Du bist in meiner Hand - Mary Higgins Clark - E-Book

Du bist in meiner Hand E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Die 18-jährige Kerry nutzt die Abwesenheit der Eltern, um eine große Poolparty zu feiern. Am nächsten Morgen wird sie tot auf dem Grund des Schwimmbeckens gefunden.

Kerrys zehn Jahre ältere Schwester Aline will unbedingt herausfinden, was geschehen ist. Verdächtig ist nicht nur Kerrys Freund, der sich am Tag davor lautstark mit ihr gestritten hat. Auch ein Nachbarsjunge verhält sich seltsam. Je tiefer Aline im Umfeld ihrer Schwester forscht, desto näher kommt sie dem Mörder. Und der wird vor nichts zurückschrecken, um sie zu stoppen.

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Seitenzahl: 301

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Zum Buch

Die 18-jährige Kerry Dowling feiert eine große Poolparty mit ihren Freunden. Auf dem Fest kommt es zu einem lautstarken Streit mit ihrem eifersüchtigen Freund Alan. Am nächsten Morgen wird Kerry tot im Swimmingpool aufgefunden. Zum Entsetzen ihrer Eltern zeigt sich: Sie wurde ermordet.

Die Polizei konzentriert sich in ihren Ermittlungen zunächst auf Alan. Aber bald gerät auch der Nachbarsjunge Jamie in Verdacht: Er war zu seiner maßlosen Enttäuschung nicht auf die Party eingeladen gewesen – und ist durch seine geistige Behinderung in seinen Reaktionen nicht leicht einzuschätzen. Und warum hat er seine patschnasse Kleidung im Schrank versteckt?

Kerrys ältere Schwester Aline, die kurz vor ihrem Tod eine geheimnisvolle SMS von ihr bekommen hat, versucht den jungen Ermittler Mike Wilson bei seinen Nachforschungen zu unterstützen. Tatsächlich stößt sie auch auf einige entscheidende Hinweise. Doch je näher sie der Wahrheit kommt, desto größere Gefahr droht auch ihr selbst.

Zum Autor

Mary Higgins Clark (1927–2020), geboren in New York, lebte und arbeitete in Saddle River, New Jersey. Sie zählte zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke waren ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führte Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den begehrten »Edgar Award«. Sie starb am 31. Januar 2020 im Kreis ihrer Familie.

MARY

HIGGINS

CLARK

DUBISTINMEINERHAND

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel I’VE GOT MY EYES ON YOU bei Simon & Schuster, New York

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Copyright © 2018 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.

Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik•Design, München, unter Verwendung von Yulia Aksa/Shutterstock

Redaktion: Claudia Alt

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-22878-1V002

www.heyne.de

Für Elizabeth und Lauren.

Mögt ihr beide euer Leben lang glücklich sein.

1

Jamie war in seinem Zimmer im ersten Stock des bescheidenen Häuschens seiner Mutter in Saddle River, New Jersey, als sich sein ganzes Leben verändern sollte.

Eine Weile hatte er nur am Fenster gestanden und das Nachbargrundstück beobachtet. Dort drüben gab Kerry Dowling nämlich eine Party, und Jamie war sauer, weil sie ihn nicht eingeladen hatte. In der Highschool war sie immer so nett zu ihm gewesen, obwohl er Sonderunterricht gehabt hatte. Seine Mom hatte gesagt, wahrscheinlich war es eine Party nur für Kerrys Klassenkameraden, die würden nämlich in der folgenden Woche alle aufs College weggehen. Jamie war schon zwei Jahre vorher mit der Highschool fertig gewesen, und jetzt hatte er einen Job im Acme-Supermarkt gleich hier im Ort. Dort füllte er die Regale auf.

Jamie sagte seiner Mom nicht, dass er rübergehen und in Kerrys Pool schwimmen wollte, wenn die anderen drüben das auch tun würden. Seine Mom wäre dann ziemlich böse auf ihn. Kerry lud ihn doch auch immer ein, mit in den Pool zu kommen, wenn sie selbst schwimmen ging. Er sah den Gästen vom Fenster aus zu, bis sie sich alle auf den Heimweg machten und Kerry ganz allein die Terrasse aufräumte.

Er sah seinen Film noch zu Ende, und dann beschloss er, rüberzugehen und ihr zu helfen, obwohl er wusste, dass das seine Mom nicht wollte.

Als sich seine Mom die 23-Uhr-Nachrichten ansah, schlich er nach unten, und auf Zehenspitzen näherte er sich der Hecke, die ihren kleinen Garten vom großen Garten von Kerry trennte.

Aber plötzlich sah er jemanden aus dem Wäldchen hinter dem Garten auftauchen. Und dieser Mann packte sich etwas von einem Stuhl und trat von hinten an Kerry heran, und dann schlug er ihr auf den Kopf und stieß sie in den Pool. Dann warf er etwas weg.

Man soll andere nicht schlagen, dachte sich Jamie, man soll andere auch nicht in den Pool stoßen. Der Mann sollte sich entschuldigen, oder er würde vom Platz gestellt werden. Aber, sagte er sich, Kerry war jetzt im Pool schwimmen, also könnte er doch auch mit ihr schwimmen.

Der Mann ging nicht schwimmen. Er rannte nur aus dem Garten und wieder hinein in den Wald. Der Mann ging nicht ins Haus, sondern rannte einfach davon.

Jamie eilte zum Pool. Mit dem Fuß stieß er gegen etwas, das auf dem Boden lag. Ein Golfschläger. Er hob ihn auf und legte ihn auf einen der Stühle beim Pool.

