DSA 124: Tie'Shianna - Florian Don-Schauen - E-Book

DSA 124: Tie'Shianna E-Book

Florian Don-Schauen

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Beschreibung

Die Städte der Hochelfen sind gefallen. Einzig Tie'Shianna ist geblieben - die Gleißende, Stadt des Erzes und Sitz des Hochkönigs Fenvarien. Doch die Truppen des Goldenen Gottes stehen vor den Toren. Bald wird sich das Schicksal der Hochelfen entscheiden: Wird das mächtigste aller aventurischen Völker untergehen? Verzweifelt kämpfen Elionai und der Hippogriffenreiter Iscalleon gegen die Goldene Horde. Doch ihr Kampf scheint aussichtslos zu sein, denn angeblich gibt es einen Verräter in den eigenen Reihen. Auf der Suche nach ihm geraten sie schließlich selbst unter Verdacht. Derweil versucht eine geheimnisvolle Elfe, die man "die Wissende" nennt, sich nach Tie'Shianna durchzukämpfen. Aber der Goldene hat den Trollkrieger Bortosch beauftragt, sie mit allen Mitteln aufzuhalten. Kann sie die Stadt rechtzeitig erreichen, um den Verräter zu entlarven?

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Biografie

Florian Don-Schauen schreibt seit 1993 für Das Schwarze Auge. ­Geboren in Coburg und aufgewachsen in Gießen, studierte er Querflöte in Frankfurt und wurde später zum C-Programmierer unter Unix ausgebildet. 1994 holte Ulrich Kiesow ihn zur Fantasy ­Productions GmbH, wo er nicht nur an DSA-, sondern auch an Shadowrun- und Earthdawn-Büchern und am Magazin WunderWelten mitarbeitete. Von 1997 bis 2008 war er einer der beiden Chefredakteure dieser Rollenspielwelt. Nach 14 Jahren Redaktionsarbeit machte er sich 2008 als freier Autor und Lektor selbstständig und gründete das Scriptorium Neanderthal XIII. Tie’Shianna ist sein zweiter DSA-Roman nach Das Ferdoker Pergament, das Anfang 2010 erschien.

Er lebt, liebt, liest und schreibt im Neanderthal in einem alten Bruchsteinhaus zwischen Düsseldorf, Wuppertal und Ratingen. Wenn er nicht arbeitet, spielt er Flöte oder keltische Harfe, trainiert im örtlichen Kyudo-Verein, trifft sich mit Freunden zum Rollenspiel, kümmert sich mit seiner Lebensgefährtin um fünf Chinchillas oder geht als Herold und Marktvogt auf Mittelaltermärkte.

Titel

Florian Don-Schauen

Tie’Shianna – Der Untergang der Hochelfen

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11061EPUB

Titelbild: Arndt DrechslerAventurienkarte: Ralph HlawatschLektorat: Maike HallmannBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.

DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant Fantasy Medienrechte GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-89064-140-9E-Book-ISBN 978-3-86889-856-9

In der Luft

Nicht weit von Tie’Shianna

»Iscalleon! Hinter dir!« Die Stimme erklang nur in seinem Geist, aber so laut und drängend, dass er erschrocken den Schuss verzog. Der Pfeil verfehlte den Gegner um mehrere Mannslängen. Als Iscalleon sich umschaute, auf was Odotheïon ihn aufmerksam machen wollte, entdeckte er am nächtlichen Himmel eine Riesenlibelle, die auf ihn zuhielt. Auf ihrem Rücken hockte ein Ameisenkrieger mit eingelegter Lanze, und er kam viel zu schnell heran, um noch auszuweichen.

Die Lanzenspitze zielte nicht auf Iscalleon, sondern auf seinen Hippogriff, aber die Zeiten, in denen solch unehrenhaftes Verhalten seinen Zorn erregt hätte, waren längst vorbei. Auch hier oben galt es nur noch, den Feind zu töten oder zumindest zu schwächen, und ein Hippogriff war viel wertvoller als sein Reiter, denn es gab nicht mehr viele dieser edlen Tiere in Tie’Shianna. Außerdem konnte ein Hippogriff ohne Reiter weiterfliegen – ein Elf ohne Reittier kaum.

Mit aller Gewalt riss er an den Zügeln und zwang Blauschwinge zu einem waghalsigen Wendemanöver. Wenn er dem Angriff nicht mehr entkommen konnte, würde er ihn parieren müssen – oder es wenigstens versuchen. Also lenkte er den Hippogriff genau auf die Lanze zu. Doch der Angreifer ließ sich nicht beirren und zielte weiterhin auf Blauschwinges Brust. Im letzten Moment gab Iscalleon dem Hippogriff mit einem Schenkeldruck das Signal, nach unten auszuweichen. Der Ameisenkrieger reagierte schnell. Als er erkannte, dass er das Reittier in keinem günstigen Winkel treffen würde, richtete er die Lanze auf Iscalleons Brustpanzer.

Der Elf versuchte, die Waffe mit dem gepanzerten Unterarm zur Seite zu schlagen, doch selbst seine magisch verstärkten Reflexe halfen ihm nicht. Schmerz explodierte in seiner Flanke, als die Lanze mit ungebremster Wucht gegen seine Rüstung prallte und ihn gegen die hohe Sattelstütze warf. Irgendetwas knackte und krachte, ihm schwanden die Sinne.

Als er wieder zu sich kam konnten nur Augenblicke vergangen sein. Er schmeckte Blut, und seine linke Seite fühlte sich taub an. Aber er lebte, die Rüstung hatte ihn gerettet. Er spuckte aus und blinzelte die Tränen aus seinen Augen, bevor er sich umsah. Blauschwinge hatte ihn weit nach unten getragen, heraus aus dem dichtesten Getümmel. Dennoch waren die Krieger unten auf dem Boden nicht viel größer als Spielfiguren auf einem Gorthan-Brett, selbst die gewaltigen Kriegswagen der Trolle wirkten von hier oben niedlich und harmlos. Brennendes Kriegsgerät, fauchende Feuerlanzen und magische Lichtquellen tauchten die Ebene vor den Mauern Tie’Shiannas in flackerndes Licht. Wie immer hatten die Elfen den Ausfall gegen ihre Belagerer in der Dunkelheit unternommen, denn nachts musste der Gegner ohne seine echsischen Truppen auskommen, die dann in Kältestarre fielen. Außerdem konnten Elfen bei Dunkelheit besser sehen als die meisten Wesen der Goldenen Horde.

Iscalleon sah Lariel, der seine Reiter in gestrecktem Galopp gegen eine kleine Einheit von Trollen führte, dicht gefolgt von den Einhörnern. Obwohl die grobschlächtigen Trolle einen berittenen Elfen um Armeslänge überragten, hatten sie Lariels Kindern des Windes nicht viel entgegenzusetzen. Kraftvoll schwangen sie Äxte und Hämmer, und doch ertranken sie nach wenigen Augenblicken in der Flut aus Pferden und Einhörnern.

Iscalleon wandte den Blick nach oben. Auch vor dem samtigen Blau des Nachthimmels sah er die gnadenlose Schlacht toben. Eigentlich war es die Aufgabe der Hippogriffenreiter, mit ihren Pfeilen Verwirrung unter den Trollen zu stiften, aber dann waren auf einmal die Libellenreiter aufgetaucht und hatten sie in einen bizarren Luftkampf verwickelt. So hatte er sich seinen ersten Kampf als Mitglied der Fliegenden Garde nicht vorgestellt.

Während er Blauschwinge antrieb, an Höhe zu gewinnen, entdeckte er die Libelle, die ihn angegriffen hatte. Offensichtlich war die Ameise zu der Überzeugung gekommen, dass die Taktik, die sie bei Iscalleon angewandt hatte, erfolgversprechend war. Sie hatte sich eine Position schräg über Seijia gesucht, die in schneller Folge mehrere Pfeile auf eine ochsengroße Wespe abschoss und das Verhängnis nicht bemerkte, das über ihr schwebte. Jetzt ging die Libelle in den Sturzflug über – die Wendigkeit dieser Flugwesen war beeindruckend. Wenn er nichts unternahm, würde der Angriff Seijia völlig ungeschützt treffen.

Für einen Schuss war der Höhenunterschied noch immer zu groß, also konzentrierte er sich auf Seijias Geist und warnte sie ebenso, wie Odotheïon zuvor ihn gewarnt hatte: »Seijia, Vorsicht! Libelle von schräg oben!«

Offensichtlich hatte sie seine Warnung vernommen, denn sie warf den Kopf herum und entdeckte den Angreifer. Sofort riss sie den Bogen hoch, drehte sich im Sattel und sandte dem Insekt einen Pfeil entgegen. Das Geschoss traf genau zwischen die angriffslustig geöffneten Mandibeln der Libelle und durchschlug ihren Kopf. Im Todeskrampf krümmte sich das Insekt zusammen, nur sein Schwung trieb es weiter auf Seijia zu. Der Ameisenkrieger ließ die Lanze fallen und stieß sich mit einer Kraft, die Iscalleon ihm nicht zugetraut hätte, vom Rücken der Libelle ab. Seijia sandte ihm einen Pfeil entgegen, traf aber nicht. Im nächsten Augenblick rammte die Ameise sie und klammerte sich an ihr fest. Das plötzliche Gewicht warf Seijias Hippogriff aus der Bahn und ließ ihn taumeln.

Wenn der Angreifer gehofft hatte, Seijias Reittier für sich zu erobern, gelang ihm das nicht. Zwar riss er die Elfe aus dem Sattel, aber sie ließ nicht zu, dass er selbst sich halten konnte. Aneinandergeklammert stürzten beide in die Tiefe, während sich der Hippogriff flatternd fing und verwirrt seinen Vogelkopf schüttelte.

