DSA: Blaues Licht (Neuauflage) - Daniela Knor - E-Book

DSA: Blaues Licht (Neuauflage) E-Book

Daniela Knor

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Beschreibung

Das Bornland im Jahr 371 BF - fest in der Hand der Priesterkaiser. Der junge Firun-Geweihte Mikail erlebt den fürchterlichen Mord am Weißen Mann, dem obersten Firun-Geweihten - der Auftakt zu einer Reihe schrecklicher Ritualmorde. Mikail ist mit der Aufklärung der Morde vollauf beschäftigt, als plötzlich eine merkwürdige Veränderung in ihm vor sich geht, die ihn zu einem der wichtigsten Heiligen der Firun-Kirche machen wird: Mikail von Bjaldorn. Neuauflage

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Impressum

Ulisses Spiele

Band US25737

Titelbild: Nadine Schäkel

Karten: Daniel Jödemann

Redaktion: Johannes Kaub

Bearbeitung der Neuauflage: Anna-Lena Schwenkler

Umschlaggestaltung und Illustrationen:Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick Soeder

Layout und Satz: Vincent Modler, Michael Mingers

Ulisses Spiele:

Zoe Adamietz, Jörn Aust, Philipp Baas, Mirko Bader, Tania Bogomazova, Steffen Brand, Bill Bridges, Martin Brunninger, Leamon Crafton, Carlos Diaz, Nico Dreßen, Christian Elsässer, Cora Elsässer, Frauke Forster, Jan Gawlik, Vanessa Heilmaier, Nils Herzmann, Nikolai Hoch, David Hofmann, Curtis Howard, Jan Hulverscheidt, Nadine Indlekofer, Philipp Jerulank, Johannes Kaub, Nele Klumpe, Christian Lonsing, Matthias Lück, Thomas Michalski, Carolina Möbis, Vincent Modler, Carsten Moos, Johanna Moos, Sven Paff, Felix Pietsch, Markus Plötz, Marlies Plötz, Elisabeth Raasch, Annika Richter, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Alex Spohr, Stefan Tannert, Hannah van den Höövel, Jan Wagner, Katharina Wagner, Carina Wittrin

Originalausgabe: Copyright © 2003 by Fantasy Productions Verlags- und Medienvertriebs-GmbH, Erkrath

Copyright © 2023 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Daniela Knor

Blaues Licht

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Überarbeitete Neuauflage

Gewidmet Torsten Bieder für Kritik und Enthusiasmus

Zitat

»Der berühmteste Heilige unseres Herrn Firun jedoch ist ein Mann, den viele eurer Ahnen gekannt und geliebt haben. Mikail von Bjaldorn war ein Jäger, dem es im hohen Alter von 76 Jahren noch gelang, nur mit Dolch und Bogen bewaffnet, einen weißen Hirsch zu erlegen. Durch sein Geschick und Firuns Wirken rettete er im Winter des Jahres 372 das Dorf Norntal vor dem Verhungern. Es heißt, dass noch heute in Zeiten der Not der heilige Mikail erscheint und dem verirrten Wanderer den Weg zur Jagdbeute weist.«

—Firungeweihte Ifirniane bei der Unterweisung junger Novizen im Tempel zu Bjaldorn

Ein Wort zur Neuauflage

Mit Blaues Licht präsentieren wir euch eine inhaltlich größtenteils unveränderte Neuauflage des gleichnamigen Romans, der erstmals im Jahr 2003 veröffentlicht wurde.

Für diese Neuauflage haben wir die alte deutsche Rechtschreibung beibehalten, aber auch kleinere Anpassungen einiger Begrifflichkeiten vorgenommen und einige Textstellen umformuliert oder gekürzt, damit sie sich besser für ein heutiges Publikum eignen.

Personen

Die ›alte‹ Bärenbande

Irjann Jannerloff, ein entflohener Leibeigener

Goljew, Freiherr von Lirnitz zu Leufurten

Baerow Sjepensen, der ›Bär von Ouvenmas‹, Räuberhauptmann

Woltan, Baron von Ruckenau-Sonngrunden

Grimje, eine Räuberin

Henk oder Firunjew, ein Waisenkind, das bei der Bärenbande aufwächst

Jella, eine Räuberin

›Neue‹ Mitglieder

Stane, ein Räuber

Duna, eine Räuberin

Honuk, ein Räuber

Meljow, ein Räuber

Auf dem Bjaladorn

Illumian, ein Praiosgeweihter, Regent der Baronie Bjaldorn

Bjala, der Erbe der Baronie Bjaldorn

Vanjescha, Illumians Novizin

Dunjew Kelschoff, Hauptmann der Bjaldorner Garde

Zorjan, ein Gardist

Janne, eine Gardistin

Arvid, ein Gardist

Geertja, eine Gardistin

Jasper vom Brydaborn, der Burgvogt auf dem Bjaladorn

Elko, ein Bote

Toman, Kämmerer auf Burg Bjaladorn

Mirja, eine Magd

Im Nornja

Mikail von Bjaldorn, ein Firungeweihter

Alinja, eine Hexe

Elkholt Walsareff, der Weiße Mann, Oberhaupt der Firunkirche

Marissja Walsareff, Elkholts Tochter

Gobronn, ein Waldschrat

Bjaldorner Bürger

Jucho Sillinski, der Wirt der ›Bärenstube‹

Peranka Timpski, Handwerkerin

Eljascha Ulmensen, Marktvögtin in Bjaldorn

Bosjew Grumpen, ein Bauer aus Bjaldorn

Tineke Grumpen, Bosjews Tochter

Meister Hane, ein Tischler

Verisja Walroder, eine Kerzenzieherin

Nadschenka, eine alte Traviageweihte

Norbarden

Katlava, die Muhme der Wardenaij

FJjodov, Katlavas Schwiegersohn

Luta (Lutjescha), Fjodovs Frau, Katlavas Tochter

Ludminka, Lutas Schwester, Katlavas Tochter

Swetjenka Mogoljeff, eine Ausgestoßene

In Norntal

Karinja Angbarer, Dorfschulzin von Norntal

Gerald Angbarer, Karinjas Mann

Letta-Bäuerin, eine Norntalerin

Panek, der älteste Sohn der Letta-Bäuerin

Travin Lettaborn, Karinjas Nachbar

Henjew (Henni), ein Bauer

Isobel, Henjews Frau

Littjew, ein Bauer

Olja, Littjews Frau

Baerow, ein Norntaler, Sohn von Baerow Sjepensen

Ludowig, ein junger Norntaler

Weitere Personen

Graf Hanjow von Ouvenstam

Ansvin, ein Ouvenmaser Gefolgsmann

Ilana von Drauhag, eine Junkerin

Eladyvanyandel, eine Firnelfe

Kuopi, eine Sippenführerin des Nivesenstamms der Takku

Praiogrim Radolf von Salderkeim-Lasarch, ein Inquisitor

Baerow Sjepensen, Urenkel von Baerow, dem Räuberhauptmann

Prolog

Auf dem Handelsweg von Norburg nach Drauhag, Hesinde 352 BF

»Die milde Ifirn steh uns bei! Jetzt fängt’s auch noch an zu schneien«, maulte Irjan Jannerloff und sank noch ein Stück weiter im Sattel zusammen, obwohl er ohnehin schon wie ein Häufchen Elend aussah.

Sein Pony drehte verwirrt ein Ohr nach hinten und fragte sich, ob die Worte, die es nicht verstand, wohl ihm gegolten hatten. Aber da Irjan sich nicht weiter rührte, richtete es seine Aufmerksamkeit bald wieder auf den verharschten Schnee, der die schmale Straße bedeckte. Unter dem mit rötlichem Schlamm marmorierten Weiß verbargen sich vereiste Pfützen, in die ein Pferd schnell einbrechen und sich die Fesseln zerschneiden konnte.

Das war gestern Goljews Pony passiert, und nur das dichte, lange Zottelfell oberhalb der Hufe hatte Schlimmeres verhindert. Die beiden Reiter ließen ihre Tiere nun selbst Weg und Tempo bestimmen, wodurch sie jedoch nur langsam vorankamen.

Goljew tat, als hätte er Irjan gar nicht gehört. Er war es leid, auf das ewige Jammern einzugehen. Wenn Irjan das Wetter nicht passte, und eigentlich passte Irjan an diesem Ritt überhaupt nichts, dann hätte er eben bei den anderen bleiben sollen, die im Gasthaus Zum Riesenhaupt in dem kleinen Ort Dotzen auf sie warteten. Aber das wollte Goljew Irjan nicht sagen, denn er war seinem Freund dankbar, dass er ihn nicht allein den Gefahren des sewerischen Winters überlassen hatte und der möglichen Begegnung mit den Hütern praiosgefälliger Ordnung.

»Ist’s das wirklich wert?«, fragte Irjan etwas lauter. »Man kehrt nich’ zum Tatort zurück. Das is’ ’n ungeschriebenes Gesetz des Phex. Es bringt Unglück, damit zu brechen. Ganz zu schweigen von den Geistern der Erschlagenen, die dort umgehen. Lass uns umkehren, bevor es zu spät is’! Selbst Firun warnt uns mit diesem neuen Schnee davor, weiterzureiten.«

Goljew warf seinem Begleiter einen amüsierten Blick zu.