»Kerry«, rief er, »ich bin’s, Jamie. Ich komm mit rein.«

Aber sie antwortete nicht. Er ging die Stufen zum Becken hinunter. Das Wasser war schmutzig. Jemand musste etwas verschüttet haben. Als er spürte, wie das Wasser durch seine neuen Sneakers sickerte und seine Hose sich bis zu den Knien vollsog, blieb er stehen. Kerry sagte immer, dass er mit ihr schwimmen könnte, aber er wusste, seiner Mom würde es gar nicht gefallen, wenn er seine neuen Sneakers nass machte.

Kerry trieb auf dem Wasser. Er streckte sich und berührte sie an der Schulter. »Kerry, wach auf.« Aber Kerry trieb nur weiter, weiter hinaus zum tiefen Bereich des Pools. Also ging er wieder nach Hause.

Im Fernsehen liefen immer noch die Nachrichten, deswegen sah ihn seine Mom nicht, als er sich wieder nach oben schlich und ins Bett ging. Seine Sneakers, die Socken und die Hose waren nass, deshalb versteckte er sie ganz unten in seinem Schrank. Vielleicht, hoffte er, würden sie trocknen, bevor Mom sie fand.

Beim Einschlafen überlegte er noch, ob Kerry Spaß hatte beim Schwimmen.

2

Es war schon nach Mitternacht, als Marge Chapman aufwachte und feststellte, dass sie während der Nachrichten eingeschlafen sein musste. Langsam stand sie auf. Ihre arthritischen Knie knackten, als sie sich aus dem großen bequemen Sessel hochhievte. Bei Jamies Geburt war sie schon fünfundvierzig gewesen, seitdem hatte sie immer mehr an Gewicht zugelegt. Ich müsste gut zwanzig Kilo abnehmen, dachte sie sich, um die Gelenke zu entlasten.

Sie schaltete die Lampen im Wohnzimmer aus, ging nach oben und warf noch einen Blick in Jamies Zimmer. Sein Licht war aus, sie hörte ihn gleichmäßig atmen, er schlief also sicher bereits.

Sie hoffte nur, dass es ihn nicht zu sehr aufgewühlt hatte, nicht zur Party eingeladen worden zu sein. Aber sie konnte ihm ja nicht jede Enttäuschung ersparen.

3

Am Sonntagmorgen um Viertel vor elf überquerten Steve und Fran Dowling die George Washington Bridge und fuhren weiter zu ihrem Haus in Saddle River, New Jersey. Beide schwiegen, denn sie waren noch müde nach dem 27-Loch-Golfmarathon, zu dem Freunde aus Wellesley, Massachusetts, sie eingeladen hatten. Sie hatten dort auch übernachtet und waren frühmorgens aufgebrochen, um auf dem Rückweg noch ihre achtundzwanzigjährige Tochter Aline am Kennedy Airport abzuholen. Sie hatte die letzten drei Jahre im Ausland verbracht und war in dieser Zeit immer nur zu kurzen Besuchen nach Hause gekommen.

Nach dem freudigen Wiedersehen auf dem Flughafen ließ sich die vom Jetlag sichtlich mitgenommene Aline auf dem Rücksitz des SUV nieder und schlief sofort ein. Fran musste ein Gähnen unterdrücken. »Zweimal hintereinander so früh aufstehen … da merke ich wieder mein Alter.«

Steve lächelte. Er war drei Monate jünger als seine Frau, die deshalb alle besonderen Geburtstage, in diesem Fall den fünfundfünfzigsten, vor ihm begehen durfte.

»Bin mal gespannt, ob Kerry schon auf ist, wenn wir nach Hause kommen«, sagte Fran mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann.

»Ich bin mir sicher, sie steht schon an der Tür und kann es kaum erwarten, ihre Schwester zu begrüßen«, erwiderte Steve gut gelaunt.

Fran hatte ihr Handy am Ohr und lauschte. Erneut erreichte sie bloß Kerrys Mailbox. »Unser Dornröschen weilt noch im Land der Träume«, verkündete sie schmunzelnd.

Steve lachte. Er und Fran hatten einen leichten Schlaf. Bei ihren Töchtern war es genau umgekehrt.

Eine Viertelstunde später bogen sie in ihre Auffahrt ein und weckten Aline. Noch ganz verschlafen folgte sie ihnen ins Haus.

»Mein Gott«, rief Fran, als sie ihre sonst so ordentliche Wohnung sah. Leere Plastikgläser und Bierdosen standen auf dem Beistelltisch und fanden sich auch sonst überall im Wohnzimmer. In der Küche stieß sie im Ausguss auf eine leere Wodkaflasche, daneben lagen leere Pizzakartons.

Aline war jetzt hellwach. Ihre Mutter und ihr Vater waren nicht nur aufgebracht, sondern auch beunruhigt. Ihr ging es nicht anders. Sie war zehn Jahre älter als ihre Schwester und spürte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn Kerry eine Party feierte, warum war sie dann nicht so schlau gewesen, nachher noch aufzuräumen? Hatte sie zu viel getrunken?

Ihre Eltern liefen nach oben und riefen nach Kerry. Gleich darauf kamen sie wieder nach unten.

»Kerry ist nicht da«, sagte Fran. Sie klang jetzt mehr als besorgt. »Und sie hat auch ihr Handy nicht mitgenommen. Es liegt noch auf dem Tisch. Wo steckt sie bloß?« Plötzlich wurde Fran kreidebleich. »Vielleicht ist ihr übel geworden, und jemand hat sie mit zu sich nach Hause genommen …«

Steve unterbrach sie. »Rufen wir ihre Freunde an. Jemand muss wissen, wo sie ist.«

»Der Spielplan des Lacrosse-Teams mit allen Telefonnummern liegt in der Küchenschublade«, sagte Fran und eilte schon durch den Flur. Kerrys engste Freundinnen gehörten alle zur Mannschaft.