Im Sturz versuchte der Ameisenkrieger Seijia zu beißen, aber sie stieß geistesgegenwärtig ihren Dolch zwischen die gefährlich glänzenden Kiefer. Iscalleon lenkte Blauschwinge den beiden Stürzenden hinterher und überlegte fieberhaft, wie er seiner Kameradin zu Hilfe kommen konnte. Es war ein stummes und verzweifeltes Kräftemessen, denn die beiden fielen immer schneller dem Boden entgegen. Und so steil der Sturzflug seines Hippogriffs auch war, Iscalleon konnte nichts tun.

Da sah er, wie die Elfe mit der freien Hand einen Pfeil aus dem Köcher zog, ihn mit aller Kraft in ein Ameisenauge rammte und bis zur Befiederung hineintrieb. Doch auch im Tod umklammerte die Ameise sie noch, und Seijia musste sich mit Gewalt aus den Armpaaren befreien. Sie stieß sich von dem verkrümmten Körper ab, und während die Ameise weiter stürzte, bremste sich ihr Flug ab, bis sie schwerelos in der Luft schwebte. Iscalleon lenkte Blauschwinge in einem Bogen zu ihr, flog direkt unter ihr hindurch und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Es war, als würde er im Vorbeireiten einen reifen Apfel von einem Zweig pflücken, er konnte Seijia einfach hinter sich herziehen. Er lächelte ihr zu. »Federleicht«, sagte er anerkennend.

Sie nickte: »Diesen Zauber solltest du auch lernen. Er kann dir manchmal wirklich den Tag retten.«

***

Über der Zentaurenebene nördlich des Schlangenflusses

Bortosch beugte sich weit über die Reling und blickte in die Tiefe. »So filigran, so zerbrechlich«, brummte er. »Und so ahnungslos.«

Neben ihm schnaubte sein Sohn Tarbasch amüsiert. »Ja, man könnte fast Mitleid bekommen.«

Bortosch nickte, ohne ihn anzusehen. »Es ist sehr einfach, Elfen zu unterschätzen. Schon manch ein junger Troll hat diesen Fehler gemacht. Und keine Gelegenheit gehabt, ihn zu bereuen.«

Er wusste, dass sein Sohn jetzt zornig auf der Lippe herumkaute, wie er es immer tat, wenn er zurechtgewiesen wurde. Aber wenn Tarbasch es jetzt nicht lernte, würde er es vielleicht nie mehr lernen.

»Und wir sind sicher, dass es das richtige Schiff ist?« Tarbasch schien es eilig zu haben, das Thema zu wechseln.

»Die Seherin hat von einer ›Wissenden aus dem Norden‹ gesprochen, die ›über den Himmel wandelt, um die letzte Stadt der Elfen zu retten‹. Und das ist seit Wochen das erste Elfenschiff, das hier vorbeikommt.«

»Die Richtung stimmt«, ergänzte Tarbasch und deutete auf das Grenzgebirge im Süden, auf das das Wolkenschiff zuhielt. Dahinter erstreckte sich das Reich der geschuppten Völker, und irgendwo dort lag auch die Elfenstadt.

Bortosch richtete sich auf. »Es ist so weit.«

Hinter ihm war gut ein Dutzend kopfgroßer Felsbrocken auf dem steinernen Schiffsdeck aufgehäuft. Er ergriff einen davon, und Tarbasch tat es ihm gleich. Sie schleppten die Felsen zur Reling und schauten noch einmal nach unten. Bortosch nickte, und gleichzeitig ließen sie die Steine in die Tiefe stürzen. Während Tarbasch schon den nächsten holte, beugte sich Bortosch vor und beobachtete, was geschah. Noch bevor der Stein einschlug, ertönte ein Alarmruf. Dort unten war jemand aufmerksamer, als Bortosch gedacht hätte. Vielleicht wären sie ja würdige Gegner in einem ehrlichen Kampf gewesen, aber Horg hatte darauf bestanden, die Angelegenheit auf diese Weise zu beenden. Es war eines Kriegers unwürdig, aber Bortosch musste sich den Anweisungen des Priesters beugen, auch wenn es ihn mit Abscheu erfüllte, Befehle von einem Menschen entgegenzunehmen.

Fast gleichzeitig schlugen die beiden Steine auf dem Holzdeck des Elfenschiffs auf, der eine in der Nähe des Masts, der andere nicht weit von der Ruderpinne. Holztrümmer spritzten in alle Richtungen, der Steuermann wurde getroffen und stürzte aufs Deck. Panik brach an Bord aus, die Elfen schrien mit ihren dünnen, schiefen Stimmchen durcheinander, liefen herum und deuteten immer wieder nach oben. Da das Trollschiff hinter Illusionszauberei verborgen war, musste es für sie so aussehen, als seien die Steine direkt aus den Wolken gefallen. Wieder nickte er Tarbasch zu, der den nächsten Felsblock über die Brüstung wuchtete. Kaum hatte der Stein das Schiff verlassen, gellten wieder Warnungen über das Deck des Elfengefährts. Eine Elfe mit einem metallisch glänzenden Handschuh war ans Ruder gesprungen und versuchte mit einem verzweifelten Manöver, dem Stein auszuweichen, doch bei aller Wendigkeit, die den Wolkenschiffen nachgesagt wurde, war sie doch nicht schnell genug. Im letzten Moment hechtete sie beiseite, dann schlug der Stein im Heck ein und zertrümmerte das Ruder, das sich vom Schiff löste und in die Tiefe stürzte.

»Jetzt haben wir sie«, brummte Bortosch und holte sich auch noch einen Felsbrocken. Ein manövrierunfähiges Schiff war einfache Beute – eigentlich zu einfach. Nach vier weiteren Treffern begann das Schiff zu sinken.

»Horg hat recht gehabt«, sagte Bortosch. »Sobald die Struktur erst einmal ausreichend beschädigt ist, kann der Zauber es nicht mehr in der Luft halten.«

Tarbasch schickte dennoch zwei weitere Steine hinterher, von denen einer traf und den Sinkflug weiter beschleunigte. »So etwas kann niemand überleben«, triumphierte er, als er dem trudelnden Wolkenschiff hinterherblickte. »Oder, Vater?«

Bortosch brummte. »Wir können uns nicht sicher sein. Elfen sind immer wieder für Überraschungen gut.«

Wie zum Beweis erhob sich ein Vogel vom Deck des Elfenschiffs und begann es auf seinem Weg in die Tiefe zu umkreisen. Ein Falke? Er war schon recht weit weg, sodass Bortosch nicht ganz sicher war. Er mochte es nicht beschwören, aber er glaubte, die Spitze der linken Schwinge hell im Sonnenlicht glänzen zu sehen.

»Sinkflug«, rief er zum Steuermann hinüber. »Wir müssen uns das Wrack anschauen und nachsehen, ob die Sehende an Bord ist.« Aber er erzählte niemandem von seinem unguten Gefühl.

***

Im Nurti-Tempel von Tie’Shianna

Vorsichtig ließ sich Iscalleon ins heiße, exotisch duftende Wasser gleiten. Sein rechter Arm war mit juckenden Pusteln übersät, Andenken an den Moskitoschwarm, der kurz vor dem Rückzug über ihn hergefallen war. Wirklich schmerzhaft war aber nur die Prellung an seiner linken Flanke. Ohne die Rüstung hätte er den Angriff des Ameisenkriegers kaum überlebt – und ohne die hohe Rückenlehne des Sattels, über die er sich von nun an nicht mehr beschweren würde. Ja, sie schränkte seine Beweglichkeit ein, aber ohne sie hätte der Aufprall ihn bestimmt vom Rücken des Hippogriffs geschleudert.

Er schloss die Augen und genoss die heilende Wirkung des Wassers. Die Haut kribbelte, während die Pusteln sich glätteten. Gleichzeitig richteten sich mehrere Rippen und rutschten in ihre Position – bei allem Schmerz war ihm nicht bewusst gewesen, wie viele Knochen bei dem Aufprall gebrochen waren.

Zu zwölft waren sie in die Schlacht gezogen, neun waren zurückgekehrt – seine erste Schlacht als Mitglied der Fliegenden Garde war eine der verlustreichsten seit Monaten gewesen. Immerhin hatte Odotheïon ihm versichert, dass das nicht sein Fehler war. Niemand hatte mit dem Auftauchen der Insektenkrieger gerechnet. Die Feinde wurden von Tag zu Tag zahlreicher und schlagkräftiger, die Situation der Stadt verzweifelter. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, würde es Tie’Shianna ebenso ergehen wie Ovilliana, Simyala und all den anderen Städten.

Die Lieder, die über den heroischen Kampf hoch oben in den Lüften gesungen wurden, verherrlichten das verzweifelte Schlachten genauso wie die angeblichen Heldentaten am Boden. Dennoch erfüllte es ihn mit großem Stolz, dass König Fenvarien ihn in die Fliegende Garde berufen hatte. Und wie es war, auf dem Rücken eines Hippogriffs durch den Wind zu reiten und das Schlachtfeld tief unter sich zu lassen, das würde er nie vergessen. Selbst wenn die Welt in den nächsten Tagen unterginge, er würde auf dem Rücken eines edlen Tiers hoch in der Luft sterben.

Er seufzte wohlig. Von diesem geheiligten Wasserbecken hatte er bisher nur in Erzählungen gehört. Es bildete das Zentrum des großen Nurti-Tempels, und nur Auserwählte erhielten Zutritt. Bisher hatte er nicht gewusst, dass ihn die Aufnahme in die Fliegende Garde zu einem Auserwählten gemacht hatte.