»Firun warnt uns?«, wiederholte er. »Meinen wir denselben grimmigen, unbarmherzigen Gott, der selbst seine eigenen Geweihten erfrieren lässt, wenn er einen schlechten Tag hat?«

»Das sin’ keine firungefälligen Reden, Goljew«, tadelte Irjan und richtete sich dabei sogar im Sattel auf. »Findest du’s klug, den Herrn des Eises mitten im bornischen Winter zu reizen?«

»Nein«, gab Goljew zu. »Du hast Recht. Ich achte Firun, keine Sorge! Er hat uns hier in seiner Hand. Aber ihm zu unterstellen, er gäbe dir Zeichen ... Das finde ich ein wenig gewagt. Zumal du es doch mehr mit dem Fuchs hältst als mit dem Bären.«

Irjan zuckte die Achseln. Dass Goljew aber auch immer alles so genau nehmen musste. Für einen einfachen Bauernsohn wie Irjan war fast alles, was um ihn her passierte, ein Zeichen irgendeines Gottes. Lenkten sie nicht das Schicksal der Welt ganz nach ihrem Willen?

Seine eigenen Schritte hatte jedenfalls Phex gelenkt. Da war er sich sicher. Nicht viele entlaufene Leibeigene kamen in diesen Zeiten an einem besseren Platz unter. Und gewiss nur wenige in einer gefürchteten Räuberbande wie der von Baerow Sjepensen, dem Bären von Ouvenmas.

»Es kann nich’ jeder für die Leuin geboren sein«, sagte Irjan so beiläufig wie möglich.

Er wusste, dass Goljew kein Leibeigener, ja nicht einmal ein Freier war. Das war unübersehbar in seinem Auftreten zu lesen, dem stolzen Blick, wenn man ihm widersprach. Goljew war von Adel, das lag auf der Hand, aber er sprach nie darüber. In den drei Jahren, die Irjan jetzt bei Baerow war, hatte er seinem Freund nicht eine Silbe über seine Herkunft entlocken können.

»Lass die Leuin aus dem Spiel!«, knurrte Goljew. »Sie hat dieses Land verlassen, und ich diene ihr nicht mehr.«

Was nicht stimmte, wie Irjan genau wusste. Goljew erschlug nie einen Wehrlosen und erstach niemanden von hinten. Das blieb Baerow und seinen Kameradinnen und Kameraden überlassen. Goljew kämpfte immer noch wie ein Krieger, aber er sah weg, wenn die anderen es nicht taten. Irjan dachte sich nichts dabei. Für ihn waren die Gedankengänge der Adligen fast so rätselhaft wie die der Götter selbst. Deshalb ritt er jetzt auch an der Seite dieses Mannes durch die winzigen wirbelnden Flocken, die sanft auf seine Kleider niedersanken und dort nur zögernd schmolzen. Er erwartete keine für ihn verständliche Antwort auf die Frage, weshalb ein Amulett so wichtig sein konnte, dass man sein Leben dafür aufs Spiel setzte. Goljew hatte seine Gründe, das genügte. Aber trotzdem fühlte Irjan sich verpflichtet, dem Freund das fragwürdige Unternehmen auszureden.

»Wenn die Götter uns daran hindern wollten, zurückzureiten, würden sie nicht dieses Gefussel schicken, sondern einen Schneesturm«, fuhr Goljew fort, um von der Andeutung über seine Vergangenheit abzulenken.

»Wer weiß, es mag dem Herrn Praios gefallen, wenn wir seinen Schergen in die Hände fallen, während wir uns wegen des Schnees in Sicherheit wiegen«, überlegte Irjan.

»Irjan, du machst mich noch krank«, stöhnte Goljew mit gespielter Verzweiflung. »Du verwechselst Praios mit dem listigen Phex. Wenn Praios uns dort haben wollte, würde er nicht zu solchen Tricks greifen, sondern dafür sorgen, dass uns weder Schnee noch andere Hindernisse im Weg stehen.«

Erschrocken riss Irjan die Augen auf, als bei diesen Worten die Wolken heller wurden und die letzten vereinzelten Flocken fielen.

»Phex sei uns gnädig! Wir sin’ verloren«, flüsterte er.

Goljew blickte verärgert zur Praiosscheibe hinauf, die nun als greller Fleck hinter der Gräue zu erkennen war.

»Sei nicht albern!«, fuhr er seinen Freund an. »Das ist ein dummer Zufall, mehr nicht. Wir müssten bald da sein.«

Irjan umklammerte schweigend die Zügel, ritt aber weiter. Sein Blick glitt umher, suchte hinter jedem noch so dünnen Birkenstämmchen nach den Häschern, die ihn nun unweigerlich fangen würden. Er hätte es wissen müssen. Das Leben eines Räubers war kurz. Die gerechte Strafe musste ihn bald ereilen. Wäre er doch nur nach Festum gegangen!

Aus der Ferne drang heiseres Krächzen an seine Ohren.

»Da hörst du es«, brummte Goljew. »Der Chor der Aasfresser. Glaubst du, die Biester wären bei ihrem Festmahl, wenn dort Menschen auf uns lauerten?«

»Nein, wahrscheinlich nich’«, gab Irjan erleichtert, aber nicht völlig beruhigt zu.

Die Räuber trieben ihre Ponys näher an das Geschehen heran. Zu beiden Seiten der Straße flatterten und kreischten Krähen und riesige Raben in den Zweigen der kahlen Bäume, flogen aufgeregt umher, ohne sich jedoch auf den Boden hinunterzuwagen. Nur die größten der Boronsvögel stelzten im Vertrauen auf ihre mächtigen Schnäbel im aufgewühlten Schnee umher und ergatterten immer wieder frech einen Happen von den eigentlichen Herren des Festmahls. Zwischen den beiden umgestürzten Kaleschkas sah Goljew geduckte schwarze Schemen, die sich knurrend um die leichte Beute stritten.

»Wölfe«, stellte er nüchtern fest.

»Es sin’ mindestens fünf oder sechs Stück«, zählte Irjan. »Sollten wir nich’ lieber abwarten, bis sie verschwinden?«

»Warst du nicht derjenige, der so schnell wie möglich wieder von hier fort wollte?« Goljew zog sein Schwert. »Sie haben sicher schon eine Weile gefressen. Vielleicht sind sie nicht mehr allzu hungrig und lassen sich leicht vertreiben«, versuchte er, seinem Freund Mut zu machen.

»Besonders friedlich wirken sie nich’«, erwiderte Irjan wenig überzeugt. »Wie lautet dein Plan?«

»Es gibt keinen Plan«, erklärte Goljew schlicht. »Wir galoppieren hin und machen möglichst viel Lärm. Wer dann nicht weicht, wird erschlagen.«

»Das is’ doch ’n guter Plan«, meinte Irjan und zog seinen mit Eisenbändern verstärkten Knüppel aus der Satteltasche. »Ich hoff nur, er klappt.«

Goljew sah seinen Freund noch einmal zweifelnd an und rätselte, ob seine Worte wohl ernst gemeint waren, dann gab er seinem Pony die Sporen. Das stämmige Tier preschte los, dass die Schneeklumpen nur so davonflogen. Goljew schwang wild seine Waffe und brüllte dabei wie ein Berserker. Schräg hinter sich hörte er Irjans schrilles Kreischen.

Die Wölfe fuhren erschrocken herum. Zwei huschten ins spärliche Unterholz. Drei weitere zogen sich widerstrebend zurück, während sich zwei der schwarzen Bestien mit gesträubtem Nackenfell dem Gegner stellten. Goljew sah ihre gefletschten Zähne und wusste, dass sie sein Pony totbeißen konnten, wenn er es mit ungeschütztem Hals in diese Fänge laufen ließ.

Geistesgegenwärtig riss er sein Reittier vor den Wölfen herum, sodass der Sprung des einen ins Leere ging, während er den anderen mit dem Schwert erwischte. Das Raubtier fiel laut aufjaulend zu Boden. Irjan schlug mit seinem Knüppel nach dem unverletzten Wolf, aber sein Pony strauchelte in den herumliegenden Kadavern und brachte damit auch seinen Reiter aus dem Gleichgewicht.

Trotzdem wich der Wolf zurück. Seine Rudelgenossen waren nicht mehr hungrig genug, um sich diesem Kampf zu stellen. Goljew setzte ihm noch ein paar Schritte nach, bis die Tiere sich schließlich wie auf Befehl alle zugleich in den Wald verzogen. Nur die aufgeflatterten Raben und Krähen kehrten ungerührt auf ihre Plätze zurück und setzten dort lautstark ihr schnarrendes, nervenaufreibendes Konzert fort.

»Die stören sich wohl doch nicht an Menschen«, murmelte Goljew. »Ist er tot?«, fragte er Irjan, während er aus dem Sattel sprang.

»Jetzt schon«, antwortete sein Freund grimmig, der sicherheitshalber mit seinem Knüppel nachgeholfen hatte. Angewidert ließ er seinen Blick über die grausige Stätte schweifen. Einem der Kaleschkapferde hatten sie nach dem Kampf den Gnadenstoß geben müssen, während sie die anderen als Beute mitgenommen hatten. Der Kadaver war von den Wölfen aufgerissen und ausgeweidet worden. Schlimmer war jedoch der Anblick der toten Menschen. Aus leeren Augenhöhlen starrte das zerhackte Gesicht einer Kriegerin Irjan an. Einem Mann hatten die Wölfe ein Bein abgebissen, eine andere Leiche war noch zerfledderter als das tote Pferd.

»Also gut, wir sin’ hier«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Was genau suchen wir?«

»Es ist eine Fibel mit dem Haupt einer Löwin«, eröffnete ihm Goljew. »Aus Silber gefertigt. Aber ich hoffe, sie befindet sich noch in dem roten Samt, in den sie eingeschlagen war. Das Päckchen muss mir herausgefallen sein, als ich etwas von ihrem Proviant«, er deutete auf die Kaleschkas, »in meinen Satteltaschen verstaut habe.«

»Ein rotes Päckchen.« Irjan seufzte tief. »Blutrot, nehm ich an.«

»Ja«, bestätigte Goljew.

»Welche Kaleschka war’s?«, erkundigte sich sein Freund.

