Die Spannung wich aus den Armen des Schwächeren, und Vardur ließ ihn rasch los. »Wir hätten über die Klippe fallen können, du Dreihornochse!«, schimpfte er. »Willst du heute unbedingt sterben?«

Ingjald funkelte ihn wütend an, aber offenbar fiel ihm keine schlagfertige Erwiderung mehr ein, denn er schwieg. Dafür ertönte hinter dem Felsblock ein leises Schnauben, das Vardur schmunzelnd den Kopf schütteln ließ. »Und Bera hast du auch mitgebracht«, stellte er fest. »Jetzt wird dein eigener Vater es übernehmen, dich umzubringen.«

Egill hatte die stämmige kleine Stute erst vor kurzem erworben. Das erste Pferd, das je auf den Wiesen des Angarfjords graste. Sie war der Stolz des ganzen Hofs und wurde umsorgt wie ein Säugling. Für Vardur bestand kein Zweifel daran, dass sein Pflegevater Ingjald den Kopf abreißen würde, wenn er erfuhr, dass der Junge mit der kostbaren Braunen so weit auf die Klippen hinausgeritten war. Ingjalds Miene hellte sich auf. »Ich werde sagen, dass du sie genommen hast und ich sie nur zurückgebracht habe«, verkündete er, doch sein Grinsen strafte ihn Lügen.

»Das glaubt er dir sowieso nicht. Aus dem Alter für solche Streiche bin ich nämlich längst heraus«, stichelte Vardur zwinkernd. »Was treibst du überhaupt hier?«

»Was schon? Daheim war es todlangweilig, also habe ich nach dir gesucht«, antwortete Ingjald, als verstünde es sich von selbst, dass sein Pflegebruder ihm die Zeit zu vertreiben hatte.

»Und du hast mich gefunden«, stellte Vardur lakonisch fest. So viel zu dem Versuch, ein wenig allein zu sein, bedauerte er im Stillen, aber er wusste, dass es keinen Zweck haben würde, Ingjald nach Hause zu schicken. »Na schön, gehen wir!«, beschloss er. »Bis wir zum Heuschwaden gebraucht werden, bleibt uns noch ein bisschen Zeit.«

Sein Bruder nickte erfreut und schickte sich an, den Felsblock zu umrunden, hinter dem er die Stute angebunden hatte. Vardur wollte ihm folgen, als eine Möwe so dicht über ihn hinwegschoss, dass der Luftzug sein Haar zauste. Ihr Kreischen fuhr ihm vor Schreck bis ins Mark. Er erstarrte mitten in der Bewegung, öffnete den Mund, um dem Vogel ein paar Flüche nachzuschicken, doch wieder juckte die Rune auf seinem Arm, brannte wie Feuer, und plötzlich wusste er, dass hinter ihm mehr war als nur das sommerblaue Meer unter dem weiten Himmel.

Wie unter einem Bann drehte er sich langsam um, ließ den Blick über die endlosen Wogen gleiten. Seine Augen fanden die bläulich weiße Gletschermöwe, folgten ihrem Flug, wie sie tiefer hinab und weiter auf die See hinaussegelte, bis er das Drachenboot entdeckte.

»Vardur? Oh, ein Schiff!«, ertönte Ingjalds Stimme neben ihm und zerstörte den magischen Augenblick. »Wir bekommen Besuch. Endlich!«, freute sich sein Bruder. Begeistert sprang der Junge auf und ab und wedelte dabei wild mit den Armen, um die Aufmerksamkeit der Seeleute auf sich zu lenken.

Vardur jedoch überkam ein kalter Schauder. »Lass das!«, befahl er, ohne das Boot aus den Augen zu lassen. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Sie klang so dunkel, heiser und unheilvoll, dass Ingjald tatsächlich aufhörte herumzuhopsen und ihn verunsichert ansah. Vardur starrte auf das Schiff. Es war bereits nah genug, um zu erkennen, dass es kein Segel gesetzt hatte. Ganz ruhig lag es im Wasser, von Ruderschlägen sacht auf Position gehalten. Sie warten auf den Höchststand der Flut, vermutete Vardur, denn jeder wusste um die gefährlichen Strömungen, die am Eingang des Fjords lauerten, wenn die Wassermassen mit den Gezeiten hindurchdrängten. »Was ist denn los?«, wollte Ingjald verwirrt wissen.

Wenn ich das wüsste, dachte Vardur und schüttelte nur abweisend den Kopf, während er weiter auf die Otta starrte. Er merkte, dass der erste Eindruck täuschte. Das Boot verhielt sich nicht so bewegungslos, wie er zunächst geglaubt hatte. Es schaukelte mit den Wellen auf und ab, wiegte sich in einem langsamen Tanz, während die Besatzung es mit den Rudern daran hinderte, sich zu drehen. Dennoch schwenkte der Rumpf ein wenig zur Seite und ließ ein breites weißes Band entlang der Reling aufleuchten.

»Weiße Schilde«, flüsterte Vardur.

»Weiße Schilde?«, wiederholte Ingjald einfältig, bevor sich seine Augen weiteten, als er begriff.

Weiß. Die Farbe des Todes. Vardurs Herz raste ebenso wie seine Gedanken. »Los! Wir müssen die anderen warnen!«, rief er und ließ den perplexen Jungen einfach stehen. Er rannte um den Basaltblock, wo sein stürmisches Auftauchen bewirkte, dass Bera erschrocken den Kopf hochriss. Zum Glück hielt der dürre Strauch, an den Ingjald sie gebunden hatte, dem Ruck stand. Vardur nestelte an den Zügeln, während sein Bruder ihn einholte. »Steig hinter mir auf!«, wies er den Jungen hektisch an und schwang sich auf den blanken Rücken der Stute. Kaum fühlte er Ingjald hinter sich, als er dem kleinen, langmähnigen Pferd auch schon die Fersen in die Rippen drückte. Er war kein erfahrener Reiter, aber er kannte die Stute mittlerweile gut genug, um sie leidlich zu beherrschen. Sogleich trabte sie so eilig den schmalen Pfad entlang, dass die beiden Jungen kräftig durchgeschüttelt wurden. Ingjald umklammerte hastig die Taille seines Bruders, um nicht abzurutschen, aber Vardur bemerkte es kaum. Seine Gedanken galten einzig dem Boot voll blutdurstiger Krieger, das jeden Augenblick Segel setzen konnte.

»Schneller, Bera! Schneller!«, beschwor er die Stute, doch dem kleinen Tier gelang es nicht, unter der Last der beiden kräftigen, hochgewachsenen Jungen zu galoppieren. Mit weit aufgerissenen Augen und Nüstern fegte sie hoch über dem Fjord dahin.

Der selten begangene Weg führte immer näher am Rand der Klippen entlang. Vardur zwang sich, nicht in die Tiefe hinunterzublicken. Stur richtete er die Augen nach vorn, verbot sich jeden Gedanken an einen Fehltritt. Es kam ihm beinahe vor, als trage er Bera durch die Kraft seiner Vorstellung vorwärts, als hielte er sie mit schierer Willenskraft auf dem mit losen Steinen gespickten Pfad.