Der Saal war kreisrund, darüber wölbte sich eine Kuppel aus lebenden Pflanzen: Unterschiedlichste Bäume aus allen Regionen des Kontinents bildeten mit ihren teilweise meterdicken Stämmen die Pfeiler, ihre Kronen neigten sich nach innen und formten so das Dach. Zweige und Äste waren mit Schlingpflanzen und Ranken so eng verflochten, dass weder Wind noch Regen sie durchdringen konnten. Blüten in den prächtigsten Farben, manche so groß wie Wagenräder, erfreuten das Auge, und Früchte und Nüsse in allen Stadien der Reife hingen schwer von den Ästen und verrieten, wessen Domäne dieser Tempel war: Nurti war die Göttin des Lebens und Gedeihens. Vögel, Insekten und Schmetterlinge schwirrten umher, es summte und sang in einem fort.

Den größten Teil des Raums nahm das Wasserbecken ein. Nurtis heilkräftiges Wasser sprudelte aus dem großen Füllhorn, das die überlebensgroße Statue in der Mitte des Beckens in den Armen hielt. Diese Statue unterlag einer ständigen Metamorphose – mal war sie ein junges Mädchen, mal eine Elfe in der Blüte ihrer Jahre und manchmal auch eine Schwangere. Iscalleon vermochte nicht zu sagen, aus welchem Material sie gefertigt war, am wahrscheinlichsten erschien ihm irgendeine fremdartige Holzsorte, von Nurti auf wundervolle Weise mit göttlicher Macht erfüllt.

Auf einem kleinen Podest neben dem Becken saßen drei Musikanten und bereicherten das Klanggemisch aus Wasserplätschern, Vogelgesang und Bienensummen mit Harfenarpeggien und ornamentalen Flötenmelodien, wobei sich ihre Musik harmonisch in die natürlichen Klänge einfügte, als sei sie ein Teil davon.

Zärtliche Hände legten sich um Iscalleons verspannte Schultern und begannen sie behutsam zu massieren. Er blickte sich um und sah eine Menschenfrau mit dunklem Haar und einer vorwitzig spitzen Nase. Freundlich erwiderte er ihr Lächeln und nickte ihr zu. Für eine Angehörige des Menschenvolks war sie ganz ansehnlich, aber wie alle Mitglieder dieser Rasse zu grobschlächtig, um wirklich als schön zu gelten. Die Wangenknochen der Menschen waren zu breit, die Augen zu klein, die Ohren nicht der Rede wert, ihre Glieder eher stämmig als elegant, ihre Stimmen rau und ihre Sprache eintönig. Noch dazu waren Menschen so kurzlebig, dass es sich selten lohnte, sich ihre Namen einzuprägen. Immerhin waren die Hände dieser Frau so geschickt, dass er sich der Massage hingeben konnte.

Ein vielstimmiges »Hoch, Fenvarien!« riss ihn aus der Entspannung. Der hohe Elfenkönig hatte den Badesaal betreten, begleitet von seinen engsten Vertrauten. An seiner Seite ging Niamh, von der man sich zu Recht erzählte, sie sei die schönste Elfe diesseits des Grenzgebirges. Im Gegensatz zu den anderen Elfen aus Fenvariens Gefolge trug sie ein sehr schlichtes Kleid aus schmucklosem, weißem Stoff, über den ihr leuchtend blondes Haar wie eine goldene Flut bis zu den Kniekehlen herabfloss. Neben ihr verblasste selbst der Hochkönig, von dem Iscalleon bisher geglaubt hatte, seine Ausstrahlung müsse jeden vor Respekt verstummen lassen, der ihn sah. Direkt hinter ihnen gingen Amariel, Fenvariens jüngste Tochter, fast noch ein Kind, und ihr persönlicher Leibwächter Tharkath, der niemals von ihrer Seite wich. Es hieß, Fenvarien habe Amariel zu seiner Nachfolgerin erkoren, der zukünftigen Hochkönigin, aber noch war sie viel zu jung und unerfahren, um ein wichtiges Amt ausfüllen zu können.

Dahinter kamen Oisin der Zaubersänger, der als der mächtigste lebende Zauberer galt, und die hochgewachsene Oberpriesterin der Zerzal, Dianissa, die auch Anführerin der Zerzalgarde war. Es folgten Lariel der Reiterfürst, der die Lederrüstung der Kinder des Windes trug, und als einzige Kurzlebige in einer so wichtigen Position die Amauna Sconjis. Bisher hatte Iscalleon noch nie mit Katzenmenschen zu tun gehabt, aber er musste zugeben, dass Sconjis beachtliche Würde und Majestät ausstrahlte.

Mit ein wenig Abstand kamen weitere Mitglieder des Hofstaats herein, Berater, Würdenträger und verdiente Kämpfer. In diese Gruppe hatten sich ebenfalls einige Nichtelfen gemischt: ein weiterer Amaunir, zwei Menschen, das Einhorn Kershwiki und nicht zu vergessen Spico, die geflügelte Katze, von der Iscalleon schon oft gehört hatte.

Für viele dieser Leute war es im Gegensatz zu den Hippogriffenreitern nichts Besonderes, diesen Raum zu betreten. Im Gegenteil: Ihre Anwesenheit galt als besondere Ehrung der Kämpfer, die hier gefeiert wurden. Vor allem die Würdenträger machten in der Regel keinen Hehl daraus, dass sie wenig von Elfen hielten, die sich auf irgendeine Weise körperlich betätigten. Nach ihrer Auffassung waren die Elfen das Lieblingsvolk der Götter, weil sie dank ihrer geistigen Fähigkeiten allen anderen weit überlegen waren. Also entsprach einzig dem Idealbild, wer seine Zeit mit dem Ersinnen von Philosophien und theoretischen Überlegungen verbrachte. Körperliche Arbeit in jeglicher Form hielt einen davon ab, seinen geistigen Horizont zu erweitern, und so standen arbeitende Elfen im Status kaum über den Kurzlebigen.

Allerdings hatten die letzten Jahre diese Anschauung etwas aufgeweicht, und immer mehr Elfen erkannten an, dass besonders fähige Zauberer, hochrangige Priester und verdiente Kämpfer ebenfalls einen gewissen Respekt verdienten, allen voran natürlich hohe Feldherren wie Lariel oder Oisin, die in der Tradition der alten Kriegerfürsten standen.

Die Neuankömmlinge wurden von Priesterinnen und Dienern umschwärmt, die ihnen aus den Kleidern halfen. Wenig später hatten sich mehr als vierzig Personen in dem großen Bassin eingefunden, darunter über ein Dutzend Sternenträger, wie Iscalleon erstaunt feststellte. So viele dieser von den Göttern Gesegneten hatte er noch nie auf einem Fleck gesehen.

Nicht alle Ankömmlinge nahmen an dem Bad teil. Sconjis und ihr Begleiter hatten sich neben dem Becken auf einem großen Stapel reichverzierter Kissen niedergelassen, denn sie waren wasserscheu, ebenso das Einhorn Kershwiki, das zwar Bäder liebte, aber nicht das heiße und erdig-trübe Wasser des Tempelbeckens. Spico saß in lichter Höhe auf einer breiten Astgabel in der Wand und gab die spöttischen Kommentare von sich, für die sie so berüchtigt war. Die beiden Menschen hingegen waren auch ins Wasser gestiegen.

Iscalleon betrachtete sie durch halb geschlossene Augen. Beide hatten dunkelbraunes, schulterlanges Haar und kantige Gesichter. Der Mann war etwas größer als die Frau, wenn auch immer noch kleiner als die meisten Elfen. Breite Schultern und muskulöse Arme zeichneten die beiden als Kämpfer aus. Selbst bei den kräftigsten Elfen wölbten sich die Muskeln nie so sichtbar unter der Haut. Es verlieh den Menschen etwas Exotisch-Barbarisches.

Iscalleon erinnerte sich dunkel daran, dass sie Fürsten eines alliierten Menschenstamms waren, aber ihre Namen wollten ihm nicht einfallen. Er konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass Fenvarien manche Kurzlebige wie Gleichberechtigte behandelte. Über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende waren die Elfen die herrschende Rasse gewesen, die den anderen Völkern die Errungenschaften der Zivilisation nahegebracht hatten. Nur die Tatsache, dass die Elfen ohne Hilfe anderer Völker nicht gegen die Goldene Horde bestehen konnten, hatte sie dazu gezwungen, sich auch unter den Kurzlebigen Verbündete zu suchen. Und um diese Bündnispartner bei Laune zu halten, tat man so, als betrachte man sie als gleichwertig.

Das beste Beispiel für den neuen Umgang mit Nichtelfen war allerdings Sconjis. Früher war das Verhältnis zwischen Elfen und Katzenmenschen immer angespannt gewesen – vermutlich weil die Amaunir wie eine Verkörperung der Todesgöttin Zerzal daherkamen. Aber als Sconjis vor einigen Jahren mit mehreren Dutzend hervorragender Kämpfer in Tie’Shianna eingetroffen war und ihre Hilfe gegen die Goldene Horde angeboten hatte, hatte Fenvarien sie behandelt wie eine elfische Heerführerin, und inzwischen gehörte die Katzenfrau zu seinem engsten Beraterstab. Allerdings war das ein vorübergehendes Zugeständnis, denn von Jahr zu Jahr wurden ihre Bewegungen schwerfälliger, das Fell grauer, die Augen trüber.