»Ich weiß nicht. Da war sie noch nicht umgeworfen. Ich wäre ja auch nie auf die Idee gekommen, unter dem Boden nach einem Geheimfach zu suchen.«

»Tja, Baerow kennt sein Geschäft«, meinte Irjan. »Dann such ich hier und du dort.«

Goljew ging zu der zweiten Kaleschka hinüber und versuchte, sich zu erinnern, wo er gestanden hatte, als sie die Schlitten geplündert hatten. Musste er mit Irjan womöglich das schwere Gefährt wieder aufstellen, um darunter suchen zu können? Er fuhr mit der Stiefelspitze durch den Schnee, fand auf dieser Seite jedoch nichts. Da hier die Kufen der Kaleschka in die Luft ragten, musste sich dieser Bereich unter dem Schlitten befunden haben, bevor sie umgeworfen worden war. Blieb die andere Seite.

Achtlos stieg Goljew über die steifgefrorene Leiche eines jungen Kriegers. Er empfand kein Mitleid mit dem Mann, zwang sich zumindest, keines zu fühlen. Ein Verräter war das, ein Verräter wie sie alle. Hatten dafür Hunderte im Drachenspalt ihr Leben gelassen? Damit dann Feiglinge wie dieser hier den Praiospfaffen Tür und Tor öffneten?

Goljew schüttelte die verbitterten Gedanken schnell ab. Er musste weitersuchen. Die Wölfe würden wieder auftauchen, und Getreue des Praios konnten die Straße entlangkommen.

Auf dieser Seite lag alles verstreut, was beim Umwerfen der Kaleschka herausgefallen und niemandem nützlich oder wertvoll erschienen war. Zwischen leeren Kisten und Taschen, zerschlissenen Decken und abgewetzten Pelzen blieb Goljew nichts anderes übrig, als gründlich vorzugehen, wenn er das kleine Päckchen finden wollte. Er zog den toten Kutscher zur Seite, der noch seine Peitsche umklammert hielt, und die Leiche einer rundlichen Dienstmagd. Dann konnte er ein Aufwallen des Entsetzens nicht mehr unterdrücken. Unter einem kurzen, aber dicken Umhang mit Silberfuchsbesatz zeichnete sich der Körper eines kleinen Kindes ab.

So weit ist es mit mir gekommen, dachte er angewidert. Sogar unschuldige Kinder schlachten wir ab. Rondra, warum hast du mich verlassen?

Wie von den schweren Lasten auf seiner Seele niedergedrückt, kniete Goljew sich neben das Kind, um auch diese leblose Hülle eines einst hoffnungsvollen Menschen in den Straßengraben zu werfen. Als er die Leiche auf den Rücken drehte, um sie leichter aufheben zu können, wich er plötzlich mit einem Aufschrei zurück. Die Augenlider hatten sich geöffnet. Dunkle Kinderaugen starrten in den grauen Winterhimmel. Und dann auf Goljew.

»Goljew?«, rief Irjan alarmiert und kam um die Kaleschka herumgelaufen, weil er seinen Freund nicht mehr gesehen, nur schreien gehört hatte.

Goljew kam rasch auf die Beine und deutete auf das Kind, das sich noch immer nicht bewegt hatte, ihm aber mit den Augen folgte.

»Es ... es lebt noch«, brachte er heraus.

»Oh, ihr Götter, steht uns bei!«, flehte Irjan. »Ein Wiedergänger! Du musst ihn töten, bevor er sich an uns rächt!«

»Und wenn es einfach noch lebt? Ich kann kein wehrloses Kind abstechen. Ich mag ein Räuber geworden sein, aber ich bin kein Schlächter, Irjan«, wehrte Goljew ab, ohne den Blick von dem blassen Gesicht im Schnee abzuwenden.

»Wie kann der Balg noch leben? Er liegt seit drei Tagen hier in der klirrenden Kälte, von Raben und Wölfen angenagt und ohne ein’ Bissen zu essen«, hielt Irjan dagegen. »Er is’ ’n Untoter.«

»Ein Untoter muss vor dem Zeichen Praios’ weichen«, überlegte Goljew, der seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Behalte ihn im Auge!«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte Irjan entschlossen. »Was hast du vor?«

Goljew trat zu der Leiche des jungen Kriegers und hob den Schild auf, der seinen Besitzer nicht vor Goljews tödlichem Streich bewahrt hatte. Den Schildbuckel zierte eine silberne Praiosscheibe, weshalb kein Räuber es gewagt hätte, ihn zu verwenden.

»Geh nich’ zu nah heran!«, warnte Irjan.

»Was soll es mir schon tun? Es ist höchstens drei Jahre alt.«

Trotzdem näherte sich Goljew dem reglosen Kind nur sehr zögernd. Er hielt den Schild abwehrend vor seinen Körper.

»Sieh auf dieses Zeichen!«, befahl er und deutete mit dem Finger auf den Schildbuckel.

Die dunklen Augen folgten seiner Bewegung, aber nichts geschah. Das Gesicht blieb leer, ohne den Ausdruck eines Gefühls. Dann streckte das Kind, das Goljew intuitiv für einen Jungen hielt, plötzlich die Hand nach dem Schild aus, als wolle es ihn berühren. Goljew hielt die Praiosscheibe an die kleinen blaugefrorenen Finger, dann warf er den Schild wütend von sich. Wie konnte er sich so lächerlich aufführen? Das Kind lebte und war zweifellos dem Erfrieren nah.

»Irjan, sieh zu, ob du meine Fibel findest! Ich muss mich um den Jungen kümmern«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Rasch zog er seine mit Hasenfell gefütterten Handschuhe aus, um die kleinen Fäuste des Kindes hineinzustecken. Er selbst konnte sich die Handschuhe des Kutschers aufwärmen, aber der ausgekühlte Junge brauchte jetzt Wärme von außen. Irjan glotzte einen Moment lang wie eine aufgeschreckte Eule, dann begann er hektisch, im Schnee herumzusuchen, ohne seinen Freund und den vermeintlichen Wiedergänger gänzlich aus den Augen zu lassen. Goljew schnürte seine Handschuhe um die Arme des Kindes fest, damit sie nicht herunterfielen, obwohl sie viel zu groß waren.

»Eigentlich müssten wir ein Feuer machen, aber dann kommen wir heute nicht mehr hier weg, und das ist kein Ort, an dem ich übernachten möchte«, murmelte er vor sich hin. »Wer bist du, dass du mich zwingst, mein einziges Erbe hier zurückzulassen?«

Der Junge hatte die Augen geschlossen und antwortete nicht.

»Irjan, vergiss die Fibel! Er stirbt. Wir müssen so schnell wie möglich die Schänke in Schossko erreichen«, rief Goljew und lief mit dem Kind auf dem Arm zu seinem Pony.

Jetzt is’ er von allen guten Geistern verlassen, dachte Irjan. Wir sin’ Räuber. Was sollen wir mit ei’m Kind? Was is’ mit dem Löwinnenhaupt? Will er das jetz’ plötzlich nich’ mehr haben? Herrin Hesinde, schenk mir Einsicht! Was geht nur in diesen Adligen vor?

Ähnliche Gedanken macht er sich auch am nächsten Tag noch, als er mit Goljew die Ponys im Stall des Gasthauses Zum Riesenhaupt abgab. Das Riesenhaupt war eine ansehnliche Herberge, da Dotzen für viele Reisende die letzte Station vor der Stadt Norburg war. Auf dem Schild über der Eingangstür prangte das wenig schmeichelhafte Porträt des Riesen Milzenis, oder zumindest das, was der naive Künstler dafür gehalten hatte. Der Wirt brüstete sich damit, dass sein Haus über einem Stein errichtet worden war, auf dem der Riese einst für eine Nacht sein Haupt gebettet hatte. Robustere Gäste mochten sich darin gefallen, in die Fußstapfen des berühmten Bewohners des Bornwaldes zu treten, aber empfindsameren Gemütern bereitete diese Geschichte eher Albträume. Ihnen blieb jedoch keine Wahl, denn es gab kein anderes Gasthaus im Dorf.

Der Wirt, ein ungewöhnlich schmaler Mann für sein Gewerbe, wischte gerade Bierkrüge mit seiner speckigen Schürze aus, als die beiden Räuber die Schankstube betraten. Verblüfft blieb sein Blick zunächst an dem Kind hängen, das der eine etwas ungelenk auf der Hüfte trug. Er wusste, dass die beiden zu Baerows Bande gehörten, deshalb setzte er schnell wieder eine unbefangene Miene auf. In die Angelegenheiten dieser speziellen Gäste mischte man sich besser nicht ein.

Die anderen Reisenden schenkten den Neuankömmlingen keine größere Beachtung, und Goljew und Irjan vermieden es, sich auffällig zu benehmen. Sie gingen zielstrebig an die Theke, wo der Wirt sie mit der üblichen Höflichkeit begrüßte, die er jedem Gast erwies. Ungewöhnlich für einen nichts ahnenden Beobachter war jedoch, dass die beiden Männer sogleich zu einer Tür neben dem Tresen geführt wurden und dort hinein verschwanden.

Im Riesenhaupt gab es eine zweite, kleinere Gaststube, die eigentlich vornehmen Reisegesellschaften und Festlichkeiten der Dorfbewohner vorbehalten war. Zurzeit hatte sich dort jedoch eine alles andere als noble Truppe breit gemacht.

An der schweren Tafel vor dem Kamin, der auf der anderen Seite der Wand in der Küche sein Gegenstück hatte, weil es sich um die einzige steinerne Konstruktion im ganzen Haus handelte, saßen fünf recht unterschiedliche Gestalten, die neugierig von ihrem üppigen Abendessen aufsahen, als die Tür aufging.