Hoffentlich hat sie die Nacht bei Nancy oder Sinead verbracht, dachte sich Aline. Wenn sie noch nicht einmal ihr Handy mitgenommen hat, muss es ihr wirklich ziemlich elend gegangen sein. Na, wenigstens kann ich schon mal mit dem Aufräumen anfangen. Sie ging in die Küche. Ihre Mutter wählte bereits die erste Nummer, die ihr Vater ihr diktierte. Aline schnappte sich einen großen Müllbeutel aus dem Schrank.

Als Erstes wollte sie auf der hinteren Veranda und der Terrasse und am Pool nachsehen.

Was sie dann auf der Veranda entdeckte, verblüffte sie. Auf einem der Stühle stand ein halb gefüllter Müllsack, in dem schmutzige Pappteller, ein Pizzakarton und Plastikbecher steckten.

Offensichtlich hatte Kerry mit dem Aufräumen angefangen. Aber warum hatte sie dann abgebrochen?

Sie überlegte noch, ob sie ihren Eltern Bescheid geben oder noch warten sollte, bis sie ihre Anrufe erledigt hatten, ging dann aber schon mal die vier Treppenstufen zur Terrasse hinunter und trat an den Pool. Im Sommer war der Pool immer offen, sie freute sich schon jetzt darauf, hier mit Kerry zu entspannen, bevor ihre jüngere Schwester zum College wegging und sie ihre neue Stelle als Studien- und Berufsberaterin an der Saddle River Highschool antrat.

Der Putter, mit dem ihre Eltern immer übten, lag auf einem Liegestuhl auf dem Pooldeck.

Aline nahm ihn in die Hand, dabei fiel ihr Blick auf den Pool. Und dort, auf dem Grund des Beckens, sah sie ihre Schwester liegen, vollständig bekleidet und völlig regungslos.

4

Jamie schlief gern sehr lang. Er arbeitete von elf bis drei Uhr im Supermarkt. Um zehn hatte Marge ihm sein Frühstück gemacht. Nachdem er damit fertig war, schickte sie ihn nach oben, damit er sich die Zähne putzte. Jamie kam zurück, strahlte sie mit einem breiten Grinsen an und wartete, dass sie »sehr schön« sagte, bevor er zur Tür hinausstürmte, um sich auf den Weg zu »seinem Job« zu machen, wie er immer stolz verkündete. Er brauchte zu Fuß zwanzig Minuten zum Acme-Supermarkt. Als sie ihm hinterhersah, störte sich Marge an irgendetwas, konnte es aber nicht benennen.

Erst oben, als sie schon sein Bett machte, fiel es ihr ein. Jamie hatte seine alten, abgestoßenen Sneakers getragen, nicht die neuen, die sie ihm letzte Woche gekauft hatte. Warum das denn?, fragte sie sich, während sie sich daranmachte, sein Zimmer aufzuräumen. Und wo hatte er die neuen?

Sie ging in sein Badezimmer. Er hatte geduscht, Handtuch und Waschlappen lagen im Plastikkorb, in den er sie geben sollte – das hatte sie ihm so beigebracht. Aber von den neuen Schuhen oder der Hose, die er gestern anhatte, fehlte jede Spur.

Er hatte sie doch wohl nicht weggeworfen?, fragte sie sich, als sie in sein Zimmer zurückkehrte und sich umsah. Erstaunt fand sie die zusammengeknüllten Sachen schließlich ganz unten in seinem Schrank. Sie hob sie auf.

Die Socken und Schuhe waren patschnass. Genau wie die Hosenbeine.

Marge hielt sie noch in der Hand, als sie von draußen einen gellenden Schrei hörte. Neugierig eilte sie ans Fenster und sah gerade noch, wie Aline in den Pool sprang und ihre Eltern aus dem Haus gerannt kamen.

Dann sprang auch Steve Dowling ins Wasser, und kurz darauf trug er, dicht gefolgt von Aline, Kerry die Stufen hinauf, legte sie am Beckenrand ab und begann hektisch mit der Herz-Lungen-Massage. »Ruf den Notarzt!«, schrie er. Innerhalb weniger Minuten trafen Streifenwagen und ein Krankenwagen ein.

Marge sah, wie ein Polizist Steve von Kerry wegzog und sich selbst über dessen Tochter beugte.

Gleich danach erschienen Sanitäter, und erst als der Polizist sich wieder erhob und den Kopf schüttelte, wandte sich Marge vom Fenster ab.

Dann dauerte es eine weitere lange Minute, bis ihr bewusst wurde, dass sie immer noch Jamies Hose, Socken und Sneakers in den Händen hielt. Sie glaubte auch zu wissen, auf welche Weise sie nass geworden waren. Aber warum sollte er halb in den Pool gestiegen sein? Und was waren das für Flecken hier?

Sie musste die Sachen sofort in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner geben.

Marge wusste nicht, was sie dazu trieb, sie wusste nur, dass sie Jamie schützen musste.

Die heulenden Sirenen der Polizei und des Krankenwagens hatten die Nachbarn aus ihren Häusern gelockt. Die Neuigkeiten verbreiteten sich in Windeseile. »Kerry Dowling ist in ihrem Pool ertrunken.« Viele Nachbarn, manche noch mit der Kaffeetasse in der Hand, eilten nach hinten zu Marges Garten, wo sie sehen konnten, was geschah.