»Ihr seht aus, als könntet Ihr einen Schluck Nektar vertragen.«

Iscalleon schreckte aus seinen Gedanken und wandte den Kopf. Am Beckenrand stand ein weiterer Kurzlebiger, wie Sconjis war auch er eine eigenartige Mischung aus Elf und Tier: Bocksbeine, die in gespaltenen Hufen endeten, ein dicht behaarter Unterleib und kleine Hörnchen, die aus wild gelocktem Haar ragten, verliehen diesem Wesen etwas Wildes, aber zugleich Schelmenhaftes.

»Gut erkannt, Faun«, sagte Iscalleon und nahm den kristallenen Becher, den der Diener ihm grinsend hinhielt. Der Menschenfrau bedeutete er mit einer kurzen Geste, dass er ihre Dienste nicht mehr benötigte. Sie nickte unterwürfig und ging zu Seijia weiter, die neben ihm am Beckenrand lag.

»Wenn Ihr erlaubt: Mein Name ist übrigens Tibolo«, sagte der Faun. Wie alle Kurzlebigen benutzte er das primitive Isdira, das zwar an die elfische Hochsprache angelehnt war, aber ungleich gröber und facettenärmer war. Schon rein anatomisch waren nur Elfen in der Lage, das Asdharia hervorzubringen, war es dazu doch notwendig, seine Worte in zwei Tonhöhen gleichzeitig erklingen zu lassen. Außerdem waren viele wichtige Elemente dieser Sprache in der Melodie und den Abständen zwischen den Tönen verborgen, und kaum ein nichtelfisches Wesen war musikalisch genug, diese Feinheiten auch nur zu bemerken.

Iscalleon brummte zufrieden und schwenkte den Becher. Warum stellte sich der Faun vor? Erwartete er wirklich, dass Iscalleon sich diesen Namen merken würde?

Die Flüssigkeit im Kristallbecher war golden und schwappte zäh hin und her. Er genoss kurz den würzigen Duft, bevor er daran nippte. Seit die Stadt belagert wurde, war der Honig der Dschungelbienen, der für die Herstellung dieses Nektars nötig war, eine Rarität. Kundig ließ er die scharf-süße Flüssigkeit mehrmals durch den Mund kreisen, bevor er schluckte und mit einem Seufzer kundtat, wie wohl ihm das tat. »Sag mal, Seijia«, wandte er sich an seine Nachbarin, die die Dienste der Menschenfrau sichtlich genoss. »Du kennst dich doch etwas besser mit Fenvariens Gefolge aus, nicht wahr?«

Seijia gab einen weiteren Seufzer von sich, den er als Zustimmung interpretierte.

»Kannst du mir sagen, wer die dunkelhaarige Schönheit ist, die dort drüben gerade ins Wasser steigt?«

Seijia öffnete ein Auge. »Das da? Das ist Elionai. Aber du musst blind sein, wenn du sie zwischen all den anderen für eine Schönheit hältst.« Sie stöhnte genießerisch, weil die Masseurin eine besonders verspannte Stelle in ihrem Nacken bearbeitete. »Sie ist eine Tochter Niamhs, aber das Aussehen hat sie wohl leider von ihrem Vater geerbt. Und sie gilt als eigenwillig.«

Iscalleon nickte versonnen. Er hatte diese Elionai schon mehrmals in der Nähe von Lariel gesehen, obwohl er nicht genau zu sagen vermochte, warum sie ihm aufgefallen war. Ihr Gesicht war eher markant als schön. Vielleicht erinnerte sie ihn ein wenig an seine Schwester, die bei einem Überfall der Unnennbaren getötet worden war, als er fast noch ein Kind gewesen war.

»Elionai ist eine ganz besondere Frau, will ich meinen«, raunte ihm der Faun ins Ohr, der sich verschwörerisch zu ihm heruntergebeugt hatte. Offensichtlich besaß er nicht nur die Dreistigkeit, sich in eine Unterhaltung zwischen Elfen einzumischen, sondern verstand sogar ein wenig Asdharia, was für einen Kurzlebigen erstaunlich war. »Sie reitet seit zwanzig Jahren mit den Kindern des Windes. Es heißt, sie sei Lariels beste Schützin und könne einer Fliege auf zweihundert Schritte einen Flügel abschießen.«

Iscalleon drehte sich so weit, dass er dem Faun ins Gesicht blicken konnte. »Sag mal, Faun, bist du ein Tempeldiener? Oder gehörst du zu einem der hohen Gäste?«

»Oh, sollte ich mich noch nicht vorgestellt haben?«, erwiderte der Faun. »Verzeiht diese Unachtsamkeit. Man nennt mich Tibolo.«

Iscalleon runzelte die Stirn. Wollte sich dieser Faun über ihn lustig machen? Sein Grinsen war schwer zu deuten, zumal sich die Mimik solcher Wesen oft von der der Elfen unterschied.

»Und ich gehöre zur Dienerschaft des Reiterkönigs Lariel«, sprach er weiter.

Iscalleon beschloss, nicht auf die Unverfrorenheit zu reagieren. Vielleicht wusste der Kerl einfach nicht, wie er sich zu benehmen hatte, und weil Iscalleon das selbst immer wieder passierte, wollte er gnädig sein.

»Und sie ist eine Sternenträgerin«, ergänzte Tibolo bedeutungsvoll.

»Das ist nicht zu übersehen.« Das fünfzackige Geburtsmal prangte deutlich auf ihrem Schlüsselbein. Es zeichnete sie als jemanden aus, für die die Götter ein besonderes Schicksal vorgesehen hatten. Viele Legenden rankten sich um die Sternenträger, und auch wenn sie mit Vorsicht zu genießen waren wie alles, was die Legendensänger von sich gaben, schien es doch kaum einen großen Elfen gegeben zu haben, der nicht ein solches Mal getragen hatte.

Elionai schien seinen Blick zu spüren, denn sie sah zu ihm auf, lächelte und prostete ihm über das Becken hinweg zu.

»Oho, das Interesse ist wohl kein einseitiges«, kommentierte Tibolo ungefragt.

»Mag sein«, murmelte Iscalleon so leise, dass nur der Faun ihn verstehen konnte. »Aber wie du schon sagtest: Sie ist eine Sternenträgerin.«

»Warum müsst Ihr Elfen eigentlich immer so kompliziert sein?«, stöhnte Tibolo theatralisch, und Iscalleon wusste nicht, wie er auf den spöttischen Unterton reagieren sollte. Wie konnte es ein Kurzlebiger, und noch dazu ein Diener, wagen, sich ihm gegenüber so zu verhalten?

»Auch Sternenträger haben Bedürfnisse«, plapperte der Faun weiter. »Und wenn Elionai sich nur mit ihresgleichen treffen würde, würde das die Schar ihrer möglichen Liebhaber doch merklich verkleinern.«

Iscalleon warf ihm einen Blick zu, in den er so viel Tadel legte, wie es ihm nur möglich war. »Sag mal, Faun, wie alt bist du eigentlich?«

»Oh, anscheinend ist dem hohen Herrn mein Name entfallen. Tibolo werde ich genannt. Und ich weile seit etwas über fünfundzwanzig Jahren auf dieser schönen Welt, was für einen Satyaren wie mich schon eine beachtliche Zeit ist.«

»Fünfundzwanzig Jahre also. Das ist grob der sechste Teil der Zeit, die ich schon lebe. Glaubst du wirklich, Faun, du könntest mir Ratschläge geben, wie ich mein Leben zu leben habe?«

»O Herr, vielleicht ist das ja gerade das Problem. Ihr hattet so viel Zeit, Erfahrungen zu sammeln, dass Ihr unterwegs verlernt habt, Dinge unvoreingenommen zu betrachten. Euer Wissensschatz ist so reichhaltig, dass Ihr bei allem sofort unzählige Bedenken habt. Aber in einem Fall wie diesem solltet Ihr das Nachdenken einfach lassen und draufloshandeln. Verlasst Euch auf Euer Gefühl!«

»Mein Gefühl sagt mir, dass deine Dreistigkeit unglaublich ist«, knurrte Iscalleon.

Der Faun kicherte nur. »Seht Ihr, wie Seine allergelehrteste Schwatztasche Thominion auf Eure verehrte Elionai einredet? Eine Maid in Nöten! Ihr solltet unverzüglich aufbrechen und sie aus dieser Notlage befreien!«

Iscalleon schüttelte den Kopf. Tibolos Benehmen verstieß in einer Weise gegen alle Regeln des Respekts, dass er es kaum fassen konnte. Andererseits war nicht zu leugnen, dass es stimmte: Elionai sah wirklich nicht sehr glücklich darüber aus, dass sich ein weißhaariger Elf neben ihr niedergelassen hatte und ohne Punkt und Komma auf sie einredete.

»Nun gut, dann pass so lange auf meinen Nektar auf, Faun.«

Tibolo nahm den Pokal mit einer Verbeugung an, aber an seinen listig glitzernden Augen war zu sehen, dass er dies als einen kleinen Triumph verbuchte. Iscalleon stieß sich vom Beckenrand ab und ließ sich von dem warmen Wasser bis zu der Stelle tragen, wo Elionai und Thominion nebeneinander lagen, die Arme auf dem Rand abgestützt.

»Verzeih, hoher Herr, bist du nicht Thominion?«, unterbrach er den Höfling mitten in einem endlosen Satz, in dem er darüber referierte, dass dies der größte und prächtigste Nurti-Tempel des Kontinents sei, sicherlich noch viel schöner als der im untergegangenen Simyala.