Endlich hatten sie das gefährlichste Stück hinter sich. Die Felsen fielen nun weniger steil zum Wasser hin ab, und der Weg schlängelte sich durch die licht bewaldeten, schroffen Hänge allmählich ins Tal hinunter. Wie große Moospolster klebten hier und da kleine Wiesenstücke entlang der Wasserlinie, auf denen die Schafe von Thurahlid weideten. Doch Vardur hatte keinen Blick mehr für die Schönheit des leuchtenden Grüns. Bera, die er nicht einmal lenken musste, jagte im scharfen Trab auf den größten Streifen ebenen Bodens zu, der das Ende des Fjords säumte, bevor sich dahinter die Gipfel der Hardun erhoben. Dort, wo ein eisiger Wildbach Gletscherwasser in den schmalen Meeresarm entließ, hatten Ingjalds Vorfahren das mit Grassoden gedeckte Langhaus erbaut, das auch Vardur in den zehn Jahren, die er bereits hier lebte, zur Heimat geworden war. Von den Berghängen herab hätte ein Wanderer es für einen seltsam gleichmäßig geformten Hügel halten mögen, hätten es nicht kleine, sorgsam gehegte Beete und Feldstücke umgeben, die von Zäunen aus Flechtwerk gegen hungrige Mäuler geschützt wurden.

Einsam lag es in der heißen Mittagssonne. Kein Mensch war auf dem freien Platz zwischen ihm und dem kleinen Boot zu sehen, das kräftige Arme auf den Strand gezogen hatten. Für einen Augenblick fürchtete Vardur, dass er zu spät kam, dass all jene, die ihm teuer waren, bereits tot in ihrem Blut lagen. Doch dann bog der Weg nach rechts, und ein gutes Stück hinter dem Haus kam das steinige Bachufer in Sicht, wo die jüngeren Kinder des Hofs umherrannten, um sich quiekend und kreischend gegenseitig nass zu spritzen. Ein großer, massiger Hund mit weißem Zottelfell, der gutmütig über seine kleine Menschenherde wachte, hob mit scharfem Blick den Kopf, als die schweißnasse Stute mit ihren beiden Reitern heranstürmte.

»Gudridis! Egill!«, rief Vardur, ohne den treuen Hjardreki zu beachten, und zügelte das Pony direkt vor den weit geöffneten Giebeltüren des Langhauses, in dessen Schatten sich die Erwachsenen zurückgezogen hatten. Zu ungeduldig, um zu warten, bis Ingjald hinter ihm abgestiegen war, schwang er das rechte Bein über Beras Hals und glitt über ihre Schulter hinab. Kaum aber hatten seine bloßen Füße den Boden berührt, musste er sich auch schon hastig an der Mähne des Pferdes festklammern, um nicht zu stürzen. Noch nie hatten seine Beine gedroht, ihn im Stich zu lassen, doch jetzt gaben sie unter ihm nach, als seien sie aus warmem Wachs. Er spürte, wie sich Ingjalds Faust Halt suchend in den Ärmel seiner Tunika krallte, und straffte sich, damit der Junge seine eigene Schwäche nicht bemerkte.

»Bei allen Ungeheuern Urkagards!«, dröhnte Egills laute Stimme aus dem Dunkel des fensterlosen Hauses. »Euch beiden ziehe ich die Ohren so lang, dass man euch für Alfen hält!«

Vardurs Augen vermochten allmählich, die Schatten zu durchdringen. Sein Pflegevater war aufgesprungen, hielt jedoch noch immer seine jüngste Tochter auf dem Arm, die sich von seinem Gepolter nicht dabei stören ließ, mit ihren winzigen Säuglingsfingern an einem der Zöpfe zu ziehen, in die Egill seinen dunklen Bart zu flechten pflegte. Gudridis, Herrin auf Thurahlid, dem Erbe ihrer Familie, sah von dem hölzernen Heurechen auf, den sie gerade reparierte. Rasch legte sie ihn beiseite, um sich ebenfalls zu erheben, während sich die Augen aller Anwesenden auf Vardur richteten. »Was fällt dir ein, mein Pferd so zuzurichten?«, schimpfte Egill weiter, bevor sein Pflegesohn auch nur den Mund öffnen konnte. Er näherte sich wütend dem älteren Jungen, aber seine zur Faust geballte freie Hand zeigte, dass er nicht vorhatte, ihm die Ohrfeige zu geben, die er einem Kind verabreicht hätte. Er hatte nicht vergessen, dass Vardur ein Mann geworden war und zurückschlagen durfte. Ein lächerliches Risiko, dass der stattlich gebaute Hjaldinger nur deshalb nicht einging, weil er das kleine Mädchen hielt.

Zumindest nahm Vardur das an. Er war sich nicht sicher, wie lange Egill bei dieser Entscheidung bleiben würde, wenn er weiter Zeit bekam, seinen Zorn zu schüren. »Es musste sein«, schnappte er hastig. »Wir haben eine Otta gesehen, mit weißen Schilden!«

Augenblicklich sprangen auch Gudridis’ Geschwister auf, ihr Onkel, die Tante, selbst ihr alter schwerhöriger Vater wurde angesteckt, ohne ein Wort verstanden zu haben. Alle riefen aufgeregt durcheinander oder suchten nach ihren Waffen.

»Ruhe!«, gebot Gudridis besonnen. Obwohl sie die Stimme kaum gehoben hatte, kehrte wieder Stille unter ihrem Dach ein. »Bist du sicher, dass dieses Schiff zu uns will und nicht einfach nur vorübersegelt?«, erkundigte sie sich bei Vardur.

»Ganz sicher«, antwortete er eifrig. »Sie lagen vor dem Fjord und warteten auf günstige Strömungen.«

Die Herrin von Thurahlid und ihr Mann tauschten einen wissenden Blick. »Katla Oddasduhter«, sagte Egill kalt. Die Zornesröte war aus seinem Gesicht verschwunden, das nun keine Gefühlsregung mehr verriet. Alle standen sie reglos da. Kräftige, mit verschlungenen Hautbildern geschmückte Gestalten in knielangen Röcken, die von breiten Gürteln gehalten wurden. Männer wie Frauen mit nacktem Oberkörper, wenn man von den Lederbinden absah, mit denen die Frauen ihre Brüste bei der Arbeit schützten. Vardur sah die Entschlossenheit in ihren Augen und die Ergebenheit in das Schicksal. Über Blutrache wurde selten gesprochen, doch jeder wusste um die düstere Bedrohung, die wie ein Fluch auf ihnen lag. Katla Oddasduhter forderte Sühne für den Tod ihres Bruders und zweier weiterer Angehöriger ihrer Sippe. Das war ein Recht, das ihr niemand verweigern konnte. Aber es bedeutete nicht, dass Gudridis ihr die Schuldigen kampflos überlassen würde. Wenn diese Katla Genugtuung will, soll sie kommen und sie sich holen!, dachte Vardur und legte die Finger an den kühlen Stahl seiner Axt.