Marges Nachbarn besaßen alle größere Häuser. Dreißig Jahre zuvor hatten sie und Jack ihr Cape-Cod-Haus auf dem mit vielen Bäumen bestandenen Grundstück gekauft. Ihre Nachbarn damals waren wie sie gewesen, einfache, hart arbeitende Leute mit bescheidenen Häusern. Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre aber war das Viertel enorm aufgewertet worden. Der Reihe nach hatten ihre Nachbarn die kleinen Eigenheime zum doppelten des ursprünglichen Preises an Immobilienmakler verkauft. Marge war die Einzige, die ausgeharrt hatte. So wohnte sie jetzt inmitten teurer Häuser und deren wohlsituierten Eigentümern, die meisten von ihnen Ärzte, Anwälte, Wall-Street-Banker. Sie gaben sich ihr gegenüber freundlich, aber es war nicht mehr so wie früher, als sie und Jack mit ihren Nachbarn wirklich befreundet gewesen waren.

Marge gesellte sich zu ihnen. Einige erzählten, sie hätten Musik auf der Party gehört, nicht wenige Wagen hätten in der Auffahrt und auf der Straße geparkt. Aber sie waren sich einig, dass die Partygäste keinen besonderen Lärm veranstaltet hatten und gegen elf Uhr wieder verschwunden waren.

Marge verzog sich in ihr Haus.

Ich kann jetzt mit keinem reden, dachte sie. Ich muss nachdenken. Das laute Geräusch von Jamies Sneakers in der Waschmaschine machte sie noch nervöser.

Sie verließ das Haus, ging in die Garage, drückte auf den Knopf, um das Tor zu öffnen, und stieß rückwärts mit dem Wagen auf die Auffahrt. Ängstlich darauf bedacht, jeden Blickkontakt mit den Nachbarn zu vermeiden, entfernte sie sich von der immer größer werdenden Menschenmenge und den Polizisten, die sich auf der Terrasse und im Garten der Dowlings versammelt hatten.

5

Steve zog die tote Kerry aus dem Wasser, legte sie am Beckenrand ab und begann mit Wiederbelebungsmaßnahmen, während er gleichzeitig Aline zurief, sie solle den Notarzt verständigen. Verzweifelt bemühte er sich, Kerry zum Atmen zu bringen. Er hörte erst damit auf, als der erste Streifenwagen eintraf und ein Polizist ihn zur Seite schob und sich über die leblose Kerry beugte.

Ohne jede Hoffnung und betend sahen Steve, Fran und Aline zu, wie der über Kerry kauernde Polizist sie zu reanimieren versuchte.

Keine Minute später hielt ein Krankenwagen in der Auffahrt, Sanitäter sprangen heraus. Einer von ihnen übernahm die Wiederbelebungsmaßnahmen. Kerry lag nur da, hatte die Lippen geschlossen und die schlanken Arme ausgebreitet. Ihr rotes Sommerkleid klebte ihr am nassen Körper, aus ihren Haaren lief Wasser. Steve, Fran und Aline standen da und starrten fassungslos auf sie hinab.

»Es wäre für alle einfacher, wenn Sie nach drinnen gehen würden«, sagte ihnen einer der Polizisten. Schweigend zogen sich Aline und ihre Eltern ins Haus zurück und drängten sich vor das Fenster.

Die Sanitäter brachten Elektroden an Kerrys Brustkorb an und übermittelten die gemessenen Daten an die Notaufnahme des Valley Hospital.

Der diensthabende Arzt bestätigte umgehend, was jeder vor Ort bereits wusste. »Herzstillstand.«

In diesem Moment bemerkte der Sanitäter, der die Wiederbelebung übernommen hatte, ein dünnes Blutrinnsal an Kerrys Nacken. Er hob ihren Kopf an und entdeckte eine klaffende Wunde.

Er machte den leitenden Polizeibeamten darauf aufmerksam, der daraufhin sofort die Staatsanwaltschaft verständigte.

6

Michael Wilson, Kriminalermittler der Staatsanwaltschaft Bergen County, hatte an dem Tag Dienstbereitschaft. Er hatte es sich mit Zeitungen auf einem Liegesofa am Pool seiner Eigentumswohnanlage im Washington Township bequem gemacht und war kurz vor dem Eindösen, als sein Handy klingelte. Sofort war er hellwach, als ihm die Einzelheiten seines nächsten Falls durchgegeben wurden. »Teenagerin tot im Swimmingpool aufgefunden. 123 Werimus Pine Road, Saddle River. Eltern zum Zeitpunkt des Ertrinkens nicht anwesend. Laut Bericht der örtlichen Polizei soll auf dem Grundstück eine Party stattgefunden haben. Ungeklärtes Schädel-Hirn-Trauma.«

Saddle River grenzte an das Washington Township, dachte er. In zehn Minuten konnte er dort sein. Er stand auf und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung. Seine Haut roch noch nach Chlor. Als Erstes musste er also unter die Dusche. Gut möglich, dass er die nächsten zwei Stunden beschäftigt war, es konnten aber auch leicht zwölf oder vierundzwanzig Stunden werden.

Er nahm sich ein frisch gewaschenes langärmeliges Sporthemd und eine Khakihose aus dem Schrank, warf sie aufs Bett und ging ins Badezimmer. Zehn Minuten später war er geduscht, angezogen und auf dem Weg nach Saddle River.

Zeitgleich mit ihm waren auch ein Fotograf und eine Rechtsmedizinerin verständigt und an den Tatort geschickt worden. Sie würden kurz nach ihm eintreffen.