Fassungslos blickte ihn Thominion an, offensichtlich hielt er diese Unterbrechung für überaus dreist. Aber Iscalleon ging einfach darüber hinweg und streckte sich auf Thominions freier Seite am Beckenrand aus. »Dein Ruf als großer Denker eilt dir voraus«, sprach er weiter und ließ dem Weißhaarigen damit keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Er wusste, dass er kein großer Redner war, also musste er Thominions Überraschung nutzen. »Daher dachte ich mir, dass ich als einfacher und unwissender Kämpfer einen Ratschlag von dir erbitten könnte.«

»Ein einfacher Kämpfer«, wiederholte Thominion abfällig. »Und wie heißt du, einfacher Kämpfer?«

Thominion schielte kurz zu Elionai hinüber, die die Augen geschlossen hatte und aussah, als verfolge sie die Unterhaltung nicht weiter. Er war aber überzeugt, dass sie sehr wohl zuhörte und abwartete, wie sich die Situation entwickelte.

»Iscalleon ist mein Name. Und ich frage mich seit Jahren, mit welchem Manöver man am besten parieren soll, wenn ein Troll mit einer Axt zu einem Schädelspalter ansetzt? Ich kann mich nicht zwischen einem vollen Angriff nach vorn und einem Sprung auf seine Schildseite entscheiden. Ich habe schon mit vielen klugen Leuten gesprochen, und die Meinungen gehen deutlich auseinander. Zwar birgt der Angriff das wesentlich höhere Risiko, versetzt einen aber auch in eine ungleich bessere Ausgangslage für folgende Manöver. Und da du ja so ein ungemein wissender Gelehrter bist, würde ich nur zu gern erfahren, was du mir empfiehlst.«

Es fiel ihm nicht leicht, so zu klingen, als sei das Interesse an Thominions Meinung aufrichtig. Nur allzu leicht konnten Zwischentöne die eigentliche Intention verraten. Und so, wie Thominion ihn nun anfunkelte, befürchtete Iscalleon, dass er nicht allzu überzeugend war.

»Es ist töricht, einen Troll so nahe an sich herankommen zu lassen, dass sich diese Frage überhaupt stellt. Wer klug ist, tötet ihn schon längst vorher.«

Auch wenn es ihm schwerfiel, ging Iscalleon über die Verachtung hinweg, die sein Gesprächspartner durchklingen ließ. »Eine ungemein kluge Antwort, wie ich sie von dir erwartet habe. Doch ich kann dir versichern, dass es auf dem Schlachtfeld Situationen gibt, in denen dies nicht möglich ist.«

»Das will ich bezweifeln. Es scheint mir eher so, als wärst du nicht in der Lage, deine Gelegenheiten zu erkennen. Der Fehler, der den meisten einfachen Kämpfern immer wieder unterläuft, ist es, nicht alle Möglichkeiten zu durchdenken. Sie handeln schnell, überstürzt, unbedacht, und begeben sich damit in Situationen, in die sie mit etwas mehr Klugheit niemals geraten wären.«

»Oh, verehrter Thominion, ich bin fest überzeugt, dass du schon an unzähligen Schlachten teilgenommen hast und beurteilen kannst, dass man im Gefecht keine Zeit für langes Nachdenken hat. Es ist ja nicht so wie in der Sicherheit der heimatlichen Gemächer, wo man in Ruhe allerlei Optionen durchspielen kann und dann die beste wählt. Aber wem sage ich das? Du bist ja schließlich klug genug, um dir dessen bewusst zu sein.« Diesmal war es ihm nicht gelungen, den Spott aus seiner Stimme zu verbannen. Sogar Elionai öffnete ein Auge und linste zu Thominion hinüber.

»Wenn du glaubst, dass ein säbelschwingender Barbar aus dem Hinterland mich verärgern könnte, dann überschätzt du deine geistigen Möglichkeiten ganz gewaltig«, sagte Thominion, und aus seiner Stimme sprach mitleidige Verachtung. Doch seine Augen beherrschte er nicht so gut wie seine Stimme, in ihnen blitzte heißer Zorn.

»Niemals käme ich auf den Gedanken«, erwiderte Iscalleon, als bemerke er nichts. »Dennoch frage ich mich, wie du wohl handeln würdest, wenn unsereins nicht dafür sorgen würde, dass kein Troll in deine Paläste eindringt und plötzlich mit seiner riesigen Axt vor dir steht.«

»Und wieder reicht dein Geist nicht aus. Ich verfüge über die Macht und die Klugheit, Leute wie dich ins Feld zu schicken, damit der Troll nicht in meine Nähe kommt.«

»Und wenn solche Leute wie ich nicht wären, wärst du hoffnungslos verloren.«

Thominion fixierte Iscalleon, seine Kiefermuskulatur spannte sich. »Dein Geschwätz ist das eines unwissenden Affen. Geh zurück in den Wald, aus dem du gekommen bist.«

»O nein, ich bin hier heute Ehrengast. Ich wüsste nicht, warum ich diesen Ort verlassen sollte.«

Ein unausgesprochenes »Weil ich es dir befehle« hing einige Augenblicke lang zwischen ihnen, aber beide wussten, dass Thominion Iscalleon nichts befehlen konnte. Ohne noch etwas zu sagen, erhob sich Thominion und verließ das Becken. Einen Moment lang sah Iscalleon ihm hinterher, dann rückte er zu Elionai auf. Sie lag immer noch entspannt am Beckenrand, die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen. Das Sternenmal lag direkt unter der Oberfläche des trüben Wassers, war aber trotzdem deutlich zu sehen.

»Bist du mir nicht dankbar, dass ich dich vor seinem Gefasel errettet habe?«, sprach er sie an, als Thominion außer Hörweite war.

Sie öffnete nur ein Auge und schaute ihn an. »Wie kommst du auf die Idee, dass mir deine Gesellschaft besser gefällt als die des ehrenwerten Thominion?«

Iscalleon wartete auf ein Grinsen, ein schelmisches Blitzen in ihren Augen oder einen anderen Hinweis darauf, dass diese Frage nicht ernst gemeint war, aber er fand nichts. Seine Überzeugung, dass der Tipp des Fauns richtig gewesen war, schmolz dahin.

»Offen gestanden: Ich bin mir dessen keineswegs sicher. Aber ich hoffe es.« Er versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln. Jetzt hatte er sowieso nichts mehr zu verlieren. »Der Vortrag, den Thominion dir gehalten hat, klang nicht sonderlich erheiternd. Wäre ich gezwungen gewesen, ihm zuzuhören, so wäre ich dir zu tiefstem Dank verpflichtet gewesen, hättest du mich von ihm erlöst.«

Sie öffnete das zweite Auge und hob eine Augenbraue. »Wenn du einen Vortrag nicht zu würdigen weißt, heißt das noch lange nicht, dass andere ihm auch nicht lauschen mögen.«

Sein Lächeln versteinerte. Wie hatte er nur glauben können, auf diese aufdringliche Weise die Gunst einer Sternenträgerin zu erlangen?

»Und?«, sprach sie weiter. »Womit willst du mir nun die Zeit vertreiben? Mit einer Schilderung deiner Heldentaten?«

Er atmete tief durch. »Ich muss mich wohl bei dir entschuldigen. Offensichtlich habe ich die Situation falsch eingeschätzt. Aber zumindest will ich mir nicht vorwerfen lassen, dass ich nicht merke, wenn auf mein Geschwätz kein Wert gelegt wird. Ich bitte um Verzeihung, so aufdringlich gewesen zu sein.« Gerade machte er Anstalten, zu seinem ursprünglichen Platz am Beckenrand zurückzuschwimmen, als er ihre Hand auf dem Oberarm spürte.

»Du unterliegst einem Irrtum, Iscalleon Hippogriffenreiter«, sagte sie, und jetzt ließ sie erstmals ein amüsiertes Lächeln sehen. »Niemand sagt, dass ich keinen Wert auf dein ›Geschwätz‹ lege – bisher hast du mir ja noch nicht einmal die Gelegenheit gegeben, mir ein Urteil darüber zu bilden.«

»Du kennst meinen Namen?«, sagte er verblüfft.

Wieder lächelte sie. »Ich bin gern darüber im Bilde, mit wem ich das Bad teile. Und du bist einer der wenigen Anwesenden, deren Geschwätz ich bisher noch nicht genießen durfte.«

Er lehnte sich wieder an den Beckenrand. »Und einer der wenigen in dieser erlauchten Gesellschaft, mit deren Unsicherheit du deine Scherze treiben kannst«, stellte er fest. Er kam sich vor wie ein Narr.

»Ein wahrer Held sollte sich nicht so leicht verunsichern lassen.« Sie legte den Kopf schief und musterte ihn.

»Wer sagt, dass ich ein Held bin?«

»Schau dich um!« Sie wies mit einer ausladenden Armbewegung auf die Anwesenden. »Dies ist eine Versammlung der größten Helden, die Tie’Shianna derzeit bevölkern. Warum also solltest du hier sein, wenn du kein Held bist?«

Iscalleon zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mich auch schon gefragt.«

Sie lachte leise.

»Ich gehöre zur Fliegenden Garde, und anscheinend reicht das, um hierher eingeladen zu werden.«

»Ohne deine Verdienste beim Angriff gegen Zza Thission, deine Taten beim Überfall auf das Lager der Leviatanim und deine heldenhafte Errettung Neletios vor den Rattenhorden wärst du gar nicht erst in die Garde aufgenommen worden. Jeder Hippogriffenreiter ist ein Held, sonst würde man ihm keines dieser seltenen und wertvollen Tiere anvertrauen.«

Er blickte sie an. »Jetzt zählst du meine Heldentaten auf …«

Wieder lachte sie. »Tja, wenn du es schon nicht tust, muss wohl ich diese schwere Bürde auf mich nehmen.«

Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber woher weißt du all das? Das wird dir doch wohl kaum jemand verraten haben, als du hier hereingekommen bist und ein neues Gesicht zwischen den Badenden entdeckt hast!«

»Ertappt.« Ihr tiefgründiges Lächeln verwandelte sich in ein freches Grinsen. »Jetzt muss ich wohl zugeben, dass ich wissen wollte, wer denn der neue Gardist ist, der in die Reihen der fliegenden Reiter aufgenommen wurde.«

Er hob eine Augenbraue. »Höre ich da ein gewisses Interesse an meiner Person heraus?«

»Nennen wir es Neugier.«

»Schade. Persönliches Interesse hätte mir besser gefallen.«

»Noch etwas von dem Nektar, Herr?« Tibolo hatte das Becken umrundet und war hinter Iscalleon getreten.