»Wir alle wussten, dass dieser Tag kommen würde«, erinnerte Gudridis mit fester Stimme. Ihr Blick wanderte forschend über die Gesichter ihrer Verwandten. »Mein Wille ist, dass wir uns gemeinsam diesem Kampf stellen. Aber ich kann euch nicht befehlen. Wenn jemand von euch gegen mich sprechen will, dann möge er es jetzt tun!«

Einige schüttelten die Köpfe. Vardur fiel auf, dass der sonst so wortreiche Egill schwieg. Er hat Katlas Bruder erschlagen, rief er sich ins Gedächtnis. Es wäre feige von ihm, den Beistand der anderen einzufordern. Am liebsten hätte er seinem Pflegevater zugerufen, dass sie eine Familie waren und niemand den anderen im Stich ließ, doch er hatte noch nie die Stimme im Rat der Erwachsenen erhoben und blieb stumm.

»Wir werden alle treu zueinander stehen«, beschloss Gudridis’ Tante, deren Haar bereits in silbrigem Grau schimmerte.

»Dann soll es so sein«, stellte die Herrin von Thurahlid entschieden fest und wandte sich Vardur zu, der unwillkürlich die Schultern straffte, um seine Entschlossenheit zu zeigen. »Deine Aufgabe wird sein, die Kinder in Sicherheit zu bringen.«

Die Worte trafen ihn wie eine Faust in den Magen. »Was?«, entfuhr es ihm ungläubig. »Nein! Ich bin kein Kind mehr, das du einfach wegschicken kannst. Ich will kämpfen!« Er sah das Mitgefühl in ihrem Blick, das alles nur schlimmer machte.

»Niemals könnte ich mir verzeihen, wenn ich mit deiner Leiche vor deine Großmutter treten müsste«, erklärte Gudridis unnachgiebig. »Ich habe mein Wort gegeben, für dich zu sorgen, bis du zu deiner Familie zurückkehrst, und ich werde es nicht brechen!«

»Ihr seid meine Familie!«, schrie Vardur verzweifelt. »Was ist mir diese fremde Frau?«

»Wenn wir deine Familie sind, dann rette deine Geschwister, bevor es zu spät ist!«, erwiderte Egill grimmig.

»Aber ich will auch nicht fort!«, zeterte Ingjald. »Ich kann kämpfen wie ein Mann!«

»Schluss jetzt!«, brüllte sein Vater.

»Du wirst Vardur helfen, auf die Jüngeren aufzupassen! Er kann diese Aufgabe nicht allein erfüllen«, herrschte Gudridis ihren Sohn an. »Egill, gib ihm seine Schwester! Ihr Leben liegt in deiner Hand, Ingjald! Geht zu Saun nach Hrodmarstadar und haltet nicht eher an, als bis ihr den Pass erreicht habt!«

Einen Augenblick stand Vardur wie versteinert da. Er wollte nicht glauben, dass all dies wirklich geschah, dass sich die Prophezeiung wieder erfüllen sollte. Doch ehe er sich versah, hatte auch ihm jemand ein weinendes Bündel in die Arme gedrückt. Verwirrte Kinder wurden auf Beras breiten Rücken gehoben, dem zögerlich mit dem Schwanz wedelnden Hjardreki eine Tasche mit Proviant aufgeladen.

»Lauft gefälligst endlich! Beeilt euch!«, befahl Egill ungehalten und versetzte Vardur einen derben Stoß, der ihn vorwärts stolpern ließ.

Der Junge drehte sich nicht noch einmal um. Seine Füße fanden den Weg wie von selbst, und die Stute folgte ihm willig am Zügel.

»Möge Drawinas Segen euch begleiten!«, hörte er Gudridis Stimme wie aus weiter Ferne. Er wusste, ohne hinzusehen, dass sich Ingjald ihm anschloss und dass der große Hund, an dessen Halsband sich zwei verängstigte Kinder klammerten, ergeben hinter ihnen her trottete. Schritt für Schritt stemmte er sich unter der sengenden Sonne den steilen Pfad in die Berge hinauf, während das still gewordene kleine Wesen auf seinen Armen immer schwerer wurde. Höher und höher stiegen sie auf den felsigen Hängen, froh um jeden Baum und Strauch, der ein wenig Schatten spendete.

Ohne Rast trieb Vardur sie weiter, Stunde um Stunde, bis ihm der kalte Wind der Passhöhe entgegenschlug. Erst jetzt wagte er, sich umzublicken. Dunkler Rauch quoll vom verborgenen Grund des Fjords in den makellosen Himmel.

Kapitel 1

Östliches Gletschermeer, Shinxir 2119 IZ

Das Drachenhaupt schwankte, als wolle es sich Vardur entziehen. Nass glänzend im schwindenden Licht fletschte es drohend die Zähne ein wenig stärker und rollte mit den tückischen Schlangenaugen.

Ich kann es ihm nicht verdenken. Wer lässt sich schon gern blind und wehrlos machen?, dachte Vardur. Er wusste, dass der Kopf des Ungeheuers nur aus Holz bestand – Schuppe für Schuppe an langen Winterabenden von der Hand seines Großvaters geschnitzt. Ein Teil von ihm fand es sogar albern, eine beschwichtigende Geste zu machen und sich in Gedanken bei dem Drachen zu entschuldigen, aber er verschloss sich dieser Stimme. Er konnte es fühlen, das Misstrauen, den Widerwillen dieses auf merkwürdige Weise lebendigen Wesens, dem seine Großmutter den Namen Thurehs, Wagemutiges Ross, gegeben hatte. Er kam sich wie ein Verräter vor, als er die Decke aus grobem Flechtenfilz über das stolze Haupt warf, um es zu verhüllen.

Es muss sein, sagte er sich im Stillen. Du erschreckst sonst die Geister dieses Ortes und wie sollen wir dann noch sicher hier lagern? Er fragte sich zweifelnd, ob er damit tatsächlich Thurehs oder nur sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte. Hoffentlich übernimmt morgen wieder jemand von den anderen diese undankbare Aufgabe.

Wie ein nasser Hund schüttelte er die Beklommenheit ab, dass die Regentropfen aus dem schulterlangen Haar spritzten.

»Wenn du das machst, erinnerst du mich immer an den alten Hjardreki, mit dem ich als Kind die Schafe gehütet habe«, eröffnete ihm Arnthrud grinsend. Mit einem schiefen Lächeln wandte sich Vardur der jungen Rothaarigen zu, deren feuchte Strähnen sich hartnäckig weigerten, vollständig von ihr aus dem Gesicht gewischt zu werden. »Vor allem wegen der Schlappohren und der fliegenden Lefzen, nehme ich an«, vermutete er launig und löste damit wieherndes Gelächter auf den Ruderbänken aus.

»Sicher nicht wegen deiner treuen, braunen Augen«, feixte sein Freund Horm, der genau wusste, dass Vardurs Augen von ebenso hellem Blau waren wie die seinen.

»Oder wegen deiner buschigen Rute«, johlte der dicke Skorri anzüglich, woraufhin die Übrigen noch lauter lachten.