Baerow Sjepensen, genannt der Bär von Ouvenmas, hob grüßend sein Glas Meskinnes. Sein dunkles Haar war bereits mit stahlgrauen Strähnen durchsetzt, doch aus seinen groben Gesichtszügen sprachen noch immer Mut und Entschlossenheit. Auch seine Statur war seines Namens würdig. Hätte nicht stets ein Hauch von Wehmut seine Augen umspielt, wäre er selbst für seine Freunde ein Furcht erregender Geselle gewesen.

»Goljew! Irjan! Ihr kommt gerade recht. Setzt euch und probiert dieses köstliche Schaahles!«, lud er sie ein.

Goljew trat an den Tisch und setzte wortlos das Kind zwischen halb leeren Tellern und einer Schüssel Pilzeintopf ab. Irjan hielt sich lieber im Hintergrund. Er hatte damit nichts zu tun.

»Goljescha, Brüderchen, was soll das?«, fragte Baerow, während die anderen den kleinen Jungen anstarrten.

»Is’ das nich’ der Balg aus der Kaleschka?«, erkundigte sich eine junge, hagere Frau zu seiner Linken.

»Hast du ihn dort liegen gelassen, Jella?«, Goljews Blick verhieß nichts Gutes.

»Ja, natürlich hab ich das«, erwiderte die Frau mit trotzig vorgerecktem Kinn. »Ich bin doch nich’ seine Amme.«

»Was bist du nur für ein gefühlloses Weib«, schimpfte Goljew. »Wenn du schon Kinder sterben lässt, dann sorg wenigstens dafür, dass es schnell geht!«

»Dann holt sie’s eben jetz’ nach«, sagte der Räuber neben ihm achselzuckend.

»Wer den Jungen anrührt, kann schon einmal Boron opfern!«, drohte Goljew.

»Tatsächlich?« Der Krieger neben Jella zog belustigt eine Augenbraue hoch.

»Das gilt ganz besonders für dich«, stellte Goljew klar.

Woltan, der keinen Hehl daraus machte, dass er Baron von Ruckenau-Sonngrunden gewesen wäre, hätten die Wahrer der Ordnung nicht allen Anhängern Kors den Scheiterhaufen in Aussicht gestellt, winkte lässig ab.

»Ein Kind liefert wohl kaum einen Guten Kampf.«

»Was willst du jetz’ mit dem Jungen machen, Goljescha?«, schaltete Baerow sich wieder ein.

»Ich glaube, dass er dem Firun geweiht ist«, eröffnete Goljew der Bande. »Er hat drei Tage im Schnee gelegen, ohne dass ihm auch nur eine Zehe erfroren wäre. Raben, Krähen und Wölfe haben ihm kein Haar gekrümmt, und ich wurde zurückgeschickt, um ihn zu finden. Der Gott hält seine Hand über ihn.«

»Nich’ zu vergessen, dass er mit der bloßen Hand ’ne Maus fängt«, sagte Irjan vorsichtig in das betroffene Schweigen hinein.

Goljew seufzte.

»Er tut was?«, fragte Grimje, eine drahtige Frau, die einmal in früheren Zeiten ihr Geld als Söldnerin verdient hatte.

»Ich hab es selbst gesehen. Heut Morgen, als wir in diesem dreckigen Loch in Schossko beim Frühstück gesessen haben. Der Junge hockt bei unseren Satteltaschen auf dem Boden, da huscht diese Maus an der Wand entlang. Ihr wisst schon, wie Mäuse halt so sin’. Und der Kleine langt plötzlich mit der Hand hin, so schnell konnt ich gar nich’ gucken, und hat das Vieh am Schwanz gepackt«, berichtete Irjan eifrig. »Die Wirtin hat’s gesehen und sie ihm schnell abgenommen.«

»Mann, Irjan, wenn du uns verscheißerst ...«, regte Jella sich auf.

»Ich schwör bei allen Göttern!«, beteuerte Irjan.

»Wie dem auch sei«, wandte Baerow sich wieder an Goljew. »Willst du ihn im Firuntempel in Norburg abgeben?«

»Was sollte das bringen? Es gibt dort die meiste Zeit nicht einmal einen Geweihten«, lehnte Goljew ab. »Ich nenne ihn Firunjew und nehme ihn als meinen Sohn an.«

»Als deinen Sohn? Kannst du denn ein Kind aufziehen?«, höhnte Grimje. »Glaub ja nich’, dass ich das für dich mach! Küken sin’ was für Gänse.«

»Baerow, Väterchen, sprich ein Machtwort!«, forderte Jella.

»Ich kann es Goljew nich’ verbieten. Er is’ ’n freier Mann«, stellte Baerow achselzuckend fest. »Aber willst du ihn nich’ doch ’ner Amme geben? Vielleicht in unserem Winterlager, bei den Nivesen?«

»Damit die ihm ihren Aberglauben von den räudigen Wölfen beibringen?« Goljew schüttelte den Kopf. »Er stammt aus einer Kriegerfamilie und soll die Zwölfe verehren wie seine Ahnen. Ich habe meine Familie ebenso verloren wie er und werde ihm nun seine sein.«

»Das versteh ich«, behauptete Baerow. »Ich hab selbst ‘n paar stramme Söhne und Töchter im Ouvenmasschen und bin stolz auf jeden einzelnen. Auch wenn sie bei anderen Vätern aufwachsen.« Er lachte dröhnend.

»Na dann ... Auf den kleinsten Räuber, der das Bornland je bedroht hat!«, spottete Woltan und hob sein Glas.

»Möge er dem Henker immer vom Galgen springen!«, stimmte Grimje ein.

»Dann sollte er Henk heißen, damit er immer dran denkt«, johlte Jella.

»Henk? Das gefällt mir«, prustete Baerow. »Gebt Goljescha was zu trinken!«

»Auf Henk!«, riefen alle Räuber, und Goljew lächelte gequält dabei.

1. Kapitel

Bjaldorn, Ingerimm 371 BF

Fröstelnd beschleunigte Mikail seine Schritte. Obwohl die Frühlingssonne längst den letzten Nebel zwischen den Bäumen vertrieben hatte, war es am frühen Morgen im Schatten des Nornjawaldes immer noch so kalt, dass Mikails Atem weiße Wölkchen bildete. Über ihm gaben die dunklen Tannenzweige hier und da den Blick auf einen strahlend blauen Fetzen Himmel frei.

Prächtiges Wetter für eine herrschaftliche Jagd, dachte der Firungeweihte und lächelte grimmig. Seinetwegen hätte es in Strömen regnen dürfen, dann wäre ihm dieses Theater erspart geblieben. Andererseits hatte es keinen Sinn, eine lästige Aufgabe vor sich herzuschieben. Es machte ihm mehr Sorgen, dass er ein seltsames Gefühl von Unheil verspürte, seit er den Nornja betreten hatte. Als ob seine Instinkte ihm beständig Warnungen zuflüsterten, die jedoch zu leise waren, um sie zu verstehen.

Außerdem wurde er beobachtet. Mit dem frisch erlegten Rotpüschel über der Schulter, das zudem ungewöhnlich groß geraten war, interessierte sich vielleicht ein Luchs für ihn. Nein, sein Verfolger lauerte weiter oben. Mikail blickte auf.

»Krah!«

Der Rabe war ungewöhnlich groß für seine Art. Aus kleinen lebhaften Augen sah er den Geweihten neugierig an.

»Krah!«, machte er noch einmal.

Vergiss es! dachte Mikail. Das Kaninchen ist meine Beute. Er marschierte einfach weiter. Der Rabe flog über ihn hinweg und landete in einer Nornja-Eiche vor ihm.

»Krok, krok«, machte das Tier.

Mikail blieb wieder stehen und musterte den Raben noch einmal. Konnte es sein ...

»Du bist Kolkja, stimmt’s? Wie geht’s deiner Herrin?«, fragte er schließlich.

Der Vogel ruckte zweimal mit dem Körper auf und ab. »Krah.«

Mikail zögerte. Kolkja war der Vertraute Alinjas, einer Hexe, die ganz in der Nähe ihre kleine Hütte im Wald hatte. Der Rabe konnte zufällig allein hier umherstreifen, aber vielleicht wollte er den Jäger auch auf sich aufmerksam machen, weil Alinja etwas zugestoßen war. Mikail musste einen Umweg in Kauf nehmen, um bei der Hexe nach dem Rechten zu sehen, und er wurde in Bjaldorn erwartet, aber er beschloss, trotzdem einen Abstecher zu machen. Er respektierte Alinja, weil sie sich allein in der Wildnis behaupten konnte, und da es kaum andere Menschen gab, deren Gegenwart ihn nicht einfach nur störte, war die Hexe ihm eine kleine Verspätung wert.

Der Rabe Kolkja flog voran, als Mikail die Richtung zu Alinjas Behausung einschlug. Das kleine Häuschen duckte sich unter vier hohen Schwarzföhren, deren Stämme die vier Eckpfosten der Hütte bildeten. Die untersten Äste waren Bestandteil der eigenwilligen Dachkonstruktion, aus der eine dünne Rauchfahne aufstieg.

Alinja, die bereits wusste, wen ihr Vertrauter mitgebracht hatte, öffnete die niedrige Tür und blickte dem schlanken, aber breitschultrigen Jäger erfreut lächelnd entgegen. Sein offenes Gesicht mit den breiten Wangenknochen und den beinahe eckig geschnittenen Augen gefiel ihr ausgesprochen gut. Dazu die blonden, leicht gelockten Haare ... zu schade, dass er mindestens 20 Jahre jünger war als sie. Alinja mochte es noch so sehr bedauern, aber sie gab sich keinen Illusionen über ihre eigene Anziehungskraft hin, obwohl die Hexe mit ihren von silbernen Fäden durchzogenen, blauschwarzen Haaren alles andere als hässlich war. Sie hatte sich gut gehalten.