»Gern, Faun. Aber vielleicht möchte die ehrenwerte Elionai auch etwas.«

»Er heißt Tibolo, und er ist ein Diener Lariels«, erklärte Elionai beiläufig. »Und ja, Tibolo, ich hätte auch gern einen Becher Nektar.«

Iscalleon wartete, bis auch Elionai ein gefülltes Gefäß in der Hand hielt, und nahm einen tiefen Zug aus seinem Kristallbecher. »Hast du etwa den Faun losgeschickt, damit er mich hierherlockt?«, fragte er.

Wieder lachte Elionai auf. »Jetzt überschätzt du meine Neugier. Und unterschätzt Tibolo. Nicht wahr, mein pelziger Freund?«

Tibolo kicherte leise. »Geschickt habt Ihr mich nicht, Herrin. Aber ich habe Ohren, und ich konnte hören, dass Ihr Euch für den strahlenden Kämpen interessiert. Und da nur allzu offensichtlich war, dass Ihr seinen Blick auf Euch gezogen habt, hielt ich es für angebracht, ein wenig nachzuhelfen.«

Iscalleon seufzte und ließ sich mit geschlossenen Augen tiefer ins Wasser sinken. Er würde die Gepflogenheiten dieser Stadt wohl nie begreifen. Selbst der tumbe Faun war in der Lage, ihn zu manipulieren. Kein Wunder, dass Elionai ihn jetzt verspottete. Vermutlich teilte sie Thominions Einschätzung, er sei ein Tölpel aus der Provinz. Genau genommen war er das ja auch. Aber schlechter hätte die Bekanntschaft mit ihr wohl kaum beginnen können. Es war wohl von vornherein vermessen gewesen, sich überhaupt an Niamhs Tochter heranzuwagen, an eine Sternenträgerin.

***

Nördlich des Schlangenflusses

Das Wolkenschiff war in einen dichten Laubwald gestürzt und hatte dabei mehrere Bäume umgerissen. Dennoch war der Platz zu schmal, um mit dem steinernen Trollschiff in unmittelbarer Nähe zu landen. Also gab Bortosch den Befehl, auf einer Wiese am Waldrand niederzugehen, möglichst nahe an der Absturzstelle.

Kaum setzte der Rumpf auf, sprang er von Bord, gefolgt von Tarbasch und dessen Freund Gnorix. Mit großen Schritten stampften sie quer durch den Wald, und weil sie es eilig hatten, trampelten sie dabei alles nieder, was ihnen im Weg war. Wenig später standen sie neben dem Schiffswrack. Der Rumpf war zerbrochen, überall lagen Trümmer, aber auch abgerissene Äste und Splitter der umgeworfenen Bäume. Tarbasch und Gnorix liefen los, um das Wrack zu untersuchen, Bortosch blieb am Rand des Absturzbereichs stehen, stützte sich auf seine brusthohe Doppelaxt und ließ den Blick schweifen. Der Vogel mit der hellen Flügelspitze wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen. Und er hatte das untrügliche Gefühl, dass ihn jemand beobachtete.

»Ich habe einen!«, verkündete Gnorix stolz und hielt die Leiche eines blonden Elfen an einem Arm in die Höhe wie ein Stück erbeutetes Jagdwild.

»Wir suchen ein Weibchen«, brummte Bortosch, und Gnorix ließ den schlaffen Leib achtlos fallen.

Von der anderen Seite erklang Knirschen, dann der hässliche Klang reißender Saiten. »Aua«, sagte Tarbasch und blickte zu Boden. »Ich glaub’, ich bin in ein Musikinstrument getreten.« Er schüttelte den Fuß, um die Splitter der Harfe loszuwerden wie ein lästiges Insekt, aber einige Saiten hatten sich um seinen Fuß gewickelt und hinterließen blutige Striemen.

»Da drüben ist noch einer«, rief Gnorix und deutete zu einem Baum, der etwas abseits stand. An seinen Stamm gelehnt saß eine Elfe in verzierter Lederrüstung. Ein großer Holzsplitter hatte sich durch die Rüstung hindurch in ihre Seite gebohrt, Blut tropfte daran entlang auf den Waldboden.

Bevor Bortosch etwas sagen konnte, hatte Gnorix auch sie am Arm gepackt und in die Höhe gezerrt, ohne auf ihren Schmerzensschrei zu achten. »Ein Weibchen!«, sagte er. »Und es lebt noch.«

»Leg es wieder hin«, sagte Bortosch. »Vielleicht kann es uns was erzählen.« Gerade ging er los, als er plötzlich in den Ästen über Gnorix eine schnelle Bewegung sah. »Vorsicht!«, rief er und rannte los. Gnorix, der die Elfe wieder abgesetzt hatte, blickte ihn erstaunt an.

Mit einer Geschwindigkeit, der Bortoschs Augen kaum zu folgen vermochten, sprang eine schlanke Gestalt aus den Ästen auf Gnorix’ Rücken, stieß sich im nächsten Moment wieder ab und kam nach einem Salto auf dem Erdboden zu hocken, bereit für einen weiteren Sprung. Gnorix blickte ihr überrascht hinterher und fasste sich mit der Hand an den Hals. Mit aufgerissenen Augen drehte er sich zu Bortosch um, zwischen seinen Fingern sprudelte Blut aus einer tiefen Wunde hervor. Anscheinend wollte er etwas sagen, aber es wurde nur ein Röcheln daraus. Auch aus seinem Mund lief Blut. Er ging in die Knie und stürzte der Länge nach auf den Boden.

Bortosch blieb stehen und nahm die Axt kampfbereit in beide Hände. Bei dem Gestrüpp und Unterholz hier überall war die große Waffe nicht ideal, aber das war nicht seine größte Sorge.

Die Gestalt, die dort zwischen einigen Farnen hockte und ihn fixierte, war unverkennbar eine Elfe, und außer dem silbernen Handschuh trug sie keinerlei Kleidung. In der Hand hielt sie einen langen, schlanken Dolch. So, wie sie dort saß, wirkte sie wie eine sprungbereite Raubkatze.

In diesem Augenblick kam Tarbasch um die Ecke, der auf der anderen Seite des Schiffswracks gewesen war.

»Gnorix«, schrie er, als er seinen Freund am Boden sah, und wollte zu ihm stürzen, als Bortosch brüllte: »Bleib stehen!«

Gehorsam erstarrte er und blickte seinen Vater fragend an. Der nickte zu der Elfe hinüber, die immer noch zwischen den Farnen lauerte und sie beobachtete.

»Der war das?«, fragte Tarbasch und zog seinen Kriegshammer aus dem Gürtel.

»Die«, korrigierte Bortosch. »Es ist eine Sie.«

»Umso besser«, knurrte Tarbasch. »Dann werde ich noch mehr Freude daran haben, ihr den Schädel zu zertrümmern.«

»Geh du rechtsrum, ich komme von links«, befahl Bortosch.

»Warum? Es ist nur eine, und sie hat keine Waffe außer diesem Nadeldings.« Trotz seines Widerspruchs begann er, einen Bogen zu schlagen.

»Sie ist eine in die Enge getriebene Katze. Und mit diesem Nadeldings hat sie eben Gnorix getötet.«

Plötzlich ruckte die Hand der Elfe vor, und sie schleuderte Tarbasch einige Worte in ihrer eigenartigen zweistimmigen Sprache entgegen. Es klang fast wie gesungen, wurde im nächsten Moment aber von Tarbaschs Schmerzensschrei übertönt. Der junge Troll ließ seinen Hammer fallen und presste die Hände an die Schläfen. Bortosch blieb stehen, ließ sie aber nicht aus den Augen. »Tarbasch, reiß dich zusammen!«

Sein Sohn wimmerte noch einmal, dann hob er den Hammer wieder auf. »Ich werde diese Hexe in der Luft zerreißen!«, grollte er und wischte mit dem Handrücken das Blut ab, das ihm aus der Nase strömte.

»Wie oft habe ich dich davor gewarnt, Elfen zu unterschätzen?«, fragte Bortosch und bewegte sich vorsichtig weiter. »Aber sehr oft wird sie solche Tricks nicht anwenden können. Irgendwann ist sie erschöpft.«

»Sehr oft? Mir reicht schon das eine Mal!« Immerhin war Tarbasch jetzt vorsichtiger und blieb sogar hinter seinem Vater zurück.

Wieder machte die Elfe eine schnelle Bewegung und sang etwas, und Tarbasch zog den Kopf ein. Aber dieser Zauber war gegen seinen Vater gerichtet. Das Amulett an Bortoschs Halskette glühte kurz auf, dann ruckte der Kopf der Elfe zurück. Bortosch grinste. Dieser Zauberspiegel hatte ihm schon manches Mal wertvolle Dienste geleistet. »Jetzt!«, brüllte er und rannte los.