»Falls ihr die Augen noch von Vardurs Schönheit lösen könnt, wäre es gut, ihr würdet sie dazu benutzen, uns sicher durch die Felsen an Land zu bringen«, mahnte Hjaldvaigs scharfe Stimme vom Heck des Drachenboots her. Ihre hohe, breitschultrige Gestalt ragte vor der sitzenden Mannschaft auf wie die einer Riesin aus den Sagen, obwohl sie in Wahrheit nicht größer war als die meisten von ihnen. Selbst jetzt – triefend vom Regen – wirkte sie so beeindruckend, dass sie sämtliche Blicke auf sich zog. Mühelos glich sie das Schlingern des Decks unter ihren Füßen aus, als stünde sie bereits wieder auf festem Boden, und musterte aufmerksam die zerklüftete Küste, auf die sie zusteuerten.

»Recht hat sie«, meinte Arnthrud verschmitzt. »So schön bist du nun auch wieder nicht.«

»Wie gut, dass wir das geklärt haben«, erwiderte Vardur und ärgerte sich darüber, dass ihre scherzhaften Worte ihn dennoch ein bisschen kränkten. Er war versucht, noch eine Bemerkung über Arnthruds üppige Leibesfülle hinzuzufügen, doch sie hatte sich bereits abgewandt, um mit dem Lot die Wassertiefe zu bestimmen. Vardur drehte sich vorsichtig auf den nassglatten Planken zur anderen Seite des Stevens um. Er fühlte sich längst noch nicht sicher auf dem wankenden Untergrund, aber er nahm an, dass es jedem so erging, der sich zum ersten Mal auf große Fahrt begab. Der Regen hatte sich zu einem kaum spürbaren Nieseln abgeschwächt, und am westlichen Horizont leuchteten die Wolken wie sterbende Glut, wo die Sonne im Meer versank. Vardur wandte sich der wenig einladenden Küste zu, an der sie die Nacht verbringen wollten. Graue Schleier verbargen die schneebedeckten Berge, die letzten Ausläufer der Hardun, von denen Hjaldvaig Urdrunsduhter behauptete, dass sie dort aufragten, bevor sie sich in der Weite von Aiwaglitiz, dem Ewigen Eis, verloren.

Unzählige Inseln und Schären sprenkelten die See vor den steinigen Ufern, deren graubraune Trostlosigkeit nur hier und da von einem Hauch Grün gemildert wurde, wo die ersten Blätter an von Wind und Kälte verkrüppelten Bäumchen zu sprießen wagten. Trotzdem freute sich Vardur darauf, an Land zu gehen, denn die Einöde versprach wenigstens Platz für die Zelte und ein wärmendes Feuer, das seine Kleider trocknen und die Kühle aus seinen Gliedern vertreiben würde.

Eine Weile war in der Dämmerung nichts anderes zu hören, als das Plätschern des Wassers an den Rudern, Arnthruds Meldungen über die abnehmende Tiefe und Hjaldvaigs gemurmelte Anweisungen an ihren Steuermann. Vardur hielt auf seiner Seite des Stevens Ausschau nach unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen. Er hatte sich den langen Stecken herangezogen, der stets im Bug bereitlag, um das Schiff damit notfalls auf Distanz zu einer gefährlichen Klippe zu halten, und hoffte, dass ihm kein verdächtiges Kräuseln der Wellen entging.

Doch die Geister dieses einsamen Landstrichs waren ihnen an diesem Abend gewogen. Kein Hindernis kam ihnen in den Weg. Sanft und anmutig wie ein Schwan glitt Thurehs über die dunklen Wasser, bis sie eine Stelle fanden, an der sie das Boot sicher vertäuen konnten, solange kein Sturm aufkam. Sie gingen längsseits und holten die ersten Ruder ein, während Arnthrud mit überraschender Behändigkeit auf einen der niedrigen Steinblöcke hinübersprang, die das Ufer säumten. Vardur warf ihr die Bugleine zu, damit sie das Schiff festmachen konnte, doch sie blickte sich stattdessen ratlos um. Die nächsten Bäume standen zu weit entfernt, und die flachen, rundgewaschenen Felsen boten keine Möglichkeit, das Seil daran festzubinden. Hilfesuchend sah Arnthrud zum Heck, wo der ewig grinsende Wulfaz ebenso verloren dastand.

»Was seid ihr nur für ein Haufen nutzloser Landratten!«, schimpfte Hjaldvaig belustigt.

»Ihr müsst natürlich die Anker nehmen«, klärte der erfahrene Skorri sie in überheblichem Tonfall auf. »Die könnt ihr in den Spalten verkeilen.«

»Das nächste Mal kannst du uns ja etwas früher an deinem reichen Wissensschatz teilhaben lassen«, schlug Arnthrud bissig vor. Ihre Wangen hatten sich vor Scham und Wut gerötet, während ihr Blick drohte, Skorri zu erdolchen. Mit aus Zorn geborener Heftigkeit entriss sie Vardur den schweren, schmiedeeisernen Anker, den er ihr über Bord reichte, und bedachte auch ihn mit einem unwilligen Knurren. Vardur runzelte irritiert die Stirn, aber Arnthrud stapfte bereits davon.

»Mann, wenn sie mich so ansehen würde, müsste sie heute Nacht nicht frieren«, sagte Horm sehnsüchtig.

»Du meinst, wenn sie dich so ansehen würde, als ob sie dich gleich zerfleischen wird?«, hakte Vardur nach.

Sein Freund verdrehte die hellen Augen, die in so krassem Gegensatz zu den rabenschwarzen Brauen, dem ebensolchen Bart und den beinahe ebenso dunklen Haaren standen. »Das nennt man Leidenschaft, du Trottel!«, behauptete er überzeugt.

Vardur schüttelte bedächtig den Kopf und sah Arnthrud nach, die auf der Suche nach Brennholz davonging, nachdem sie einen günstigen Platz für den Anker gefunden hatte. »Wohl kaum. Ich bin für sie nur einer ihrer vielen Vettern.« Er war sich nicht sicher, ob es tatsächlich stimmte oder ob er es sich nur einredete, aber feststand, dass Arnthrud die Prophezeiung kannte. Alle Frauen der Havar-Sippe kannten sie und hielten sich deshalb von ihm fern.

»Also wenn du mich fragst, mag sie dich mehr als einfach nur irgendeinen entfernten Verwandten«, beharrte Horm.

»Tut sie nicht!«, gab Vardur gereizt zurück. »Dafür gibt es Gründe, und ich kann sie gut verstehen!«

»Ach so, du willst sie also gar nicht«, freute sich sein Freund. »Sonst würdest du nämlich nicht so einen Mist reden.«

»Und du solltest dich mal hören! Geh doch heute Nacht zu ihr, wenn du es so auf sie abgesehen hast!«

»Obwohl sie nur dich ansieht? So ein Draufgänger bin ich nicht«, wehrte Horm ab. »Und wenn ich es wäre, würde ich wohl mit Onkel Swartaz die verfluchten Schiffe der Imperja jagen.«

»Der hätte dir auch längst den hohlen Schädel eingeschlagen, wenn du ihm so dämlich im Weg stündest wie mir«, meldete sich Skorri zu Wort, der den schweren Balken angehoben hatte, der ihnen als vorderer Landungssteg diente.