»So, da hat Kolkja mir Besuch mitgebracht«, stellte sie zufrieden fest. »Ich hatte gehofft, dass er dich findet.«

Mikail nickte. Eine umständliche Begrüßung hatte er noch nie gebraucht. »Hast du Schwierigkeiten?«, erkundigte er sich ohne Umschweife.

»Ich? Nein«, wehrte Alinja ab. »Ich wollte dich warnen. Als ich Wasser geholt habe, ist mir aufgefallen, dass die Tiere beunruhigt sind. Es liegt etwas in der Luft, etwas Schlechtes. Aber es hat nichts mit Magie zu tun, soweit ich es fühlen kann.«

Wieder nickte der Firungeweihte. »Wir haben wahrscheinlich dasselbe gespürt«, meinte er. »Ich werde die Augen offen halten.«

Sie sieht hager aus. Der Winter hat ihr mehr zugesetzt als sonst, dachte er bei sich. Es wunderte ihn nicht. Die schlechte Ernte im letzten Jahr hatte das Getreide teuer und rar gemacht. Alinja hatte für ihre Heilkräuter nicht dieselben Mengen eintauschen können wie gewöhnlich. Er nahm das Rotpüschel von der Schulter und hielt es der Hexe hin.

»Das kann ich nicht annehmen, Mikail«, lehnte sie ab. »Das sollte bestimmt dein Mittagessen sein.«

Mikail zuckte die Achseln. »Ich bin noch zu einer weiteren Jagd verabredet. Da wird schon etwas für mich abfallen«, brummte er und drückte Alinja das Wildbret einfach in die Hand, bevor er sich umdrehte, um davonzugehen.

»Danke«, rief sie ihm nach.

Der Jäger hob noch einmal grüßend seine Hand, dann setzte er sich im Dauerlauf Richtung Bjaldorn in Bewegung, um nicht allzu spät zu kommen.

Als Mikail kurz darauf gemesseneren Schrittes durch das Paavitor marschierte, wurde er an der Kreuzung, wo der Weg sich innerhalb der hölzernen Palisade zur Burg Bjaladorn, zum Dorf und zum Firuntempel verzweigte, bereits erwartet. Der Jäger erkannte die untersetzte Gestalt neben den beiden Pferden bereits von Weitem an ihrem gelblich-weißen Fellumhang. Elkholt, der Weiße Mann der Halle aus Kristall zu Bjaldorn, legte das Abzeichen seiner Würde nur in der allergrößten Sommerhitze ab. Der Pelz des Eisbären hatte ausgereicht, um zwei Umhänge zu fertigen, sodass Elkholt einen davon für wärmeres Wetter präpariert hatte. Das Leder war hauchdünn gegerbt und das Fell auf einen Finger Länge geschoren.

Der Weiße Mann musste nur einen kurzen Blick auf Mikail werfen, um zu wissen, dass der junge Firungeweihte eine weite Strecke gelaufen war. Das Gesicht war gerötet und der Atem noch nicht wieder völlig ruhig.

»Gab es Ärger?«, erkundigte er sich besorgt.

»Nein, ich bin nur aufgehalten worden«, antwortete Mikail.

Elkholt nickte, als sei damit alles gesagt. Es ging ihn nichts an, was Mikail tat, und im Grunde interessierte es ihn nicht einmal, solange es nicht die Belange Firuns betraf. Der junge Mann war alt genug, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, ganz so, wie Elkholt selbst es ihn gelehrt hatte. Der Weiße Mann zweifelte nicht daran, dass Mikail ein würdiger Nachfolger in seinem Amt sein würde, wenn die Zeit nahte.

»Ein Stallknecht hat mir diese Tiere von der Burg gebracht«, sagte er und deutete dabei auf die Pferde. »Es wird bald losgehen.«

Der jüngere Geweihte nahm die Zügel eines der Pferde entgegen und vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass am Sattel ein kurzer Jagdspeer befestigt war. Dann zogen Geräusche vom Bjaladorn her seine Aufmerksamkeit auf sich.

Man sollte nicht glauben, dass eine so laute Gesellschaft tatsächlich unterwegs ist, um zu jagen, dachte Mikail, während er dem Gefolge Bjalas, des Erben derer zu Bjaldorn, entgegensah. Der Klang eines Jagdhorns kündigte die Gruppe unüberhörbar an. Das Klappern der Hufeisen hallte von den Mauern wider, als die Reiter durch den unteren Torturm der Bjalaburg kamen. Zwischen den Pferden trabten mit wippendem Fell die hochbeinigen Bronnsoi, deren Pfoten kaum den Boden zu berühren schienen. Mikail schätzte die schlanken, braunweiß gefleckten Hetzhunde, weil sie kaum bellten. Ganz im Gegensatz zu den grauen, raubeinigen Fährtenhunden, die sich aufgeregt in die Leinen ihrer beiden Führer stemmten und ein ohrenbetäubendes, jaulendes Geläut zum Besten gaben.

Zwischen seinen erwachsenen Begleitern wirkte der vierzehnjährige Bjala wenig eindrucksvoll, aber Bjalas Vater, Baron Trautmann, war in einem Aufstand gegen die Herrschaft der Praiospriester für die Sache Rondras gefallen, und da seine Mutter schon bei seiner Geburt verstorben war, musste der Junge bereits früh die Pflichten seines Erbes wahrnehmen.

Natürlich ließen sich die Bjaldorner nicht von einem grünen Jungen regieren, aber sie waren in dieser Angelegenheit auch nicht gefragt worden. Der Wahrer der Ordnung in Festum hatte entschieden, dass Bjala einen Vormund erhielt, der die Baronie für ihn verwaltete und ihn zugleich im rechten Sinne erzog. Seine Gnaden, der Lichtbringer Illumian vom neugegründeten Tempel zu Festum, hatte jedoch für adlige Vergnügungen wie die Jagd wenig übrig, auch wenn sie – wie in diesem Fall – notwendig waren. So blieb es dem Weißen Mann und Mikail überlassen, den zukünftigen Baron im Waidwerk auszubilden. Bessere Lehrmeister hätte der Junge kaum bekommen können.

Auf Bjalas Gesicht mischten sich Vorfreude auf dieses Abenteuer und das Bemühen um eine würdige Miene, die seiner Stellung entsprach. Stolz hielt er einen blinkenden Jagdspeer, den er in einer Halterung am Steigbügel abstützte, damit sein Arm nicht müde wurde. Mit der anderen Hand führte er die Zügel.

Neben ihm ritt Vanjescha, Illumians Schülerin und rechte Hand. Die junge Frau hatte ihre traditionellen Novizengewänder für diese Angelegenheit gegen angemessene Reitkleidung getauscht und sah nun wieder aus wie die Junkerin, die sie vor ihrem Eintritt in die Kirche des Praios gewesen war. Ihr missmutiger Blick ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie nur an diesem Ausflug teilnahm, weil Illumian ihr dies ausdrücklich befohlen hatte.

Vervollständigt wurde die Jagdgesellschaft durch Bjalas Stallmeisterin, die das Horn geblasen hatte und mit Pfeil und Langbogen bewaffnet war, sowie die beiden Hundeführer, die ihre Jagdspeere fest auf den Rücken geschnallt trugen.

»Firun zum Gruß, meine Herren«, rief Bjala den Jägern über den Lärm hinweg zu, als er sein Pferd an der Kreuzung halten ließ.

Vanjescha schüttelte missbilligend den Kopf, sagte angesichts der grimmigen Mienen der Firungeweihten jedoch nichts dazu.

»Firun zum Gruß, Bjala«, erwiderte Elkholt, bevor er sich in den Sattel schwang.

»Übernehmt Ihr die Führung!«, ordnete der Junge an. »Mikail und Ihr, Ihr wisst sicher schon, wohin wir reiten müssen.«

»Der Vorfall ereignete sich auf den Weiden an der Letta«, erklärte der Weiße Mann. »Wir werden dort versuchen, die Spur aufzunehmen.«

Mikail setzte sich mit Elkholt an die Spitze des kleinen Trupps. Der Bauer Bosjew hatte ihnen berichtet, dass ein Waldlöwe am Ufer der Letta ein Kalb gerissen und fortgeschleppt hatte. Das war für den Mann nach diesem harten Hungerwinter ein schwerer Schaden und durfte sich nicht wiederholen. Die Jäger vermuteten, dass es sich bei der Raubkatze um einen alten Einzelgänger handelte, der sein Rudel an einen jüngeren Konkurrenten verloren hatte und nun allein nach leichter Beute suchte. Sie mussten ihn aufstöbern und erlegen, bevor er ein zweites Mal zuschlagen konnte.

Es erforderte kein großes Geschick, im saftigen Gras der Aue die Stelle zu finden, wo der Waldlöwe sein Opfer gepackt hatte. Die Halme waren niedergetrampelt und blutbespritzt. Die Fährtenhunde bekamen sofort die Witterung der Raubkatze in die Nasen und drängten unbändig, die Spur verfolgen zu dürfen.

Elkholt nickte den Hundeführern zu, die Fährte aufzunehmen. Die Tiere mussten die Köpfe nicht einmal dicht am Boden halten, um die Jäger in das Dunkel des Nornja zu leiten. Am Waldrand hielt das Unterholz die Reiter zunächst auf, aber dann wurden die Bäume dichter und ließen nicht mehr genügend Licht auf den Boden gelangen, um üppiges Gestrüpp zu nähren. Zwischen Baumwurzeln und Farnkräutern kam die Jagdgesellschaft wieder schneller voran.

Schweigend deutete Mikail im Vorbeireiten auf das halb abgenagte Skelett des Kalbes, das der Löwe nach seiner Mahlzeit zurückgelassen hatte. Wenn sie Glück hatten, schlief die Raubkatze noch in der Nähe.