Die Elfe wirkte einen Augenblick lang orientierungslos und verängstigt, aber als er nach ihr schlug, huschte sie auf allen vieren durch den Farn davon. Die Axtschneide bohrte sich tief in den Waldboden. Fluchend zog er sie wieder heraus und folgte der Elfe. Inzwischen lief sie auf zwei Beinen, aber gebückt und mit nach vorn ausgestreckten Armen. Sie streifte einen Baum, obwohl genug Platz zwischen ihm und dem nächsten war, und verlor dabei den Dolch, dann rannte sie geradewegs in eine Brombeerhecke, die sie ohne Rücksicht auf die Dornen, die tiefe Schrammen hinterließen, einfach durchquerte.

»Sie ist blind«, stellte Bortosch fest. »Das also war der Zauber, den sie mir anhängen wollte.«

Trotz ihrer Blindheit bewegte sich die Elfe immer noch unglaublich schnell, und er hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen. Hinter sich hörte er Tarbasch durch das Unterholz brechen. Kurz hinter den Brombeeren öffnete sich eine freie Fläche, auf der nur ein einziger Baum stand, ein gewaltiger Ahorn. Seine Krone war so ausladend, dass das Blätterdach die gesamte Freifläche überspannte. Deswegen hatten sie die Lichtung von oben nicht gesehen.

Die Elfe hatte sich inzwischen ganz aufgerichtet und spurtete über eine Wiese voller Blumen, die hier im Schatten des Ahorns wuchsen, direkt auf den mächtigen Stamm zu. Anscheinend hatte die Wirkung des Zaubers nachgelassen. Wenn sie erst einmal auf diesen Baum kletterte, würde es deutlich schwerer werden, sie zu erwischen. Eilig zog er den kleinen Hammer aus seinem Gürtel und schleuderte ihn ihr mit aller Macht hinterher. Die Waffe, deren Kopf so breit war wie der Unterarm der Elfe, hätte genau ihren Rücken getroffen, wenn sie nicht im letzten Moment einen kleinen Haken geschlagen hätte. So traf er nur ihre linke Schulter, aber selbst das reichte, um sie mit einem Aufschrei zu Boden stürzen zu lassen. Hastig rappelte sie sich auf und lief weiter, umklammerte aber mit der rechten Hand den verletzten Arm. Anscheinend hatte er ihre Schulter zertrümmert.

Nichtsdestotrotz war sie noch immer schneller als die Trolle und erreichte den knorrigen Baumstamm. Sie sprang hoch, hielt sich mit der unverletzten Hand an einem niedrig hängenden Ast fest, rutschte ab und fiel zu Boden, was ihr einen erneuten Schmerzenslaut entlockte. Noch so ein Fehlversuch, und Bortosch würde sie rechtzeitig erreichen, das wusste sie ebenso gut wie er. Sie sprang auf, rannte ein Stück weiter, ergriff einen herabhängenden Zweig und nutzte den Schwung, um die Beine über einen waagerecht verlaufenden Ast in Brusthöhe des Trolls zu schwingen. Da war Bortosch heran und schlug mit der Axt nach ihr, aber sie hatte sich dort oben bereits aufgerichtet und lief den Ast entlang zum Stamm. Sein Schlag kappte den Ast an der Stelle, wo sie eben noch gewesen war. Mit einer Gewandtheit, die Bortosch der Elfe in Anbetracht der verletzten Schulter nicht mehr zugetraut hatte, sprang und kletterte sie von Ast zu Ast und gewann in kürzester Zeit genug Höhe, um der Reichweite seiner Axt zu entkommen.

Tarbasch war inzwischen auch eingetroffen und blickte schnaufend nach oben, wo die Elfe in etwa doppelter Trollhöhe auf einer Astgabel hockte und zu ihnen hinabblickte.

»Gib auf, Mädchen«, rief Bortosch zu ihr hinauf.

»Du langsames Tod«, kam als Antwort zurück, zwar weit von einem sauberen Trollisch entfernt, aber doch zu verstehen.

»Das Mädchen spricht unsere Sprache«, stellte Tarbasch verblüfft fest.

Bortosch nickte. »Wenn du nicht runterkommst, dann komme ich hoch!«, rief er ihr zu. Aber sie reagierte nicht, sondern schaute nur lauernd hinunter. Vermutlich teilte sie seine Einschätzung, dass die Äste sein Gewicht nicht tragen würden.

»Wir fällen den Baum«, sagte er zu seinem Sohn und trat an den Stamm des Ahorns. Eine Windböe fegte durch die Äste und ließ das Laub rascheln, als habe der Baum ihn verstanden und fürchte nun um sein Leben. Der Stamm hatte einen Durchmesser von sicherlich anderthalb Metern, und es würde dauern, bis er fiel. Aber vermutlich würde die Elfe gar nicht so lange warten, sondern vorher herunterkommen.

»Vater, schau mal«, sagte Tarbasch, bevor Bortosch zum ersten Schlag ausholen konnte. Er deutete auf den Rand der baumfreien Fläche. Dort waren wie aus dem Nichts eigenartige Gestalten aufgetaucht: Auf dem Leib eines Einhorns saß der Oberkörper eines kleinen Trolls. Aus dem prächtigen Haupthaar ragten bewegliche, pelzige Ohren, die ebenfalls einem Einhorn hätten gehören können. Es waren mehr als ein Dutzend dieser Geschöpfe, und Bortosch vermutete, dass sich im Wald noch weitere verbargen. Sie trugen primitive Kleidung und hielten Bögen und Speere in den Händen.

»Zentauren«, stellte Bortosch fest. »Vermutlich befinden wir uns auf ihrem Stammesgebiet.«

Einer der Zentauren trat vor, ein hochgewachsenes Exemplar, das zahllose Schmucksteine und bunte Perlen in sein langes Haar geflochten hatte und eine Kette aus Bärenkrallen um den Hals trug. Er deutete auf die beiden Trolle und sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstanden.

Bortosch ließ die Axt sinken, um seine friedliche Absicht zu zeigen. »Wir bitten um Verzeihung, dass wir in euer Land eingedrungen sind. Aber wir sind nicht hier, um mit euch zu streiten. Wir wollen nur diese Elfe da.« Er deutete in den Baum hinauf. Aber es sah nicht so aus, als habe der Zentaur ihn verstanden. Stattdessen wiederholte er seine Worte und hängte noch einige ebenso unverständliche Sätze daran, wobei er zuerst auf die Trolle zeigte und dann in die Richtung, in der ihr Steinschiff liegen musste.

»Ja, wir werden gehen. Aber zuerst wollen wir die Elfe«, wiederholte Bortosch eindringlich.

Der Zentaur starrte ihn missmutig an, dann schnalzte er mit der Zunge. Sofort hoben die anderen ihre Bögen und Speere und zielten auf die beiden Trolle.

»Es sind nur zwölf«, sagte Tarbasch leise. »Und es sind primitive Wilde. Mit denen nehmen wir es locker auf.«

Bortosch überlegte kurz, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Erstens wissen wir nicht, ob sie nicht noch irgendetwas in der Hinterhand haben, und zweitens will ich nicht einen ganzen Stamm auslöschen, der mit dieser Sache überhaupt nichts zu tun hat. Wir ziehen uns zurück und suchen jemanden, der ihre Sprache spricht. Wenn wir ihnen in Ruhe erklären, was wir wollen, werden sie uns die Elfe schon ausliefern. Die Spitzohren sind hierzulande nicht sehr beliebt.«

Tarbasch schnaubte unwillig. Es war kaum zu übersehen, dass er die Entscheidung nicht guthieß, aber er beugte sich dem Wort seines Vaters.

»Gut, wir gehen«, sagte Bortosch laut. »Aber wir kommen wieder.«

Er blickte noch einmal hoch zu der Elfe, schulterte seine Axt und ging los, wobei die Pfeil- und Speerspitzen ihm folgten, bis er und sein Sohn im Unterholz verschwunden waren.

***

Im Nurti-Tempel

Ein spitzer Schrei schreckte Iscalleon aus der Grübelei. Er ruckte hoch und drehte sich zum Beckenrand, denn von dort war der Schrei gekommen. Mehrere Personen stürzten in Panik durcheinander, aber die Ursache konnte er zunächst nicht erkennen. Ein Elf in der Robe eines Tempeldieners taumelte mit weit aufgerissenen Augen auf ihn zu, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Iscalleon sprang auf und schwang sich auf den Beckenrand, ebenso Elionai. Der Elf brach zusammen, bevor er das Becken erreicht hatte. Hinter ihm hatte der Amaunir aus Sconjis’ Gefolge einen Kerzenleuchter ergriffen und schwang ihn wie eine Keule. Offensichtlich wollte er die kürbisgroße, durchsichtige Spinne angreifen, die vor ihm auf dem Boden hockte. Doch als er zuschlug, huschte das eigenartige Wesen mit unglaublicher Geschwindigkeit zur Seite und sprang ihm direkt ins Gesicht. Er ließ den Leuchter fallen und griff nach der Spinne, da war sie auch schon weitergesprungen und huschte den Stamm einer gewaltigen Rotbuche hinauf. Der Amaunir schlug die Hände vors Gesicht, bevor er mit einem gurgelnden Geräusch hintenüberkippte.

Iscalleon formte in seinem Geist die Worte der Macht, doch bevor er seinen Zauber ausschicken konnte, hörte er, dass ihm jemand zuvorgekommen war: »Stirb, Gezücht«, schrie Odotheïon, der nur ein paar Schritte neben ihm stand, und deutete mit zwei Fingern auf die Spinne. Die Kreatur blieb abrupt stehen und schauderte – offensichtlich hatte der Zauber sie getroffen. Aber das Ergebnis war unerwartet, denn statt zu zerplatzen, schien sie ein Stück zu wachsen und krabbelte gestärkt weiter durch die dichten Ranken und Blätter nach oben, begleitet von panischen Rufen und durcheinandergebrüllten Anweisungen.