»Wenigstens würde er mich überhaupt mitnehmen«, konterte Horm scharf, packte jedoch sofort mit an, während Hjaldvaig bereits über den hinteren Steg an Land ging.

Es dauerte nicht lang, bis sie ihre Ausrüstung von Bord getragen und das Lager aufgeschlagen hatten. Als Vardur die letzte lederne Zeltbahn zurechtzog, war das Nieseln vereinzelten Schneeflocken gewichen. Fröstelnd ließ er sich möglichst nah beim Feuer nieder, obwohl das nasse Treibholz die Hjaldinger eher räucherte als wärmte. Um seine Stiefel zu trocknen, streckte er die Füße so weit aus, dass die Glut seine Sohlen fast versengt hätte.

»Mmh, es riecht nach geschmolzenem Käse«, witzelte Horm, der sein Schuhwerk gleich abgestreift und genauso nah an die Hitze geschoben hatte.

»Gib dir keine Mühe! Mir verleidest du das Essen nicht«, erklärte Skorri, der seine Schale mit der Suppe aus Graupen und Pökelfleisch beinahe auf seinem mächtigen Bauch hätte abstellen können.

»Du solltest lieber aufpassen, dass er deine Stampfer nicht auch noch annagt«, riet Arnthrud mit gespieltem Ernst.

Vardur befürchtete, dass der aufbrausende Dicke nun einen neuen Streit vom Zaun brechen würde, doch Skorri lachte nur gutmütig. »Darauf trinke ich meinen letzten Becher Skurja. Ab jetzt gibt es nur noch schales Wasser, bis wir wieder in der Heimat sind, Freunde«, wiederholte er, was Hjaldvaig schon beim Abladen verkündet hatte. Das letzte Fässchen des säuerlichen Getränks aus vergorener Milch ging zur Neige. Sie würden es erst dann wieder zu kosten bekommen, wenn sie auf der Rückfahrt wieder hjaldingsches Gebiet erreichten.

»Was werden uns die Alfarthjenna vorsetzen?«, erkundigte sich Vardur. »Kennen die kein Skurja?«

»Die? Die haben ja nicht einmal Tiere, die Milch geben«, antwortete Skorri verächtlich, während ihm die weißliche Flüssigkeit in den blonden Bart rann.

»Aber bewirten werden sie uns doch, oder nicht?«, wollte Arnthrud wissen.

»Erst mal müssen wir das feige Pack überhaupt finden. Sie sind tückisch – wie alle Feiglinge. Wenn sie könnten, würden sie uns gewiss keinen Tribut zahlen. Aber das ist nun mal der Preis dafür, dass wir ihnen das armselige Leben lassen.«

»Genau«, pflichtete Horm eifrig bei. »Eigentlich hätten sie den Tod verdient! Wer sich mit den Alfen einlässt, hat das Recht auf friedliche Nachbarschaft verwirkt.«

Vardur versuchte, sich die kleinen, gedrungenen Menschen vorzustellen, von deren Pakt mit den bleichen, hochgewachsenen Todfeinden der Hjaldinger er so oft gehört hatte, aber es gelang ihm nicht, denn er hatte noch nie jemanden gesehen, der einem fremden Volk angehörte.

»Glaubst du, dass sie wirklich die Knechte der Alfen sind?«, fragte er nachdenklich.

Seine Freunde starrten ihn an, als ob er bezweifelt hätte, dass der Tag auf die Nacht folgte.

»Natürlich sind sie das«, empörte sich Skorri. »Wie sollten sie sonst in Aiwaglitiz überleben? Selbst im Sommer gibt es dort nichts als Eis und Kälte. Kein Mensch könnte den Winter dort überstehen, wenn es mit rechten Dingen zugeht! Aber die Alfen retten sie mit ihrer finsteren Magie, und dafür kriechen sie vor ihnen. Warte nur, bis du in ihre verschlagenen Augen gesehen hast! Dann weißt du es.«

Vardur nickte, um Skorri zu beschwichtigen, doch die vehement vorgetragenen Worte hatten ihn nicht überzeugen können. Er wusste nicht, weshalb es ihm falsch vorkam, denn alle anderen glaubten daran. Er kam sich sogar seltsam vor, weil er überhaupt darüber nachgrübelte. Bis zu diesem Abend hatte er nie auch nur einen Gedanken an die Alfarthjenna verschwendet. Selbst an jenem Tag nicht, als er sich entschieden hatte, mit auf der Thurehs gen Norden ins Gletschermeer zu fahren, um den jährlichen Tribut von ihnen einzutreiben.

Er verspürte einen Drang in der Blase und beschloss, das Thema ein anderes Mal weiter zu verfolgen. Während er sich ein Stück vom Lagerplatz entfernte, nahm er sich vor, bei Gelegenheit mit ihrem Steuermann Thursdur darüber zu sprechen. Thursdur gehörte der Isleif-Sippe an, deren legendärer Ahnherr einst als Erster auf dem Westweg gesegelt war. Wer konnte mehr über die Alfarthjenna wissen als seine Nachkommen?

Nach den dicken Rauchschwaden des Lagerfeuers genoss Vardur die kalte, klare Nachtluft. Die letzten Schneeflocken waren versiegt, und schwaches Dämmerlicht umfing ihn, obwohl Blaita, die Bleiche, hinter den Wolken verborgen blieb. Sie waren bereits so hoch im Norden, dass es in den Nächten des Spätfrühlings nur wenige Stunden völlig dunkel wurde. Das Meer verschwamm mit dem Grau des Himmels und leckte mit leisen schwappenden Geräuschen am Ufergestein.

Vardur ließ den Blick wachsam über das Wasser schweifen. Schon bei Tag hielt die Wildnis viele Gefahren bereit, aber in der Nacht streiften noch andere, schauerlichere Kreaturen umher, denen er lieber gewappnet begegnen wollte. Doch seine Sinne spürten keine Bedrohung. Er wollte sich bereits abwenden, um zum Lager zurückzukehren, als ihm ein kleiner roter Fleck auffiel. Angestrengt spähte er in das graue Zwielicht, aber er konnte nicht mehr entdecken, und selbst dieser schwach glühende Punkt spielte immer wieder mit seinen Augen Verstecken, obwohl er sicher war, auf genau dieselbe Stelle zu starren. Das muss ein Feuer sein, sagte er sich, jede unheimlichere Erklärung, die seine Phantasie ihm nahelegen wollte, scharf zurückweisend.

Widerstrebend wandte er sich ab und ging zu den anderen zurück. Hjaldvaig Urdrunsduhter hatte ihre beiden dicken Zöpfe gelöst und breitete die von Alter, Sonne und Salz gebleichten rötlichen Strähnen aus, damit sie besser trocknen konnten. Es war Vardur nie zuvor aufgefallen, dass sie trotz ihrer hageren, wettergegerbten Züge eine schöne Frau war, aber wie sie im sanften Licht der Flammen so dasaß und Thursdur anlächelte, verstand er plötzlich, warum der Steuermann seine eigene Sippe verlassen hatte, um ihr zu folgen.