Plötzlich bellten die Hunde noch wütender. Die Pferde blieben stehen und starrten mit aufgerissenen Augen und Nüstern in den Wald hinein. Mikail verwünschte die Hunde für ihren Lärm, der ihn daran hinderte, die Annäherung des Feindes zu hören. Die Reittiere zeigten ihm jedoch deutlich, aus welcher Richtung das Untier zu erwarten war. Alle Männer hielten ihre Jagdspeere umklammert und suchten mit den Augen das Gehölz ab.

Die Bronnsoi sahen den heranstürmenden Angreifer als Erste und stürzten sich ihm zwischen den Tannen und Föhren entgegen. Ein schauerliches Gebrüll übertönte das Bellen der anderen Hunde. Mikail runzelte die Stirn, während er sein Pferd vorwärtstrieb.

Das ist kein Löwe, schoss es ihm durch den Kopf. Dann hatte er keine Zeit mehr zum Denken.

Vor ihm brach ein riesiges Wesen durch die Zweige und doch konnte er kaum erkennen, wo das Wesen endete und der Wald begann. Es schlug mit zwei abgebrochenen Ästen so wild um sich, dass es wesentlich mehr Arme zu haben schien. Die aufgebrachten Hunde schüttelte es mühelos von seiner borkigen Haut ab, aber die Tiere gaben nicht auf und bissen immer wieder zu. Unter groben Wülsten und buschigen Augenbrauen waren die kleinen Augen der Kreatur kaum zu erahnen. Einzig der Mund war zwischen wild wuchernden Bartflechten nicht zu übersehen, da der Unhold ihn zu seinem wütenden Gebrüll weit aufriss.

Der Waldschrat fegte einen der Hundeführer mit einem unfassbaren Schlag zur Seite, als wäre der Mann eine Strohpuppe. Unter seinem anderen Knüppel ging ein Bronnsoi zu Boden und stand nicht wieder auf. Aus dem knorrigen, verwachsenen Körper ragte unbeachtet ein Pfeil der Stallmeisterin.

Elkholt und der zweite Hundeführer warfen gleichzeitig ihre Speere. Die Waffe des Weißen Mannes kam im falschen Winkel auf und prallte wirkungslos ab. Den Speer des Hundeführers schlug der Schrat aus der Luft und setzte zum Angriff auf Bjala und Vanjescha an. Die Novizin schrie den Jungen an, sich zurückzuziehen, und versuchte, ihr Pferd zwischen Bjala und den Waldschrat zu drängen. Das Tier war jedoch völlig panisch und schoss ein paar Sätze zu weit voran, bevor Vanjescha es wieder durchparieren konnte. Mikail legte seinen Speer ein wie eine Lanze und ritt eine entschlossene Attacke, während Bjala, seinen Speer vor sich haltend, schreckensstarr seinem Feind entgegensah.

Der Firungeweihte spürte gleichzeitig den Aufprall auf das Ungeheuer und wie ihn ein knüppelgleicher Arm streifte, bevor er durch die Wucht seines Angriffs aus dem Sattel gehebelt wurde. Instinktiv rollte er sich aus der Reichweite des Schrates, wobei ihm jedoch die Bronnsoi im Weg waren.

Elkholt hatte sich seinen Jagdspeer wieder vom Boden geangelt und rammte ihn nun der fast drei Schritt hohen Kreatur in den Rücken. Der Schrat ging röchelnd zu Boden, wobei er den Jungen und sein Pferd fast unter sich begrub. Mikail rappelte sich auf und erreichte den Erben von Bjaldorn als Erster. Bjala hielt sich keuchend die linke Seite, obwohl kein Blut zu sehen war.

»Praios sei Dank, der Junge lebt!«, rief Vanjescha, die zu Fuß herbeikam.

»Aber er ist verletzt«, dämpfte Mikail die Freude.

»Innere Verletzungen«, stellte Elkholt fest. »Das kann ihn immer noch töten.«

Mikail half Bjala aufzustehen, doch der Junge wäre wieder zusammengebrochen, hätte der Jäger ihn nicht gestützt.

»Herrin, dieser Mann stirbt!«, rief die Stallmeisterin.

»Ihr solltet nach dem Hundeführer sehen, Vanjescha«, riet der Weiße Mann. »Ich fürchte, er hat Euren Segen nötiger.«

Die Novizin eilte zu dem am Boden Liegenden.

Mikail spürte, wie der Junge neben ihm zitterte. Und wir sind so schlechte Heiler, bedauerte er. Unser Herr Firun hat uns andere Gaben bestimmt.

»Bring’ ihn zu Alinja!«, riet Elkholt leise. »Ich werde unsere zukünftige Priesterin ablenken. Es muss untersucht werden, ob hier Magie im Spiel war.«

Mikail nickte. Seit Generationen hatte kein Waldschrat das Abkommen gebrochen. Hinter diesem Angriff steckte womöglich mehr, als es den Anschein hatte.

Elkholt half ihm, den vom Schmerz benommenen Jungen zu sich auf sein Pferd zu nehmen. Mikail durfte nicht zu schnell reiten, um Bjalas Verletzungen nicht zu verschlimmern, aber er durfte auch keine Zeit verlieren. Der Junge konnte innerlich verbluten.

Alinja kam beim Klang des Hufschlags bereits aus ihrer Hütte gestürzt. Sie bekam selten Besuch, und wenn doch jemand auftauchte, handelte es sich meist um einen Notfall, bei dem ihre Heilkünste gebraucht wurden.

»Mikail! Das ist der kleine Bjala, nicht wahr? Was ist denn passiert?«

»Später«, wehrte der Jäger ab.

Sie betteten den halb bewusstlosen Jungen auf den weichen Waldboden, und die Hexe zog ihm Hemd und Weste hoch. Darunter kam ein breiter Streifen Haut zum Vorschein, unter der es bläulich-rot schimmerte. Alinja schloss kurz die Augen und sammelte sich für ihren Zauber. Dann spuckte sie in ihre Hand und verrieb den Speichel auf Bjalas Haut. Mikail verzog keine Miene. Die Hexe musste wissen, was sie tat.

Bjala stieß hörbar den Atem aus und entspannte sich ein wenig. Erst jetzt nahm er deutlich wahr, wo und bei wem er sich befand.

»Mütterchen Alinja«, sagte er lächelnd und setzte sich auf. »Ich danke dir. Es fühlt sich schon viel besser an.«

»Du bist immer noch in Gefahr. Ich konnte nur das schlimmste Unheil abwenden, nicht mehr«, mahnte die Hexe freundlich. »Treib es also nicht gleich wieder zu wild!«

»Nein, nein«, beteuerte der Junge, während er vorsichtig sein Hemd zurück in den Hosenbund stopfte. »Dazu tut es viel zu weh.«

Alinja setzte sich bequemer hin.

»Also?«, fragte sie und sah Mikail erwartungsvoll an.

Die Erleichterung wich aus dessen Gesicht, als er sich an den heftigen Kampf erinnerte.

»Ein Waldschrat hat uns angegriffen«, eröffnete er.

»Aber ...« Alinja verschlug es die Sprache.

»Das hat es seit einhundert Jahren nicht mehr gegeben, nicht wahr?«, fragte Bjala, ohne eine Antwort zu erwarten. »Mein Vater hat das Abkommen mit ihnen erneuert, wie es alle meine Vorfahren getan haben. Was glaubst du, Mikail? Sind sie böse, weil ich es noch nicht getan habe? Bin ich denn alt genug dazu?«

»Ich weiß nicht, was in diesen Schrat gefahren ist«, gab der Jäger zu. »Aber wir werden es herausfinden müssen.«

»Dass er ausgerechnet euch aufgelauert hat«, wunderte sich Alinja. »Er muss doch gewusst haben, wen er da angreift. Ich verstehe das nicht. Aber nun weiß ich, welches Unheil wir heute Morgen gespürt haben. Sind wir jetzt alle in Gefahr?«

Mikail stand auf.

»Wir müssen jetzt gehen«, erklärte er. »Die Praiospriester dürfen nicht erfahren, wohin ich Bjala gebracht habe.«

Der Junge sah ihn mit großen Augen an.

»Oh, natürlich, du bist eine Hexe«, wandte er sich dann an Alinja. »Du darfst es Illumian nicht verübeln. Er kennt dich nicht. Aber von mir wird er nichts erfahren. Ich stehe in deiner Schuld.«

»Schon gut, Junge«, sagte Alinja ernst. »Du kannst nichts dafür, dass die Priester die Töchter Satuarias hassen. Leb wohl!«

»Leb wohl, Mütterchen«, verabschiedete sich Bjala und ging zu Mikails Pferd.

»Du selbst bist unverletzt?«, erkundigte sich Alinja bei Mikail, dessen aufgeschürfte Wange leicht sein geringstes Problem sein konnte.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als der Jäger abwinkte.

»Sei vorsichtig!«, riet er der Hexe zum Abschied.

2. Kapitel

Henk erzählt ...

Den Winter diesmal in Paavi zu verbringen, war die schlechteste Entscheidung, die Woltan jemals getroffen hatte. Wegen der Verfolgung durch die Schergen der Priesterkaiser wimmelte es rund um die Häuser der Walfänger und Bernsteinsucher von Lagern der Norbarden. Ich weiß nicht, ob diese Händler wussten, wer wir waren. Bestimmt ahnten sie es. Die Bärenbande – wir wurden noch immer so genannt, obwohl Baerow seit vielen Jahren tot war – hatte an allen Handelsrouten zugeschlagen, seit Woltan zum Anführer aufgestiegen war. Baerow Sjepensen war ein Freund der Norbarden gewesen. Genau wie er wurden sie von Adel und Praioskirche gejagt und galten ihm daher als Verbündete. Vielleicht hatte er selbst einen ordentlichen Schuss Norbardenblut in den Adern gehabt.