»Keine Zauberei«, donnerte eine gewaltige Stimme von jenseits des Beckens und übertönte alle Schreckensschreie. Es war unverkennbar Bloddveddis, die diese Anweisung gab. Iscalleon, der immer noch drauf und dran war, seinen Kampfzauber zu vollenden, brach ihn ab. In diesen Räumlichkeiten hatte das Wort der obersten Nurti-Priesterin mindestens so viel Gewicht wie das des Königs.

Elionai sprang vor und ergriff den zusammengebrochenen Diener am Arm. »Hilf mir!«, zischte sie Iscalleon zu. Also griff er nach dem anderen Arm des Mannes, und gemeinsam zerrten sie den leblosen Körper zum Becken und stießen ihn hinein.

»Er wird ertrinken!« Iscalleon blickte sie verständnislos an.

Sie schüttelte den Kopf. »In Nurtis Wasser kann man nicht ertrinken. Wenn ihn irgendetwas heilen kann, dann dieses Wasser.«

Er gab sich mit dieser Aussage zufrieden und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Spinne zu. Diese war immer höher hinaufgekrabbelt und würde bald die Spitze der Kuppel erreichen. In diesem Augenblick kam Spico herangeflogen und versuchte, mit einem gewagten Manöver die Krallen in den gläsernen Spinnenleib zu schlagen. Die geflügelte Katze war kaum größer als eine normale Hauskatze, aber die Spannweite ihrer weißgefiederten Flügel betrug über anderthalb Meter. Iscalleon hatte schon von ihrer unglaublichen Wendigkeit gehört, und die benötigte sie auch, um nach einem Wesen zu greifen, das direkt über ihr krabbelte. Aber die Spinne war offensichtlich ebenso wendig, denn sie wich wieselflink in eine Lücke zwischen zwei Ästen aus, und Spico musste sich fallen lassen und einen halben Salto vollführen, um ihren Sturz abzufangen.

»Ein Saal voller Helden, aber keiner mit einer Waffe, und Zauberei funktioniert nicht …«, fluchte Iscalleon.

»Das ist kein Zufall«, sagte Elionai, während Spico zum zweiten Angriff ansetzte. »Nirgends ist es schwerer, einen Angreifer zu töten, als im Allerheiligsten der Nurti.«

Bei ihrem zweiten Angriff gelang es Spico, sich in einem der langen Spinnenbeine zu verbeißen. Als sie ihre Flügel einfaltete und sich mit dem ganzen Gewicht an das Bein hängte, verlor die Spinne den Halt und stürzte in die Tiefe. Sofort ließ Spico los und fing sich in einem eleganten Flugmanöver ab. Sie ließ ein triumphierendes Fauchen hören, während die gläserne Spinne mit lautem Platschen im Becken landete und versank.

»Raus aus dem Wasser!«, schrie Oisin. »Da drin ist sie so gut wie unsichtbar!«

Das ließ sich niemand zweimal sagen, es dauerte nur wenige Lidschläge, bis alle Badenden das Becken verlassen hatten. Die meisten nutzten die Gelegenheit, auch gleich aus dem Raum zu flüchten, so auch Thominion und andere Höflinge, die es wohl nicht als ihre Aufgabe betrachteten, diese Kreatur zu bekämpfen. Zwei Dienerinnen zerrten den Elf aus dem Wasser, den Iscalleon und Elionai hineingeworfen hatten, eine dritte hatte sich über den bewusstlosen Amaunir gebeugt und flößte ihm eine Flüssigkeit ein.

Fenvarien gehörte zu denen, die im Raum geblieben waren, allerdings stand er in der Nähe des Ausgangs. Den Arm hatte er schützend um die Schultern seiner Tochter Amariel gelegt, die jedoch so aussah, als empfinde sie das alles eher als aufregend denn als beängstigend. Zwischen ihnen und dem Becken standen Tharkath und Dianissa, ein paar Meter weiter hatten sich Lariel und Sconjis in kampfbereiter Pose schützend vor Bloddveddis gestellt. Die anderen Krieger hatten sich um das Becken verteilt und starrten ins Wasser. Niemand sagte etwas, alle warteten auf das Auftauchen der Spinne. Und niemand hatte eine Waffe.

In dem trüben und aufgewühlten Wasser war die Spinne unmöglich zu entdecken, jedenfalls nicht mit normalen Sinnen. Ohne weiter nachzudenken, formte Iscalleon einen Zauber, der ihm schon manches Mal in dichten Wäldern weitergeholfen hatte. Normalerweise konnte er damit jedes Lebewesen erkennen, auch wenn es hinter einer Deckung verborgen war, aber zu seiner Verblüffung leuchtete das ganze Becken in einem grünlichen Schimmer auf. Dann begriff er: Das Wasser war reinste Lebenskraft, also konnte man anderes Leben darin nicht erkennen.

»Was für eine Kreatur das auch sein mag, sie darf hier nicht getötet werden«, verkündete Bloddveddis. »Das wäre ein Frevel gegen Allmutter Nurti, die Folgen wären unabsehbar.«

»Dann müssen wir das Biest hier rauslocken«, verkündete Lariel und starrte ins Wasser. Offensichtlich hoffte er auf einen Vorschlag, wie das zu bewerkstelligen sei.

»Da habe ich eine bessere Idee«, murmelte Iscalleon und blickte sich um.

»Was für eine Idee?« Elionai schaute ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Wir tragen es nach draußen.«

»Bei Zerzal, wie stellst du dir das vor?«

Als Antwort lief er zu einem Stapel flauschiger Tücher, die bereitlagen, um sich nach dem Bad damit trockenzureiben. Eines davon warf er Elionai zu, die es geschickt auffing und ihn immer noch fragend ansah, zwei weitere ergriff er selbst. »Komm mit!«

Ohne abzuwarten, ob sie ihm wirklich folgte, lief er um das Becken herum zu Dianissa, die immer noch schützend vor Fenvarien und seiner Tochter stand. Dort entfaltete er das große Tuch und stellte sich sprungbereit zwischen sie und das Wasser.

Wenige Augenblicke später tauchte die Glasspinne direkt vor ihm auf und krabbelte geschwind auf den Beckenrand. Sofort schoss Spico aus der Höhe herab wie ein Raubvogel, aber die Spinne wich der Attacke aus. Diesen Moment der Ablenkung nutzte Iscalleon. Er warf das ausgebreitete Tuch über sie und sprang hinterher, um es festzuhalten. Das Biest war nicht nur sehr flink, sondern auch erstaunlich kräftig, aber sein Wurf war gut gelungen, das Tuch hatte es vollständig zugedeckt. Dennoch hatte er Mühe, das zappelnde Bündel zu bändigen. Direkt neben seiner Hand zerrissen spitze Kiefer den Stoff und verspritzten grünlich glänzenden Schleim. Doch bevor die Spinne etwas fand, in das sie beißen konnte, war Elionai zur Stelle, warf das zweite Tuch über das Bündel und stützte sich ebenfalls mit ihrem ganzen Gewicht darauf.

»Mehr Tücher!«, rief Iscalleon, und im gleichen Augenblick stand schon Lariel neben ihm. Er breitete eine große Decke auf dem Boden aus: »Rollt es drauf!«

Gemeinsam gelang es Elionai und Iscalleon, das Bündel auf die Decke zu schieben, ohne dass sich die Spinne befreien konnte. Sie ergriffen die Ecken der Decke und hoben sie hoch, sodass sie wie in einem Beutel in der Luft pendelte.

»Nach draußen!«, befahl Fenvarien.

»Hier entlang!«, meldete sich Tibolo und lief los. Die durchsichtigen Kiefer der Spinne hatten sich inzwischen durch die Decke gebohrt, aber sie waren nur spitz und nicht scharfkantig, konnten den Stoff nicht zerschneiden. Elionai und Iscalleon trugen das zappelnde Bündel an ausgestreckten Armen, um den Beißwerkzeugen nicht zu nahe zu kommen, und Tibolo führte sie durch mehrere Gänge bis zu einer Seitenpforte. Lariel, Oisin und einige weitere Elfen folgten ihnen.

Die Pforte öffnete sich auf den Nurtiplatz, der zu dieser nächtlichen Stunde fast leer war. Ein paar Schritte außerhalb des Tempels ließen sie die Decke fallen und traten eilig zurück. Wieder formte Iscalleon einen tödlichen Schlag in seinem Geist, und gleichzeitig spürte er, wie auch die anderen Elfen ihre Zauberkraft sammelten. Statt sich auf einen eigenen Zauber zu konzentrieren, gab er seine Kraft frei, und so war es Oisin, der den Zauber formte und die Zaubermacht aller Helfenden gemeinsam in das Bündel lenkte. Gerade hatte sich die Spinne aus dem Stoff befreit, als der Zauber sie erfasste. Ihr Körper zerplatzte klirrend, unzählige scharfkantige Splitter spritzten in alle Richtungen. Iscalleon spürte einen scharfen Schmerz, warmes Blut rann ihm über die Wange. Es dauerte einige Momente, bis er wirklich sicher war, dass sie gesiegt hatten.

»Gute Arbeit«, nickte Lariel ihm anerkennend zu.

»Das Ergebnis von guter Zusammenarbeit«, erwiderte Iscalleon und lächelte Elionai an. Sie zwinkerte ihm zu.

»Es wird Fenvarien nicht entgangen sein, wer die richtige Idee im richtigen Augenblick hatte«, sprach der Reiterfürst weiter.

Iscalleon blickte ihn an. »Ich wollte einfach nur dieses Wesen so schnell wie möglich unschädlich machen.«

»An Entschlossenheit hat es dir dabei nicht gemangelt. Du hast besonnener gehandelt als viele erfahrene Kriegsherren.«