Als er sich den beiden näherte, schien Hjaldvaig sofort zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Sie richtete ihre hellen grauen Augen auf ihn, noch bevor er sie ganz erreicht hatte, und verwandelte sich in die raubeinige Anführerin zurück, der man sich lieber anschloss, als ihr zu widersprechen.

»Wir sind nicht allein an dieser Küste«, kam Vardur ihrer Frage zuvor. »Ich habe ein Feuer gesehen. Etwa dort.« Er deutete die Richtung mit ausgestrecktem Arm an. Hjaldvaig erhob sich und bedeutete dem Rest der Mannschaft, sitzen zu bleiben. »Ich werde es mir ansehen. Zeig mir die Stelle!«, forderte sie Vardur auf.

Er führte sie schweigend zu dem Platz, den er sich gut eingeprägt hatte, aber es dauerte dennoch eine Weile, bis er das winzige rote Licht wiederfand. »Da ist es.«

Sie kniff die Lider ein wenig zusammen und nickte dann.

»Du hast Recht. Da hat noch jemand sein Lager aufgeschlagen«, nahm auch sie an. »Die Nacht ist nicht besonders klar. Es kann nicht allzu weit entfernt sein.«

»Glaubst du, sie haben uns auch gesehen?«, erkundigte sich Vardur.

»Hast du Angst?«

»Willst du mich beleidigen?«, fuhr er überrascht und zornig auf. Doch sie sah ihn nur prüfend an, ohne eine Spur von Vorwürfen oder Spott. Verärgert hielt er ihrem Blick stand, anstatt seiner Wut über diese Schändlichste aller Unterstellungen weiter nachzugeben.

»Nein, du hast keine Angst«, stellte seine Anführerin nüchtern fest. »Du kommst ganz nach Salbjerg. Was würdest du an meiner Stelle jetzt tun?«

Vardur zuckte verunsichert die Achseln. Es gefiel ihm nicht, mit seiner Großmutter verglichen zu werden, und er wusste nicht, was er von dieser Frage halten sollte. Hjaldvaig brauchte seinen Rat nicht, denn sie hatte immer eine sehr genaue Vorstellung davon, wie die Dinge gehandhabt werden sollten. Aber was bezweckte sie dann?

»Ich … würde eine Wache mehr aufstellen, für alle Fälle, und morgen nachsehen, mit wem wir es zu tun haben«, antwortete er schließlich.

»Genau das werden wir tun«, bestätigte Hjaldvaig. »Jeder hat das Recht, in diesen Gewässern zu segeln, hier zu jagen, zu fischen oder nach Edelsteinen zu suchen. Manchmal begegnet man sich und fährt sogar eine Zeit lang miteinander. Aber es kann auch anders kommen. Du weißt, was ich meine. Nicht alle sind unserer Sippe wohlgesonnen.« Vardurs Lippen verzogen sich zu harten Strichen. »Auch ich bin nicht jedem wohlgesonnen«, erklärte er düster.

»Ich weiß«, erwiderte Hjaldvaig schlicht. Sie musterte ihn noch einmal nachdenklich, bevor sie sich abwandte, um zum Lager zurückzukehren. »Du und Horm, ihr übernehmt die erste Wache!«

***

Als Vardur am nächsten Morgen unter den gekreuzten Giebelhölzern des niedrigen Zeltes hervorkroch, wallte dichter Nebel über dem Ufer. Das trübe Licht hüllte ihn in zähe Schläfrigkeit, bis ihm wieder einfiel, was er in der Nacht zuvor entdeckt hatte. Augenblicklich war er hellwach und wunderte sich, wie er zuvor die Anspannung nicht hatte spüren können, die sich der ganzen Fahrtgemeinschaft bemächtigt hatte. Niemand außer Skorri widmete sich in Ruhe seinem Frühstück. Arnthrud schliff nervös das Blatt ihrer Axt nach, Hjaldvaig steckte die langen Zöpfe auf, damit sie im Falle eines Kampfes nicht hinderlich wurden, und Wulfaz, der von allen nur Grisnir2genannt wurde, lächelte nicht mehr. Nur Horm schlief noch immer und schnarchte so laut, dass es Vardur vorkam, als zitterten die Lederplanen.

»Schafft die Sachen aufs Schiff, Leute! Wir brechen auf«, verkündete Hjaldvaig knapp.

Erleichtert darüber, seine Hände beschäftigen zu können, begann Vardur, das Zelt über seinem Freund abzubauen, der davon erst aufwachte, als eine der hölzernen Stangen auf ihn fiel. Kurz darauf legte die Thurehs ab, ohne dass jemand ihr stolzes Haupt wieder befreit hätte. »Bei diesem Nebel werden wir uns dicht an der Küste halten müssen«, hatte Hjaldvaig Vardur auf seine Frage hin erklärt. »Ich will die Geister nicht verärgern, die uns bis jetzt freundlich aufgenommen haben. Außerdem wird es auch auf die Fremden weniger feindselig wirken, nach denen wir suchen.«

Die Fremden. Vardur schwankte zwischen Neugier und Misstrauen, während er gezwungen war, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung zu sitzen und nur das zu sehen, was eigentlich hinter ihnen lag. Es störte ihn nicht, seinen Beitrag beim Rudern zu leisten, denn auch wenn der Nebel sich etwas gehoben hatte, wehte noch immer kein nennenswerter Wind. Aber dass ausgerechnet jetzt zwei andere die Plätze am Steven innehatten, um nach lauernden Untiefen und dem unbekannten Schiff Ausschau zu halten, verdross ihn doch. Selbst wenn nicht an ihm genagt hätte, dass er die Fremden als seine Entdeckung empfand, die ihm seine Kameraden nun streitig machten, wäre es ihm bedenklich vorgekommen, sich rückwärts einem möglichen Feind zu nähern.

»Einer Gefahr ins Auge zu blicken, ist Mut. Aber ihr den Rücken zuzuwenden, ist tödlich«, hatte sein Pflegevater Egill ihm einst eingeschärft, als er vor einem hitzigen Widder davongelaufen war, der keine Lust verspürt hatte, sich von einem kleinen Hütejungen gängeln zu lassen. Das Tier hatte ihn von hinten kaum berühren müssen, um ihn niederzuwerfen und ihm ein paar derbe Stöße mit dem Gehörn zu versetzen. Seit diesem Tag war Vardur nie wieder vor einem Gegner geflohen, bis Gudridis und Egill selbst ihn fortgeschickt hatten.

Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihm auf, ließen ihn zu heftig am Riemen reißen und den gleichmäßigen Rhythmus der Mannschaft stören. Sogleich spürte er Hjaldvaigs missbilligenden Blick auf sich. Was das Schiff anbelangte, entging ihr nichts. Sie schien eins mit Wasser, Wind und Boot zu sein und duldete keine Beeinträchtigung in deren vollendetem Einklang.