Saddle River, ein Bezirk mit knapp über dreitausend Einwohnern, gehörte zu den wohlhabendsten Kommunen in den USA. Obwohl von dicht besiedelten Vorortgemeinden umgeben, hatte sich hier noch eine ländliche Atmosphäre erhalten. Aufgrund der vorgeschriebenen Mindestgrundstücksgröße von 8000 Quadratmetern und der relativen Nähe zu New York City gehörte sie zu den Lieblingsgegenden von Wall-Street-Größen und berühmten Sportlern. Auch der ehemalige US-Präsident Richard Nixon hatte dort gegen Ende seines Lebens ein Anwesen gehabt.

Mike wusste, dass bis in die 1950er hinein in der Gegend noch gejagt worden war. Anfangs errichtete man kleine Ranch-Häuser, die später fast alle durch sehr viel größere und exklusivere Gebäude, teilweise aber auch durch billige Fertighäuser ersetzt wurden.

Das Haus der Dowlings war ein hübsches cremefarbenes Kolonialhaus mit hellgrünen Fensterläden. Ein Polizist stand auf der Straße, er hatte gerade einen Bereich für die offiziell mit dem Fall betrauten Personen reserviert, damit sie dort ihre Wagen abstellen konnten. Mike parkte und ging über den Rasen zum Garten hinter dem Haus, wo mehrere Polizisten aus Saddle River zusammenstanden. Er fragte sie, wer als Erster am Tatort eingetroffen sei. Officer Jerome Weld – seine Uniform war noch nass – meldete sich.

Weld erklärte, dass er um 11.43 Uhr am Tatort angekommen sei. Die Familienangehörigen hatten die Tote bereits aus dem Wasser gezogen. Obwohl er überzeugt gewesen sei, zu spät zu kommen, habe er sofort mit einer Herz-Lungen-Massage begonnen. Das Opfer aber habe nicht reagiert.

Er und andere Beamte hatten eine erste Durchsuchung des Grundstücks vorgenommen. Offensichtlich habe am Vorabend eine Art Feier stattgefunden. Nachbarn bestätigten, Musik gehört und zahlreiche Jugendliche beim Betreten und Verlassen des Hauses gesehen zu haben. Insgesamt seien während der Dauer der Party zwanzig bis fünfundzwanzig Fahrzeuge auf der Straße geparkt gewesen.

»Ich habe in Ihrer Dienststelle angerufen«, fuhr der Polizist fort, »nachdem ich die Wunde hinten am Kopf entdeckt habe. Bei der Durchsuchung haben wir am Pool einen Golfschläger gefunden, anscheinend mit Spuren von Haaren und Blut.«

Mike nahm ihn in Augenschein. Wie vom Polizisten beschrieben, klebten am Schlägerkopf mehrere lange, blutige Haare, auch der Schaft war mit Blutspritzern bedeckt.

»Eintüten«, sagte Mike. »Wir schicken ihn zur Untersuchung ein.«

Mittlerweile war auch die Rechtsmedizinerin eingetroffen. Sharon Reynolds hatte bereits in mehreren Mordfällen mit Mike zusammengearbeitet. Er stellte sie Officer Weld vor, der kurz zusammenfasste, was sie am Tatort vorgefunden hatten.

Reynolds ging vor der Toten in die Hocke und machte Fotos. Sie schob Kerrys Kleid nach oben, musterte die Beine und suchte nach Stich- oder anderen Wunden. Dann drehte sie den Leichnam um und fotografierte die Rückseite, strich Kerrys Haare zur Seite und machte Aufnahmen von der tiefen Wunde am Hinterkopf.

7

Steve und Aline hatten sich oben umgezogen und kamen nach unten zu Fran in das immer noch mit Plastikbechern und Papptellern übersäte Familienzimmer. Officer Weld hatte sie angewiesen, nichts wegzuräumen, bevor der Ermittler der Staatsanwaltschaft eingetroffen war und alles, sowohl die Terrasse draußen als auch die Räume im Haus, in Augenschein genommen hatte.

Steve hatte den Arm um Fran gelegt. Sie saßen regungslos auf der Couch, bis Fran schließlich in lautes Schluchzen ausbrach.

Vereint in ihrem Schmerz, schmiegten sie sich aneinander. »Wie hat sie bloß voll bekleidet in den Pool fallen können?«, sagte Fran unter Tränen.

»Wir wissen, dass sie auf der Terrasse aufgeräumt hat«, sagte Steve. »Vielleicht hat sie sich zu weit nach vorn gebeugt und das Gleichgewicht verloren. Wahrscheinlich war es spät, und sie war müde.« Weder Fran noch Aline gegenüber äußerte er seine Befürchtung, dass Kerry betrunken gewesen sein konnte.

Die arme Kerry, dachte sich die in Tränen aufgelöste Aline. In den drei Jahren, in denen sie fort gewesen war, hatte sie regelmäßigen Kontakt mit ihrer Schwester gehabt, und sie konnte nicht begreifen, dass sie sie nun nie mehr sehen oder hören würde. Sie konnte und wollte einfach nicht glauben, dass sie erneut mit dem plötzlichen und unerwarteten Tod eines geliebten Menschen konfrontiert wurde.

Fran schluchzte weiter leise vor sich hin.