Woltan, der sich trotz des Verlustes seines Erbes weiterhin als Baron von Ruckenau-Sonngrunden fühlte, hielt dieses fahrende Volk dagegen für heidnisches Ungeziefer, das man am besten erst ausplünderte und dann zertrat. Es lag auf der Hand, dass er, mit unzähligen Norbarden in die vom Winter fest umschlossene kleine Ansiedlung gepfercht, von Tag zu Tag gereizter wurde. Wir kannten seine Launen und sein dämonisches Wesen, aber gegen Ende Peraine wurde er unerträglich.

Ich war ein bevorzugtes Opfer seiner Grausamkeit, weil ich mich den Plänen widersetzte, die er für mich schmiedete, seit ich zum ersten Mal ein Schwert in der Hand gehalten hatte.

Eines Abends – der Monat Ingerimm war endlich angebrochen – saßen wir, wie fast jeden Abend in diesem längsten aller Winter, in der brechend vollen Schänke Walfluke. Mein Vater Goljew, der irre Stane und ich teilten uns einen Krug Meskinnes und würfelten um wertlose Kiesel. Ich wusste schon lange, dass Goljew nicht mein wirklicher Vater war. Eine Räuberbande ist wenig geneigt, einem Kind unangenehme Wahrheiten zu ersparen. Aber da ich keinen anderen Vater kannte und Goljew stets gut zu mir gewesen war, spielte diese Wahrheit für mich keine Rolle.

»Ha, haha, das sin’ drei Fünfen«, jubelte Stane und setzte sein verschlagenstes Lächeln auf. Das tat er immer, wenn er versuchte, falsch zu spielen, und hielt das wohl für besonders schlau. Ihm fiel überhaupt nicht auf, dass jeder mit Augen im Kopf sehen konnte, dass die Würfel nur zwei Fünfer und eine vier gezeigt hatten, bevor er sie schnell wieder in der Hand verschwinden ließ.

»Stane, lass den Quatsch! Du bescheißt«, sagte ich nachdrücklich.

»Nein, tu ich nich’«, behauptete er, obwohl seine Augen dabei in alle Richtungen schielten. Er konnte miserabel lügen.

»Ach, lass ihn doch«, meinte Vater gutmütig. »Stane hat gewonnen.«

»Her mit den Steinen!«, forderte Stane sehr zufrieden.

Grinsend schob ich einen rötlichen Kiesel zu ihm hinüber.

»Wenn das so weitergeht, machst du uns zu armen Schluckern«, neckte ich ihn.

Er grinste noch viel breiter zurück. Stane konnte man nicht böse sein. Er hatte sich vor einigen Götterläufen verirrt und war dabei zu weit ins Totenmoor geraten. Allen Befürchtungen zum Trotz hatte seine Familie ihn am nächsten Tag wiedergefunden. Seitdem war er jedoch nicht mehr wie andere Menschen. Was auch immer ihm in dieser Nacht begegnet sein mochte, es hatte ihm den Verstand geraubt. Niemand wollte ihn mehr bei sich haben, bis er der Bärenbande über den Weg lief.

»Der Stane hat aber auch ein unverschämtes Glück.« Duna zwinkerte verschwörerisch. Sie hatte einen fast leeren Teller Fischsuppe vor sich, den sie genüsslich mit einem Stück Brot auswischte. Obwohl wir täglich mehr zu spüren bekamen, dass die Lebensmittel in Paavi knapp wurden, war die magisch völlig unbegabte Tochter einer Hexe immer noch mollig.

»Henk!«, rief die alte Grimje vom Nachbartisch. »Du verstehst dich doch aufs Wetter. Was meinst du, können wir morgen endlich von hier verschwinden?«

»Ja, ich glaube schon. Den Wolken nach zu urteilen, wird es erst mal nicht mehr regnen«, prophezeite ich.

Es leuchtete mir nicht ein, dass Grimje nicht selbst das Wetter voraussagen konnte. Sie war so viel länger als ich mit der Bande durch die Weite des Nordens gezogen, durch die Grüne Ebene und die Brydia, von der Brecheisbucht bis nach Sewerien. Aber sie schien gar nicht auf die Natur zu achten. Für mich dagegen waren die Gesetzmäßigkeiten des Wetters unübersehbar.

Vielleicht brauchte es dazu ganz einfach die richtigen Lehrmeister, und die hatte ich in den vielen Winterlagern reichlich gehabt, die wir mit den Nivesen geteilt hatten, den Takku und den Lieska-Leddu.

»Na, endlich!«, rief Woltan und stand auf. »Dann sollten wir unseren letzten Abend hier gebührend feiern.«

Eine angetrunkene Norbardin stolperte und fiel gegen unseren Hauptmann. Voller Verachtung machte er einen Schritt zur Seite, aber die Frau klammerte sich an seinem Ärmel fest und grinste ihn an.

»Wo hast du dann dein’ Schnurrbart gelassen, Briederchen?«, fragte sie nuschelnd. »Du bist ja ganz nackt.«

Offensichtlich hielt sie Woltan wegen seines kahlrasierten Schädels für einen der ihren. Seine für Norbarden ganz untypische schwarze Kleidung nahm sie in ihrem Zustand wohl nicht mehr wahr.

Woltan stieß sie so grob zur Seite, dass sie gegen die Männer am Nebentisch krachte, die lauthals fluchten und sie weiterschubsten.

»He, wie gehst du mit meiner Schwester um?«

Ein hoch gewachsener Norbarde mit einer schmalen Hakennase baute sich bedrohlich vor Woltan auf. Unser Hauptmann musste zu dem Fremden zwar ein wenig aufsehen, war aber sehr viel muskulöser gebaut. Furchtlos erwiderte er den Blick des Mannes.

»So wie die Schlampe es verdient«, sagte er gelassen.

Ich wusste, was jetzt kommen würde. Woltans Geduld war am Ende. Die Norbarden hatten lange genug dieselbe Luft wie er atmen dürfen.

Die Faust des Fremden schnellte auf Woltans eiskalte Miene zu und landete in seiner blitzschnell erhobenen Handfläche.

»Lass uns das wie Männer austragen«, forderte er. »Mit dem Schwert.«

»Ganz wie du willst, Kassirosch«, antwortete der Norbarde wütend und riss seinen Säbel heraus.

»Ein Duell!«, grölte jemand mit norbardischem Akzent. »Macht Platz, Leite!«

Der Ruf wurde von anderen Gästen aufgenommen, Tische wurden beiseite gerückt. Auch Vater und ich standen auf und bugsierten Stane aus dem gefährlichen Bereich um die Kämpfer. Die Wirtin drängte sich durch die erwartungsvolle Menge.

»Macht das gefälligst draußen aus, ihr Taugenichtse!«, schimpfte sie. »Raus mit euch!«

Mehrere Norbarden stellten sich ihr in den Weg, hielten sie sogar fest und redeten abwechselnd schmeichelnd und anklagend auf sie ein.

Woltan schenkte dem Tumult um sich herum keine Aufmerksamkeit. Sein Gegner beobachtete verwundert, wie unser Hauptmann seinen Dolch zog und sich selbst die Haut auf dem Unterarm ritzte, bis ein paar Tropfen Blut hervorquollen.

»Herr der Schlachten, gewähre mir einen Guten Kampf«, bat er so laut, dass jeder im Raum es hören konnte.

Ich hörte das Raunen in der Menge, fühlte den Schauder, der sie durchrieselte. Ob jemand von ihnen schon einmal einen Anhänger Kors kämpfen gesehen hatte?

Woltan schob den Dolch seelenruhig in die Scheide zurück, dann hatte er sich ausreichend gesammelt.

»Neun für den Herrn der Tödlichen Streiche!«, brüllte er und riss sein Schwert so plötzlich hervor, dass der Norbarde vor Schreck zusammenzuckte.

Der Mann hatte keine Chance. Woltan brauchte sein Schlachtfest und bekam es. Er spielte eine Weile mit seinem Gegner, um den Rausch in die Länge zu ziehen, aber nach und nach fielen die entscheidenden Hiebe.

»Eins.«

»Zwei.«

Grimje und Stane, der es nicht besser wusste, zählten laut mit, und allmählich fielen etliche der gebannten Zuschauer ein. Im Gegensatz zu uns wussten sie ja nicht, welchem Ritual sie beiwohnten.

Ich sah, wie Woltan das Schwert mit beiden Händen fasste und zum letzten, gewaltigen Schlag ausholte. Der Krieger ignorierte die heransausende Waffe des Norbarden und führte seinen Hieb aus. Begleitet von einem vielstimmigen Aufschrei fiel der Säbel nutzlos zu Boden, als Woltans Klinge den Kopf seines Gegners sauber vom Rumpf trennte.

Einen kurzen Augenblick lang herrschte gespenstisches Schweigen im Schankraum. Dann brach ein niederhöllischer Lärm los. Die Schwester des Toten stieß ein schrilles Geheul aus. Die Norbarden brüllten Flüche und Kampfparolen und stürzten sich auf Woltan, während die restlichen Leute schreiend in alle Richtungen liefen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Goljew und mir genügte ein Blick, um uns darauf zu verständigen, dass wir uns Rücken an Rücken zur Tür durchkämpfen wollten. Zwei Schwerter glitten gleichzeitig aus ihren Scheiden und wurden abwehrend erhoben. Stane schüttelte die Fäuste nach allen Seiten und zischte: »Kommt nur, ihr grässlichen Dämonen! Ihr kriegt mich nich’.«

Um Woltan machte ich mir keine Sorgen. Er hatte genau die Art von Feier bekommen, die ihm am liebsten war. Grimje mochte alt sein, aber sie nahm die Herausforderung mit einem grimmigen Lächeln an. Duna zog den um sich boxenden Stane mit sich, während sie drohend ein Messer schwang. Schnell verlor ich Honuk, den kleinen Nivesen, und Meljow im Getümmel aus den Augen.