»Da drüben ist jemand!«, rief Fridgerd plötzlich vom Bug her. Vardur vergaß sein Ruder, doch das fiel niemandem auf, da sich alle umdrehten, um in die von Fridgerd gezeigte Richtung zu spähen. Eine schmale, steinige Landzunge, umgeben von im Wasser verstreuten Felsen, schälte sich rechter Hand aus dem Nebel, der sich mit dem trägen Rauch eines verlöschenden Feuers vermischte. Weiße Schwaden stiegen auf und legten sich wie schützende Schleier um die dort wartende aufrechte Gestalt, ohne sie jedoch völlig verbergen zu können.

»Gegenrudern!«, befahl Hjaldvaig ruhig, aber nachdrücklich. »Haltet das Schiff auf Position!«

Es fiel Vardur schwer, sich abzuwenden, doch er sah ein, dass sie Abstand wahren mussten. Diese seltsame Begegnung roch geradezu nach einem Hinterhalt.

Erst als die Thurehs keine Fahrt mehr machte und parallel zur Landspitze längsseits lag, konnte er wieder hinübersehen. Der oder die Fremde stand unverändert dort und beobachtete sie. Für eine Falle erschien das Vardur nicht einladend genug. Wenn ich jemanden anlocken will, dann rufe ich ihm zu oder winke, überlegte er. Die Haltung dieser Gestalt wirkte auf ihn eher abweisend.

»Hjaldingafridhur3! Ich bin Hjaldvaig Urdrunsduhter aus Havars Sippe und wünsche den Anführer deiner Fahrt zu sprechen!«, verkündete Hjaldvaig laut.

»Du siehst ihn vor dir«, kam die knappe Antwort. Die Stimme gehörte zweifellos einer Frau. Vardur hatte es geahnt, da er sicher gewesen war, keinen Bart im Gesicht des Unbekannten zu erkennen, doch durch Nebel und Entfernung hätte der Eindruck trügen können.

Hjaldvaig zog gereizt die Augenbrauen zusammen.

»Und wer bist du?«, verlangte sie zu wissen.

»Mein Name ist Jurga«, erwiderte die Fremde.

Einfach nur Jurga?, wunderte sich Vardur. Niemand mit einer Spur von Würde vergisst, seine Ahnen zu nennen. Es sei denn …

»Ist es gestattet, näher zu kommen, damit aus diesem Geschrei eine Unterhaltung wird?«, fragte Hjaldvaig weniger misstrauisch, aber noch immer angespannt.

»Dieses Land gehört mir nicht. Es steht euch frei, zu gehen, wohin ihr wollt«, gab Jurga zurück.

Vardur kam es wie eine letzte Aufforderung vor, ihrer Wege zu ziehen, aber es lag keine Drohung darin.

Während sie das Drachenboot vorsichtig näher an die Felsen heranmanövrierten, konnte Vardur allmählich mehr Einzelheiten ausmachen. Die flache Halbinsel wies weder große Felsbrocken noch Gesträuch auf, weshalb das Feuer der Fremden in der Nacht weithin sichtbar gewesen war. Da sich in dieser Umgebung auch schwerlich jemand verstecken konnte, um sie zu überfallen, wich Vardurs Skepsis zunehmender Neugier. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich völlig allein hier draußen wäre? Allein mit den Geistern und Alfen. Ihn schauderte. Sie muss froh sein, uns zu sehen, auch wenn sie uns nicht kennt.

In ihrer Miene spiegelte sich jedoch keine Erleichterung wider. Sie sah ihnen lediglich ernst und abwartend entgegen. Um ihre für eine Frau auffallend kantigen Schultern lag ein Umhang aus schwerem, dunklem Wollstoff, der von einer großen, aber schlichten Ringfibel aus Bronze zusammengehalten wurde. Darunter ragte eine Axt aus ihrem Gürtel hervor, von der Vardur annahm, dass sie sie für gewöhnlich nicht dort aufbewahrte, da sie sonst von dem langen Schaft in ihren Bewegungen behindert worden wäre. Sie dorthin zu stecken war ein Kompromiss, um sie griffbereit zu haben, denn die Waffe bereits in der Hand zu halten, hätte äußerst feindselig gewirkt.

Entweder war sie ebenfalls auf dem Weg nach Aiwaglitiz oder bereits auf der Rückfahrt, bevor man sie hier zurückgelassen hat, schloss Vardur aus Jurgas ledernen Beinlingen, die in robusten Fellstiefeln steckten. Nur wer auf dem Westweg fuhr, trug auch im Sommer so warme Kleidung anstelle eines luftigen Rocks. Erst als nur noch wenige Schritt das Schiff vom Ufer trennten und sie es wieder ruhig halten mussten, damit es nicht auf die Felsen auflief, brach Hjaldvaig wieder das Schweigen. »Einsamkeit ist ein trauriges Los, das man seinen Verwandten nicht leichtfertig bereitet. Warum hat man dich hier ausgesetzt?«, erkundigte sie sich streng, ohne Mitgefühl in der Stimme.

Vardur erwartete, dass sich die Fremde zornig über die ungerechte Behandlung beschweren oder zerknirscht ihre Schuld eingestehen würde, um Hjaldvaig auf ihre Seite zu ziehen. Doch auf ihrem ebenmäßigen, von der Kälte ein wenig fahlen Gesicht zeigte sich nichts von beidem. Sie wirkte unnahbar, fast schon unheimlich, als gehöre sie der jenseitigen Welt an. Ihr blondes Haar, von der Feuchtigkeit dunkel und schwer wie flüssiger Honig, hatte sie zu sieben unterschiedlich hoch angesetzten Zöpfen geflochten, die sich in schlangengleichen Windungen an Hals und Oberkörper schmiegten. Als seien sie lebendig, schoss es Vardur durch den Kopf. Ist sie nur ein Trugbild, das eine Nikwis uns vorgaukelt, um uns in ihr Reich zu locken?

»Das geht nur mich und meine Sippe etwas an«, schnitt ihre klare Stimme in seine wirren Gedanken und verscheuchte die Vorstellung einer Geistergestalt. Legt sie es wirklich darauf an, hier zu bleiben?, staunte er. Ist ihre Schuld so groß, dass sie sterben will?

»Die Einsamkeit muss sie um den Verstand gebracht haben«, raunte Arnthrud.

»Vielleicht sind wir ihr auch nicht gut genug, um ihr zu helfen«, mutmaßte Skorri so laut, dass jeder es hören konnte.

Jurgas Züge wurden nur noch härter, aber sie sagte nichts.

»Es ist dein Recht, nicht über die Gründe deiner Verbannung sprechen zu wollen«, meinte Hjaldvaig und richtete ihre Worte offensichtlich nicht nur an die Fremde, obwohl ihre Augen fest auf Jurga gerichtet waren. »So wie es mein Recht ist, mich daran zu stören oder nicht.« Die beiden Frauen sahen sich herausfordernd an.

»Und wie entscheidest du dich?«, fragte Jurga schließlich und deutete damit an, dass ihr vielleicht doch daran gelegen war, auf der Thurehs mitgenommen zu werden.