Es klingelte, gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Monsignor Del Prete, der sechsundsechzigjährige »Vater Frank«, wie er sich selbst nannte, trat ein. »Fran, Steve, Aline, es tut mir ja so furchtbar leid«, sagte der Pfarrer von St. Gabriel, ihrer Kirchengemeinde. Offensichtlich hatte ihn jemand verständigt. Sie erhoben sich, er gab ihnen die Hand und zog sich einen Stuhl heran. »Ich möchte ein Gebet für Kerry sprechen«, sagte er leise. »Lieber Herr, in dieser Zeit des großen Leids …«

Als er fertig war, platzte Fran heraus: »Wie kann Gott uns das bloß antun?«

Vater Frank setzte seine Brille ab, zog ein Tuch aus der Tasche und begann die Gläser zu putzen. »Fran, diese Frage stellt sich so ziemlich jedem nach einer Tragödie wie dieser. Warum beschützt unser allliebender und gnädiger Gott uns und unsere Lieben nicht, wenn wir es am dringendsten nötig hätten? Ich möchte ehrlich sein. Ich selbst ringe mit dieser Frage.

Die beste Antwort darauf habe ich in einer Predigt gehört, die vor vielen Jahren ein schon älterer Priester gehalten hat. Auf seinen Reisen im Nahen Osten war er überwältigt gewesen von der Schönheit der Perserteppiche, diesen kunstfertigen Zeugnissen höchster Handwerkskunst, die er dort zu sehen bekommen hatte. Eines Tages besuchte er einen Laden, in dem solche Teppiche ausgestellt waren. Er trat hinter einen Teppich, der an einem Haken von der Decke hing. Als er die Rückseite sah, war er geradezu schockiert vom unübersichtlichen Wirrwarr an Fäden, die scheinbar nirgendwohin führten. Welche Schönheit auf der einen Seite, und welche Unordnung und Disharmonie auf der anderen. Aber beide folgten demselben Plan. In diesem Augenblick wurde ihm die Botschaft klar. In diesem Leben sehen wir nur die Rückseite des Teppichs. Wir wissen nicht, auf welche Weise oder warum unser unaussprechlicher Kummer mit dieser wunderbaren Schönheit verbunden ist und zu ihr gehört. Darum ist der Glaube so wichtig.«

Das darauf folgende Schweigen wurde unterbrochen, als es an der Hintertür klopfte. Steve erhob sich, gleich darauf hörten sie Schritte im Flur, und ein Mann Anfang dreißig mit blonden Haaren und durchdringenden braunen Augen erschien. Er stellte sich als Detective Mike Wilson von der Staatsanwaltschaft Bergen County vor. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen. Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen einige Fragen stelle? Wir benötigen einige Hintergrundinformationen.«

Vater Frank erhob sich und schlug vor, später noch mal vorbeizukommen.

Aber Fran und Steve baten ihn zu bleiben. Nickend nahm er wieder Platz.

»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte der Detective.

Aline antwortete ihm. »Sie ist im Januar achtzehn geworden. Sie ist gerade mit der Highschool fertig.«

Die weiteren Fragen waren nicht schwer zu beantworten. Steve und Fran bestätigten, dass sie Kerrys Eltern seien und Aline deren ältere Schwester.

»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Ihrer Tochter – per Telefon, SMS oder E-Mail?«

Sie kamen überein, dass das gegen siebzehn Uhr am Vortag gewesen sein musste. Steve erklärte, dass sie die Nacht bei Freunden in Massachusetts verbracht hatten und dort früh aufgebrochen waren, um Aline am Flughafen abzuholen. Sie sei aus London zurückgekommen.

»Wussten Sie, dass am vergangenen Abend eine Party in Ihrem Haus gefeiert würde?«

Die Antwort lautete Nein.

»Vieles deutet darauf hin, dass alkoholische Getränke angeboten wurden. Trank Ihre Tochter Alkohol oder nahm sie Drogen?«

Frank verneinte empört. »Sie hat bestimmt keine Drogen genommen«, erwiderte Steve. »Sicherlich wird sie mit Freunden manchmal ein Glas Bier oder Wein getrunken haben.«

»Wir würden gern mit ihren Freunden reden. Können Sie mir deren Namen und Adressen geben?«

»Die meisten ihrer engsten Freundinnen gehören zum Lacrosse-Team der Highschool«, sagte Steve. »Der Plan hängt in der Küche. Ich kann ihn für Sie holen.« Dann fügte er noch hinzu: »Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie mit ihnen reden wollen?«

»Ja, den gibt es. Soweit wir wissen, haben sich letzten Abend sehr viele Personen in Ihrem Haus aufgehalten. Wir möchten ihre Personalien feststellen und erfahren, was auf der Party vorgefallen ist. Ihre Tochter weist eine gravierende Verletzung am Hinterkopf auf. Wir müssen herausfinden, woher sie stammt.«

»Ist es möglich, dass sie hingefallen ist und sich dabei den Kopf angeschlagen hat?«

»Das wäre möglich. Es ist aber auch möglich, dass Kerry ein Schlag mit einem Gegenstand zugefügt worden ist. Wir werden mehr wissen, wenn wir den Bericht der Rechtsmedizinerin vorliegen haben.«

Jemand hatte ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt?, dachte sich Aline. Die Polizei ging von Mord aus?

»Auf einem der Stühle am Pool lag ein Golfschläger. Indizien weisen darauf hin, dass er als Waffe eingesetzt worden sein könnte.«

»Was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte Steve.