Es mochte nicht sonderlich rondragefällig sein, wie Vater und ich uns mithilfe von Tritten und Fausthieben zurückzogen, aber meine Gegner waren teils unbewaffnete, teils einfach panische Menschen, gegen die von einem ehrenvollen Kampf ohnehin keine Rede sein konnte. So setzten wir die Schwerter nur ein, wenn tatsächlich einer der erbosten Norbarden seine Axt nach uns schwang.

Inmitten dieses Durcheinanders leckte auf einmal eine schmale Flamme empor und züngelte nach den Dachbalken, bevor sie wieder schrumpfte und dafür in die Breite ging.

»Feuer!«, kreischte die Wirtin und irgendein Idiot goss einen Krug Schnappes über der Flamme aus, die daraufhin fauchend bis zur Decke sprang.

Niemand dachte jetzt noch ans Kämpfen. Jeder drängelte nur noch in Todesangst zur Tür. Die kleinen Fenster wurden eingeschlagen, und einige Norbarden benutzten sie, um kopfüber nach draußen zu hechten. Es dauerte nicht lange und schien doch endlos, bis auch ich die eisige Luft der nordischen Nacht in den Lungen fühlte.

»Gehen wir«, sagte Goljew müde. »Ich bin dieses Leben so leid.«

Wortlos folgte ich meinem Vater zu dem kleinen niedrigen Steinhäuschen mit dem Grasdach, das die Bärenbande von einem alten Fischer gemietet hatte. Wir zahlten immer für Verpflegung und Unterkunft, denn sonst hätten wir bald nirgendwo mehr bleiben können, und unsere Gastgeber fragten nie, woher das Geld und die Waren stammten.

Hinter uns erhellte der Schein der brennenden Walfluke die Dunkelheit. Wir blieben vor der Tür stehen, um dieses Schauspiel noch eine Weile zu beobachten, bis alle Mitglieder der Bande zurückgefunden hatten.

»Feuer, Feuer!«, rief Stane schon von weitem. »Das is’ der Drache. Gleich sin’ wir alle tot.«

»Halts Maul, Stane!«, schimpfte Duna. »Hier gibt’s keinen Drachen.«

»Doch: da.« Er deutete auf die Flammen, die aus dem Dach der Schenke in den Himmel loderten. »Feuer.«

Weitere dunkle Gestalten zeichneten sich vor dem hellen Licht ab. Die Bärenbande war wieder vollzählig.

»Bist du jetzt zufrieden, Woltan?«, fragte Vater und wies auf das brennende Gebäude.

Der Krieger zuckte die Achseln. Auf seinem Waffenrock glänzten frische Blutflecken.

»Ich habe die Lampe nicht umgeworfen«, erwiderte er nüchtern.

»Aber du musstest diesen Kampf vom Zaun brechen«, beharrte Vater. »Du wolltest einfach wieder einmal Blut sehen.«

»Goljew, du warst schon immer ein Narr«, schnaubte Woltan. »Ich habe Kor reichlich geopfert, das ist alles.« Er wendete sich mir zu. »Was ist mit dir, Henk? Wann wirst du endlich bereit sein, die Prüfungen abzulegen?«

»Mein Sohn wird dir niemals nachfolgen. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«, ereiferte sich Goljew.

»Er ist ein erwachsener Mann, oder nicht? Er kann mir selbst antworten«, sagte Woltan.

Sein brennender Blick fraß sich in meinen. Mein ganzes Leben schon verfolgten mich diese Augen bis in meine Albträume. Versuchte seine Stimme, mich zu verführen. Wissen, Wagen, Wollen, Wachen, Schweigen, Herrschen. Folge deiner Bestimmung, und lass dir Kors neunfingriges Mal in den Nacken brennen.

Vielleicht wäre ich, ein zitternder Junge vor dem mächtigen Krieger, schwach geworden, hätte mich Woltans Grausamkeit nicht so sehr abgestoßen. Wie oft hatte er mir beim Übungskampf mit dem Holzschwert die Rippen grün und blau geprügelt? Wie oft mir nur zum Spaß ein Bein gestellt, damit ich fallen lernte?

Ich atmete tief ein. »Mein Leben ist Firun geweiht. So habe ich es von meinem Vater gelernt, und ich will keinem anderen Herrn dienen.«

»Firun, Firun«, wiederholte Woltan abfällig. »Ein Mann mit deinen Reflexen ist verschwendet als Jäger. Du bist zum Kämpfen geboren. Das haben deine wahren Eltern dir mitgegeben.«

»Goljew ist mein Vater, und ich diene Firun«, beharrte ich.

»Ach ja?« Woltans Augen sprühten vor Zorn. »Was weißt du denn vom Dienst an Firun? Nichts! Du bist ein lausiger kleiner Räuber, mehr nicht. Beweise mir, dass du Firuns Mann bist! Leg dein Schwert ab, geh da raus und bring mir einen Eisbären, wenn du kannst! Vorher will ich dich hier nur noch als Anhänger Kors sehen, ist das klar?«

Vater und ich starrten ihn fassungslos an.

»Was soll das heißen, Woltan?«, fragte Grimje.

»Das heißt, was ich gesagt habe«, knurrte Woltan. »Entweder beweist er mir, dass er tatsächlich ein Jäger Firuns ist, oder er verlässt die Bande.«

»Das kannst du nicht machen«, widersprach Goljew.

»Ich bin der Hauptmann dieser Bande, oder etwa nicht?« Woltan blickte herausfordernd in die Runde.

Ich schüttelte die lähmende Angst ab. Ich war nicht darauf angewiesen, dass die anderen sich für mich einsetzten. Das musste ich aus eigener Kraft schaffen.

»Wie du willst«, sagte ich fest. »Ich komme wieder: mit einem Firunsbären oder gar nicht.«

3. Kapitel

Bjaldorn, Ingerimm 371 BF

Ohne die ganzen Hunde, Pferde und vor allem Menschen fühlte Mikail sich wesentlich wohler. Er konnte sich völlig auf seine Aufgabe konzentrieren, registrierte jedes beschädigte Blatt, jeden geknickten Zweig. Elkholt störte ihn dabei nicht. Der Weiße Mann verschmolz genauso mit dem Wald wie sein früherer Schüler. Die beiden Firungeweihten folgten der Fährte des Löwen, der noch immer die Weiden unsicher machte.

Bjala hatte zur Genüge bewiesen, dass er sich als zukünftiger Baron bemühte, seine Untertanen zu schützen. Nun brachten die Jäger es für ihn zu Ende. Auf die einzige Art, die ihnen richtig erschien: Auge in Auge mit der Gefahr.

Die Geweihten waren doppelt angespannt. Sie suchten nicht nur die Konfrontation mit der Raubkatze, sondern begaben sich dabei auch noch in die Nähe des toten Waldschrats, dessen Artgenossen mittlerweile sicher von diesem Kampf erfahren hatten. Niemand konnte wissen, wie sie reagieren würden. Jeden Moment konnten aufgebrachte Schrate heranstürmen, um ihren Freund zu rächen.

Die Jäger pirschten sich weiter in den Wald hinein. Hin und wieder zeigte ihnen ein leichter Tatzenabdruck oder umgetretenes Farnkraut, dass sie noch auf der richtigen Spur waren. Kein Windhauch reichte bis in das Halbdunkel des dichten Nornja. Im Geäst über den Geweihten zwitscherten Meisen. In der Ferne trommelte ein Specht. Andere Geräusche drangen nicht an ihre Ohren, sodass ihnen die eigenen, vorsichtigen Schritte ungewohnt laut erschienen.

Mikail stieg plötzlich ein scharfer Geruch in die Nase. Vor ihnen war der Boden von Krallen zerkratzt, aber der Löwenkot war noch klar zu erkennen.

»Das ist ganz frisch«, flüsterte Elkholt.

Mikail nickte. Die Raubkatze musste in unmittelbarer Nähe sein. Und dann sahen sie ihn.

Der alte Löwe lag dösend unter einer mächtigen Eiche. Ruckartig hob er den Kopf mit der beeindruckenden Mähne und sah den Jägern entgegen. Mikail lehnte seinen Jagdspeer an einen Baum, während der Löwe herzhaft gähnte, als stellten die Männer keine Gefahr dar. Die große Katze erhob sich widerwillig. Mikail und Elkholt legten Pfeile auf die Sehnen ihrer Bögen. Der Löwe blinzelte, dann fiel mit einem Mal alle Trägheit von ihm ab. Er sprang überraschend gewandt auf die Jäger zu, denen kaum Zeit zum Zielen blieb.

Mikail wartete nicht ab, ob er getroffen hatte, warf den Bogen fort und riss den Speer wieder an sich. Der Löwe warf sich auf ihn. Noch im Flug wurde die Raubkatze von Elkholts Waffe durchbohrt und landete in Mikails wartender Speerspitze. Auch die Pfeile hatten ihr Ziel gefunden. Das Tier war tot.

Seine Zeit war abgelaufen, dachte Mikail. Firun wird uns verzeihen, dass wir seine prächtige Kreatur erlegt haben.

»Wir sollten ihn ausweiden und später wiederkommen, um ihm das Fell abzuziehen«, meinte Elkholt, während er die Spitze seines Speers mit einem Lappen abwischte, den er dann an Mikail weiterreichte.

»Du willst mit Gobronn sprechen?«, fragte jener.

Elkholt nickte. »Wir müssen wissen, woran wir sind.«

Die Jäger schnitten die Bauchhöhle ihrer Beute der Länge nach auf, um die Eingeweide herauszulösen. Dann zogen sie den noch immer schweren Kadaver ein Stück von den Innereien fort und hofften, dass vorbeikommende Aasfresser sich zuerst über die zartere Mahlzeit hermachen und so das Fell unbeschädigt lassen würden.