Hjaldvaigs Mundwinkel zuckten verdächtig. »Es ist mir gleich«, behauptete sie. »Will jemand dagegen sprechen, diese Frau auf unserem Schiff willkommen zu heißen?«, wandte sie sich an ihre Fahrtgemeinschaft.

Die meisten schüttelten stumm den Kopf.

»Solange sie mir nicht den Platz am Steuer streitig macht«, ließ sich Thursdur vernehmen und grinste.

»Der ist dir so sicher wie der auf meinem Lager«, antwortete Hjaldvaig verschmitzt. Doch im nächsten Moment hatte sie ihr ernstes Gesicht wieder aufgesetzt und warf Vardur einen fragenden Blick zu.

Vardur wurde bewusst, dass er mit keiner Geste sein Einverständnis ausgedrückt hatte. Hjaldvaig wartete nur noch auf seine Entscheidung, und er spürte, dass es ihr nicht schmeckte. Dieses Schiff gehörte seiner Familie. Er durfte nicht den Eindruck erwecken, dass er deshalb ihre Führung infrage stellte.

»Ich habe keine Einwände«, brachte er hastig heraus und wusste im selben Augenblick, dass er damit erst recht ihre Autorität untergraben hatte. Wut auf seine eigene Unbeholfenheit stieg in ihm auf und gärte in ihm, während sie die Thurehs nah genug an die Landspitze heranbrachten, damit Jurga über die Felsen an Bord klettern konnte. Eine Verbannte musste ihrer eigenen Sippe großen Schaden zugefügt haben, um dieses Urteil zu verdienen. Sie aufzunehmen erforderte daher eine einstimmige Entscheidung. Mit seinem Zögern hatte er nicht nur Hjaldvaig verärgert, sondern auch noch den Verdacht geweckt, er könne Angst vor dieser Fremden haben.

So etwas Lächerliches!, knurrte er bei sich und warf Jurga einen feindseligen Blick zu, als sie an ihm vorüber zum Heck schritt. Sie bemerkte es. Er konnte es daran erkennen, wie ihre dunklen Augen, deren Farbe ihm verborgen blieb, sich ein wenig weiteten, obwohl sie vorgab, ihn nicht wahrzunehmen. Jetzt glaubt sie bestimmt nicht mehr, dass ich mich vor ihr fürchte, triumphierte er. Aber eine andere Stimme flüsterte ihm ein, dass sie nun vermutlich dachte, er hätte doch etwas dagegen, sie an Bord zu haben. Na und? Soll sie doch glauben, was sie will!

2 wörtlich übersetzt etwa: ›Zähnezeiger‹

3 diese Begrüßung entstand aus der Formel: »Möge der Versammlungsfriede über uns walten!«

Kapitel 2

Nördliche Gletschermeerküste, Shinxir 2119 IZ

Es regnete zwar nicht mehr, doch der Nebel hielt sich den ganzen Tag über, was nicht dazu beitrug, Vardurs Stimmung zu heben. Stunde um Stunde gab es nichts anderes zu sehen als das eintönige Grau, in das sich Himmel, Meer und Felsen hüllten, und nichts anderes zu tun, als das Ruder nach hinten zu ziehen, es herunterzudrücken, damit es aus dem Wasser kam, es nach vorn zu schieben und wieder ins Wasser zu tauchen. Nichts daran vermochte Vardurs Gedanken zu fesseln, sodass sie hierhin und dorthin schweiften und zu seiner Verärgerung immer wieder zu der jungen Frau zurückkehrten, die zwei Bänke vor ihm saß und sich ebenfalls in die Riemen legte. Was sie wohl verbrochen hat?, rätselte er, obwohl es zu viele Möglichkeiten gab, als dass er dieses Geheimnis jemals ohne eine Antwort von ihr hätte ergründen können. Er wusste nicht einmal, welcher Sippe sie angehörte, und da jede Sippe eigene Rechtstraditionen pflegte, legten sie unterschiedliche Maßstäbe an.

Bei Firns Speer, was geht es mich an?,schalt er sich und versuchte, seinen ruhelosen Verstand mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich habe Thursdur noch nicht nach den Alfarthjenna gefragt. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir Aiwaglitiz erreichen, und ich weiß nichts über sie, außer dass sie klein und dunkelhaarig sein sollen. In der Isleif-Saga werden sie Eisfahrer genannt, aber hat nicht jemand erwähnt, sie hätten keine Schiffe? Und wenn sie tatsächlich mit den Alfen verbündet sind, verfügen sie dann auch über deren Zauberkunst? Aber dann hätte Hjaldvaig sicher darauf bestanden, eine Saithakwena oder einen Runaman in der Fahrtgemeinschaft zu haben, oder nicht? Sie wäre nicht so dumm, Zauberern ohne einen eigenen Zauberkundigen gegenüberzutreten … Wir hätten trotzdem einen mitnehmen sollen. Dann hätten wir gleich gewusst, ob Jurga eine Nikwis ist. Was sie nicht ist, sonst könnte sie nicht mit uns fahren. Die Nikwis sind an ihren Ort gebunden.

Er ertappte sich dabei, schon wieder ihren Rücken anzustarren, und richtete seine Augen rasch an ihr vorbei zum Heck der Thurehs, wo sein Blick den ihres Steuermanns kreuzte. Thursdur Gudmundurssun zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Dem weit gereisten Seefahrer konnte scheinbar niemals etwas die Laune verderben, obwohl – oder gerade weil – er schon so einiges erlebt hatte, wovon auch das abgeschnittene Ohr kündete, das für gewöhnlich unter seinem strubbeligen Blondschopf verborgen blieb. So sehr er die widerspenstigen Locken auch kämmte, am Ende standen sie doch immer wirr um seinen Kopf, und da sie als Zöpfe sofort hoffnungslos verfilzten, versuchte er nur noch, das Schlimmste mit einem ledernen Stirnband zu bändigen. Das ständige Zusammenkneifen der Lider gegen Sonne und Wind auf See hatte einen Kranz zahlreicher Falten und Fältchen um seine Augen hinterlassen, was den aus ihnen hervorblitzenden Frohsinn jedoch nur noch unterstrich.

Vardur zwang sich, zurückzulächeln, denn er wollte sich Thursdur nicht zum Feind machen. Der Steuermann war ein zu umgänglicher und wertvoller Gefährte, um seine Freundschaft leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Es hieß, dass er viele Jahre auf Handelsfahrten an die Küsten des Imperjaz’ und Eyasumuz’ verbracht hatte und sogar bis zu den Südlanden jenseits davon vorgedrungen war. Doch dann hatte er Hjaldvaig kennen gelernt, für die er fortan dem Norden den Vorzug gegeben hatte.

Ob er es wohl manchmal bereut, das gewaltige Eiwara gegen den ruhigeren Westweg eingetauscht zu haben?, fragte sich Vardur. Plötzlich erstarrte er, auch wenn er nach außen hin ruhig weiterzurudern schien. In seinem Innern hatte die Frage eine Tür geöffnet, die direkt in die Vergangenheit und zu seinem Vater führte. Vardur schlug sie vehement wieder zu und lenkte seine Gedanken lieber zurück auf Jurga und das Geheimnis, das sie umgab.

***