»Mr. und Mrs. Dowling, wir werden mehr wissen, wenn wir die Ergebnisse der Rechtsmedizin vorliegen haben. Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir den Tod Ihrer Tochter als verdächtigen Todesfall behandeln, entsprechend werden wir ermitteln.«

Aline, die immer noch damit zu tun hatte, das Gehörte zu verarbeiten, sagte: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass einer von Kerrys Freunden ihr etwas antun könnte.«

»Ich verstehe Sie vollkommen«, entgegnete Wilson, »trotzdem werde ich alles überprüfen müssen.«

Er hielt inne. »Eine andere Frage: Hatte Ihre Tochter einen festen Freund? Jemanden, zu dem sie eine besonders enge Beziehung hatte?«

»Ja«, kam es wütend von Fran. »Er heißt Alan Crowley. Er war Kerry gegenüber sehr besitzergreifend, und oft war er auch sehr gereizt und wütend. Wenn ihr jemand etwas angetan hat, dann er – davon bin ich überzeugt.«

Mike Wilson ließ sich nicht das Geringste anmerken. »Könnte ich die Liste sehen? Und ich würde gern erfahren, wer zu ihrem engsten Freundeskreis zählt.«

»Ich kann Ihnen dabei helfen«, antwortete Steve.

»Und noch etwas. Wir haben kein Handy in der Kleidung Ihrer Tochter gefunden. Wissen Sie zufällig, wo es sein könnte. Und haben Sie was dagegen, wenn wir es mitnehmen?«

»Natürlich nicht. Es müsste auf dem Esszimmertisch liegen«, sagte Fran.

»Ich habe im Wagen eine Einverständniserklärung. Sie müssen sie unterschreiben, damit ich die Sachen zur Auswertung mitnehmen darf.«

»Der Entsperrcode lautet 0112«, sagte Aline. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. »Das sind die Monate ihres und meines Geburtstages.«

Dann zog Aline ihr Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. »Detective Wilson, ich habe gestern von Kerry noch eine SMS bekommen: Wenn du nach Hause kommst, muss ich mit dir über was SEHR WICHTIGES reden!!!«

Wilson beugte sich vor. »Wissen Sie, worauf sich das beziehen könnte?«

»Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Kerry hatte eine leicht theatralische Ader. Ich dachte, es geht um einen Freund oder ums College.«

»Aline, vielleicht werde ich im Lauf der Ermittlungen noch mal mit Ihnen reden müssen. Fliegen Sie in nächster Zeit zurück nach London?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe jetzt hier. Ich werde an der Saddle River Highschool eine Stelle als Studien- und Berufsberaterin antreten.«

Mike wartete kurz, bevor er sie alle zusammen ansprach. »Ich weiß, wie schlimm das alles für Sie ist. Ich muss Sie aber bitten, mir in einer Sache zu helfen. Erwähnen Sie niemandem gegenüber die Wunde an Kerrys Kopf oder den Golfschläger. Für die weiteren Befragungen ist es von höchster Wichtigkeit, dass so wenig Einzelheiten wie möglich an die Öffentlichkeit gelangen.«

Die Dowlings und Vater Frank nickten.

»Ich werde noch mal mit Ihnen reden, bevor ich hier aufbreche. Und räumen Sie bitte nichts auf, bevor die Ermittler alles durchgegangen sind und entschieden haben, was wir zur Untersuchung mitnehmen.«

8

Nachdem sich Detective Wilson die Einverständniserklärung zur Mitnahme von Kerrys Handy und Laptop hatte unterschreiben lassen, sprach er draußen mit den Leuten von der Spurensicherung, die sich das Haus und das Grundstück vornahmen. Dann setzte er sich in den Wagen, entsperrte Kerrys Handy und sah sich die letzten Textnachrichten an. Die ersten vier waren kurze Meldungen, in denen sich Freundinnen für die tolle Fete bedankten. Eine schrieb Kerry, hoffentlich würde sie das mit Alan wieder auf die Reihe kriegen, während eine andere ihr empfahl, »diesen Idioten« endlich in die Wüste zu schicken, bevor sie anfügte, hoffentlich ginge es ihr nach dem Streit wieder besser. Mike notierte sich die Namen der vier Mädchen.

Dann ließ er sich alle SMS von »Alan« anzeigen. Er ging in der Liste ganz nach unten, damit er die Nachrichten in der Reihenfolge ihres Eingangs lesen konnte.

Alan um 22.30 Uhr: Ich hoffe, du lässt es dir mit Chris gutgehen. Bin im Nellie’s. Am liebsten hätte ich ihm eine geschallert. Und dir gleich eine mit dazu.

Kerry um 22.35 Uhr: Danke, dass du mir die Fete ruiniert hast. Du hast dich wie der letzte ARSCH benommen. Ich gehöre dir nicht. Ich rede, mit wem ich Lust habe. Tu mir einen Gefallen: Verschwinde aus meinem Leben.

Alan um 23.03 Uhr: Sorry, ich bin einfach ausgerastet. Ich würde dich gern noch mal sehen. Schlimm genug, dass Chris hinter dir her ist, wenn ihr auf dem BC seid. Du hättest nicht schon heute Abend damit anfangen müssen.

Mike überlegte, ob »BC« für »Boston College« stehen könnte.

Kerry um 23.10 Uhr: Komm nicht mehr vorbei. Ich bin müde. Ich räum nur noch im Garten auf, dann geh ich ins Bett. Lass uns morgen reden.

Eine scheinbar einfache Sache, dachte sich Mike. Ein eifersüchtiger Freund. Sie ist bereit für einen anderen. Er kann sich nicht damit abfinden. Mindestens eine ihrer Freundinnen rät ihr, Schluss zu machen.

Mike legte das Handy weg. Über seinen Computer am Armaturenbrett loggte er sich in die Kraftfahrzeugbehörde ein und rief dort »Alan Crowley, Saddle River« auf. Kurz darauf erschien auf dem Bildschirm Crowleys Führerschein.

Der nächste Anruf galt dem diensthabenden Captain der Mordkommission bei der Staatsanwaltschaft. Er fasste zusammen, was er bislang herausgefunden hatte, und erzählte von Kerrys Auseinandersetzung mit ihrem Freund während der Party. »Normalerweise würde ich erst mit den jungen Leuten reden, die auf der Party waren, aber ich fürchte, das gibt ihm die Möglichkeit, sich einen Anwalt zu besorgen. Er wohnt hier in Saddle River. Ich bin nur fünf Minuten entfernt. Mein Gefühl sagt mir, dass es besser ist, wenn ich mich gleich mal ein bisschen mit ihm unterhalte und ihn zu einer Aussage bewegen kann.«

»Weißt du, ob er schon volljährig ist?«, fragte der Captain.

»Ja, laut Führerschein ist er letzten Monat achtzehn geworden.«

Es folgte eine Pause. Mike wusste, dass er seinen Boss nicht beim Denken stören sollte. Außerdem war ihm klar, dass Richter bei Angeklagten, die formal zwar als Erwachsene galten, aber erst vor kurzer Zeit volljährig geworden waren, gern noch das Jugendstrafrecht anwandten.

»Okay, Mike. Ruf mich an, wenn du mit ihm gesprochen hast.«

Das Haus der Crowleys lag in der von hohen Bäumen gesäumten Twin Oaks Road. Es war ein großes, weißes, schindelverkleidetes Haus mit dunkelgrünen Fensterläden. Ziemlich beeindruckend, dachte sich Mike. Allein der Anblick des wunderschön gestalteten Anwesens ließ vermuten, dass das Grundstück locker zehntausend Quadratmeter groß war. Hier hatte jemand richtig Geld. Am Rand der Auffahrt stand ein Aufsitzmäher.

Mike klingelte. Niemand reagierte. Er wartete eine volle Minute, bevor er erneut klingelte.

Alan Crowley war beim Rasenmähen ins Schwitzen geraten, also hatte er sich im Haus eine Flasche Wasser geholt und dabei einen Blick auf sein Handy geworfen, das er auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Eine ganze Reihe von Anrufen und Nachrichten war in der Zwischenzeit eingetroffen. Mit dem Smartphone in der Hand ging er zur Tür. Er musste nur die erste SMS lesen, um zu begreifen, welcher Albtraum gerade über ihn hereinbrach.

Erneut klingelte es an der Tür. Kerry war tot. Gerüchten zufolge war sie ermordet worden. Die Polizei sprach mit den Nachbarn und erkundigte sich ganz genau nach den Namen der Partygäste.

Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis sie vom Streit zwischen ihm und Kerry erfuhren.

Verängstigt ging er zur Tür und öffnete.

Der Mann, der vor ihm stand, stellte sich vor und ließ seinen Dienstausweis sehen. »Ich bin Detective Mike Wilson von der Staatsanwaltschaft Bergen County.« Er klang freundlich. »Sie sind Alan Crowley?«

»Ja.«

Nach der Miene des jungen Mannes zu schließen, musste er bereits von Kerrys Tod erfahren haben.

»Sie wissen, was Kerry Dowling zugestoßen ist?«, fragte Wilson.

»Sie meinen, dass Kerry tot ist?«

»Ja …«

»Warum sind Sie hier?«

»Ich will herausfinden, was mit Kerry passiert ist. Dazu rede ich mit jedem, der vergangenen Abend auf der Party war. Wäre es Ihnen recht, wenn wir uns kurz unterhalten?«

»Natürlich. Wollen Sie reinkommen?«

»Alan, ich würde mit Ihnen gern zu meiner Dienststelle in Hackensack fahren. Dort können wir ungestört reden. Sie müssen nicht mitkommen, aber es würde einiges sehr erleichtern. Kommen Sie. Ach, und noch etwas. Wissen Sie noch, was Sie letzten Abend anhatten?«

»Natürlich. Warum?«

»Reine Routine.«

Alan dachte nach. Es sieht besser aus, wenn ich kooperiere und mich nicht querstelle. Es gibt nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste. »Ich habe ein Princeton-T-Shirt, Shorts und Sandalen getragen.«

»Wo sind die Sachen jetzt?«

»In meinem Zimmer.«

»Hätten Sie was dagegen, sie in eine Tüte zu packen und mir alles für ein paar Tage zu überlassen? Ebenfalls reine Routine. Auch dazu sind Sie nicht verpflichtet, aber ich würde Ihre Kooperation sehr zu schätzen wissen.«

»Ja, vermutlich«, erwiderte Alan widerstrebend.

»Ich begleite Sie«, sagte Mike freundlich.

Shorts, T-Shirt und Unterhose lagen ganz oben im Korb. Alan gab sie in einen kleinen Turnbeutel und packte auch noch seine Sandalen dazu. Mit dem Handy in der einen und dem Turnbeutel in der anderen Hand folgte er dem Detective hinaus zu dessen Wagen.

Mike Wilson hatte nicht die Absicht, Alan zu befragen, bevor sie in seinem Büro saßen. Je entspannter Alan war, desto mehr würde er wahrscheinlich preisgeben, wenn die Kamera erst einmal lief.

»Auf dem Grundstück der Dowlings ist mir ein Putting Green aufgefallen. Die Dowlings müssen große Golf-Fans sein. Spielen Sie auch?«

»Hin und wieder, aber eher selten. Im Frühling und im Sommer spiele ich Baseball, mir bleibt also nicht viel Zeit für Golf.«

»Haben Sie auf Kerrys Party zufällig gesehen, dass sich jemand auf dem Putting Green herumgetrieben hat?«

»Ein paar Jungs haben dort herumgealbert. Aber ich war nicht dabei.«

»Sie haben auf der Party ein Princeton-Shirt getragen. Hat das irgendeine Bedeutung?«